Abstract
With his ‘Ovidius moralizatus’ ( c. 1340 ), a Christian-allegorical interpretation of Ovid’s Metamorphoses, Petrus Berchorius ( Pierre Bersuire ) significantly contributed to the rehabilitation of Classic mythology across Christian Europe, and the treatise was widely distributed in various manuscripts for almost two centuries. When it first appeared in printing in 1509, however, the book encountered a significantly different intellectual environment, and it became involved in the dispute between traditionally minded Dominicans and a group of pre-reformation humanists which escalated in the ( in- )famous ‘Pfefferkorn controversy’ at Cologne university. Its humanist critics mocked the work of the alleged Dominican Berchorius ( in fact, he had been a Benedictine ) in their famous satire ‘Epistolae obscurorum virorum’, ridiculing Berchorius’ Christian interpretation of Classical mythology.
I.
Der Weg Ovids aus der Verbannung am Schwarzen Meer bis zum Papst-Exil in Avignon war lang. Erst das 14. Jahrhundert bringt einen Durchbruch für die mittelalterliche Akzeptanz und breite Aneignung der antiken Mythologie und damit für Ovids Hauptwerk, die ‚Metamorphosen‘ [1]. Denn mit der vollständigen Rezeption dieses Dichters aus dem Kreis der großen Autoren der Antike hatte das Mittelalter erhebliche Schwierigkeiten. Im Gegensatz zu Vergil wurde sein Werk zögernd, sozusagen stufenweise adaptiert [2]. In der Karolingerzeit waren es zunächst die Werke aus der Verbannung, ‚Tristien‘, ‚Epistulae ex Ponto‘, an die eine Annäherung aus eigener Erfahrung leicht fiel, etwa bei Theodulf von Orléans, Ermoldus Nigellus oder Walahfrid Strabo. Das 12. Jahrhundert, als ‚Aetas Ovidiana‘ benannt, brachte dann in einer veränderten, urbanen Gesellschaft die breitere Rezeption der Liebesdichtungen: ‚Amores‘, ‚Ars amatoria‘, ‚Remedia amoris‘ und ‚Heroides‘. Erst im Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert näherte man sich in den Schulen allmählich den ‚Metamorphosen‘, und der Dichter wird in dem pseudo-ovidischen autobiographischen Gedicht ‚De vetula‘ gar zum Christen bekehrt [3]. Aus den Schulen treten der antike Mythos und die ‚Metamorphosen‘ seit Beginn des 14. Jahrhunderts in die Breite der Gesellschaft, auch der Laien: mit Giovannis del Virgilio Vorlesungen in Bologna, mit Dante und Petrarca [4], dem altfranzösischen ‚Ovide moralisé‘ [5] und schließlich mit der ‚Genealogia deorum gentilium‘ Boccaccios [6] – man kann es eine zweite ‚Aetas Ovidiana‘ nennen.
Eine Sonderstellung in dieser Reihe kommt dem ‚Ovidius moralizatus‘ des Petrus Berchorius zu [7], einem Werk, das als Teil einer monumentalen Predigerenzyklopädie am Papsthof in Avignon entstand, wo der Autor sich über mehr als zwei Jahrzehnte ( seit ca. 1320 ) aufhielt und seiner gelehrten Arbeit widmen konnte. In diesem 16 Bücher umfassenden ‚Reductorium morale‘ [8] standen neben dem Buch der Natur und der Bibel von der Genesis bis zur Apokalypse quasi als drittes Buch die gesamten ‚Metamorphosen‘ Ovids, und alle drei Großteile waren mit moralischen und allegorischen Deutungen versehen. Gerade dieser ‚Ovidius moralizatus‘ jedoch fand bald besonderes Interesse: Er wurde aus dem Werkverbund herausgelöst und hatte im 14./15. Jahrhundert einen enormen Erfolg, ist in über 80 Handschriften überliefert, mit Illustrationszyklen begleitet und auch in Teilen, z. B. des einleitenden Götterbuchs verbreitet [9].
1509 erschien die Editio princeps in Paris [10], ihr folgten weitere Drucke 1511, 1515 und 1521, die z. B. in der Artes-Ausbildung benutzt wurden. Damit fällt die Konjunktur der ‚Metamorphosen‘-Rezeption in eben die Jahre, in denen an den Universitäten und Bursen Konflikte ausgetragen wurden in Diskussionen über die Inhalte der Lehre und die Art und Weise ihrer Vermittlung, über die Stellung der Studia humaniora und das Verhältnis von älterer, scholastischer Arteslehre, der sog. via antiqua, und Neuordnungen in der via moderna zueinander. Der Streit betraf nicht nur die Lehrbücher, sondern dann auch wesentlich die notwendige Veränderung von Statuten, von Universitätsverfassungen und die Positionierung der zu berufenden Professoren in diesen Fächern, z. B. in den Poetik-Lekturen, und im Gesamtsystem der Institutionen [11].
Ovid als Repräsentant der klassischen Dichtung geriet so in den Brennpunkt einer besonderen Kontroverse, in der sich zwei Konfliktlinien kreuzten: der Streit um die Vernichtung oder den Erhalt der außerbiblischen jüdischen Bücher, den der bekehrte Jude und Theologieprofessor Pfefferkorn mit einem Antrag an Kaiser Maximilian in Gang brachte [12], und die Durchsetzung der Studia humaniora an den Artesfakultäten der Universitäten [13]. In einem von ihm erbetenen Gutachten riet der Humanist und angesehene Hebraist Johannes Reuchlin von der Vernichtung der jüdischen Schriften ab [14]. Als der Kaiser dem Rat Reuchlins folgte, begann die Gegenpartei mit Pfefferkorn, Arnold von Tongern und dem Inquisitor Hoogstraeten an der Universität zu Köln [15] einen regelrechten Feldzug gegen Reuchlin, der sich Jahre hinzog bis zu seiner Verurteilung 1521 in Rom und seinem Widerruf kurz vor seinem Tod.
Einen Höhepunkt in dieser Auseinandersetzung bildete die satirische Streitschrift aus dem Humanistenkreis, die ‚Epistolae obscurorum virorum‘, die Reuchlins Gegner in einer Serie von fingierten Briefen lächerlich machten [16]. Gerichtet war der Großteil der Briefe an den Kölner Theologieprofessor Ortwin Gratius, der sich auf die Seite der Gegner Reuchlins in Köln gestellt hatte, obwohl er durchaus als Humanist betrachtet werden muss [17]. In Auseinandersetzung um die Ausrichtung des Artes-Curriculums geriet er zudem in Konflikt mit seinem Kollegen Hermann von dem Busche [18], denn dieser vertrat die fortschrittliche Position, d. h. die Lektüre der antik-paganen Autoren ohne eine Rückbindung an die mittelalterlichen Lehrbücher und Interpretationen und forderte den Primat der Sprachausbildung, während Gratius eine konservativere Position vertrat. Hermann von dem Busche stand den Autoren der Dunkelmännerbriefe Crotus Rubeanus und Ulrich von Hutten [19] freundschaftlich nahe, hat vielleicht an den Briefen mitgearbeitet.
II.
Im Folgenden soll v. a. der eine Konflikt, der in den ‚Epistolae obscurorum virorum‘ viel Raum einnimmt, näher erörtert werden: das Anliegen der Humanisten, den Sprach- und Lektüre-Unterricht in der antiken Poesie zu erneuern; und dabei wird es wesentlich auch um das Verständnis Ovids gehen, eines in der mittelalterlichen Dichterbewertung immer schwierigen Falls. Diese Problematik, das Verhältnis zur antiken Poesie, wird in den Briefen in ihrer satirisch verzerrten Kehrseite präsentiert als lächerlich unbeholfene Bemühung um die antike Dichtung der am Konventionellen Festhaltenden, um verfehlte Nachahmung und Deutung [20]; krasse Missverständnisse und das Verharren bei überholten scholastischen Regeln wird den Briefschreibern zur Last gelegt. Alle Briefe bis auf einen richten sich an den Kölner Theologieprofessor Ortwin Gratius, der den Zorn der Humanisten-Autoren auf sich gezogen hatte; der Kreis der fiktiven Absender setzt sich zusammen aus Freunden und Schülern des Gratius, die ihm als ihrem verehrten Lehrer und Freund aus zahlreichen Städten von ihren Studien und Lebensgewohnheiten Tölpelhaftes berichten. Sie tun dies in einem ungehobelten Alltags- oder Küchenlatein [21] und in dümmlicher Argumentationsweise, aus der aber zugleich ein erhebliches Selbstbewusstsein oder sogar das Überlegenheitsgefühl von ( Schein- )Gelehrten spricht. Diese Art der Kommunikation stellt parodistisch die pervertierte Form der humanistischen Freundschaftskorrespondenz dar, die von den Mitgliedern dieser fiktiven obskuren Sodalitas nachgeahmt wird. Die Satire, die auf das Lachen der Freunde der echten Autoren zielt, soll die Gegner desavouieren, und sie schreckt dabei auch vor ungerechter Invektive und Verleumdung nicht zurück [22]. Der karikierte Umgang der viri obscuri mit antiker Dichtung, der hier zu analysieren ist, hat sich insbesondere auf Ovids Liebesdichtungen und die ‚Metamorphosen‘ konzentriert.
Zuerst fällt in den Briefen auf, dass sie immer wieder, im ganzen 16-mal, Verse der Dunkelmänner enthalten, acht Gedichte im ersten Teil und acht im zweiten [23]. Denn die viri obscuri verstanden sich selbst als poetae, die miteinander brieflich ihre poetischen Produkte austauschten, wie sie es von den Humanisten, den eigentlichen neuen poetae, kannten. Vor allem ihre völlige Unfähigkeit im Gebrauch antiker Metren wird genüsslich demonstriert, z. B. im zehnten Brief. Mit einer gehörigen Schmähung der poetae saeculares, d. h. der Humanisten-Dichter, kündigt der Briefschreiber sein Machwerk an: Ego compilavi aliqua metra, quae mitto vobis hic; und es folgt die Behauptung, er habe Choriambus, Hexameter, sapphische, jambische, asklepiadeische, elegische Verse, ferner Hendecasyllabum, Dicolon und Distrophum verwandt, ohne dass diese in seinen mit Binnenreimen versehenen Zeilen vorkommen, in einem Lob der Universitäten Paris und Köln und ihrer Lehrer, die Reuchlin wegen Ketzerei verfolgen [24]. Auch der Schreiber des elften Briefs behauptet: Ego etiam scio facere metra et dictamina, und lässt ein längeres holpriges, mit Endreimen versehenes Gedicht folgen über die Größen der via antiqua, wie Bonaventura, Thomas von Aquin und Duns Scotus [25]. Auch Typen von bekannten Gedichtformen wie Epitaphien oder Lobverse auf Heilige werden geboten [26], und da all diese Machwerke, die keinerlei Sinn für Dichtung zeigen, an den Lehrer Gratius geschickt werden, wird dadurch auch diesem jede Fähigkeit in der Poesie abgesprochen – ein satirisch-ungerechtes Urteil, wie wir wissen [27].
In zahlreichen Briefstellen setzen sich die viri obscuri von den Humanisten, den poetae moderni oder saeculares, isti humanistae [28], ab und berufen sich auf die alten Lehrbücher, etwa auf Alexanders von Villa Dei ‚Doctrinale puerorum‘ ( um 1200 ) oder Johannes’ von Garlandia ‚Compendium grammaticae‘ ( 13. Jh. ) sowie auf die Grammatikerkommentare des Remigius von Auxerre aus dem 9. Jahrhundert [29].
Von den antiken Dichtern steht immer wieder Ovid im Fokus. So wird etwa erwähnt, dass in den Artes-Lektüren Ovid gelesen, d. h. in Vorlesungen behandelt wird. Der Baccalaureus Langschneyderius des ersten Briefs berichtet:
Magister Andreas Delitzsch, qui est multum subtilis et pro parte est poeta, et pro parte est artista, medicus et iurista, et iam legit ordinarie Ovidium in Metamorphosi, et exponit omnes fabulas allegorice et litteraliter, et ego fui auditor eius [ … ] [30].
Zu der schwierigeren Frage nach dem lebenspraktischen Nutzen und Wert von Dichtung wird die Karikatur noch krasser. Denn einige Briefe beschreiben eine recht pragmatische Anwendung, in der die Briefschreiber Ovids Liebesdichtungen ‚Ars amatoria‘ und ‚Remedia amoris‘ kurzschlüssig als Rezepte zur Eroberung einer Frau oder zur Trennung von einer Liebschaft nutzen wollen und sich beklagen, dass dies kaum funktioniert: wiederum Beispiele für ein erhebliches Missverständnis der viri obscuri im Hinblick auf richtige Formen vom Umgang mit der Poesie. Zum Beispiel berichtet ein Magister Conrad im Brief 21 aus Leipzig von seiner Liebschaft, in der er wegen seiner Schüchternheit erfolglos blieb, bis er sich an die Ovid-Vorlesung des Ortwin Gratius über die ‚Ars amatoria‘ erinnerte: dass nämlich Liebhaber kühn wie Soldaten sein sollten, sonst würden sie scheitern. Es geht dann gut an, doch trotz allem bleibt der letzte Erfolg aus: Das Liebesverhältnis verharrt auf der Stufe der Minnesänger [31]. Schon in Brief 13 hatte Magister Conrad das Liebesthema mit Bezug auf Ovids ‚Ars amatoria‘ angesprochen. Er spielt zuerst auf das sexuelle Verhältnis des Ortwin Gratius mit Pfefferkorns Frau an – scitis perfecte artem amandi ex Ovidio –, in das angeblich auch Arnold von Tongern involviert sei. Nach dem Zitieren von zahlreichen entsprechenden Stellen des Alten Testaments – die ja keine schwere Sünde meinen können – schildert er dann mit reichlichen Zitaten aus dem wörtlich genommenen ‚Hohenlied‘ seine eigene Liebschaft [32]. Im neunten Brief schreibt derselbe Conrad an Gratius, er habe von einem Bekannten gehört, dass Gratius seine Geliebte geschlagen habe, da sie ihm nicht zu Willen gewesen sei – obwohl er doch in seiner Ovid-Vorlesung davon gerade abgeraten hatte: Ego miror, quare potestis ita pulchram mulierem percutere. [ … ] Tamen, quando legistis nobis Ovidium, dixistis nobis, quod nullo modo debemus percutere mulieres [33]. Der Magister Mammotrectus Buntemantellus klagt Gratius im Brief 33 seine übergroße Liebe zu einer ‚Margarethe‘; um von seiner Liebeskrankheit geheilt zu werden, erinnert er sich an seine Vorlesung bei Gratius über die ‚Remedia amoris‘, findet dort aber keine Hilfe: Ego lego Ovidium de remedio amoris, quem Coloniae glosavi a vestra dignitate cum multis notabilibus et moralitatibus in margine; verum non iuvat, quia iste amor cotidie fit maior [34]. Gratius antwortet ihm und sucht ihn zu heilen mit dem Verweis auf die kirchlich empfohlenen Frömmigkeitsübungen, bei gleichzeitiger Warnung vor Teufelsverführung und magischen Praktiken: Quando glosavi hic vobis Ovidium de arte amandi, dixi vobis, quod nemo deberet facere per artem nigromantiam, quod mulieres se ament [35]. Für Zuwiderhandeln drohe die Verurteilung zum Feuertod und ewige Verdammnis.
III.
Einen Höhepunkt in der Diskussion über Dichtung und Ovid erreichen die ‚Epistolae obscurorum virorum‘ im Brief 28, den ein Heidelberger Student, Frater Conradus Dollenkopffius, seinem Lehrer Ortwin Gratius schreibt [36]. Denn hier rechnen die Autoren des Dunkelmänner-Corpus mit einer Neuerscheinung auf dem Buchmarkt zu Ovids ‚Metamorphosen‘ ab: mit dem ‚Ovidius moralizatus‘ des Benediktiners Petrus Berchorius in der Erstausgabe von 1509 ( bzw. einem der Folgedrucke 1511 und 1515 ) [37]. Wie in vielen Handschriften der falsche Autorname Thomas Waleys, eines englischen Dominikaners, erscheint, so auch in allen Drucken, und damit musste der Autor als Angehöriger eben jenes Ordens gelten, der im Konflikt an der Universität zu Köln die Partei der Gegner stellte. Da dieses Werk aus dem 14. Jahrhundert die gesamten ‚Metamorphosen‘ vom ersten bis fünfzehnten Buch moralisch-allegorisch deutet, war es für die Humanisten ein rotes Tuch. Die zahlreichen Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts hatten Deutschland kaum erreicht, im Gegensatz zu Frankreich, Italien und England. Der Brief 28 sagt denn auch zum Autor des neu im Druck erschienenen Werks:
[ … ] nuper acquisivi unum librum, quem scripsit quidam magister noster Anglicus de ordine nostro, et habet nomen Thomas de Walleys, et compositus est ille liber super librum Metamorphoseos Ovidii, exponens omnes fabulas allegorice et spiritualiter [38].
Schon der erste Brief der Sammlung stimmt auf dieses Thema ein, wenn von dem Magister Andreas Delitzsch berichtet wird, dass er ‚Metamorphosen‘-Vorlesungen halte, die das Werk allegorisch deuten [39]. Während der Klassiker-Unterricht mit theologischer Prägung bei dem Ovid des Berchorius bleibt, d. h. einem v. a. für Prediger im 14. Jahrhundert am Papsthof in Avignon geschaffenen Handbuch, zeigt sich in Vorlesungen der stark juristisch dominierten Universität von Bologna eine Öffnung zur säkularen Erklärung der ‚Metamorphosen‘ neben moralischer Interpretation: so bei dem 1321 eingesetzten Lektor der Rhetorik Giovanni del Virgilio [40], der mit Dante und Mussato befreundet war. Der Kommentar, die sog. ‚Expositio‘ zu den ‚Metamorphosen‘, führt den Wandel in der Auctores-Lektüre der Artesfakultät insofern unmittelbar vor Augen, als der erste Teil als typisch scholastischer Kommentar angelegt ist, während Giovanni danach in eine einfachere Paraphrase übergeht, in die er Wort- und Sacherklärungen sowie zeitbezogene Erläuterungen einfügt, aber keine Allegorien mehr. Allegorische Deutungen sind in seinem zweiten als Prosimetrum verfassten Werk zu Ovid, den ‚Allegoriae‘, enthalten, die v. a. die moralischen Ovid-Interpretationen des Arnulf von Orléans und Johannes von Garlandia genutzt haben [41].
Der Schreiber des Briefs 28 gibt sich als Theologiestudent in Heidelberg zu erkennen, der aber jeden Tag eine Poetik-Vorlesung höre und schon so große Fortschritte gemacht habe, dass er alle Fabeln aus Ovids ‚Metamorphosen‘ auswendig könne. Darüber hinaus könne er sie im vierfachen Sinn auslegen – was die poetae saeculares, also seine humanistischen Kommilitonen und Dozenten nicht könnten. Die vier Sinne, die er nennt, bezeichnet er so: Scio eas exponere quadrupliciter, scilicet naturaliter, litteraliter, historialiter et spiritualiter [42]. Bei Auslegungen nach dem vierfachen ( Schrift- )Sinn wird selbstverständlich die seit der Kirchenväterzeit bekannte Reihe sensus litteralis, allegoricus, moralis, anagogicus erwartet [43]. Die Schrift-Sinne des Dollenkopffius sollen also seine Ahnungslosigkeit in der Materie beweisen, die er vorgibt gut zu beherrschen. Die wahren Autoren der Briefe aber leisten sich hier eine Hintergründigkeit, die sich dem Leser nicht so leicht erschließt. Denn sie – wahrscheinlich Crotus Rubeanus – haben den gerade erschienenen ‚Ovidius moralizatus‘ vor sich und picken sich nun genüsslich hier und da Aussagen und Erklärungen heraus ( wie die angebliche Quadriga der Schrift-Sinne ), die in ihrer isolierten Form auf jeden Fall lächerlich und absurd sind, so dass der ganze Brief wie ein vollkommen zufälliges Sammelsurium von unsinnigen Aussagen zum Mythos wirkt. Es handelt sich jedoch um ein gezielt gesetztes Spiel, dessen Witz für diesen Brief einmal näher zu erläutern ist und an einer Reihe von Beispielen anhand des Drucks von 1509 und meiner neuen Erstedition des ‚Ovidius moralizatus‘ 2021 vorgeführt werden soll [44].
Schon der oben genannte angeblich generell anwendbare vierfache Deutungssinn gehört bei Berchorius, der die üblichen vier Sinne natürlich kennt, in einen ganz spezifischen Kontext und ist auch nur dort so angewandt, nämlich speziell für die Deutungen des Gottes Saturn im Eingang des Saturn-Kapitels am Beginn des den ‚Metamorphosen‘ vorangestellten Götterbuchs. Dieser Gott hat vier verschiedene Bedeutungen, die als litteraliter, naturaliter, historialiter, spiritualiter zu benennen sind, d. h. im Buchstabensinn ist er der erste Planet, im naturkundlichen Sinn bedeutet er die Zeit, im historischen Sinn einen König von Kreta, jeweils mit genauer Erläuterung, aus welchen Gründen die Bedeutung resultiert [45]; nach diesen drei Literalsinnen geht Berchorius über zur spirituellen oder allegorischen Bedeutung, die er von jenen abhebt und in sich je nach den Eigenschaften in verschiedene spirituelle Bedeutungsaspekte auffächert ( dimissis istis expositionibus dicamus allegorice, quod Saturnus potest significare [ … ] ) [46].
Die nächsten Beispiele ‚absurder‘ Deutungen beschäftigen sich mit etymologischen Auslegungen, nach denen Dollenkopffius, so berichtet er mit lehrerhaftem Gestus, einen seiner Kommilitonen gefragt hatte. Zum Beispiel wollte er von ihm wissen, wie der Name des Gottes Mars ‚Mavors‘, der schon antik ist, zu erklären sei. Der Kommilitone bot eine ( nicht eigens genannte ) Deutung an, die aber von dem Frager verworfen wird mit der Auskunft, Mavors meine mares vorans ( „Männer verschlingend“ ) [47]. Diese Etymologie scheint der Humanist der Briefsatire so kurios gefunden zu haben, dass er sie aus dem Mars-Artikel des ‚Ovidius moralizatus‘ herauspickte, wo es heißt: Iste enim Mavors, id est mares vorans, dicebatur a gentibus, und in der Deutung meint Mars die Tyrannen, Mavortes, quasi mares, id est viros bonos et virtuosos vorantes, oder die Wirkung der Zwietracht ( discordia ): Mavors dicitur, quia ad litteram mares in preliis per ipsam [ discordiam ] devorantur [48].
Das Verfahren der etymologischen Sinnerschließung, die hier angewandte Methode, ist eine typisch mittelalterliche: das Silbentrennen zu neuer Wortbildung, um aus den Wörtern dann eine Bedeutung zu ziehen [49]. Der gleiche Fall ist die aus dem Merkur-Artikel zitierte Etymologie: Tertio dixi: ‚Unde dicitur Mercurius?‘, sed quando non scivit, tunc dixi ei, quod Mercurius dicitur quasi mercatorum curius, quia est deus mercatorum et habet curam pro eis [50]. Berchorius hatte geschrieben: Iste igitur dicebatur mercatorum deus et furtorum, unde dicitur Mercurius quasi mercatorum curius, id est curam gerens; damit führt Berchorius die Beschreibung des Gottes weiter zu seiner Deutung auf den guten Prälaten: Et sic iste est deus mercatorum spiritualium, in quantum scilicet commutat temporalia pro eternis, deus furtorum, in quantum furabitur peccatores ad fidem et iustitiam convertendo, et de nigris candidos, id est de impiis iustos, faciendo [51]. Nie gibt es bei Berchorius die unmittelbare Verbindung der antiken Fabel mit dem Bibelvers, wie die Briefsatire suggeriert, denn das Schriftzitat bezieht sich immer auf die vermittelnde Auslegung.
Ein echter dummer Lapsus, der zeigen soll, dass der angebliche Briefschreiber ‚nicht bis drei zählen‘ oder römische Zahlen nicht richtig lesen kann, wird ihm mit der Deutung der neun Musen auf die sieben ( ! ) Engelchöre angelastet [52]. Dieses Signifikat kommt natürlich nicht von Berchorius [53]. Es soll vielleicht beim Leser die Meinung bestärken, dass alles nur Unsinn ist. Aus diesen Beispielen von Deutungen, an denen sein modernerer Kommilitone scheiterte, zieht der fiktive Briefschreiber den Schluss: Ita videtis, quod istae poetae nunc student tantum in sua arte litteraliter, et non intelligunt allegorias et expositiones spirituales, quia sunt homines carnales. Und er unterstreicht diese Feststellung mit der Behauptung, solche Deutungen seien dem mittelalterlichen Interpreten durch den Heiligen Geist eingegeben wie einem Bibelinterpreten seine Auslegung: Certissimum est, quod Spiritussanctus infudit huic viro talem doctrinam. Quia scribit ibi concordantias inter Sacram scripturam et fabulas poetales [54]. Für solche Konkordanzen will der Briefschreiber nun Beweise aus dem ‚Ovidius moralizatus‘ liefern.
Die erste Sequenz von kurios verkürzten Deutungen ist die Einstimmung zu der nun folgenden schwierigeren, raffinierteren und zugleich noch absurder erscheinenden Sorte von Übernahmen aus dem ‚Ovidius moralizatus‘. Die dafür angeführten Beispiele folgen dem Prinzip einer verfälschenden Abbreviatur des Textes, einer ‚Clash‘-Methode, wie ich sie nennen möchte, d. h. es wird eine Erzählung des antiken Mythos anzitiert und diese dann sogleich mit einem Bibelvers verbunden, ohne dass die notwendige Erklärung dafür gegeben wird, weshalb sie überhaupt etwas miteinander zu tun haben. Der vermittelnde erläuternde Text, der bei Berchorius die Verbindung konstituiert, ist entfallen, die Bibelverse stehen aber nie direkt in der Mythenerzählung, sondern bekräftigen immer die Auslegungsteile. Der produzierte Kurzschluss in den Dunkelmännerbriefen macht die Lächerlichkeit besonders bewusst. Zum Beispiel besiegt Apollo nach der Sintflut die Pythonschlange; bei Berchorius wird dieser Apoll im Bezug auf die eigene Zeit und ihre Gesellschaft mit einem guten Prälaten gleichgesetzt, der die Bösen, den Drachen, daran hindert, anderen zu schaden und auf den deshalb der Psalmvers 90,13 zutrifft: Talia monstra, id est tales in malis confederatos, debet prelatus sub pedibus tenere et ab invicem segregare, ne sibi vel aliis noceant, ut sibi dicatur illud psalmiste: Super aspidem et basiliscum. ambulabis [55]. Bei Dollenkopffius heißt es dagegen: De Phitone serpente, quem interfecit Apollo, scribit Psalmista: ‚Draco iste, quem formasti ad illudendum ei‘. Et iterum: ‚Super aspidem et basiliscum ambulabis‘ [56].
Natürlich schreibt der Psalmist nichts über die Python-Schlange Ovids; der bei Berchorius vermittelnde Auslegungstext zwischen Ovid und Bibel wird mit dieser Clash-Strategie quasi herausgeschnitten, um den witzigen Effekt zu erzeugen. Berchorius’ Bestreben ist es dagegen, die Konfigurationen des antiken Mythos den Lesern des 14. Jahrhunderts nahe zu bringen, sie durch ein vermittelndes exegetisches Glied mit den Gegebenheiten der eigenen Lebenswelt quasi vergleichend zu verbinden und damit ‚Aktualität‘ und Verständnis zu erzeugen [57]. Bibelverse gehören daher nicht zu den Fabelparaphrasen, sondern immer nur in die von diesen klar abgesetzten Auslegungspassagen.
Die Reihe der Beispiele bleibt zuerst noch bei den Götter-Mythen. Zu Saturn, der seine Kinder verzehrt, sagt Ezechiel ( Ez. 5,10 ) – so unser Satire-Brief –: ‚Comedent patres filios in medio tui.‘ [58] Berchorius deutet Saturn hier auf einen schlechten alten, habgierigen Prälaten: „Denn es ist gerecht, dass derjenige, der die ihm untergebenen Söhne ungerecht unterdrückt und beraubt, schließlich von einem seiner Söhne angegriffen [ … ] und von seiner Herrschaft abgesetzt wird“ – dazu das Ezechielzitat, das aber um den zweiten Teil ergänzt wird: [ … ] et filii comedent patres suos – „Daher heißt es, dass ein solcher Jupiter, der ihn entmannt, für ihn herrscht, da es oft geschieht, dass diejenigen, die für die Absetzung solcher bösen Menschen sorgen, ihre Regierungskompetenzen und ihre Ämter zu übernehmen pflegen.“ [59]
Für Merkur verzeichnet der fiktive Briefschreiber eine strafende Verwandlung einer Frau in einen Stein; dabei bringt er zwei verschiedene Versteinerungsstrafen fälschlich durcheinander. Er sagt: Item de Aglauro pedissequa, quam Mercurius vertit in lapidem: illa lapidificatio tangitur Iob XLII: ‚Cor eius indurabitur ut lapis.‘ [60] Aglauros ist eine der drei jungen Frauen, denen Pallas den verschlossenen Korb mit ihrem als Mischwesen geborenen Sohn Erichthonius zur Bewahrung anvertraut, mit dem Befehl, den Korb auf keinen Fall zu öffnen. Da vor allem Aglauros der Versuchung nicht widerstehen kann, doch hineinzuschauen, wird sie von Pallas mit der Steinwerdung bestraft. Eine der Deutungen des Berchorius bezieht sich auf die göttlichen Geheimnisse, die der Mensch kaum ergründen kann und dies auch nicht versuchen soll, z. B. das Geheimnis der Bundeslade, die Jungfrauengeburt oder das Sakrament der Eucharistie: Aglauros una trium sororum [ … ] mutata fuit in lapidem nigrum [ … ], sic illi, qui secretum a mundi principio videre volunt, indiscrete in errorem labuntur et per diversa peccata nigri et lapidei efficiuntur, Iob 41,15: ‚Cor eius indurabitur ut lapis‘ [61]. Die Steinwerdung, die Merkur verantwortet, trifft einen Bauern, Battus, der aus Habsucht den Gott zu belügen und zu täuschen versuchte [62].
Zur Göttin Diana und ihrem Gefolge ( von Nymphen ) bringt unser humanistischer Satiriker die erste von mehreren Deutungen des Berchorius: Diana significat beatissimam Virginem Mariam, ambulans cum multis virginibus hincinde, um dann zwei Schriftzitate aus der Deutungspassage der Vorlage hinzuzufügen ( Ps. 44,15 und Cant. 1,3 ) mit dem Hinweis: Et ergo de ea scribitur in Psalmis [ … ] [63]. Bei Berchorius stehen diese Zitate in einer sehr langen Auslegungspassage, die die verschiedenen Gruppen der Kirche, angefangen von den Nonnen, in ihrem je besonderen Verhältnis zu Maria und ihrem Dienst an ihr charakterisieren [64]. Es sind solche alttestamentlichen Verse, die durch Jahrhunderte in mariologischen Texten des Mittelalters immer wieder begegnen, Ps. 44,15: Adducentur virgines regi post eam, und Cant. 1,3: Trahe me post te, curremus in odorem unguentorum tuorum.
Zum Göttervater Jupiter sagt unser satirischer Brief: Item de Iove, quando defloravit Calistonem virginem, scribitur Matthei XII: Revertar in domum meam, unde exivi [65]. Wiederum ist dieser Bibelvers keineswegs über Jupiter gesagt, auch bei Berchorius natürlich nicht. Dieser deutet die Geschichte auf Christus und seine Menschwerdung aus Liebe zur menschlichen Seele, die er vor dem Verderben retten will. Er sagt:
Sic Iupiter, id est dei filius benedictus, a principio mundi summe adamavit puellam pulcerrimam Callisto, id est animam humanam, ideo, ut sibi eam acquireret et per fidem et per caritatem coniungeret, vestem et faciem mulierem assumpsit, id est carnem et figuram humanam, quia ‚in similitudinem hominum factus habitu inventus est ut homo‘ [ Phil. 2,7 ]. Et sic istam puellam redemit et sibi copulavit et tandem ad celum, unde venerat, remeavit per ascensionem, dicens illud Mt. ‚Revertar in domum meam, unde exivi [66].
Damit geschieht eine fundamentale Umkehrung des eigentlich egoistischen und rücksichtslosen Handelns des obersten antiken Gottes, der erst ganz am Ende die unter der Eifersucht und Rache Junos leidende schuldlose Callisto, die als Bärin mit menschlichem Bewusstsein leben musste, in ein Sternbild verwandelt. Der Dunkelmänner-Brief verkehrt in ironischer Weise und kontextfern den neutestamentlichen Satz, indem er ihn seinem Jupiter-Christus sozusagen direkt nach der Vergewaltigung in den Mund legt. Zum Verständnis der Deutung des Berchorius ist daran zu erinnern, dass das Konzept der liebenden Verbindung von Christus mit der Seele des Menschen, von Christus und der Kirche oder Christus und Maria seit der patristischen Exegese, z. B. des Hohenliedes [67], omnipräsent ist, so dass sich die assoziative Deutung hier gut erklärt. Das Alte Testament kennt auch viele andere anstößige, frivole oder moralisch fragwürdige Liebesgeschichten, die die Kirchenväter zu der Meinung veranlassten, dass sie nicht literal, sondern nur allegorisch zu lesen seien, oft auch typologisch, als Parallele oder Antitypus zu Personen oder Handlungen in der Neuen Zeit. Wie Berchorius dies verstanden wissen wollte, ergibt sich nicht nur aus den Deutungen seines ‚Ovidius moralizatus‘ und dessen Prolog, sondern zudem aus einer von ihm überlieferten Predigt, die er am Papsthof gehalten hat [68]. Diese enthält drei mythologische Fabeln, die auch in seiner ‚Metamorphosen‘-Auslegung begegnen: Polyphem, Narziss und Callisto. Er nutzt sie per figuram neben verwandten alttestamentlichen Geschichten und sagt z. B. zu Callisto in seiner Forderung von Barmherzigkeit: Probat etiam hoc per Poeticam fabulam vel ficturam, und fügt ein Aktualisierungssignal hinzu: Sic videtur hodie accidere [69].
Es ist nicht verwunderlich, dass gerade ‚anstößige‘ Liebes-Mythen Ovids, die Berchorius in eine Liebe zwischen Christus und der menschlichen Seele überträgt, die Satiriker besonders zur ironischen Verkehrung gereizt haben. Dazu gehört auch das folgende Bespiel, Jupiter und Europa: Item quomodo Juppiter supposuit Europam virginem, etiam habetur in Sacra scriptura, quod ego ignoravi prius, quia sic dixit ad eam: ‚Audi, filia, et vide, et inclina aurem tuam, quia concupivit rex speciem tuam‘ [70]. Berchorius deutet Europa auf die anima rationalis, que est dei filia spiritualis, Jupiter ist wiederum der Sohn Gottes, der die Seele nach ihrer Buße zu sich zieht und dazu die Verse aus Ps. 44,11 f. spricht [71].
Verwandt ist die Deutung der Cadmus-Geschichte: Item Cadmus quaerens sororem suam gerit personam Christi, qui quaerit suam sororem, id est animam humanam, et aedificat civitatem, id est ecclesiam [72]. Ebenso legt auch Berchorius sie aus, wiederum typologisch vergleichend:
Iste Cadmus potest significare Christum, qui de mandato patris venit in mundum querens sororem suam, id est animam humanam, quam Iupiter, id est diabolus, rapuit deo patri. [ … ] Beate virgini [ … ] se per incarnationem associans ad certum locum venit, ut civitatem ecclesie edificaret [73].
Moralkritik für die eigene Zeit zieht Berchorius aus der Actaeon-Fabel – für den Humanistensatiriker wohl genauso befremdlich wie für heutige Leser: De Actaeone vero, qui vidit Dianam nudam, prophetizavit Ezechiel cap. XVI dicens: ‚Eras nuda et confusione plena, et transivi per te et vidi te‘ [74]. Die erste von mehreren möglichen Deutungen im ‚Ovidius-moralizatus‘, in der das Zitat steht, aktualisiert die Geschichte so, dass Venus für die großen Damen steht, die einem lockeren, üppigen Lebenswandel fröhnen, umgeben von Dienerinnen, die sie entschuldigen und schützen. Wird zufällig die Wahrheit über ihr Lasterleben entdeckt – nuditas sua, id est vitiorum suorum veritas –, bestechen sie die Entdecker mit ihrem Reichtum und machen sie so mundtot [75].
An diesen Beispielen fällt besonders auf, dass Berchorius für die Auslegung oft nur wenige Züge der Geschichte in den einzelnen Deutungen auswählt und aktualisiert, andere Elemente dann in weiteren verschiedenen Interpretationen nutzt, die der Satiriker nicht nennt. Dieses Verfahren, das der Ausgangsgeschichte als solcher oft nicht gerecht wird, ist auch der allegorischen Bibelauslegung nicht fremd. Es geht dann nicht um eine ganze Interpretation, sondern um Ansätze zu verschiedenen Anwendungen, die der Exeget für seine Zwecke gebraucht.
Die letzte Sequenz von drei ‚Fehlinterpretationen‘ vertieft den Anstoß christologischer Deutungen und wird darin etwas ausführlicher: für Bacchus, Pyramus und Thisbe und Vulcans Sturz vom Himmel. Besonders anschlussfähig war für Berchorius die doppelte Geburt des Gottes Bacchus und damit besonders komisch für die Satire; darauf weist ihr Autor witzig hin:
Et non est frustra a poetis scriptum, quod Bacchus est bis genitus, quia per hoc significatur Christus, qui etiam est bis genitus, uno modo ante saecula, et alia vice humaniter et carnaliter. Et Semele, quae nutrit Bacchum, significat beatam Virginem, cui dicitur Exodi II: Accipe puerum istum et nutri mihi, et ego dabo tibi mercedem tuam‘ [76].
Mit dem ersten Teil seines Referats entspricht Dollenkopffius der Erzählung und Deutung bei Berchorius, auch mit dem Bibelvers, aber bei Berchorius ziehen die Nymphen vom Berg Nysa Bacchus groß, nicht Semele, da diese, von der rachsüchtigen Juno verführt, Jupiter in seiner eigentlichen Gestalt sehen wollte, bereits durch das Feuer Jupiters getötet war. Jupiter hatte sein noch ungeborenes Kind in seinen Oberschenkel eingesetzt und bis zum neunten Monat wachsen lassen und dann den Nymphen übergeben; Gott, der Vater, hatte dagegen seinen Sohn zur Inkarnation Maria übergeben, mit dem Zitat aus Ex. 2,9. Das Zitat geht vom alttestamentlichen Typus aus, es stammt aus der Geburtsgeschichte des Moses, in der die Pharao-Tochter das im Weidenkörbchen auf dem Fluss ausgesetzte Kind der richtigen Mutter, nachdem sie diese gefunden hatte, zur Pflege übergibt [77]. Die etwas schwierige voraussetzungsreiche Deutung und ihren exegetischen Hintergrund hatte – so die Satiriker – der Gratius-Schüler nicht erkannt und etwas durcheinandergebracht.
Nicht ganz einfach stellt sich auch das Beispiel von Pyramus und Thisbe dar. Dollenkopffius fasst zusammen:
Item fabula de Piramo et Thisbe sic exponitur allegorice et spiritualiter: Piramus significat filium Dei, et Thisbe significat animam humanam, quam amat Christus; et de qua scribitur in Evangelio:‘Tuam ipsius animam pertransibit gladius‘, Lucae II. Sic Thisbe interfecit se gladio amasii sui [78].
Bei Berchorius entsprechen diesen Sätzen zwei verschiedene Deutungen, die erste, Pyramus sei Christus, Thisbe die menschliche Seele, wird von Berchorius mit zahlreichen Einzelzügen der Geschichte erläutert und ausgelegt; erst die zweite Deutung Thisbes auf Maria enthält das Lucas-Zitat: „Oder sag, dass dieses Mädchen die Jungfrau Maria ist, zu der der Gottessohn durch die Inkarnation kam und am Kreuzesbaum sterben wollte; sie aber durchbohrte sich mit demselben Schwert, Lc, 2,35: ‚Und ein Schwert wird durch deine Seele dringen.‘“ Erst mit dieser Deutung wird die Prophezeiung verständlich, denn sie stammt aus der Geschichte der Darstellung Jesu im Tempel, in der der alte Simeon zu Maria diesen prophetischen Satz spricht [79]. Der Satiriker, amüsiert durch diese Sicht auf die Pyramus-Thisbe-Fabel, verursacht den ‚Kurzschluss‘ der Deutung.
Das letzte Beispiel bezieht sich auf Junos Sohn Vulcan: Item de Vulcano, qui eiicitur de caelo, et efficitur claudus, scribitur in Psalmis: ‚Expulsi sunt nec potuerunt stare.‘ [80] Der Psalm spricht natürlich nicht von Vulcan, sondern von den Übeltätern, und dieser Vers soll eine Deutung des Berchorius bekräftigen, die auf die schlechten Beamten und Richter zielt:
Sicut etiam videmus de malis officialibus et iudicibus, qui more Vulcani in terram per avaritiam cadunt et Veneris per luxuriam coniuges fiunt. [ … ] tales mali finaliter de celo, id est de alto officio, expelluntur et ex bonorum consortio excluduntur, Ps.: ‚Expulsi sunt nec potuerunt stare‘ [81].
Die lange Reihe der Beispiele aus dem satirisch verfälschten ‚Ovidius moralizatus‘ umfasst die Bücher 1–4 von den 15 Büchern des Werks. Sie schließt ab mit der Versicherung des fiktiven Briefschreibers, er habe aus dem Buch des Thomas Walleys noch vieles andere mehr gelernt, was er als mirabilia bezeichnet – und was es, in solchem Clash-Verfahren gelesen, im Doppelsinn des Wortes, nämlich wunderbar und befremdlich, auch tatsächlich ist. Wenn er dann bekräftigt: Et ista est via, qua debemus studere in poetria, ist daraus die Spitze der Kritik der Humanisten an der via antiqua in der Poetik-Lehre des Artes-Unterrichts an den Universitäten als einem Irrweg in ihrer Perversion deutlich erkennbar. Der Brief 28, der zunächst als eine eher leichtgewichtige satirische Verulkung erscheint, erweist sich, näher hingesehen, als Frontalangriff auf die Poetik-Lehre nach traditioneller Weise, für die in Köln der Dominikaner Ortwin Gratius steht. Es geht um den ‚Wegestreit‘ in der literarischen Ausbildung [82]. Der Schluss des Briefes mit der Nachfrage nach dem Stand der Causa Reuchlini [83] zeigt zudem noch einmal deutlich, in welchem Kontext die Invektive des Briefes steht.
IV.
Das ambitionierte Projekt des Berchorius zwei Jahrhunderte vor den ‚Epistolae obscurorum virorum‘ bestand darin, eine allegorische Enzyklopädie von gewaltigem Ausmaß zu schaffen, die mit ihren drei Teilen das Weltganze enthalten sollte: das Buch der Natur, das Buch der Bibel und das Buch der Dichtung des Menschen. Die Einheit der ersten beiden Bücher war in der Tradition als vom Schöpfer gestiftete seit langem verankert. Das dritte Buch wird erst von Berchorius in diesen Verbund eingestellt und fungiert als Kompendium der Dichtung des Menschen in der Form der ‚Metamorphosen‘ Ovids, eines mythologischen Weltgedichts. Alle drei Teile sollten mehr sein als nur die Darstellung und Nacherzählung der überlieferten Inhalte, nämlich geistigen Sinn und Bedeutung dieser Teile auch im Einzelnen darlegen. Dafür stand die im ganzen Mittelalter gebrauchte Methode bereit, die die antike Philosophie für den Mythos, die jüdische Gelehrsamkeit für das Alte Testament und die Patristik für die gesamten heiligen Schriften entwickelt hatte [84]: die Methode der allegorischen Interpretation war für Jahrhunderte zur dominanten wissenschaftlichen Form der Texterschließung geworden. In ihr bestand die funktionale Äquivalenz der Teile der moralischen Enzyklopädie des Berchorius, die hier im Spätmittelalter schließlich zu einer bis dahin für den Mythos nur in einzelnen Zügen realisierten Zusammenfassung der Traditionen auf einer neuen Ebene führte. Das gelang erst mit einer Zunahme der Moralisierung gegenüber typologischen Bezügen, also der Reduktion des Heilsgeschichtlichen gegenüber der ethischen und damit stärker allgemein-menschlichen Sinndimension, und diese Dominanz der Moral wurde erst seit dem 13./14. Jahrhundert in der Schriftexegese erreicht. Das gilt nun für Ovids ‚Metamorphosen‘ in diesem Kontext. Wie das vorchristliche Alte Testament hält auch der Mythos viele Erzählungen von menschlichem Handeln und Verhalten bereit, Figurationen von Vorbild und moralischem Versagen, Tugenden und Lastern, deren Interpretation Werteorientierungen in historischen Kontexten zu explizieren erlaubt. So liegt im 14. Jahrhundert bei Berchorius das quantitative Hauptgewicht der allegorischen Deutung nicht mehr bei der Heilsgeschichte und den Glaubenswahrheiten ( mysteria fidei ) im engeren Sinn, auch wenn sie in seinen Signifikaten immer wieder begegnen, sondern vorwiegend in der Ethik, d. h. in der Beschreibung von Defiziten und Verdiensten, Kritik und Lob der Lebensführung, und dies für alle Stände und sozialen Gruppen der Gesellschaft. Die aktualisierend deutende Anwendung der ovidischen Geschichten versteht diese als Exempel für das Handeln in der eigenen Lebenswelt und ihrer Protagonisten sowie weiterer Akteure: Angehörige des Klerus auf allen Ämterstufen von der Kurie bis zum einfachen Mönch, Laien wie Herrschende, Richter und Advokaten, Händler, Seeleute und andere spezifische Berufsgruppen, aber auch Mitglieder des Hauses und der Familie und viele andere mehr. Mit solchen Interpretationen rückt Berchorius die Erzählungen Ovids in die Nähe der sich gerade entwickelnden Novellistik, aus der er auch Parallelgeschichten anführt. Wie sein ausführlich legitimierender Prolog bezeugt, war er sich des Wagnisses, das er einging, durchaus bewusst; doch lag ihm wie seinen Freunden und Förderern so viel auch an der paganen Literatur, dass er das Unternehmen durchführte. Die Abbildung der Diversität der Lebensformen und die Ausdifferenzierung der sozialen Gruppen und Situationen der Gesellschaft in seinen Deutungen bedingen letztlich auch die Öffnung des Werks in einen allgemein-humanen Erfahrungs- und Aktionsraum [85]. Wenn also die Satiriker der ‚Epistolae obscurorum virorum‘ im Wesentlichen kuriose mittelalterliche Etymologien und christologische Deutungen aufs Korn nehmen oder antike Mythen mit Bibelzitaten in einem Clash-Verfahren verbinden, ist das eine gezielt ungerechte Selektion, die den Eklat in Spott und Invektive gegen die Traditionalisten sucht.
Es war ein unglücklicher Moment für Berchorius, dass sein Ovid-Buch seit 1509 mehrfach im Druck verbreitet und damit weithin verfügbar gemacht wurde. Nach seiner großen Erfolgsgeschichte von fast zwei Jahrhunderten erschien es in der aufgeheizten Atmosphäre zweier sich überkreuzender und damit sich gegenseitig verstärkender Kontroversen, des Reuchlin-Streits und des ‚Wegestreits‘ zwischen Verfechtern der via antiqua und den Modernisten, der nicht nur die Philosophie, sondern auch den Umgang mit der paganen Literatur und Poesie betraf. Zudem hielt man Berchorius aufgrund der falschen Autorzuschreibung auch noch für einen Dominikaner, also einen Vertreter des Ordens der Gegenpartei. Auch stand in den theologischen Auseinandersetzungen um die Methoden der Schriftexegese nun die mittelalterliche Methode der allegorischen Auslegung in der Kritik, die Reformatoren ließen nur noch den innerbiblisch bezeugten typologischen Sinn gelten [86]. Um wieviel weniger war dann die Allegorese auf die pagane Dichtung anzuwenden. Die Forderung ad fontes bewirkte generell einen neuen Umgang mit überlieferten Texten. Es verwundert nicht, wenn das Ovid-Buch des Berchorius zusammen mit ähnlichen Werken durch das Trienter Konzil 1559 auf den Index gesetzt wurde [87] und damit auch in keiner Ausgabe des ‚Reductorium morale‘, das noch bis 1731 gedruckt wurde, mehr enthalten war.
Und doch hat das Projekt der Ovid-Moralisation die vernichtende Attacke der Humanisten ebenso überlebt wie die konziliare Säuberungsaktion – Reformation wie Gegenreformation. Zunächst wurden gerade die Allegorie-Teile in frühe ‚Metamorphosen‘-Drucke wörtlich übernommen, z. B. als kompakte Allegorien-Anhänge fast aller ‚Metamorphosen‘-Bücher, und kurios ist es dann, wenn dabei z. B. selbst die nicht-ovidische Admetus-Geschichte, die erst Berchorius aus anderen Quellen hinzugefügt hatte, in solchen Metamorphosen-Ausgaben des Raphael Regius im 16. Jahrhundert mit tradiert wurde, so in den Drucken Venedig 1548 und 1549 [88]: Im gewandelten Kontext einer Gelehrten-Edition, die mit dem Volltext Ovids und Bucheingangsillustrationen, mit Marginalglossen und Erläuterungen von aktuellen Gelehrten reich ausgestattet war, finden sich zusätzlich die ans Ende der Bücher gerückten Allegorien der Fabeln. Der allegorische Kommentar des Berchorius erfüllt damit, etwa 200 Jahre nach seiner Entstehung, seine intendierte Funktion der aktualisierenden Erläuterung des antiken Werks, wenn auch nicht in seiner früheren Dominanz, sondern eingestellt in den neuen Diskurskontext der zeitgemäßen Gelehrten-Edition, in der er nur noch einen, nicht mehr den wichtigsten Modus der Aneignung des Ovid-Textes darstellt.
Wichtiger noch war die Fernwirkung, die Ovid-Moralisationen in der bildenden Kunst, in Malerei und Emblematik der folgenden Jahrhunderte entfalten konnten. Neuerdings kann man sogar einen Berchorius redivivus konstatieren. So ist er in die kunstgeschichtliche Datenbank ‚Iconos‘ aufgenommen worden [89] und hat soeben die erste Neuedition seit 500 Jahren erlebt [90].
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