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Argumentationsstrategien in religiösen Wahrheitskonkurrenzen am Beispiel der christlich-jüdischen Auseinandersetzung des hohen Mittelalters
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Published/Copyright: October 18, 2023
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Abstract

Christian theologians were involved in anti-Jewish arguments almost since the ‘parting of the ways’ of the two religions. In late antiquity and the early middle ages, anti-Jewish arguments were based almost exclusively on Biblical quotations, which were adduced as evidence meant to substantiate the Christian interpretation of scripture. It was only in the scholastic period that new forms of evidence were included in the traditional argument Adversus Iudaeos, which were derived from the recourse to reason. The Jewish figures presented by Christian authors within their writings are constructed entirely according to Christian assumptions and prejudices; only rarely do we get any real Jewish voices representing points of view close to any kind of Jewish reality. This only changed when growing numbers of Jews converted to Christianity in the high middle ages; Jewish converts drew the attention of Christian authorities to rabbinic literature. At first, the Talmud was targeted as a sinister text allegedly undermining theological truth, but later it was appropriated by Christian propagandists, who tried to base their anti-Jewish arguments on the post-biblical canon of Rabbinic Judaism. The article analyses the gradual expansion of anti-Jewish evidence; in particular, it highlights turning points when anti-Jewish strategies tried to include new methods and media to substantiate the credibility of Christian claims to monopolise religious truth. The Jewish side reacted against such attempts by reinterpreting and rewriting the history of anti-Christian Jewish arguments, notably on the occasion of the Paris Talmud trial. The redirection of Christian-Jewish arguments in the high middle ages provides ample evidence for the study of contesting truths, the substantiation and subversion of validity claims, as well as the rewriting of history in order to further political aims.

1. Konkurrierende religiöse Wahrheitsansprüche als Problem

Als Reaktion auf die nach dem Holocaust entwickelte christliche ‚Theologie nach Auschwitz‘, auf die Deklaration ‚Nostra aetate‘ des 2. Vatikanischen Konzils von 1965 und auf das sich auf vielen Ebenen entfaltende jüdisch-christliche Gespräch veröffentlichten jüdische Intellektuelle am 10. September 2000 in der New York Times die Erklärung ‚Dabru emet‘ ( „Redet Wahrheit“ ). Der schließlich von mehr als 200 unterschiedlichen Vertretern verschiedener Strömungen innerhalb des Judentums unterzeichnete Text versucht, theologische Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum zu benennen, dabei die Eigenständigkeit beider religiöser Überlieferungen anzuerkennen und Handlungsempfehlungen zur Lösung gegenwärtiger Probleme zu geben [1]. Der Titel des Aufrufs rekurriert auf den Propheten Sacharja, wo es heißt ( Sach 8, 16 ): „Das sind die Dinge, die ihr tun sollt: Sagt untereinander die Wahrheit! Richtet in euren Stadttoren der Wahrheit gemäß und mit Urteilen, die dem Frieden dienen!“

Die Autoren der jüdischen Erklärung aus dem Jahr 2000 wollen entsprechend der letztgenannten Maxime den Frieden in der Welt, aber auch zwischen den Religionen befördern. Der im Bibelzitat zweifach artikulierte Aufruf zur Wahrheit, der für das moderne Dokument titelgebend war, wird von den Autoren in ihrem Text allerdings nicht weiter expliziert. Der Verzicht auf eine nähere theoretische Begründung des Wahrheitsbezugs erklärt sich jedoch durch die jüdische Tradition, wonach dem praktischen Vollzug, dem Handeln, der Vorrang vor dogmatischen Festlegungen zu geben ist. In diesem Sinn möchte der Aufruf zeigen, „wie Juden und Christen ihre Beziehung zueinander neu gestalten können.“ Auf dem Weg zu „Gerechtigkeit und Frieden“ soll folgende Maxime handlungsleitend sein: „Nur wenn wir unsere eigenen Traditionen hegen und pflegen, können wir diese Beziehung mit Integrität gestalten.“

Wahrheitsgemäßes und wahrhaftiges Handeln besteht für die Autoren also darin, die jeweils eigenen Traditionen zu pflegen und diejenigen der anderen Gemeinschaft zu achten. Der Respekt für die Grenzen der eigenen und die der anderen Gemeinschaft wird aus dieser Perspektive als wahrheitsfördernd hingestellt, wobei sich Wahrheit in der Anerkennung der Gegebenheiten und in einer expliziten, ethisch begründeten Handlungsorientierung zeigt, wie er in der achten und letzten These zum Ausdruck kommt: „Juden und Christen müssen zusammenarbeiten für Gerechtigkeit und Frieden.“ Der Text plädiert in diesem Sinn für einen Neuanfang, der auf der produktiven Überwindung der zuvor bestehenden Wahrheitskonkurrenz beruht. Eine solche Konkurrenz war allerdings kennzeichnend für die längste Zeit der Geschichte des Christentums, spätestens seit dem ‚parting of the ways‘ beider Religionen in der Spätantike [2].

In diesem Zusammenhang sollten unterschiedliche Bedeutungsnuancen des Begriffs ,Wahrheit‘ in den jeweiligen Sprachen religiöser Quellenschriften beachtet werden [3]. Das hebräische emet ist mit emunah ( „Glaube“ ) und amen ( „gewiss“ ) verwandt und bezeichnet ein Bedeutungsspektrum zwischen Beständigkeit, Zuverlässigkeit und Treue. Der hebräische Wahrheitsbegriff ist also personalistisch, er erweist sich in Handlungen und Interaktionen, die sich in Beziehungen manifestieren und oft auf eine Bekräftigung vergangener Äußerungen hinauslaufen: „‚Wahr‘ ist, wer oder was sich durch die Tat als wahr erweist.“ Auch der „wahre Gott“ ist daher derjenige, der „treu seinen Bund hält“ und dessen „‚Wahrheitserweise‘ jederzeit erfahren und bezeugt werden können.“ [4] Der griechische Begriff aletheia ist demgegenüber eher metaphysisch ausgerichtet, er bezieht sich nicht auf eine Person, er „braucht keine Zeugen und begründet keine Gemeinschaft.“ [5] Nach jüdischem Verständnis, erläutert etwa vom mittelalterlichen Kommentator Raschi von Troyes ( 1040–1105 ), ist emet ein hervorragendes Attribut Gottes; da das Wort sich aus dem ersten, dem mittleren und dem letzten Buchstaben des hebräischen Alphabets zusammensetzt ( in etwa analog zu Alpha und Omega im griechischen ), wird Wahrheit auch als „Siegel Gottes“ angesehen [6]. „Wahrheit“ ist also in Gott gegründet und auf Gott bezogen. Der jüdische Religionsphilosoph Hermann Cohen ( 1842–1918 ) leitete daraus die grundlegende Einsicht ab: „Nur auf der Wahrheit der Lehre gründet sich das ewige Leben.“ [7] Im osteuropäischen Chassidismus wiederum wurde aus der grundlegenden, in Gott gegründeten Dimension der Wahrheit geschlossen, dass „ein Frieden ohne Wahrheit ein falscher Frieden sei.“ [8] Trotzdem zeichnet sich die jüdische Tradition im Grunde durch eine pragmatische Haltung aus; im Diesseits „gehört die Wahrheit zu einem System von konkurrierenden Werten“ [9], so dass sich Raum zur Austragung von Wahrheitskonkurrenzen eröffnet.

Der Streit um konkurrierende Wahrheitsansprüche verweist darauf, dass die Wahrheit – auch aus philosophischer Sicht – „in den einzelnen Fällen, um die es immer geht, stets umstritten“ ist [10]. Gerade der Streit um religiöse Wahrheitsansprüche zeigt, dass die Rückkopplung solcher Ansprüche an den historischen Kontext, die jeweilige Wirklichkeit, entscheidend ist, wenn es um die Frage nach der „Konjunktur der Wahrheit“ geht [11]. Dies zeigt sich auch im Traktat ‚De pace fidei‘ des Nikolaus Cusanus aus dem Jahr 1453, in dem es im Kern nicht um die argumentativ errungene Wahrheit, sondern um den Frieden geht, angesichts der Eroberung Konstantinopels auch im konkret-politischen Sinn [12]. Cusanus verlagert „das Problem der letzten Wahrheit aus der Welt des Endlichen heraus“; die Wahrheitsfrage ist damit gewissermaßen suspendiert und in den Bereich der Transzendenz ausgelagert; das Religionsgespräch ist in seinem Text dementsprechend auch im Himmel angesiedelt. Wahrheitsfindung erfolgt dort nicht mehr auf rationalem Wege, sondern sozial und politisch, also innerhalb eines menschlichen Beziehungsgefüges; es geht um eine Wahrheit für die Menschen, die sich in der konkreten, friedensstiftenden Praxis als wahr erweist [13].

Allerdings ist die Frage nach religiösen Wahrheitsansprüchen in den Kulturwissenschaften auch anders konzeptualisiert worden: Aus der Perspektive des Ägyptologen Jan Assmann ergibt sich aus der sog. monotheistischen Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion ein besonderer, exklusiver Wahrheitsanspruch. Während dieser im altägyptischen Aton-Kult und auch im Judentum noch dadurch eingegrenzt war, dass sich der universale Anspruch der Verehrung nur eines Gottes bzw. des Eingottglaubens auf Angehörige der eigenen ethnischen Gemeinschaft begrenzte, ging mit dem christlichen Missionsbefehl der Impetus einher, die als richtig erkannte religiöse Wahrheit unbegrenzt zu kommunizieren.

Das Judentum bildete dabei für christliche Theologen eine stete Herausforderung: Einerseits lehnten es die Juden ab, Jesus von Nazareth als den verheißenen Messias anzuerkennen, andererseits stellten sie der Kirche aber – durch Vermittlung der Judenchristen – die heiligen Schriften des ( für die Christen ) Alten Testaments zur Verfügung, die zum Verständnis der neutestamentlichen Botschaft unerlässlich waren, aber auch dazu dienten, das Christentum gegenüber heidnischen Kritikern als eine ,alte‘, traditionelle Religion erweisen zu können.

Die Auseinandersetzung christlicher Theologen mit Vertretern des ( rabbinischen ) Judentums erfolgte in der Spätantike und im frühen Mittelalter zumeist im Modus der sogenannten Adversus Iudaeos-Literatur; hierzu zählen Traktate, exegetische Schriften und vereinzelt auch literarische Dialoge, die formal in der Tradition des antiken philosophischen Lehrgesprächs standen und lediglich vorgaben, eine reale Gesprächssituation widerzuspiegeln [14]. Gerichtet waren solche Schriften in erster Linie an Christen, die in ihrem Glauben bestärkt werden sollten; die Texte können also eher als apologetisch charakterisiert werden, auch wenn sie gegen Juden und Judentum polemisieren [15]. Die als gegnerisch präsentierte Religion und der von dieser erhobene bzw. ihr zugeschriebene Wahrheitsanspruch ist somit lediglich als Kontrastfolie präsent, vor deren Hintergrund die christliche Lehre entfaltet und begründet wird.

Die Forschung hat sich sowohl mit der Adversus Iudaeos-Literatur als auch mit den sog. Religionsdialogen verschiedentlich beschäftigt, doch kranken etliche Studien daran, dass sie den Verfassern literarischer Dialoge einen missionarischen Impuls unterstellen, obwohl sich Missionsabsichten kaum je explizit nachweisen lassen [16]. Vielmehr stand bei den Autoren der Adversus Iudaeos-Traktate stets die Absicht im Vordergrund, die eigene, christliche Gemeinschaft in ihrem Glauben zu bestärken, in ihrer Überzeugung, sich zur einzig wahren Religion zu bekennen. Zwar bemühten sie sich in der Regel, nur solche Evidenzmittel heranzuziehen, die auch für Juden akzeptabel erscheinen konnten, doch hinsichtlich der eigenen Glaubwürdigkeit konnten sie gegenüber Juden nie wirklich überzeugend sein, denn weder die apostolische Tradition noch die herkömmliche Bibelhermeneutik, nach dem Muster der typologischen, moralischen und anagogischen Exegese, war in den Augen von Vertretern des rabbinischen Judentums auch nur annähernd plausibel.

Noch die literarischen Dialoge der Frühscholastik kommen in der Regel ohne eine ‚reale‘ jüdische Beteiligung aus ( auch wenn sie dies zum Teil vorgeben ); vielmehr handelt es sich bei ihnen um eine Entfaltung philosophischer und theologischer Argumente vor der Folie eines imaginären jüdischen Adressaten; der eigene Wahrheitsanspruch wird also gegenüber einer literarischen Figur entfaltet, die von eigenen Prämissen ausgehend konstruiert wird [17]. Die neuere Forschung hat herausgearbeitet, dass die Verfasser, wie Petrus Abälard, aber auch später Raimundus Lullus und Nikolaus Cusanus, vornehmlich das eigene Theologie- und Wissenschaftsverständnis entfalten wollen, wenn sie ein imaginäres Glaubensgespräch schildern, das häufig in einem ahistorischen, zuweilen sogar himmlischen Kontext angesiedelt wird, womit ein in erster Linie theoretisches Interesse markiert wird, das allerdings von Cusanus durchaus in seiner Bedeutung für das alltägliche Zusammenleben profiliert wird [18].

Da sich die tatsächliche Austragung von Wahrheitskonkurrenzen auf der Grundlage literarischer Religionsdialoge, die tatsächlich nur den Standpunkt einer Seite, die noch dazu mit der machtpolitischen Position der Dominanzkultur identisch war, nur schwer analysieren lässt, soll im Folgenden ein anderer Zugriff gewählt werden. Dabei werden solche Fälle in den Blick genommen, bei denen im Zuge der Formulierung konträrer Wahrheitsansprüche zumindest eine jüdische Stimme zu Wort kommt, und sei es die eines Konvertiten, der auf seine Herkunftsreligion zurückblickt [19]. Dabei wird zunächst ein autobiographisch grundiertes, fiktives Lehrgespräch in den Blick genommen, sodann die offene Form antagonistischer Konfrontation auf den hoch- und spätmittelalterlichen Zwangsdisputationen. An letzteren mussten Juden gezwungenermaßen teilnehmen, ihre Äußerungen sind in – zum Teil nachträglich umgeschriebenen ,Protokollen‘ – präsent, und die Ereignisse wurden auch im Nachgang in jüdischer Historiographie reflektiert [20].

2. Frühmittelalterliche Voraussetzungen: Bodo-Eleazar und Paulus Alvarus

Eine besondere Form, gewissermaßen eine Vorstufe zu den ( tatsächlichen ) hoch- und spätmittelalterlichen Religionsgesprächen, stellt der Briefwechsel zwischen dem zum Judentum konvertierten Christen Bodo-Eleazar und dem christlichen Autor Paulus Alvarus von Córdoba aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts dar [21]. Es handelt sich hier um den Austausch zweier historischer Personen über traditionelle Themen der Adversus Iudaeos-Literatur, mit Bezug auf biblische Belegstellen, geführt unter den Bedingungen islamischer politischer Herrschaft, der im Briefcorpus des Paulus Alvarus überliefert wurde. Welchen Anstoß eine derartige, auf Augenhöhe geführte Korrespondenz mit einem gebildeten Repräsentanten des Judentums erregen konnte, bei dem es sich noch dazu um einen abtrünnigen, aber geweihten christlichen Kleriker handelte, geht daraus hervor, dass die einzige erhaltene Handschrift dieses Briefwechsels im hohen Mittelalter verstümmelt wurde, so dass die Briefe des jüdischen Autors nur in wenigen Fragmenten erhalten sind und ansonsten aus den Worten seines Kontrahenten erschlossen werden müssen.

Die selbstbewusste Artikulation konkurrierender Wahrheitsansprüche wurde offenbar als zu gefährlich empfunden, selbst wenn christliche Widerlegungen und Antworten im Codex daneben standen. Bedingung für diese gleichberechtigte Artikulation des jüdischen Standpunkts waren die anders gearteten Bedingungen politischer Herrschaft in al-Andalus. Während die sonstigen antijüdischen Schriften in einer Situation christlicher politischer Herrschaft verfasst wurden, lebten und schrieben Bodo-Eleazar und Paulus Alvarus unter islamischer Herrschaft, so dass der Jude mit dem Christen auf Augenhöhe verkehren konnte, in einer weitgehend symmetrischen Kommunikationssituation. Unter diesen Voraussetzungen konnte der Vertreter des Judentums selbstbewusster und zudem eigenständig agieren; es handelt sich nicht um eine literarische Figur, die von einem Christen gestaltet wurde, um letztlich die Wahrheit des eigenen Standpunkts zu erweisen; vielmehr kann der Konvertit Eleazar auf eigene biographische Erfahrungen als Christ zurückgreifen, die einen höheren Grad an Authentizität erzeugen.

Seine Erfahrungen am Hof Kaiser Ludwigs des Frommen werden von ihm so als Evidenz gegen die Wahrheitsansprüche des Christentums in Stellung gebracht, und die Glaubwürdigkeit des Christentums wird durch autobiographisch grundierte polemische Angriffe unterminiert. Die physische Tilgung des Hauptteils der Briefe aus dem Codex unicus beweist die Wirksamkeit der solcherart vorgebrachten Angriffe auf den christlichen Wahrheitsanspruch. Die argumentative Polemik wurde später als so wirksam empfunden und wegen ihrer offenkundigen Glaubwürdigkeit gefürchtet, dass der tatsächlichen argumentativen Entgegnung durch den christlichen Kontrahenten nicht mehr allein vertraut wurde; nur die physische Eliminierung der jüdischen Stimme in einem Akt der Büchervernichtung schien einem späteren Leser geeignet zu sein, die Aufrechterhaltung des christlichen Wahrheitsanspruchs hinreichend gewährleisten zu können.

3. Die scholastische Wende: ein epistemischer Umbruch als Resultat transkultureller Kontakte

In der Frühscholastik wurde die Methode Anselms von Canterbury von seinen Schülern auch in literarischen Dialogen angewandt, die thematisch in der Tradition der patristischen Adversus Iudaeos-Literatur stehen, jetzt aber neben dem Schriftbeweis durch auctoritates, also bestimmte klassische Belegstellen aus dem Alten Testament, auch der Vernunft eine zentrale Rolle als Evidenzmittel zuweisen [22]. Trotz dieser neuen, rationalen Argumentationsmethode handelte es sich aber erneut um Lehrtraktate, die lediglich vorgaben, reale Gesprächssituationen widerzuspiegeln [23]; der Jude ist noch immer eine literarische Figur, die ganz von christlichen Prämissen ausgehend gezeichnet wird und letztlich den Wahrheitsanspruch des Christentums erweisen soll [24]. Auf diesen Fluchtpunkt zielt letztlich auch das ‚Opusculum de conversione sua‘ des Hermannus quondam Iudaeus aus dem 12. Jahrhundert, wo der bekehrte Jude „vom Lehrer des Irrtums zu einem Schüler der Wahrheit“ avanciert [25].

Auf eine neue Stufe wurde die jüdisch-christliche Auseinandersetzung über religiöse Wahrheitsansprüche im hohen Mittelalter gehoben: Christliche Theologen wurden durch jüdische Konvertiten darauf aufmerksam gemacht, dass zeitgenössische Juden nicht mehr ausschließlich nach den Maximen des Alten Testaments, der Hebräischen Bibel, lebten, sondern ebenso nach den Überlieferungen der rabbinischen Literatur, namentlich des Babylonischen Talmuds [26]. Die Erkenntnis, dass es sich beim zeitgenössischen Judentum nicht mehr um ein biblisches, sondern vielmehr um ein rabbinisches Judentum handelte, bedeutete eine erhebliche Störung der hergebrachten Routinen antijüdischer Argumentationsmuster. In die Krise geriet damit auch die herkömmliche Position der Juden als ( vermeintliche ) Zeugen der christlichen Wahrheit, wie sie vom Kirchenvater Augustinus formuliert worden war. Zudem war die Wahrheitskonkurrenz fortan nicht mehr primär auf die Deutung bestimmter alttestamentlicher Schriftbelege ausgerichtet, denn die kanonischen Schriften des rabbinischen Judentums vergrößerten das Reservoir von Evidenzmitteln [27]. Der Verweis auf die rabbinische Literatur konnte allerdings auch die Glaubwürdigkeit des jüdischen Standpunktes erschüttern; zumindest war dies die Intention der jüdischen Konvertiten, die den christlichen Klerikern erstmals Kenntnis vom rabbinischen Corpus verschafften.

Der aragonesische Konvertit Petrus Alfonsi verfasste zu Beginn des 12. Jahrhunderts einen höchst originellen literarischen Dialog, der formal als Selbstgespräch zwischen dem jüdischen und dem christlichen Ich des Autors erscheint: Moses und Petrus treten einander gegenüber und verkörpern die jeweilige religiöse ,Identität‘ des Verfassers [28]. Die Personalisierung erzeugt dabei Authentizität und Aufrichtigkeit. Der Autor inszeniert seine bereits erfolgte Bekehrung zum Christentum als Konsequenz seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem rabbinischen Judentum, mit dem Islam und mit der katholischen Lehre. Erstmals im lateinischen Mittelalter finden sich hier lateinische Zitate aus der rabbinischen Literatur und aus dem – bis dahin nicht übersetzten – Koran, womit das Arsenal herkömmlicher Evidenzmittel erheblich erweitert wurde. Es ging nicht mehr wie bei Paulus Alvarus und Bodo-Eleazar um alttestamentliche Bibelverse und deren Auslegung, sondern zusätzlich auch um rabbinische Aggadot aus der mündlichen Torah sowie um Verse aus der heiligen Schrift des Islams, der erst seit dem hohen Mittelalter von besonders sachkundigen katholischen Beobachtern als eigenständige, und noch dazu monotheistische Religion wahrgenommen werden konnte. Indem Petrus Alfonsi seiner Abfolge von zwölf Dialogen zwei Prologe voranstellt, in denen er seine persönliche Lebensgeschichte gezielt modelliert und zuspitzt, bemüht er eine zuvor nicht angewandte Strategie der Glaubwürdigkeitserzeugung: Seine Bekehrung soll als folgerichtiges, geradezu zwingendes Ergebnis eines lebenslangen Lernprozesses erscheinen, wobei sich der Autor zur Evidenzproduktion in typisch frühscholastischer Manier auf Autoritäten stützt und zugleich auch auf die Vernunft beruft [29]. Die Glaubwürdigkeitserzeugung durch autobiographische Prologe und die analoge Konstruktion der beiden Gesprächspartner ist eine Form der Authentifizierung, wodurch die Potentiale, die das Genre des literarischen Dialogs eröffnet, gezielt zur Profilierung des christlichen Wahrheitsanspruchs eingesetzt werden können.

Im Prolog führt der Autor aus, dass er nicht mit Argumenten in Gesprächen überzeugt wurde, sondern dass Gott ihn vom Schleier befreit habe, der offenbar die Wahrheit verhüllte, womit ein seit der Antike bemühtes antijüdisches Narrativ verwendet wird; bezeichnend ist in diesem Kontext aber die Akteurszuschreibung:

Omnipotens suo nos spiritu inspirauit et ad uie recte semitam direxit tenuem prius oculorum albuginem et post graue corrupti animi uelamentum remouens. Tunc nobis prophetiarum claustra patuerunt et earum archana reuelata sunt et admouimus animum ad percipiendum uerum earum intellectum moratique sumus super ipsum explanandum [30].

Noch vor dem Beginn des inszenierten literarischen Dialogs legt der Autor ein christliches Glaubensbekenntnis ab, so dass seine Bekehrung nicht als Ergebnis irgendwelcher Gespräche erscheint. Der Impuls zur Bekehrung wird vielmehr auf die göttliche Gnade zurückgeführt, nicht auf die Austragung irdischer Wahrheitskonkurrenzen: Cum itaque diuine miserationis instinctu ad tam excelsum huius fidei gradum peruenissem, exui pallium falsitatis et nudatus sum tunica iniquitatis et baptizatus [ … ] [31].

Erst im Anschluss hieran schildert der Autor seine Auseinandersetzungen mit seinen ehemaligen, jüdischen Glaubensbrüdern: Manche beschuldigten ihn der Schamlosigkeit, andere des Karrierismus, wieder andere des falschen Schriftverständnisses. Der Autor erklärt, zur eigenen Rechtfertigung den sich anschließenden Dialog verfasst zu haben: [ A ]d ultimum etiam omnes cuiuslibet christiane legis aduersarii obiectiones posui positasque pro meo sapere cum ratione et auctoritate destruxi [32]. Er bemüht also die beiden typisch scholastischen Evidenzmittel, steigert aber zugleich die eigene Glaubwürdigkeit durch das originelle autobiographische Setting und die entsprechende Rahmung des Religionsgesprächs.

Anders als spätere Konvertiten empfing Petrus Alfonsi keine kirchliche Weihe, auch schloss er sich keinem Orden an, wobei zu bedenken ist, dass zu seinen Lebzeiten die von den meisten späteren Konvertiten als neue institutionelle Heimat gewählten Bettelorden noch nicht existierten [33]. Im Unterschied zu vielen späteren Konvertiten trat Petrus auch nicht in die Dienste christlicher Herrscher, um öffentlichkeitswirksam politische und religiöse Wahrheitsansprüche zu begründen und zu verfechten [34]. Seine Lebenssituation blieb von professioneller Vereinzelung geprägt; die mit seiner Taufe gleichwohl verbundenen Karrierehoffnungen richteten sich auf die angestrebte Position eines Lehrers medizinischen, astronomischen und lebenskundlich-pragmatischen Wissens, das durchweg aus der arabisch-islamischen Welt stammte [35]. Petrus Alfonsi war also ein cultural broker par excellence, der dem lateinischen Westen orientalisches Wissen zu vermitteln suchte, das auch im Dialog im Rahmen der Widerlegung des Judentums eine Rolle spielt. Eine von ihm angewandte Strategie zur Glaubwürdigkeitserzeugung besteht darin, den Anschein zu erwecken, eine Antwort auf jüdische Kritiker zu verfassen, auch wenn er sich klar an eine christliche Leserschaft richtet [36].

Hiermit deutet sich der epistemische Umbruch des hohen Mittelalters an: Jüdische Konvertiten erschlossen neue Wissensbereiche sowohl naturkundlicher als auch theologischer Art, die als Evidenzressourcen zur Begründung von Wahrheitsansprüchen eingesetzt werden konnten. Dabei stilisierten sich die Konvertiten zu einer neuen Elite, die in transkultureller Grenzüberschreitung neue Wissensbereiche erschloss und für künftige Auseinandersetzungen über Wahrheitsansprüche zur Verfügung stellte. Der Nutzung jüdischer Texte durch christliche Polemiker stand spiegelbildlich eine analoge Praxis jüdischer Polemiker gegenüber; vor allem seit dem 13. Jahrhundert wurden auf beiden Seiten in zunehmendem Ausmaß Argumentationsressourcen aus dem Arsenal des Gegners benutzt [37].

4. Zwangsdisputationen: Inszenierung religiöser Wahrheitskonkurrenzen

4.1 Öffentliche Polemik und politische Ordnung

Petrus Alfonsi und andere Autoren des 12. Jahrhunderts hatten sich noch des Mittels literarischer Dialoge bedient. Zudem hatte er darauf verzichtet, solche Passagen aus dem Talmud zu zitieren, die antichristliche Schmähungen enthielten, und sich darauf beschränkt, Abschnitte heranzuziehen, die seinem Verständnis von Vernunft und Naturkunde zu widersprechen schienen [38]. Im 13. Jahrhundert kam es zu einem grundlegenden Wandel in den medialen Bedingungen, unter denen jüdisch-christliche Gesprächssituationen inszeniert und kommuniziert wurden. An Kirchenportalen wurden die allegorischen Figuren von Ecclesia und Synagoga einander kontrastiv in einem hierarchisch akzentuierten Verhältnis gegenübergestellt, markiert durch triumphale Erkenntnis einerseits und ( zugeschriebene ) Blindheit andererseits.

Zeitgleich sahen sich Repräsentanten des Judentums mehrfach herausgefordert, an öffentlich aufgeführten dialogischen Schauverhandlungen bzw. Zwangsdisputationen teilzunehmen, bei denen die christliche Seite in der Regel von einem konvertierten Juden eingenommen wurde, der aus seiner Kenntnis der rabbinischen Überlieferung heraus versuchte, den Wahrheitsanspruch des Judentums gezielt zu untergraben. Die erstmals von Petrus Alfonsi mobilisierten Argumente aus der rabbinischen Überlieferung wurden jetzt öffentlich in mündlicher Rede vorgebracht [39], wobei es den gegen ihren Willen zur Teilnahme verpflichteten Repräsentanten des Judentums zudem in der Regel verwehrt war, die Wahrheit der christlichen Lehre allzu offen in Frage zu stellen [40]. Diese trotz gelegentlich gewährter Redefreiheit grundsätzlich vorhandene strukturelle Benachteiligung führte dazu, dass das traditionelle antijüdische Argument der vermeintlichen Blindheit, des mangelnden Schriftverständnisses, nicht allzu offen konterkariert werden konnte. Durch stete Wiederholung dieses – auch bei Petrus Alfonsi zitierten Topos – und dessen bildhafte Vergegenwärtigung an der Fassade von Kirchengebäuden wurde der Vorwurf allerdings zu einem ikonischen Element und konnte so als sprichwörtlicher Kern von antijüdischer Propaganda dienen, die deutlich sichtbar nach außen in die Stadtgesellschaft hinein kommuniziert wurde.

Voraussetzung für diese neue Stufe christlich-jüdischer Auseinandersetzung, die mit einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung des christlichen Wahrheitsanspruchs einherging, war der vorausgegangene epistemische Umbruch, der auf das Wirken jüdischer Konvertiten zurückging: Christliche Theologen ,entdeckten‘ die rabbinische Literatur, namentlich den Talmud, und sie erkannten, dass sie es nicht mehr mit einem alttestamentlich-biblischen, sondern mit einem rabbinischen Judentum zu tun hatten. Aus der rabbinischen Literatur, der mündlichen Torah, bezogen sie fortan neue Evidenzressourcen, die an die Seite biblischer Belege und scholastischer Vernunftgründe traten. Es ist vermutlich kein Zufall, dass ab Anfang des 13. Jahrhunderts auch keine literarischen Judendialoge mehr überliefert sind [41].

Schon im Dialog des Odo von Cambrai ( verfasst zwischen 1106 und 1113 ) war das „Scheitern des Vernunftbeweises“ inszeniert worden [42]. Der jüdische Gesprächspartner Leo hält dort an der „Wahrheit Gottes“ ( veritas rei ) fest, die er nicht den Worten des Christen ( verbis vestris ) ausliefern will; die persönliche Gottesbeziehung ist ihm wichtiger, als sich Vernunftgründen anzuvertrauen, auch wenn ihm diese plausibel erscheinen [43]. Damit wurde eingeräumt, dass existentielle Wahrheitsüberzeugungen nur bedingt durch Argumente zu erschüttern sind [44], was womöglich auf tatsächlichen Erfahrungen beruht, die bei Religionsgesprächen gemacht wurden, zugleich aber auch mit dem eingangs angeführten Verständnis des hebräischen Begriffs emet korreliert, der als Ausdruck einer persönlichen Beziehung verstanden wird, insbesondere zu Gott als dem treuen und somit ,wahren‘ Stifter des Bundes mit dem Volk Israel. Wahrheit erscheint so als Korrelat und Resultat existentieller, emphatisch geteilter Grundüberzeugungen, die durch theoretisch hergeleitete Argumente nicht zu erschüttern ist. Solche Grundüberzeugungen waren auch emotional abgestützt und sozial verankert, so dass konkurrierende Wahrheitsansprüche in der Regel als unplausibel abgewehrt werden konnten.

Auf die epistemische Wende zu Beginn des Hochmittelalters folgte die Entstehung einer neuen Elite, der Mendikanten, deren Orden institutionell mit dem Milieu der neu entstandenen Universitäten verquickt waren. Für die Zwangsdisputationen entscheidend war jedoch nicht die universitäre Prägung der Disputanten und ihre Kenntnis der dortigen Disputationspraxis [45], sondern ihr persönlicher Lebensweg als Konvertiten. Anders als Petrus Alfonsi beschränkten sie sich nicht auf einen literarischen Dialog zur nachträglichen Rechtfertigung eines persönlichen Glaubenswechsels; sie traten in aggressiver Weise als Denunzianten auf, die die rabbinische Literatur zunächst als Quelle unwahrer Behauptungen über Gott und die kirchliche Lehre inkriminierten, wohingegen spätere Konvertiten behaupteten, aus dem Talmud die Wahrheit der christlichen Lehre erweisen zu können. Anders als der professionell isolierte Petrus Alfonsi wurden die Mendikanten durch ihren jeweiligen Orden, zumeist die Dominikaner, gestützt; die auch an den Universitäten aktiven Orden boten den Konvertiten eine institutionelle Stütze und zugleich ein Forum für ihre antijüdischen Aktivitäten [46]. Aus Sicht der Orden wiederum waren die Renegaten geeignet, das Renommee der eigenen Institution zu steigern, die den Anspruch erhob, den geistlichen und weltlichen Autoritäten nützliches Wissen bereitstellen zu können, mit dem Machtansprüche gestützt und ( vermeintliche ) Gegner entlarvt werden konnten [47]. Anders als bei den literarischen Dialogen lässt sich bei den Zwangsdisputationen eine missionarische Absicht annehmen; bezeichnenderweise spricht Robert Chazan diesbezüglich von einer „new ( ! ) proselytizing argumentation.“ [48]

Mit den Zwangsdisputationen war noch eine weitere Neuerung hinsichtlich der Intensivierung der christlich-jüdischen Auseinandersetzung verbunden: Den mendikantischen Eiferern gelang es, kirchliche und politische Autoritäten für ihr Anliegen zu mobilisieren [49]. Unter König Ludwig IX. von Frankreich wurde auf Veranlassung des Konvertiten Nicholas Donin 1240 ein Talmudprozess in Paris abgehalten, dem 1242 eine großangelegte Talmudverbrennung folgte. Ein noch größeres mediales Echo fand das 1263 auf Veranlassung Jakobs I. von Aragón anberaumte Streitgespräch von Barcelona. Ebenfalls im Königreich Aragón veranstaltete Papst Benedikt XIII. 1413/14 die Zwangsdisputation von Tortosa, die zu einem Zeitpunkt stattfand, als die jüdischen Gemeinden auf der Iberischen Halbinsel im Gefolge der nach 1391 entfesselten Pogrome bereits stark in die Defensive geraten waren.

Einerseits beförderte der steigende Konversionsdruck auf Juden die Herausbildung und ständige zahlenmäßige Verstärkung einer neuen theologischen Elite von Konvertiten, andererseits stand dieser Art von Elitenbildung die zunehmende Popularisierung antijüdischer Vorwürfe gegenüber. Die Zwangsdisputationen können geradezu als ein Forum verstanden werden, vor dem solche Vorwürfe jetzt jenseits traditionell akademischer Zirkel ventiliert und verbreitet wurden. Antijüdische Vorwürfe wurden nicht mehr nur, wie zuvor, in gelehrten Traktaten behandelt; sie wurden jetzt europaweit bildlich an den Portalen von Kirchen und in Spanien ( und in nachträglicher Stilisierung auch in Frankreich ) auch vor dem Forum einer politischen Öffentlichkeit propagiert, um die Juden zu stigmatisieren. Die konkurrierenden Wahrheitsansprüche wurden dabei auch politisch virulent, denn über sie wurde zusätzlich auch die Legitimität der politischen Ordnung verhandelt [50]. Die politische Dimension der damit verhandelten Machtansprüche verweist zugleich auf die den Bereich des Religiösen überschreitende Bedeutung, die den erhobenen Wahrheitsansprüchen zukam [51].

Traditionellen theologischen Grundannahmen folgend wurde das Christentum seit der Antike als Religion propagiert, die allen Menschen den Weg zum Heil eröffnen würde, womit ein universaler Wahrheitsanspruch verknüpft war. Demgegenüber erschien das Judentum aus christlicher Perspektive als partikulare, ethnisch fixierte Religion, deren Wahrheitsanspruch mit dem Kommen des Messias in der Gestalt Jesu Christi überwurden worden sei. Die jüdischen Konvertiten als neue mendikantische Elite akzentuierten diesen Wahrheitsanspruch, insofern sie auch das traditionelle Zeugenschaftsargument konterkarierten und so die den Juden bisher gewährte, wenn auch prekäre, Situation am Rande der christlichen Mehrheitsgesellschaft in Gefahr brachten. Die Marginalisierung des Judentums wurde derart auf die Spitze getrieben, dass seine Fortexistenz unter Wahrung seiner bisherigen Identität in Frage gestellt wurde. Die Zwangsdisputationen waren ein Forum, vor dem genau dies befördert, wenn nicht sogar erreicht werden sollte.

Im 13. Jahrhundert vollzog sich demensprechend ein Übergang von privaten zu öffentlichen Disputationen; dort wurden religiöse Wahrheitsansprüche performativ verhandelt, auch unter Einsatz rhetorischer und emotionaler Strategien; es handelte sich um „public performance of truth.“ [52] Auf diesem Wege sollten monarchische, universitäre und kirchliche Machtansprüche bekräftigt und öffentlich eingeschärft werden. Dabei ging es nicht eigentlich um Wahrheitssuche, sondern um eine Demonstration existierender Wahrheitsansprüche, denn die gesellschaftlichen Positionen verschiedener Amtsträger gründeten genau auf solchen Wahrheitsbehauptungen: Sie beanspruchten, als Exponenten einer Macht aufzutreten, die auf althergebrachten, bewährten Wahrheitsansprüchen beruhte. Verschiedene gesellschaftliche Transformations- und Umbruchsprozesse hatten allerdings dazu geführt, dass solche Machtansprüche jetzt vor verschiedenen Öffentlichkeiten dargestellt, bekräftigt und verteidigt werden mussten [53].

4.2 Paris 1240/41: Der Talmud als umstrittene Evidenzressource

Der Konvertit Nicholas Donin, der Anstifter der Verurteilung von Paris, wandte sich zunächst an Papst Gregor IX., den er zu einer Verurteilung des Talmuds bewegen konnte, was die Voraussetzung dafür bildete, dass er Ludwig IX. von Frankreich zunächst zum Abhalten der Pariser Verhandlungen und dann zur ersten Talmudverbrennung veranlassen konnte [54]. Die 35 Anklagen Donins betrafen folgende Punkte:

  1. Jüdische Behauptungen über die Autorität des Talmuds

  2. Lehren, die antichristliches Verhalten implizieren oder sogar herausfordern

  3. Blasphemien gegenüber Gott

  4. Blasphemien gegen Jesus und Maria

  5. Blasphemien gegen die Kirche

  6. Lehren, die Juden Wohlergehen in der kommenden Welt verheißen, den Christen aber das Gegenteil

  7. Torheiten hinsichtlich biblischer Figuren

Die Reihenfolge des Vorgehens gegen die französischen Juden in Paris ist unklar [55]. Entweder gab es ( lediglich ) einen Inquisitionsprozess gegen den Talmud; der hebräische ,Bericht‘ ( über ein angebliches Streitgespräch ) wäre dann eine nachträgliche Stilisierung und Umdeutung der Ereignisse, um potentiellen jüdischen Disputanten für künftige Auseinandersetzungen Evidenz bereitzustellen [56]. Nach einer anderen Interpretation fand zunächst tatsächlich eine disputatio statt, wie sie im hebräischen Text gespiegelt ist, an die sich ein Inquisitionsverfahren anschloss, wie es in der lateinischen Überlieferung geschildert wird [57]. In diesem Fall wäre anzunehmen, dass zunächst in einer scholastischen Disputation die ( christliche ) Wahrheit bewiesen werden sollte, die dann in einem zweiten Schritt in einem Inquisitionsprozess auch juristisch zur Geltung gebracht wurde, indem man versuchte, die Juden als schuldige, also gewissermaßen wahrheitsunfähige Partei zu überführen. In den späteren Berichten wird suggeriert, dass bei dieser Gelegenheit erstmals eine jüdisch-christliche Disputation unter dem Vorsitz eines Universitätsvertreters stattgefunden habe, und dass erstmals eine universitäre disputatio in einem nichtakademischen Kontext veranstaltet worden sei [58]. Anders als für die späteren Fälle Barcelona und Tortosa ist die christliche Überlieferung für die Ereignisse von 1240 aber nicht eindeutig; dort wird Nicholas Donin nicht ausdrücklich als Teilnehmer erwähnt, ebenso wenig wie eine öffentliche Disputation [59].

Manches spricht dafür, dass sich die französischen Juden, trotz der Talmudverbrennung, erst im Umfeld der zweiten Pariser Disputation von 1272 verstärkt bedroht fühlten. In den 1240er Jahren waren nach dem Prozess keine polemischen Werke, sondern liturgische Dichtungen ( piyyutim ) verfasst worden, um die Erinnerung an die traumatischen Ereignisse zu bewältigen. Mehrere Jahrzehnte später jedoch wurde es als notwendig empfunden, antichristliche polemische Werke zu verfassen, und in diesem Zusammenhang wurden die Ereignisse der 1240er Jahre einer akzentuierten Umdeutung unterzogen [60]. Der von den französischen Juden empfundene Umbruch dürfte maßgeblich mit dem Eindruck der Zwangsdisputation von Barcelona von 1263 zusammengehangen haben, denn deren Protagonist, Pablo Christiani, war 1272 in Paris ebenfalls eine treibende Kraft.

Erst unter dem Eindruck der Disputation von Barcelona wurde das antijüdische Vorgehen der 1240er Jahre als Disputation geschildert. Im Rückblick wird daher dem Apostaten Donin dieselbe Rolle zugewiesen, wie sie Pablo Christiani in Barcelona eingenommen hatte. Nach dem Muster des von Nachmanides verfassten Berichts über die Konfrontation von Barcelona wurde jetzt Donin nachträglich als inkompetent denunziert und lächerlich gemacht, um die Glaubwürdigkeit der rabbinischen Überlieferung und deren Deutung durch die zeitgenössischen Rabbinen zu stärken. Joseph Official, der Autor des hebräischen Berichts über den Prozess ( bzw. die angebliche Disputation ) von 1240, übernimmt sogar die relativierenden Äußerungen des Nachmanides hinsichtlich des normativen Status der Aggadah, womit die von den Konvertiten beigebrachte neue Evidenz untergraben und deren Glaubwürdigkeit erschüttert wird [61].

Eine weitere literarische Strategie des Joseph Official besteht darin, nach dem Vorbild der Disputation von Barcelona zu behaupten, dass auch das Pariser Verfahren in Gegenwart von König und Königin geführt wurde, die allerdings nicht namentlich genannt werden. Die behauptete Präsenz des Königs wird nach Hames allerdings zugunsten der der Königin zurückgestuft, womit dieses erfundene Detail weniger angreifbar schien, als wenn die Anwesenheit Ludwigs IX. selbst fälschlicherweise unterstellt worden wäre [62].

Im Anschluss an den Talmudprozess von Paris und die sich anschließende Talmudverbrennung wandten sich die Vertreter des französischen Judentums an den neuen Papst Innozenz IV., gegenüber dem sie beklagten, ohne den Talmud ihre Religion nicht ausüben zu können. Überraschenderweise ordnete der Papst daraufhin eine Revision des Talmudprozesses an, der freilich erneut mit einer Verurteilung endete. Bemerkenswert ist allerdings die Evidenzproduktion, die mit den beiden Pariser Talmudprozessen der 1240er Jahre einherging: Nachdem Nicholas Donin bei seinen Anklagen gegenüber Gregor IX. 35 Anklagepunkte gegen den Talmud vorgebracht hatte, produzierten Pariser Gelehrte zunächst eine wesentlich umfangreichere Übersetzung von Exzerpten aus dem babylonischen Talmud, die entsprechend der talmudischen Ordnung präsentiert wurde. Um die antijüdische Argumentation gegenüber dem neuen, nachgiebigeren Papst Innozenz IV. zu stärken, wurde diese Übersetzung dann erneut thematisch arrangiert, wobei zusätzlich die ursprünglichen Anklagepunkte des Nicholas Donin integriert wurden, wie Alexander Fidora herausgearbeitet hat [63].

Die Versuche der französischen Juden, Innozenz IV. zur Restitution der talmudischen Schriften zu veranlassen, blieben letztlich erfolglos; sie mündeten jedoch in die zweite Kompilation talmudischer Exzerpte in lateinischer Sprache, die einer systematischen Widerlegung rabbinischer Lehren dienen sollte. Theologische Gelehrte arbeiteten offenbar kontinuierlich an der Produktion neuer Evidenzmittel, wobei sie zeitgleich auch an den Papst appellierten, nicht etwa die Glaubwürdigkeit der kirchlichen Lehre in Frage zu stellen, indem er den Juden zu weit entgegenkam.

So schrieb Kardinal Odo von Châteauroux, ein franziskanischer Theologe und ( ehemaliger ) Kanzler der Universität Paris, an Innozenz IV.:

Ut autem sanctitatem vestram non lateat processus quondam habitus circa libros predictos, et ne contingat aliquem circumveniri in isto negotio astutia et mendaciis Judeorum, noverit sanctitas vestra, quod tempore felicis recordationis D. Gregorii pape quidam conversus, Nicolaus nomine, dicto summo pontifici intimavit, quod Judei lege veteri quam Dominus per Moysen in scriptis edidit non contenti; imo prorsus eamdem pretermittentes, affirmant legem aliam que Thalmud, id est doctrina, dicitur, Dominum edidisse [ … ] in qua tot abusiones et tot nefaria continentur, quod pudori referentibus, et audientibus sunt horrori, et hanc esse causam precipuam que Judeos in sua perfidia retinet obstinatos. [ … ] Et esset scandalum non minimum, et Sedis Apostolice sempiternum opprobrium, si libri coram universitate scholarium et clero et populo Parisiensi tam solemniter et tam juste concremati, mandato Apostolico tolerarentur, vel etiam magistris Judeorum redderentur, hec enim tolerantia quedam approbatio videretur [64].

Die in dieser Sache letztlich siegreiche Fraktion Pariser Theologen behauptete also, die Glaubwürdigkeit des päpstlichen Amtes wäre bei einer Rückgabe des Talmuds an die Juden bedroht gewesen. Das Argument beruhte letztlich auf der bereits erfolgten medialen Inszenierung der Talmudverbrennung, die bei einer Revision gewissermaßen nachträglich desavouiert worden wäre. Die mutmaßlich von Donin aufgestachelten Theologen operierten somit auf zwei Ebenen: Zum einen betrieben sie die physische Zerstörung derjenigen gegnerischen Evidenzmittel, von denen sie eine Bedrohung des eigenen Wahrheitsanspruchs befürchteten; zum anderen aber übersetzten sie Teile der inkriminierten Bücher ins Lateinische, um das eigene Vorgehen zu rechtfertigen und die Glaubwürdigkeit des eigenen Standpunkts zu untermauern. Die Ermahnung an den Papst bedeutet zugleich auch die ostentative Einnahme einer warnenden, reflektierenden Beobachterposition: Der Papst würde der Glaubwürdigkeit der eigenen Sache schaden, wenn er gegnerischen Argumenten Glauben schenkte, da er so antichristliche Blasphemien erneut als Evidenz im Streit um die theologische Wahrheit zulassen würde.

Daher gelangten die Pariser Gelehrten, darunter Albertus Magnus, zu folgendem Urteil, mit dem sie ihr ursprüngliches Votum aufrecht erhielten:

[ … ] super quibusdam libris Judeorum, qui Talmut appellantur, presentibus magistris Judeorum [ … ] pronuntiamus predictos libros tolerandos non esse, nec magistris Judeorum restitu( t )i debere, et ipsos sententialiter condemnamus [65].

Im Kontext dieses Revisionsprozesses dürften die lateinischen Talmudexzerpte thematisch neu arrangiert worden sein, und zwar unter Aufnahme von Zitaten aus den Anschuldigungen des Nicholas Donin; zusätzlich hat Fidora die These stark gemacht, dass sich auch die thematische Anordnung an der Ordnung Donins orientiert [66]:

  • De auctoritate Talmud

  • De sapientibus et magistris

  • De blasphemiis contra Christum et beatam virginem

  • De blasphemiis contra Deum

  • De malis quae dicunt de goym, id est christianis

  • De erroribus

  • De sortilegiis

  • De somniis

  • De futuro saeculo

  • De Messia

  • De stultitiis

  • De turpitudinibus et immunditiis

  • De fabulis

Ausgehend von Darlegungen über den normativen und ontologischen Status des Talmuds, der mündlichen autoritativen Überlieferung, wird also an zweiter Stelle die gelehrte Elite behandelt, die ihr symbolisches Kapital in der Tat von der Offenbarung und Überlieferung eben der mündlichen Torah ableitete. Diese Falsifizierung des rabbinischen Autoritätsverständnisses und des damit einhergehenden Wahrheitsanspruchs bildet dann die Grundlage für die verschiedensten Beschuldigungen, die in der Folge gegen die angeblichen Irrtümer und Blasphemien der Juden gerichtet werden.

Die Glaubwürdigkeit dieser neu produzierten antijüdischen Evidenz beruhte einerseits auf der Konstatierung inhaltlicher Widersprüche zu christlichen Lehren; sie gründet aber letztlich eben in der Zurückweisung des rabbinischen Autoritäts- und Wahrheitsanspruchs. Sowohl durch ihre ontologische und historische Herleitung als auch durch inhaltliche ,Analyse‘ soll die rabbinische Literatur als falsche Evidenz ,entlarvt‘ werden, die keine Glaubwürdigkeit beanspruchen kann. In einem gewissen Spannungsverhältnis hierzu steht die Produktion zweier lateinischer Fassungen ebendieser angeblich falschen Evidenz; aber dies wurde offenbar für nötig gehalten, um deren Glaubwürdigkeit untergraben zu können. Das Schwanken Papst Innozenz’ IV. könnte hierzu als Rechtfertigung gedient haben: Wenn schon der Nachfolger Petri geneigt schien, jüdischen ,Einflüsterungen‘ nachzugeben, um wie viel notwendiger erschien es den Pariser Gelehrten dann, entsprechende Evidenz zu produzieren, um jedem Christen die Unhaltbarkeit des rabbinischen Standpunktes und des jüdischen Wahrheitsanspruchs verdeutlichen zu können. Dies ging für die Theologen klar aus dem angeblichen rabbinischen Anspruch hervor, die Worte der schriftlichen Torah, also der Hebräischen Bibel bzw. des Alten Testamentes, zu ersetzen, ja zu zerstören: „And they were able to overturn the words of the written Law ( quod sapientes vel scribae verba legis scriptae destruere potuerunt sic probatur [ … ] ).“ [67] Hierbei handelte es sich aber um eine bewusste polemische Verzerrung des jüdischen Kanonverständnisses.

Der nachträgliche Umgang mit der Disputation von 1240 zeigt, dass bereits Zeitgenossen in eine Umdeutung involviert waren, die weitere Evidenz für jüdisch-christliche Auseinandersetzungen bereitstellen sollte: Der Pariser Dominikaner Thibaud de Sézanne, ebenfalls ein Konvertit, war nicht nur an der Übersetzung rabbinischer Texte beteiligt, sondern er erstellte auch einen parteilichen und entsprechend akzentuierten Bericht über die Disputation, der als Anleitung für künftige vergleichbare Unternehmungen dienen sollte [68]. Als Reaktion auf solche Versuche wiederum verfassten jüdische Autoren polemische Werke mit Gegenargumenten, ebenfalls in Dialogform, wie Milḥemet Mizvah ( „Pflichtkrieg“ ) von Meir ben Shimʿon. In diesem Werk wird ein Gegner, ein anonymer Dominikaner, als männliche Hure kritisiert; hierbei könnt es sich um den Konvertiten Pablo Christiani handeln, den Protagonisten der Disputation von Barcelona [69].

4.3 Barcelona 1263: Die umstrittene theologische Expertise eines Konvertiten

Pablo Christiani, schon durch seinen Namen unschwer als Konvertit zu erkennen, gewann Jakob I. von Aragón dafür, 1263 die Disputation von Barcelona abzuhalten [70]. Nachmanides, der gezwungenermaßen als Vertreter der Juden auftreten musste, ließ sich vorher vermutlich Redefreiheit zusichern [71]. An mehreren Tagen musste er in Anwesenheit des Hofes und mehrerer Gelehrter im königlichen Palast und einem Kloster mit dem Konvertiten disputieren, der versuchte, die Wahrheit des christlichen Glaubens aus der talmudischen Überlieferung zu beweisen. Zu den Anwesenden gehörten sowohl Raimund von Peñaforte als auch – vermutlich – Raimund Martini, der spätere Autor der antijüdischen Schrift ‚Pugio fidei‘ ( ca. 1278 ). Das öffentliche Spektakel wurde bewusst auf seine Propagandawirkung hin inszeniert; auch der Ortswechsel dürfte diesem Ziel gedient haben [72].

Aufgrund seines autobiographischen Hintergrundes wurde dem Konvertiten von seinen Ordensbrüdern eine genuine Kenntnis der neuen Evidenzressourcen zugeschrieben; wie alle Renegaten des 13. Jahrhunderts stilisierte er sich zum Experten in einer konkurrierenden Überlieferung, deren Wahrheitsanspruch er allerdings nicht zu unterminieren, sondern für sich zu nutzen suchte. Indem er beanspruchte, den christlichen Autoritäten authentisches Wissen über deren ( angebliche ) jüdische Gegner zur Verfügung zu stellen, produzierte er – teilweise verfälschte – Evidenzmittel, deren Authentizität und Glaubwürdigkeit er durch biographisches Zeugnis untermauern wollte.

Nachmanides ließ im Nachgang ein hebräisches Protokoll verbreiten, das den jüdischen Standpunkt bekräftigte und vermutlich als Handbuch dienen sollte, das Evidenzmittel für weitere Streitgespräche bereithielt [73]. Womöglich gegen solche Intentionen richten sich mehrere königliche Dekrete, die sicher auf Betreiben der Dominikaner erlassen wurden, in denen Juden aufgefordert werden, von Pablo Christiani bezeichnete Bücher heranzuschaffen, die anschließend unter Mithilfe von Raimund von Peñaforte zensiert und von allen antichristlichen Passagen ,bereinigt‘ wurden [74]. Damit sollten Juden ihrer Evidenzmittel beraubt werden, ihre kanonische Überlieferung wurde amputiert. Außerdem wurden die Juden im ganzen Königreich Aragón verpflichtet, sich dominikanische Missionspredigten anzuhören, wie es schon unmittelbar nach der Disputation in der Synagoge von Barcelona der Fall war, als auch der König selbst das Wort ergriff [75].

Eine der von Nachmanides angewandten Strategien der Glaubwürdigkeitserzeugung bestand darin, die erste Person Singular zu benutzen [76]. Der Wortführer des Judentums wies zudem darauf hin, dass den aggadischen Legenden des Midrasch kein dogmatisch normativer Status zukam, anders als dies vom Konvertiten Pablo Christiani behauptet wurde [77].

Das hebräische Protokoll, ‚Sefer ha-Vikuaḥ‘, nutzt rhetorische Strategien, wie direkte und dialogische Rede, Antithesen und rhythmische Strukturen, was der Argumentation eine didaktische Form verleiht [78]. Auch rhetorische Fragen und Ironie werden gelegentlich eingesetzt, wodurch eine emotionale Ansprache der Rezipienten erreicht wird [79]. Der Text eignete sich also als Gegenevidenz, um die antijüdischen Argumente zu widerlegen, wie sie etwa von Raimund Martini in seinem Werk ‚Pugio fidei‘ vorgebracht wurden, der das Problem der Wahrheitskonkurrenz offensiv anging, indem er den Rabbinen eine verzerrte Schriftexegese und einen verfälschten Text des Alten Testaments vorhielt [80].

Im lateinischen Protokoll wird gleich anfangs programmatisch die Wahrheitskonkurrenz profiliert, indem auf die Wahrheit des ( christlichen ) Glaubens und die Irrtümer der Juden verwiesen wird, wobei zusätzlich auch deutlich auf die Aspekte von Öffentlichkeit und Vertrauen hingewiesen wird [81]. Wenn es heißt, dass der Konvertit dem „jüdischen Magister [ … ] durch die bei den Juden allgemein verbreiteten und als authentisch angenommenen Schriften ihrer Reihenfolge nach“ die Wahrheit christlicher Glaubensinhalte beweisen würde, so könnte es sich hier um einen Hinweis auf die zuvor in Paris erstellte Übersetzung ‚Per ordinem sequentialem‘ handeln [82]. Die Rolle der Vernunft, die in den literarischen Dialogen der Hochscholastik einen so bedeutenden Rang eingenommen hatte, erscheint in den Protokollen der Disputation von 1263 wesentlich geringer; hier soll die Wahrheit aus „alten und authentischen Büchern“ zwingend erweisen werden. Im lateinischen Protokoll wird auch den Aggadot ein kanonischer und normativer Status zuerkannt.

Raimund Martini verfasste nach 1263 zwei Werke, in denen er neue antijüdische Argumente präsentierte, die dem christlichen Standpunkt, wie er vornehmlich von Dominikanern formuliert wurde [83], neue Glaubwürdigkeit verschaffen sollten: Zunächst 1267 ‚Capistrum Iudaeorum‘, dann 1278 ‚Pugio fidei‘ [84]. Durch Analyse der dortigen Argumentation ist es möglich, in Einzelfällen ein genaueres Bild davon zu bekommen, was Nachmanides in Barcelona tatsächlich gesagt haben könnte, denn Martini präsentiert talmudische Zitate so, dass ihre Anführung plausibler erscheint als im überlieferten Text des hebräischen Protokolls. So kann die geschickte Argumentationsstrategie des jüdischen Repräsentanten nachvollzogen werden, der seinen Gegner durch selektive Zitate ausmanövrierte: „Nahmanides’s answer to Friar Paul is as clever as Martí’s interpretation: By jumping from one sentence of the Talmudic text to the next, he could start with a quotation from the same part of Sanhedrin, use the words of the Talmudic text in the context in which Rashi put them, and thus gain a text totally different from what Friar Paul had in fact said.“ [85] Die überaus geschickte Argumentationsstrategie des Nachmanides ist somit weder im hebräischen noch im lateinischen Protokoll vollständig wiedergegeben [86].

In den einzelnen Texten, die im Nachgang der Disputation von 1263 in Umlauf gebracht wurden, werden unterschiedliche Plausibilisierungsstrategien genutzt; im Rahmen eines bereits traditionellen Diskurses über Irrtum, Wahrheit, Blindheit und Verstocktheit adressierten die Autoren Fragen wie Wahrheits- und Einsichtsfähigkeit sowie Wahrheits- und Einsichtsbereitschaft. Damit war nicht nur das Problem von Evidenzproduktion und Glaubwürdigkeit angesprochen, sondern auch die Frage der individuellen ( und kollektiven ) Disposition, die nicht nur von mentalen Voraussetzungen abhängig war, sondern ebenso – und noch viel mehr – von gesellschaftlichen und politischen Machtpositionen, individuellen und kollektiven Identitäten und sozialer Zugehörigkeit.

5. Argumentationsstrategien und Deutungsangebote

Die polemischen Texte jüdischer und christlicher Provenienz bedienten sich ab dem hohen Mittelalter einer doppelten Strategie: Zum einen wurde die Verteidigung der eigenen Religion vornehmlich dadurch versucht, dass die Wahrheitsansprüche der gegnerischen Überlieferung attackiert wurden, und zum anderen sollte die Argumentation des Gegners mit Evidenzmitteln aus dessen eigenem Reservoir untergraben werden [87]. Die Texte sind damit auch von vielschichtigen Verflechtungsprozessen charakterisiert, die auf Übersetzungen, Zitaten und Transkriptionen beruhen [88].

Die polemische Akzentuierung und Inszenierung des christlichen Wahrheitsanspruchs beruhte auf dem Wirken der mendikantischen Renegaten, die als cultural broker im negativen Sinn agierten. Die Zwangsdisputationen boten ihnen eine Bühne, um sich als Experten zu inszenieren; die durch Konversionsdruck und Bekehrungsprozesse beförderte wachsende Verflechtung von rabbinischem Wissen und christlicher Theologie bot die Voraussetzung für eine neue Stufe antijüdischer Polemik, die anders als vorher mit politischem Machtansprüchen einherging und von politischen Gewalten gestützt wurde. Die mendikantischen Experten als neue Form der Elite suchten die eigene Karriere zu befördern, indem sie als Stütze päpstlichen Kirchenregiments und monarchischer Autorität auftraten.

Durch die Veranstaltung von Zwangsdisputationen, basierend auf einem epistemischen Umbruch, der Entstehung einer neuen Elite und dank der Mobilisierung politischer und kirchlicher Institutionen gelang es den antijüdischen Polemikern im hohen Mittelalter, den traditionellen Adversus Iudaeos-Diskurs institutionell und intellektuell auf eine neue Stufe zu heben, was mit einer öffentlichkeitswirksamen Schärfung des christlichen Wahrheitsanspruchs verbunden war. Dies ging einher mit einer zunehmenden Verflechtung jüdischer und christlicher Perspektiven [89]: Während christliche Autoren, zumeist Konvertiten, zunehmend Evidenzmittel jüdischer Provenienz in ihre Argumentation integrierten, um glaubwürdiger zu wirken, stützen sich auch Autoren jüdischer Verteidigungsschriften, die überhaupt erst seit dem 11. Jahrhundert überliefert sind [90], auf christliches Traditionsgut, allerdings mit einem anderen Ziel: Ihnen ging es nicht darum, ( zumindest ) den Anschein zu erwecken, auch den Gegner überzeugen zu wollen; ihr Anliegen blieb vielmehr apologetisch ausgerichtet, sie wollten die jüdische Gemeinde so gut wie möglich gegenüber christlichen Angriffen immunisieren [91]. Jüdische und christliche Texte verfolgten, bei aller notwendigen Differenzierung jedes Einzelfalls, also grundlegend unterschiedliche Zwecke [92]. Eine Integration beider Argumentationsrichtungen ist in jüngerer Zeit in Gestalt einer „Polemologie“ versucht worden [93].

Die Zwangsdisputationen boten auf Profilschärfung bedachten Eliten die Möglichkeit, sich selbst auf Kosten diskriminierter Minderheiten in Szene zu setzen. Sie bedienten sich dazu eines neu geschaffenen Forums, das ihnen die Möglichkeit zu entsprechender Selbstdarstellung bot. Dieses neue Forum beruhte auf der institutionellen Transformation der etablierten Form des akademischen Dialogs und der universitären Disputation. Auch in diesen Vorgängerformen, dem philosophischen und literarischen Dialog oder dem fingierten oder echten Briefwechsel, ging es um die Begründung, Verteidigung und Infragestellung von Wahrheitsansprüchen. Nur außerhalb von Bereichen unmittelbarer christlicher Dominanz, wie im islamisch beherrschten al-Andalus, konnte eine solche Auseinandersetzung über konkurrierende Wahrheitsansprüche unter symmetrischen Machtverhältnissen stattfinden. Zumeist entstanden die Texte, die der Adversus Iudaeos-Literatur zugeordnet werden können, jedoch unter christlicher Herrschaft, und in der Regel wurde die Position des Judentums auch nicht von einem tatsächlichen Repräsentanten dieser Religion vertreten, sondern von einer literarischen Figur, die von einem christlichen Autor nach seinen Vorstellungen komponiert wurde. Bei den Zwangsdisputationen wurden erstmals tatsächliche Repräsentanten des Judentums öffentlich vorgeführt, die mit Renegaten konfrontiert wurden, deren strukturell überlegene Position sich aus politischer Privilegierung und autobiographischer Stilisierung gleichermaßen speiste [94]. Die Zwangsdisputationen boten ein Medium zur Konstruktion und Propagierung eines gegen eine Minderheit gerichteten Feindbildes, das auf der Infragestellung und polemischen Delegitimierung des als konkurrierend empfundenen Wahrheitsanspruchs einer anderen Religion basierte.

Den jüdischen Teilnehmern solcher Disputationen war wohl bewusst, was für sie auf dem Spiel stand: „a public performance of their faith and identity.“ [95] Sie wehrten sich, indem sie die Waffen ihrer Gegner gegen diese kehrten: durch apologetische und polemische Schriften, die sich häufig ebenfalls der Dialogform bedienten. Noch stärkerem Druck sahen sich die Vertreter des Judentums 1413/14 in Tortosa in Gegenwart des Papstes ausgesetzt; die Disputation erstreckte sich über 22 Monate, in den ersten acht Sitzungen mündlich, anschließend auf der Grundlage schriftlicher Stellungnahmen, die in das Protokoll integriert wurden. Zu Beginn jeder Session wurden theologische Thesen proklamiert, die den Lauf des Gesprächs vorgaben und das „Szenario eines öffentlichen Prozesses“ nahelegten [96]. Durch autoritative Vorgabe wurde eine Wahrheitsbehauptung postuliert, so dass das Format der Disputation nicht mehr im philosophischen Ringen um die Wahrheit bestehen konnte. Joseph Albo als Repräsentant des Judentums versuchte, sich diesem autoritativ vorgebrachten Wahrheitsanspruch zu entziehen, indem er es vermied, auf einzelne Punkte einzugehen, sondern stattdessen die Argumentation als Ganze in Frage stellte, etwa indem er den Messiasglauben nicht für zwingend notwendig erklärte [97]. Damit entzog sich Albo dem Konsensdruck, der durch das starke Machtgefälle erzeugt wurde; er verweigerte sich der argumentativen Einheit der Wahrheit, die ihm mit großer Vehemenz aufgezwungen werden sollte, indem das entsprechende Adjektiv sogar mehrfach in den Superlativ gesetzt wurde [98]. Trotzdem widerstanden die Repräsentanten des Judentums dem Druck, dem mit politischer Unterstützung vorgebrachten christlichen Wahrheitsanspruch zuzustimmen.

Die Zwangsdisputationen boten ein Paradigma für ( vorgeblich ) öffentliche Wahrheitssuche und Wahrheitsinszenierung. Gesellschaftliche Institutionalisierungs- und Differenzierungsprozesse schufen die Voraussetzung für eine Unterscheidung zwischen ( theologischen ) Experten und einem Publikum ( von Laien ), zu dem auch Vertreter sozialer Eliten gehörten. Die vorangehende, etablierte Textform der Dialoge, aber auch aller anderen Formen der Adversus Iudaeos-Literatur, bot die Voraussetzung, nachträglich ‚Protokolle‘ der Disputationen zu verfassen, womit post festum Evidenz produziert wurde, die für künftige argumentative Zwecke bereitgestellt wurde. Durch Reframing wurden dabei zuweilen auch frühere Auseinandersetzungen nachträglich als Disputationen präsentiert, was sowohl der Evidenzproduktion als auch der Glaubwürdigkeitserzeugung diente. Der mit diesen Entwicklungen einhergehende Umbruch beruhte erstens auf der scholastischen ,Entdeckung‘ des Vernunftarguments, zweitens auf der ,Entdeckung‘ der rabbinischen Literatur durch christliche Theologen, die Originalzitate und Übersetzungen in ihre Texte integrierten, drittens auf der königlichen, kirchlichen und ( zumindest in Paris ) womöglich auch universitären Patronage und viertens auf der durch öffentliche Aufführung intendierten politischen Wirkung.

Der Umbruch erstreckt sich dabei auch auf verschiedene Dimensionen des Medienwandels bzw. Medienwechsels: die Übersetzung theologischer Quellentexte ( in beide Richtungen ), die zunehmende Verwendung der Volkssprache für einschlägige Texte, den erstmaligen Einsatz visueller Medien zur Darstellung von Disputationen ( in illuminierten Handschriften, Holzschnitten, aber auch Skulpturen ) und schließlich durch die performative Inszenierung der zuvor an das Medium der Literatur gebundenen Streitgespräche [99].

Nicht vergessen darf man in diesem Kontext Strategien der Juden, die das Überleben des jüdischen Volkes im Exil gewährleisten sollten. Nach der Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel 1492 verfasste Shlomo Ibn Verga ein umfassendes Geschichtswerk, ‚Shevet Jehuda‘, in dem er die Verfolgungen der Juden während ihrer gesamten Geschichte, einschließlich der Zwangsbekehrungen und der Zwangsdisputationen, rekapitulierte und aus einer neuen Perspektive deutete [100]. Überraschenderweise scheint bei ihm der religiöse Wahrheitsanspruch relativiert, zuweilen sogar ausgeklammert zu werden; daher bedient sich der Autor häufig des Mittels der Ironie, und die von ihm geschilderten Religionsgespräche orientieren sich nicht an philosophischen und theologischen Prämissen, denn sie „laufen nicht deduktiv, sondern assoziativ ab.“ [101] An die Stelle des Wahrheitsanspruchs tritt bei Ibn Verga ein Postulat historischer Kontinuität als Kern der Geschichte des jüdischen Volkes, die dessen Identität durch alle Schicksalsschläge hindurch gewährleisten soll. Das Ziel des Autors scheint darin zu bestehen, dass ein Bewusstsein jüdischer Identität auch in den Bedrängnissen des Exils, in unterschiedlichen Diasporasituationen, unter allen Umständen aufrecht erhalten werden soll. Zu fragen wäre, ob dies nicht als eine Methode verstanden werden kann, das jüdische Geschichtsverständnis unter allen Umständen vor propagandistischer Verunsicherung zu schützen und weitestgehend zu immunisieren. Schließlich besteht nach George Orwell der effektivste Weg der Propaganda darin, das Geschichtsverständnis der Menschen zu zerstören, womit sie ihre Gruppenidentität verlieren und in der nachfolgenden Vereinzelung umso effektiver in ihrer Individualität zerstört, d. h. umgepolt werden können. Ibn Verga tritt solchen Gefahren entgegen, indem er die eigene Geschichte als eine Geschichte ( letztlich heroischen ) Widerstandes glorifiziert, womit er sich eines bewährten Mittels der Gegenpropaganda bedient. Ibn Verga transzendiert die konkurrierenden Wahrheiten, indem er sich durch Ironie von ihnen distanziert, indem er Wahrheitsansprüche relativiert und die historische Überlieferung letztlich in einem literarischen Prozess des Reframing perspektiviert, um das Überleben des Judentums auch im Angesicht des für seine Zeitgenossen wohl schlimmsten vorstellbaren Leides, der Vertreibung aus Spanien und Portugal, in einer neuen Phase des Exils sicherzustellen.

Aus der Perspektive von Dominanz und Teilhabe ergibt sich die Frage, ob sich die auf das Zeugnis von Konvertiten gestützte Begründung und die polemische Instrumentalisierung des christlichen Wahrheitsanspruchs als Ausdruck der Kolonialität des Wissens deuten lässt. Koloniale Machtausübung beruht in der Regel auf der Kooperation oder Kooptation autochthoner bzw. indigener Eliten. Solche kolonialen Eliten stellen häufig Wissensbestände bereit, die von den politischen Machthabern zur Sicherung ihres Herrschaftsanspruchs benutzt, instrumentalisiert, angeeignet und zum Teil auch umgedeutet werden [102]. Aus der Perspektive der Beherrschten erscheinen solche Eliten oft als Kollaborateure oder Renegaten. Letztere gliedern sich ihrerseits häufig in Institutionen der Kolonialmacht ein, eignen sich dort imperiales Wissen an und ergreifen je nach Gelegenheit Karriereoptionen, entweder im imperialen Zentrum oder in den kolonialisierten Peripherien. Es wäre zu fragen, ob sich derartige Mechanismen der Machtausübung und der Elitenbildung auch im französischen und spanischen Mittelalter finden. Die Konvertiten stellten den christlichen Machthabern spezifisches Wissen bereit, das gewissermaßen geplündert und angeeignet wurde, und zwar zum Zweck der Deklassierung der jüdischen Minderheit. Einen Höhepunkt erlangte diese Kolonialisierung und Aneignung jüdischen Wissens erst mit der christlichen Kabbala in der Zeit des Humanismus, doch wäre zu fragen, ob hier nicht eine Tradition kulminierte, die von Petrus Alfonsi – noch weitgehend unpolemisch – begründet wurde, dann aber von den Übersetzern und Kompilatoren der ‚Extractiones de Talmud‘ und von den mendikantischen Regisseuren der Zwangsdisputationen geschärft und machtpolitisch akzentuiert wurde [103].

Zu bedenken ist dabei auch, dass nahezu zeitgleich an den Portalen gotischer Kirchenbauten die visuelle Kontrastierung der triumphierenden Ecclesia und der besiegten, gebrochenen Synagoga eben diese asymmetrische Propagierung religiöser Wahrheitsansprüche sichtbar dokumentierte [104]. Das Ziel solcher hierarchischen Gegenüberstellungen bestand in der Untermauerung von Herrschaftsansprüchen und Machtverhältnissen. Die antijüdische Bildpropaganda kann, ebenso wie die Zwangsdisputationen, als Ausdruck einer „persecuting society“ ( R. I. Moore ) verstanden werden, die mit einer zunehmenden Marginalisierung von Außenseitern einherging, denen im Fall der jüdischen Minderheit auch mit Mitteln polemisch geschärfter Wahrheitsansprüche die Daseinsberechtigung entzogen werden sollte. Im Zuge der Prüfung, inwieweit postkoloniale Ansätze zur Analyse der christlich-jüdischen Auseinandersetzungen fruchtbar gemacht werden können, wäre auch die Frage des jüdischen Widerstandes zu adressieren, einerseits auf der Ebene der vorgebrachten Argumente – etwa der Klärung des argumentativen Status der rabbinischen Aggadah als Evidenzmittel –, andererseits im Hinblick auf Formen und Methoden der Verbreitung des jüdischen Standpunkts im Sinne einer Counterhistory, etwa durch die hebräischen ,Protokolle‘.

Ausgehend vom postkolonialen Ansatz wäre also zu untersuchen, wie die Zwangsdisputationen – ein Forum, vor dem konkurrierende Wahrheitsansprüche ausgetragen wurden – als Herrschaftsinstrument eingesetzt wurden. So wäre etwa zu zeigen, wie sie genutzt wurden, um symbolisches Kapital von Herrschaftsträgern wie König und Papst zu generieren und zu inszenieren. Auch wäre zu untersuchen, wie die disputierenden jüdischen Konvertiten ihren Status als neue theologische Elite inszenierten und ob sie neben dem autobiographisch erworbenen Wissen auch traditionelles Wissen christlicher Provenienz von akademischen oder monastischen Institutionen für sich mobilisierten. Neben Herrschaftsträgern und Eliten wären auch die Vertreter der jüdischen Minderheit entsprechend in den Blick zu nehmen, um zu fragen, mit welchen Mitteln ( Emotionen, Wissensbeständen, Verleumdungen ) sie stigmatisiert und mit welchen Methoden ihr symbolisches Kapital entwertet, umgedeutet und angeeignet wurde. Schließlich wäre auch zu fragen, ob von einer Enteignung des rabbinischen Judentums gesprochen werden kann, die mit dem Ziel vorgenommen wurde, den christlichen Wahrheitsanspruch neu zu begründen, womöglich mit der Absicht, das Judentum ,endgültig‘ zu besiegen.

Im hohen Mittelalter blickte die Kirche auf eine lange Geschichte der Herabwürdigung, aber auch der Instrumentalisierung des Judentums zurück, etwa nach dem Muster der Ersetzungstheologie ( verus Israel ) oder der ,Übernahme‘ der Hebräischen Bibel als das christliche Alte Testament. In dieser Hinsicht wäre insbesondere das Zeugenschaftsargument zu überprüfen: War es tatsächlich so, dass Juden fortan nicht mehr als Zeugen der christlichen Wahrheit fungierten und somit ihren theologisch garantierten Platz innerhalb der christlichen Gesellschaft verloren? Es wäre nämlich zu fragen, ob nicht auch die ,Tradierung‘ ( auch im Sinne des ,Verrats‘ der Konvertiten ) als neue Form unfreiwilliger Zeugenschaft verstanden werden könnte. Auch der veränderte Status des Talmuds wäre hier in den Blick zu nehmen: Während die rabbinische Überlieferung zunächst als unwahr, häretisch und blasphemisch diffamiert wurde, mobilisierte man sie später als Evidenzmittel zur Begründung des christlichen Wahrheitsanspruchs, womit sich ihr ontologischer Status radikal änderte und womöglich eine neue Form unfreiwilliger Zeugenschaft begründet wurde. Durch Vermittlung der Konvertiten entstand eine neue Form theologischer Episteme, die durch die autobiographische Beglaubigung zugleich auch die assertorische Dimension des Wahrheitsbegriffs bedienen konnte. Letztlich sollte so auch der jüdische Anspruch auf eine theologische Wahrheit normativ entwertet werden. Gerade die Zwangsdisputationen dienten dem Zweck, die Fortexistenz des Judentums als distinkter Gruppe in Frage zu stellen, indem man das identitätsbegründende Narrativ des rabbinischen Judentums, den kanonischen Status der mündlichen Überlieferung, attackierte und dessen Wahrheitsanspruch auch axiologisch untergrub. Es wäre also zu untersuchen, mit welchen Mitteln das rabbinische Judentum durch intellektuelle Enteignung dekonstruiert und zerstört werden sollte.

Als selbstproklamierte Experten produzierten die Renegaten Evidenzmittel, deren Glaubwürdigkeit biographisch gestützt wurde. Hinzu trat, anders als in den literarischen Dialogen, eine professionelle Arroganz und polemische Vehemenz, die man – mit R. I. Moore – als Indikatoren einer „persecuting society“ deuten könnte, die der jüdischen Minderheit in einer wesentlich aggressiveren, dominanteren Art gegenübertrat, als dies in der Frühscholastik, etwa bei Petrus Alfonsi, der Fall war, und schon gar nicht unter den Bedingungen islamischer Herrschaft wie in al-Andalus. Die neuen Vertreter einer mendikantischen Elite agierten als Exponenten einer dominanten Kultur, an der sie selbst aufgrund ihrer Konversion Anteil erhalten hatten. Zugleich könnte man vermuten, dass das erstrebte Ziel, durch Disputationen eine breitangelegte jüdische Bekehrung zu erreichen ( das allerdings weitgehend verfehlt wurde ), darauf abzielte, die getauften Juden in die christliche Mehrheitskultur zu integrieren, ihnen also durch ,Teilhabe‘ Anteil an der Dominanzkultur zu verschaffen. Freilich wurde so in Kauf genommen, dass im Fall massenhafter Konversionen der Expertenstatus der mendikantischen Renegaten durch die Konkurrenz zahlreicher anderer Neuchristen gemindert worden wäre, was ja genau im Verlauf des 15. Jahrhunderts in Spanien geschah, allerdings nicht als Folge von Zwangsdisputationen.

Eine weitere Strategie der Glaubwürdigkeitserzeugung bestand in der Benutzung bestimmter Sprachen und auch Alphabete, um so der eigenen Argumentation größeres Gewicht und Autorität zu verleihen. Jüdische antichristliche Polemiker zitierten christliche lateinische Texte, sowohl das Alte und Neue Testament als auch liturgische Passagen, wobei sie den lateinischen Text zunächst in hebräischer Transliteration wiedergaben, bevor sie ihn übersetzten. Die Autoren scheinen keine vorliegenden Übersetzungen zitiert, sondern jeweils eigenständig ( neu ) übersetzt zu haben, was durch die abweichenden Transliterationen und Übersetzungsvarianten nahegelegt wird [105]. Durch die Benutzung der kanonischen Texte des Gegners ( wobei die jüdischen Autoren allerdings nicht zwischen kanonischen und apokryphen Schriften unterscheiden ) [106] inszenieren sie sich als Experten für die Episteme des Gegners, was noch dadurch akzentuiert wird, dass der Text gewissermaßen nostrifiziert wird, indem das hebräische Alphabet zur Wiedergabe benutzt wird; jüdische Autoren machten sich so die Autoritätsquellen des Gegners zu eigen, und sie integrierten sie in den eigenen Symbolhaushalt, womit die christlichen Autoritätsquellen als domestiziert erscheinen [107].

Auf der anderen Seite benutzten auch christliche Polemiker autoritative Texte jüdischer Herkunft. Raimund Martini zitiert jüdische Quellen auf Hebräisch und Aramäisch, wobei er für die Zitate das hebräische Alphabet benutzt, um so die eigene Expertise zu unterstreichen. Dabei ging es primär nicht darum, den Lesern bestimmte Kenntnisse zu vermitteln, sondern diese mit einem medial inszenierten Autoritätsanspruch zu beeindrucken [108]. Daneben könnte ein weiteres Ziel darin bestanden haben, späteren Polemikern ein Arsenal von Belegstellen zur Verfügung zu stellen, die aus verschiedenen Gründen besondere Glaubwürdigkeit beanspruchen konnten: wegen ihres propositionalen Gehalts, wegen ihrer symbolischen Form – entsprechend dem für die Gegenseite ,typischen‘ Alphabet – und wegen ihrer Anführung in den Werken ( erhofftermaßen ) angesehener christlicher Polemiker. Hierdurch könnte eine Praxis intendiert worden sein, mit Hilfe derer eine Kette autoritativer Überlieferung polemischer Argumente begründet wurde. Evidenz wurde nicht nur – wie zuvor – durch Zitate aus der Tradition auf der Inhaltsebene konstruiert, sondern auch symbolisch untermauert, entweder durch Transkription des originalen Wortlautes im ,eigenen‘ Alphabet, um das Zitat aus dem gegnerischen Belegreservoir akustisch nachvollziehbar zu machen, oder aber durch Anführung des Zitats im originalen Alphabet, womit ein entsprechender optischer Eindruck erzielt wurde. Sowohl die akustische als auch die optische Evidenz konnten dazu dienen, die eigene Expertise medial zu inszenieren, ihre Glaubwürdigkeit zu steigern und auf diese Weise für künftige Polemiker nutzbar zu sein [109].

Die intendierte Überzeugungskraft christlicher Argumentation wurde also in mehreren Stufen gesteigert: Hatte man sich in der Spätantike und im frühen Mittelalter mit biblischen Belegen begnügt, trat in der Frühscholastik das Vernunftargument hinzu. In der Hochscholastik wurde dann zusätzlich auch auf die rabbinische Literatur zurückgegriffen, um so durch neue Evidenzressourcen die Glaubwürdigkeit des christlichen Wahrheitsanspruchs untermauern zu können. Dies wurde wiederum nochmals gesteigert, wenn Zitate aus dem Talmud auch im hebräischen oder aramäischen Wortlaut und in hebräischer Quadratschrift präsentiert werden konnten. Die Argumentation erschien so abgesichert, fundiert auf Evidenz biblischer, philosophischer und rabbinischer Evidenz, die in jeweils möglichst originalem Wortlaut angeführt wurde, wobei man sich für philosophische und biblische Belege mit der lateinischen Fassung begnügte, die als ausreichend autoritativ angesehen wurde, was auch dadurch unterstrichen wird, dass auch jüdische Polemiker den lateinischen Wortlaut für ihre Zwecke als ausreichend ansahen. Das Griechische spielte in dieser Beziehung also keine Rolle, so dass die christliche Seite, selbst wenn sie gewollt hätte und dazu in der Lage gewesen wäre, durch zusätzliche griechische Zitate keine zusätzliche Glaubwürdigkeit für sich hätte generieren können. Anders verhielt es sich mit der Nutzung von Argumenten aus der jüdischen Tradition: So gelang es späteren Polemikern, wie Raimund Martini, die von Nachmanides genutzten Verteidigungsstrategien für die christliche Seite zu adaptieren [110]. Popularisiert und verbreitet wurden antijüdische Argumente auch in volkssprachlichen Texten, die ab dem Hochmittelalter in wachsender Anzahl verfasst wurden [111].

Die öffentliche Austragung der jüdisch-christlichen Wahrheitskonkurrenz im Hoch- und Spätmittelalter in verschiedenen Medien, zum Teil unter Beteiligung kirchlicher und monarchischer Autoritäten, sowie der differenzierte Einsatz von Evidenzmitteln aus eigener und fremder Tradition, können als Indiz dafür gewertet werden, dass der Austragung dieser Konkurrenzen eine politische Bedeutung zugeschrieben wurde. Dies gilt mutatis mutandis auch für die Autoren jüdischer Schriften, die auf eine Stabilisierung der jüdischen Gemeinschaft in der Diaspora abzielen. Zugleich verweisen diese Konkurrenzen darauf, dass ,Wahrheit‘ auch im Mittelalter umstritten war; ,Wahrheit‘ erweist sich auch für mittelalterliche Zeitgenossen als eine „kontextuelle Größe eben des Zusammenhangs, in dem ( sie ) selber stehen.“ Wichtig ist dabei ebenso der Hinweis, dass ,Wahrheit‘ bereits im Mittelalter „als unverzichtbares Element der Öffentlichkeit“ in Erscheinung trat [112].

Die politischen Konsequenzen konkurrierender Wahrheitsansprüche wurden daher nicht erst, wie behauptet wurde, „nach dem Zerbrechen der christlichen veritas in der Reformation“ [113] virulent, sondern erheblich früher. Es lohnt sich, die Konzentration auf das lateinischsprachige Schrifttum zu überwinden; dann wird die Vielschichtigkeit der kulturellen Überlieferung eines plurireligiösen Europas deutlich, das spätestens seit dem hohen Mittelalter mit den politischen Konsequenzen religiöser Wahrheitskonkurrenzen konfrontiert war.

Published Online: 2023-10-18
Published in Print: 2023-10-12

© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 21.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/fmst-2023-0004/html
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