Abstract
Lutwin’s late 13th century account of the lives and deaths of the protoplasts and their first descendants, ‘Eva und Adam’, employs traits and literary techniques usually associated with vernacular courtly literature to convey its religious message to an audience of German speaking nobility. Such techniques include the amplification of the source material by adding newly invented sequences to the narrative’s plot as well as a highly self-conscious narrator, reflecting on his role as a mediator of divine revelations while, at the same time, openly exhibiting his ability to orchestrate the events and characters within his narrative. For decades, the scientific community has been split over the question whether these features may present evidence that contemporaries might have viewed the majority of courtly epics and romance as purely fictional. However, considering the religious nature of Lutwin’s themes and statements, it seems unlikely to assume that a medieval audience had to actively suspend their disbelief in order to accept courtly adaptations of biblical stories. Applying the modern dichotomy between factuality and fictionality therefore leads us to regard Lutwin’s ‘Eva und Adam’ as a paradoxical text riddled with inconsistencies. The concept of ‘fideales Erzählen’, recently introduced by Elke Koch, provides an alternative and potentially more adequate means of describing the historical modes of conceiving and perceiving premodern religious literature. Accordingly, instead of empirical verifiability being the main criteria in determining the status of factual or fictional texts respectively, faith, divine inspiration and adherence to common orthodoxy could, in the notion of a medieval audience, enable authors to present truthful insights into otherwise unattainable religious truths. Based on Koch’s deliberations, this paper re-evaluates several aspects of Lutwin’s ‘Eva und Adam’ – most notably the conception of its narrator – which in the past would have been considered as traits of fictional literature. It can be shown that, although Lutwin acts as a conscious arranger of his narration, his account’s proclaimed verisimilitude remains unchallenged.
1. Heiliger Ernst und höfisches Spiel. Vom ( vermeintlichen ) Skandalon volkssprachiger Geistlicher Dichtung
Die Bearbeitung geistlicher Stoffe in der volkssprachigen Dichtung des 12.–14. Jahrhunderts lässt sich oftmals durch ein prägnantes Schlagwort charakterisieren: Höfisierung. Unter Einsatz verschiedener methodischer Zugänge konnte die germanistische Mediävistik aufzeigen, wie zahlreiche Texte ihre geistliche Thematik [1] für ein dezidiert höfisch-laikales Publikum erschließen und aufbereiten. So werden die heilsgeschichtlich bedeutsamen Erzählungen aus Bibel und Apokryphen mit Motiven der feudaladligen Repräsentationskultur angereichert, um plausibilisierende Motivationszusammenhänge erweitert und anstelle des gleichförmig-schlichten sermo humilis [2] der Offenbarungstexte bedienen sich die volkssprachigen Dichter häufig eines geschliffenen rhetorischen Stils voller Anspielungen auf bekannte Autoren der höfischen Romane und Minnelyrik [3]. Allen topischen Demutsbekundungen zum Trotz stellt sich in diesen Fällen dichterisches Selbstbewusstsein zur Schau [4].
Dass die genannten Verfahren in der volkssprachigen geistlichen Dichtung des Mittelalters weniger die Ausnahme als viel eher die Regel bilden, mag angesichts der uneinholbaren gravitas ihrer teils heiligen Textvorlagen zunächst verwunderlich erscheinen. Insbesondere der Bücherkanon der Bibel ist aufgrund der Annahme einer göttlichen Verbalinspiration seiner Schreiber in Inhalt und Wortlaut streng verbindlich, wenn auch grundsätzlich auslegungsbedürftig [5]. Dadurch gerät jedes Reformulieren und Neu-Auserzählen der christlichen Heilsgeschichte zu einem paradoxen Balanceakt:
Der Literarisierung des biblischen Prätextes, wenn man so will: dem Transfer religiöser Kommunikation in ein literarisches System, wohnt stets ein doppeltes Erfordernis inne: die Orientierung am geschlossenen Prätext, aber auch die Auseinandersetzung mit einem Transgressiven, das die lautliche und sinnhafte Geschlossenheit des Prätextes aufsprengt und das Wiedererzählen biblischer Ereignisse erst zu einem Erzählen im eigentlichen Sinne und nicht zur bloß reduplizierenden Wiedergabe des heiligen Textes macht [6].
Der höfische Modus des Wiedererzählens zeichnet sich zudem durch einen spezifischen Überbietungsgestus aus, der darauf abzielt, die in den Prätexten verhandelten Ereignisse und Sinnpotentiale besser, eindrucksvoller, klarer zu vermitteln, als dies den zugrundeliegenden Quellen gelingt [7]. Gemessen an den im Mittelalter äußerst populären, nicht-kanonischen Apokryphen, deren Wahrheitsgehalt es im Einzelnen zu bestimmen galt und deren Form dementsprechend auch tiefgreifenden Umarbeitungen ausgesetzt werden konnte [8], wirkt dieser Anspruch ambitioniert. Auf den Bibelkanon angewandt wird er prekär: Die christlichen Heilswahrheiten treffender zu präsentieren, als es die nach mittelalterlicher Überzeugung durch göttliche Offenbarung festgelegten Worte der Heiligen Schrift tun, kann nicht gelingen [9]. Hier wäre ein vorsichtigerer Umgang des Dichters mit seinem Stoff und eine spezielle Legitimationsstrategie seiner Unternehmung zu erwarten.
Das Heranziehen genuin höfisch-weltlicher Erzählkonventionen zur Vermittlung und Vergegenwärtigung von Heilsgeschichte vermag darüber hinaus in gleich mehrfacher Hinsicht zum Problem zu werden: Zunächst sieht sich die höfische erzählende Dichtung vonseiten des Klerus einer vehementen Kritik ausgesetzt, die nicht nur ihre inhaltliche Seite, sondern auch ihre ästhetische Komponente betrifft [10]. Zwar hat die Forschung gezeigt, dass sich die lateinischen Poetiken und Bewertungsmaßstäbe des Klerus in der Praxis höchstens indirekt auf die volkssprachig-höfische Literaturproduktion ausgewirkt haben dürften [11], ein erhöhter Legitimationsdruck ist dennoch insbesondere dann zu erwarten, wenn sich dichtende Laien geistlicher Stoffkreise bedienen und diese scheinbar unreflektiert höfisieren.
Daneben tritt mit der Frage nach dem Fiktionalitätsstatus höfischer Erzählmodi zumindest aus mediävistischer Perspektive ein weiterer Risikofaktor volkssprachiger geistlicher Dichtung hinzu. Die Forschungsdiskussion um die Existenz und Beschaffenheit mittelalterlicher Fiktionalitätskonzepte sowie eine eventuelle Anwendbarkeit moderner Begrifflichkeiten zur Beschreibung dieser Konzepte ist umfangreich, vielfältig und keineswegs abgeschlossen. Kritischen Stimmen zum Trotz, die eine dichotomische Differenzierung zwischen Wahrheit und ( literarischer ) Fiktion im Mittelalter nicht als gegeben erachten oder die Übertragung entsprechender Konzepte des 20./21. Jahrhunderts als anachronistisch beurteilen [12], hält sich andernorts die Überzeugung, anhand unterschiedlicher Textmerkmale aussagekräftige Hinweise auf ein produktions- und rezeptionsseitiges Bewusstsein für den fiktiven Charakter höfischer Literatur oder wenigstens für deren abseits der Alltagswirklichkeit liegenden Referenzrahmen ausmachen zu können [13]. Speziell dem Artusroman ist mehrfach ein selbstreflexives Spiel mit der eigenen Fingiertheit, die Ausstellung von Fiktionalität [14] attestiert worden. Ausgangspunkt dieser Beobachtungen sind seltener die mitunter phantastisch anmutenden Artefakte, Kreaturen und Motive der Aventiurewelt. Ihr Verhältnis zum historisch weit entfernten Wirklichkeitshorizont des Mittelalters ist in der Regel kaum methodisch stringent nachweisbar und in detaillierten Einzelanalysen gewonnene Erkenntnisse lassen sich schwerlich als Pauschalaussagen auf die ganze Bandbreite vormoderner Weltvorstellungen übertragen. Schon bei der analytischen Vorauswahl potentiell ‚phantastischer‘, ‚widernatürlicher‘ oder ‚wundersamer‘ Textelemente wird der moderne Blick auf das Untersuchungsobjekt bis zu einem gewissen Grad von einem empirischen Ontologieverständnis angeleitet, das mit mittelalterlichen Wissensordnungen nicht zur Deckung zu bringen ist. Es besteht also die Gefahr, aufgrund von impliziten Vorannahmen über den Faktualitäts- bzw. Fiktionalitätsstatus von Drachen, Zwergen, Einhörnern, Tarnkappen und Interventionen transzendenter Instanzen unzulässige Zirkelschlüsse zu produzieren. Besagter Problematik ist man sich in der Mediävistik bewusst [15].
Das Hauptinteresse der Fiktionalitätsforschung bilden daher viel häufiger die Text- und Selbstinszenierungstechniken der Erzählinstanz in den Romanen Chrétien’scher Prägung: Häufig tritt diese aus dem Schatten ihrer Erzählung hervor, kommentiert in längeren, die Handlung unterbrechenden Exkursen die Aktionen und Beweggründe der Figuren, interpretiert Ereignisse und lenkt so den Verstehensprozess der Rezipierenden [16]. Dabei thematisiert die Erzählstimme auch immer wieder, mitunter in ironischer Brechung, den Akt des Erzählens selbst, setzt sich somit als eine Instanz eigenen Rechts in ein Verhältnis zur Erzählung und macht zugleich deren grundsätzliche Abhängigkeit von ihrer Vermittlung durch die Erzählinstanz transparent [17]. Dadurch kann bisweilen die Artifizialität der Erzählung wie auch des Erzählten offengelegt werden. Die Rezeption jener Texte im Modus eines spielerischen ‚Als-ob‘ [18] wurde infolgedessen zur naheliegenden Schlussfolgerung erklärt [19], jedoch weicht eine derartige Einstellung ab von der Rezeptionshaltung, die heilige Offenbarungstexte mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch einfordern:
Im Als-Ob entblößt sich die Fiktion als solche und überschreitet dadurch die aus Kombination und Selektion gewonnene dargestellte Welt des Textes. Sie klammert diese Welt ein und macht dadurch zugleich deutlich, daß keine wahre Aussage über die in Klammern gesetzte Welt gemacht werden soll. Die Entblößung signalisiert im Prinzip zweierlei. Zunächst bedeutet sie für denjenigen, für den die Fiktion ins Werk gesetzt ist, daß sie als eine solche gewußt werden kann. Darüber hinaus besagt sie, daß hier nur die Annahme herrscht, eine dargestellte Welt sich so vorzustellen, als ob sie eine sei, um damit zu bekunden, daß sie Repräsentation von etwas anderem ist [20].
Dessen ungeachtet kommen in volkssprachigen narrativen Texten, die geistliche Inhalte, Glaubenswahrheiten und Heilsgeschichte thematisieren, regelmäßig die benannten Charakteristika höfischer Literatur zum Einsatz. Es wäre sicherlich zu weit gegriffen, davon auszugehen, dass überall dort, wo dies geschieht, die Geltung des Erzählten relativiert, eingeklammert oder gänzlich auf eine abstrakte moralisch-ästhetische Ebene verschoben werden soll. Anne Sophie Meincke hat mit ihrer Analyse der Prologe im ‚Reinfried von Braunschweig‘ überzeugend darlegen können, dass metanarrative Stellungnahmen von Seiten der Erzählinstanz keinesfalls per se als metafiktionale Indikatoren einer Textrezeption unter Distanzprämissen aufzufassen sind [21]. Die von Scheffel sowie Martínez [22] im Anschluss an Genette [23] als hinreichendes und zugleich notwendiges Fiktionalitätsmerkmal benannte Scheidung der Erzählinstanz von der Person des/der Autor:in und die daraus resultierende „doppelte Kommunikationssituation [ … ] fiktionale[ r ] Rede“ [24] ließe sich an den untersuchten Passagen nicht ablesen. Es sei zumeist völlig unklar, ob eine vom Autor bewusst und frei entworfene Erzählerrolle oder aber der Autor selbst die Stimme ans Publikum richte [25]. Außerdem gibt Meincke auf einer grundsätzlicheren Ebene zu bedenken, dass schon die Verortung metafiktionaler Rede innerhalb eines Textes ohne die Identifikation sonstiger Hinweise auf dessen Fiktionalitätsstatus methodisch unzulässig sein kann:
Indem poetologische Reflexion als Metafiktion in dem von Martinez [ sic! ] und Scheffel [ … ] anvisierten Sinne überhaupt nur dann gelten kann, wenn sie von einem Erzähler ausgeht, ist es nicht möglich, anhand von poetologischer Reflexion zu beweisen, daß ein Erzähler spricht – was aber bewiesen werden müßte, um dem betreffenden Text Fiktionalität bescheinigen zu können. [ … ] Das aber bedeutet nichts anderes, als daß die anhand textinterner Merkmale zu beweisende Fiktionalität qua Autor-Erzähler-Differenz textextern längst angenommen ist und als solche in jeden ( vermeintlichen ) textinternen Beweis immer schon eingeht, da sich andernfalls nicht einmal der Anschein eines ‚Beweises‘ einstellen würde. Mit anderen Worten: Um Elemente poetologischer Selbstreflexion als metafiktional ausmachen zu können, muß vorher bekannt sein, ob ein Text fiktional ist oder nicht; der Begriff der Metafiktion setzt den der Fiktion voraus. Dies hat zur Folge, daß die Beantwortung der Frage, ob Elemente poetologischer Selbstreflexion in einem Erzähltext als Fiktionssignale zu werten sind, stets zusätzlicher para- oder kontextueller Kennzeichnungen oder auch extratextueller Wissensbestände bedarf, anhand derer die im Text erscheinende narrative Instanz als Autor oder als Erzähler identifiziert werden kann [26].
Passende extra- oder paratextuelle Informationen liegen der germanistischen Mediävistik bekanntlich nur in sehr begrenztem Umfang vor. Somit lassen sich letzten Endes nur recht vage und unsichere Aussagen über die historische Rezeptionshaltung in puncto höfischer Literatur treffen [27]. Jeder rein textintern operierende Rekonstruktionsversuch kann hier lediglich Bruchstücke und Indizien zutage fördern. Dennoch sollte die Mediävistik angesichts der Fiktionalitätsfrage nicht in einen gänzlich passiven Skeptizismus verfallen. Es gilt, den tatsächlich vorliegenden Aussagegehalt metanarrativer Passagen im Einzelfall kritisch zu überprüfen, um nicht auch hier alte Prämissen hinsichtlich der Alterität bzw. Modernität mittelalterlicher Literatur den Forschungsdiskurs bestimmen und spalten zu lassen.
Ist die Frage nach dem Fiktionalitätsstatus höfischen Erzählens folglich nicht abschließend beantwortet, so stellt sie sich unter veränderten Gesichtspunkten ebenfalls in Bezug auf die vormoderne geistliche Dichtung im Allgemeinen. Wie bereits angedeutet, tritt die amplifizierende Bearbeitung heilsgeschichtlich relevanter Stoffe nach heutigem Empfinden in ein Spannungsverhältnis zum abgeschlossenen Bestand an Offenbarungswissen, den heilige Schriften transportieren. Zwar ist bekannt, dass es beispielsweise auch den Evangelien als kerygmatischen Texten mehr an Glaubenswahrheiten als an historischen Detailfragen gelegen ist. Trotzdem bereitet der offensichtlich fingierende Umgang mittelalterlicher Autoren mit ihrem Quellenmaterial erhebliche Schwierigkeiten bei der adäquaten Erfassung des zugrunde liegenden dichterischen Selbstverständnisses und Wahrheitsanspruchs. Unlängst hat Elke Koch mit dem Begriff des ‚fidealen Erzählens‘ eine Auflösung der strengen Dichotomie von Fiktionalität und Faktualität bei der Kategorisierung von Texten vorgeschlagen, deren „Aussagen über unverfügbare Bereiche von Wirklichkeit“ rezeptions- wie produktionsseitig „Gültigkeit zuerkannt wird“ [28]:
Fideales Erzählen ist Erzählen aus dem Glauben heraus, um Glauben zu erzeugen oder zu stärken, und zwar im Sinne einer existenziellen Vertrauenshaltung auf etwas, das man nicht wissen kann, oder über das man jedenfalls nicht so verfügen kann, wie über irgendeinen anderen Wissensbestand. Es ist in anderer Weise an kollektive Vorverständigungen über Weltkonzepte gebunden als fiktionales oder faktuales Erzählen. Es schafft weder frei imaginierte Welten wie fiktionales Erzählen, noch geht es, wie faktuales Erzählen, in dem Anspruch auf, wahre Aussagen über das zu machen, was Menschen wissen können [29].
Entscheidend für das ‚korrekte‘ Erzählen von Heilsgeschichte ist demnach die rechte Glaubenshaltung der Äußerungsinstanz sowie die Vereinbarkeit mit bestehenden Orthodoxien, weniger die Garantie historisch-empirischer Wirklichkeit [30]. Der Glaube ist es letztlich auch, der zwischen Autor:innen und Rezipierenden Klarheit über den Geltungsbereich von und die einzunehmende Haltung gegenüber fideal konzipierter Literatur stiftet: „Die kommunikationspragmatische Rahmung fidealer Texte beinhaltet ein Einvernehmen im Glauben, das zirkulär ist: Man muss glauben, um zu glauben.“ [31] Hierin besteht das Pendant zum Fiktionalitätskontrakt respektive zur Verpflichtung des Aussagesubjekts auf faktische Wirklichkeit, die für andere Textgattungen konstitutiv sind [32]. Kochs Vorstoß stellt eine Auflösung der von der Fiktionalitätsforschung vielfach wahrgenommenen Widersprüchlichkeiten mittelalterlichen geistlichen Erzählens in Aussicht. Dadurch könnte mittelfristig eine u. a. von Sonja Glauch als Missstand interpretierte Tendenz zur Beschreibung vormoderner Literatur als paradox überwunden werden:
Was [ … ] als Grenzfall der heutigen Fiktionalitätspraxis erscheint, kann ein paradigmatischer Fall einer historischen Praxis gewesen sein. Mehr noch: Die historische Praxis als solche wird dann der heutigen Praxis lediglich ähneln. Das Ziel der mediävistischen Literaturwissenschaft muss nun natürlich sein, die historische Praxis nicht als einen Grenzfall der rezenten Praxis zu zeichnen, sondern sie in ihrer Eigenart zu bestimmen [33].
Unabhängig davon, ob Glauch in ihrer Einschätzung generell beizupflichten ist oder ob hier und da mittelalterliche Autoren nicht doch programmatisch und intentional Grenzräume der Fiktionalität ausloten, erscheint es vielversprechend, bei zukünftigen Analysen eine alternative, fideale Rahmung der Textrezeption und -produktion mitzudenken. Freilich steht die breitere Erprobung der Tragfähigkeit von Kochs Begriffsbildung noch aus. Es bleibt zu überprüfen, ob sich anhand der lateinischen Werke Williams von Malmesbury beobachtete Indikatoren eines Bewusstseins unterschiedlicher Gattungen „mit je eigenen Konzeptualisierungen und Thematisierungen von Wahrheit“ [34] sowie spezifischen Erwartungen an die Rezipierendenhaltung auch in der deutschsprachigen Literatur finden lassen.
Lutwins ‚Eva und Adam‘ [35] bildet diesbezüglich einen komplexen Untersuchungsgegenstand. Hier werden höfische Erzähltopoi und -modi zielgerichtet in die Vita der ersten Menschen eingewoben. Es begegnen sowohl metanarrative Einlassungen, wie sie etwa im arturischen Roman üblich sind, als auch innovative Erweiterungen der thematisierten Heilsgeschichte. Die Frage nach dem Fiktionalitätsstatus von Lutwins Werk stellt sich also in gleich zweierlei Hinsicht: Über wie viel Gestaltungsfreiheit darf der Bearbeiter geistlicher Stoffe verfügen, bevor die Erzählung ihre heilsgeschichtliche Authentizität einbüßt? Und wie passt das bisweilen als Fiktionalitätssignal gewertete selbstreflexive höfische Spiel mit der Narration zur Dignität der berichteten Ereignisse? Trotz der am Beispiel von Meinckes Überlegungen dargestellten methodischen Schwierigkeiten unternimmt dieser Beitrag den Versuch einer kritischen und möglichst unvoreingenommenen Lektüre Lutwins mit dem Ziel, den tatsächlichen poetologischen Aussagegehalt der vorliegenden metanarrativen Kommentare im Hinblick auf die historische Produktions- und Rezeptionshaltung zu ermitteln sowie die Befunde mit Kochs Konzept des ‚fidealen Erzählens‘ abzugleichen. Dass solchermaßen keine abschließenden Urteile über die kommunikationspragmatische Rahmung von ‚Eva und Adam‘ gebildet werden können, sollte nach den obigen Ausführungen auf der Hand liegen. Eine differenzierende Bestandsaufnahme mag sich dennoch erkenntnisfördernd auswirken. Zu diesem Zweck werden mit dem Prolog sowie Einschüben und Exkursen der Erzählinstanz die relevantesten Textpassagen in den Fokus gerückt. Außerdem erfolgt eine Berücksichtigung größerer inhaltlicher Abweichungen der Erzählung von ihren Prätexten, da entsprechende Neuakzentuierungen des Stoffes durch den Autor ebenfalls auf dessen Intention und Selbstverständnis verweisen. Dabei geht es auch um die Frage, welchen Geltungsanspruch Lutwin mit der Bearbeitung biblischer und apokrypher Texte vertritt und wie sich sein Werk in dieser Hinsicht zu seinen Quellen verhält. Versteht sich Lutwins ‚Eva und Adam‘ als Medium göttlicher Wahrheiten, das als solches an der „Macht des Heiligen partizipier[ t ]“, als „Sinnträger und -quelle[ . ] besonderer Güte [ … ]: als selbst heilige[ r ] Text[ . ]“ [36], wie es Christian Kiening im Hinblick auf legendarische Erzählungen konstatiert? Ordnet sich die Dichtung als bloßes Supplement der Autorität ihrer Prätexte unter oder beschränken gezielt gesetzte Fiktionalitätssignale den Geltungsbereich von ‚Eva und Adam‘ und führen auf diese Weise gar zu einer Irrealisierung der behandelten heilsgeschichtlichen Ereignisse?
2. Lutwins ‚Eva und Adam‘: Umkehr von der Weltabkehr. Warum man nicht zwei Herren gleichzeitig dienen kann und wie es Lutwin trotzdem Versucht
Gemeinhin auf das Ende des 13. oder die frühen Jahre des 14. Jahrhunderts datiert, steht das in einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert unikal überlieferte Werk Lutwins [37] bereits in einer langen Traditionsreihe volkssprachiger geistlicher wie höfischer Dichtung. Letzterer scheint die Erzählinstanz allerdings gleich zu Beginn des Textes eine Absage zu erteilen, wenn sie den Verzicht auf jedes weltliche Anerkennungsstreben zugunsten einer uneingeschränkten Gottesknechtschaft propagiert:
Wer nach gottes leben wil,
Der müsz ouch der welte spil
Lossen, als ich mich versynne.
Nü wer mag der welte mynne
Verdienen und gottes grüs?
[ … ]
Wann nieman mag zwein heren wol
Dienen nach des nützes zol.
Je doch der mir volgen wil,
Der sol gar der welte spil
Lassen usz siner aht
Und von aller siner maht
Dienen dem vil süssen Crist. ( V. 37–41, 47–53 )
Während sich die Erzählinstanz dergestalt als Leuchtfeuer einer asketisch anmutenden Weltabgewandtheit generiert, die abseits der Wege der Törichten auf den Pfad göttlicher Lehre verweist [38], stellt sie den heilsdidaktischen Nutzen der nachfolgenden Dichtung als ihren wesentlichen Vorzug heraus. Eine besonders gefällige und unterhaltsame Form sei hingegen nicht das entscheidende Qualitätsmerkmal der Erzählung, wie knapp hundert Verse später behauptet wird:
Obe ich rette nach kindes sitte,
Erzöige ich do iht gütes mit,
Obe mir got fügete das,
So sol man mir dancken bas
Dann eime kunstenrichen man,
Der meister ist und dihten kan,
Der hat sin me dann ich getan. ( V. 121–127 )
Der Wert der Dichtung resultiere also aus einer nicht näher bestimmten Inspiration oder einem Segen Gottes, der das Werk auch über elaboriertere Texte erheben könne. Zwar macht die Erzählinstanz das Gelingen der Erzählung auf diese Weise von einer externen und unverfügbaren Entität abhängig, sollte die göttliche Hilfe allerdings eintreffen, gebühre der höchste Dank ausdrücklich ihr, der Erzählinstanz, die sich per Namensnennung [39] mit dem Autor kurzschließt. Folgerichtig vermerkt die Forschung, dass die Demutsbekundungen [40] der Erzählinstanz bzw. Lutwins ein ausgeprägtes Standesbewusstsein des Dichters kaum verbergen [41]. Tatsächlich stellt Lutwin seine literarischen Kenntnisse und Fähigkeiten deutlich zur Schau, indem er zahlreiche Motive, Formulierungen und Wendungen höfischer Autoren in sein Werk integriert [42], was nun weder so recht zu einem Sprechen nach kindes sitte ( V. 121 ), noch zu einer Abkehr von der welte mynne ( V. 40 ) passen will.
Inhaltlich bindet sich Lutwin in seiner Schilderung der Schöpfung, des Sündenfalls, der Vertreibung aus dem Paradies sowie des postlapsarischen Lebens und Sterbens der Protoplasten und ihrer direkten Nachkommen stark an den biblischen Genesis-Text und eine Variante der lateinischen Apokryphe ‚Vita Adae et Evae‘ [43]. Es lässt sich konstatieren, dass handlungsseitige Umgestaltungen des Autors über weite Strecken des Textes nicht viel mehr als Ausschmückungen einzelner Quellenpassagen darstellen [44]. Eine der tiefgreifendsten Änderungen gegenüber seinen Vorlagen vollzieht Lutwin in einer Neumotivierung der zeitweisen Trennung Adams und Evas nach deren gescheiterten Bußübungen in den Flüssen Jordan bzw. Tigris [45]: In der ‚Vita‘ verlässt Eva Adam aus Scham angesichts ihrer erneuten Täuschung durch den Teufel [46]. Die mittelhochdeutsche Adaptation Lutwins schiebt zwischen die Überlistung Evas und die Scheidung der Protoplasten den Beginn der körperlichen Liebe. Als Triebfeder dieses zuvor unbekannten Begehrens wird mit der Minne ein Motiv der höfischen Literatur eingesetzt:
Eua wart von yme [ = Adam ] gegrüsset
Mit vil lieplichen dingen.
Jn begunde sere zwingen
Die mynne und ir meisterschafft.
Su kam in an mit solicher crafft,
Das er des nit erwenden kunde.
Er müste begynnen an der stunde
Mit Eua seltzammer gedat[ . ]
[ … ]
Su hetten sin ee nit getan,
Jn geschach beiden liep daran. ( V. 1511–1518, 1524 f. )
Ein Streit der Liebenden über die Wertehierarchie von neuentdeckter Sexualität und vergangenen Paradiesesfreuden wird anschließend zum Trennungsgrund [47]. Offenbar ist Lutwin bemüht, die Entzweiung Adams und Evas gegenüber seinen Quellen zu plausibilisieren [48]. Gleichzeitig wird eine Erklärung für Evas erst während der Zeit der Trennung ans Licht kommende Schwangerschaft geboten. Die Art und Weise, wie er dies bewerkstelligt, verdeutlicht, dass Lutwin dabei ein höfisches Publikum im Blick hat.
Selbiges wird von der Erzählinstanz mehrfach direkt adressiert und in einem fast zweihundert Verse langen Exkurs, der den Fortgang der Handlung zeitweilig zum Erliegen bringt, gar zum Ziel einer moraldidaktischen Auslegung der Anfälligkeit Evas für teuflische Einflüsterungen. Evas Schwäche sei demnach der eigentliche Grund für die meisten Fehltritte des weiblichen Geschlechts und nicht so sehr eine je individuell verschuldete negative Gesinnung der Einzelperson. Vielmehr würde der Großteil der Damenwelt, ganz wie Eva selbst, nach dem Guten streben und dabei lediglich allzu leicht den schlechten Ratschlägen und Versprechungen böswilliger Männer aufsitzen. Daher sei es zur Bewahrung der eigenen ere ( V. 1147 ) unerlässlich, sich mit küsche und stetikeit ( V. 1141 ) vor treulosen und unaufrichtigen Männern zu schützen. Gleiches rät die Erzählinstanz zu diesem Anlass auch den Männern: Eine Frau nach dem Äußeren oder aufgrund ihres Vermögens anstatt ihrer Ehre und Tugend zu beurteilen, könne ere, sele und lip ( V. 1181 ) gefährden [49].
Lutwins Exkurs über die korrekte Partnerwahl steht nicht nur quer zum Handlungsverlauf, er lässt sich auch nicht in die heilsgeschichtliche Perspektivierung der Gesamterzählung einpassen. Der Bericht von der zweiten Verfehlung Evas im Fluss Tigris wird als Anlass für eine rein diesseitig-lebensweltliche Unterweisung des Publikums genutzt. Angesprochen wird es mit ir werdent man ( V. 1174 ) bzw. werden und reine wip ( V. 1139 ) oder reine wip, one reine man ( V. 1171 ), ein intertextuelles Spiel mit den entsprechenden Formulierungen aus Walthers von der Vogelweide ‚Ir reiniu wîp, ir werden man‘ [50], wie Bruno Quast im Detail aufgezeigt hat [51]. Lutwin schließt seinen Exkurs mit einem höfischen Lob der tugendreichen Frauen ab, die sich vor treulosen Männern in Acht zu nehmen wissen. Sie seien von seinen negativen Bemerkungen auszunehmen [52].
All dies steht zweifelsfrei im Widerspruch zur eingangs verkündeten kompromisslosen Weltabkehr der Erzählinstanz [53], ob deswegen im Sinne Halfords [54] oder Murdochs [55] von einer Säkularisierung des geistlichen Stoffes ausgegangen werden sollte, ist jedoch zu hinterfragen, denn abseits seiner höfisierenden Einschübe hält Lutwin an den heilsgeschichtlichen Dimensionen seiner Erzählung fest: Sündenfall und Leiden der Protoplasten werden auf die zukünftige Erlösung durch Christus hin perspektiviert [56], Klagen der Erzählinstanz über den Verlust des Paradieses und des ewigen Lebens oder die Trauer Evas und Seths um den verstorbenen Adam durch Verweise auf bevorstehende Heilsereignisse beendet [57].
Etwas mehr als das letzte Drittel des Werks besteht aus einer Verknüpfung der Lebensbeschreibung Adams und Evas mit einer Kreuzesholzlegende, wie sie auch in einigen späten Versionen der ‚Vita Adae et Evae‘ erfolgt [58]: Angetrieben von den Todesqualen Adams begeben sich Eva und Seth zum Paradies, um ein Heilmittel für den Sterbenden zu erflehen. Statt der sehnlichen Bitte nachzukommen, verkündet ihnen der Engel Michael, dass eine Erlösung Adams und aller übrigen Sünder erst in 5.200 Jahren durch Christus erfolgen könne. Jedoch wird den Bittstellern als ein zeichen ( V. 2694 ) ein grüner Ölbaumzweig übergeben, den sie nach Adams Tod zu dessen Haupt einpflanzen sollen. Der Verstorbene werde zum ewigen Leben auferstehen, sobald der Zweig Früchte trage. Bis hierhin hält sich Lutwin weitestgehend an die Quellenvorgaben. Nach dem Tod des Urelternpaares führt er die Kreuzesholzlegende auf eine gänzlich originäre Weise fort [59], indem er die Nachkommen der Protoplasten an der chronischen Fruchtlosigkeit des mittlerweile zum Baum herangewachsenen Ölzweigs verzweifeln lässt. Ratsuchend macht sich Seth ein zweites Mal auf den Weg zum Paradies und begegnet diesmal schon auf halber Strecke einem Engel, der ihm einen weiteren Zweig aushändigt, an dem der einstmals von Eva angebissene Apfel hängt. Dieses Symbol des Sündenfalls wird vom Engel zum Heilszeichen erhoben, ohne indes die negative Bedeutungsdimension des Objekts vollständig zu tilgen:
Also su [ = Adam und Eva ] von disem höiltzelin
Gefallen sint jn den dot,
Also wurt alle jre not
An disem holtze verendet.
[ … ]
Du solt es haben jn dinre hut
Mit vil heiligem müte,
Und habe ouch in dinre hüte pflege
Den oley boum alle wege[ . ]
[ … ]
Von disen holtzen beiden
Wurt erlost von allen leiden
Eua und din vatter Adam[ . ] ( V. 3760–3763, 3767–3770, 3773–3775 )
Den Anweisungen des Engels gehorchend, bewahren Seth und die ihm nachfolgenden Generationen den Apfelzweig als ein heiltüm ( V. 3801 ) auf, bis Noah ihn schließlich zu Zeiten der Sintflut mit in die Arche nimmt. Die von ihm während der Flut ausgesandte Taube kehrt schließlich mit einem Zweig vom Ölbaum an Adams Grab zurück, den Noah sofort als ein Friedenszeichen Gottes, das das Ende der Sintflut ankündigt, versteht [60]. Öl- und Apfelbaumzweig werden wieder vereint, die Sintflut endet und nach der lapidaren Bemerkung, dass von der Marter Christi an dem Zweig nun nicht mehr erzählt werde [61], endet Lutwins ‚Eva und Adam‘ mit einem allgemeinen Segenswunsch [62].
Innerhalb der Erzählung bleibt die Erlösung durch Christus ein auf die Zukunft gerichtetes Versprechen. Als solches wird es auch den Rezipierenden vergegenwärtigt, die freilich bereits in der Zeit sub gratia das zweite Kommen Jesu Christi erwarten [63]. Der große Raum, der der Kreuzesholzlegende zusammen mit weiteren Verweisen auf Christus eingeräumt wird [64], markiert die zentrale Relevanz, die Lutwin diesem Aspekt seines Werks beimisst. Hierdurch bedient er eine wesentliche Funktion geistlicher Dichtung: „[ … ] [ E ]s geht vor allem darum, eine Form dafür zu finden, vergangenes Heilsgeschehen für die Gegenwart als heilsbedeutsam zu gegenwärtigen – als Verheißung.“ [65] Die Einspeisung weltlich ausgerichteter Moraldidaxe und höfischer Motive löst diesen Anspruch nicht ab. Womöglich dient eine entsprechende Anreicherung der biblischen und apokryphen Quellen gerade ihrer Erschließung für einen im höfischen Wertehorizont beheimateten Rezipient:innenkreis [66]. Folglich könnte man Lutwins ‚Eva und Adam‘ mit Nicole Eichenbergers Kategorisierung unterschiedlicher Integrationsmodelle geistlichen Erzählens als Versuch einer Harmonisierung von religiöser und weltlicher Sphäre werten:
Dies zeigt sich etwa darin, dass laikale Lebensformen positiv dargestellt werden und dadurch ein Identifikationsangebot für laikale Rezipienten geschaffen wird, oder dass versucht wird, möglichst viele Elemente weltlich-höfischer Literaturtraditionen in den geistlichen Erzählstoff zu integrieren. Da sich die Erzählstoffe nicht immer ohne weiteres dafür eignen, können auf diese Weise auch Brüche entstehen, die jedoch nicht immer problematisiert oder explizit gemacht werden [67].
Diese Brüche oder auch Spannungen sind in Lutwins Werk verhältnismäßig deutlich wahrnehmbar. Sie sind Bruno Quast zufolge bewusst gesetzt und Teil des poetologischen Programms des Autors:
Spannungen konzeptioneller Art, Weltabsage versus Weltevokation, und solche motivationaler Art [ … ] durchziehen die höfische Überformung des apokryphen Textes, sie sind Teil des von Lutwin verfolgten Erzählprogramms, das man als erzählerische Syntheseleistung begreifen muss, die Kohärenzerwartungen in den Wind schlägt. [ … ] Lutwin realisiert das Nebeneinander von apokrypher Erzählung und höfisch überformter apokrypher Erzählung [ … ] so, dass Vorlage und Überformung als Unterschiedenes erkennbar bleiben, die Spannungen, motivationale wie konzeptionelle, offen zu Tage treten [68].
Die gegenüber der ‚Vita Adae et Evae‘ seltsam anmutende Verdopplung der Paradieszweige sowie ihre Zusammenführung in der Arche könnten laut Quast womöglich als Sinnbild dieser Unterscheidung von apokrypher Erzählung ( Ölbaumzweig ) und ihrer höfischen Überformung ( Apfelbaumzweig ) fungieren, „als metapoetische Allegorie auf zwei religiöse Erzähltypen“ [69], die beide als gleichwertige Heilsmedien in einem christlichen Erbauungskontext ( repräsentiert durch die Arche ) ihre Wirkmacht entfalten [70]. Sofern Quasts Deutung der Paradieszweige zutrifft, geht Lutwin in seiner Erweiterung der Kreuzesholzlegende weit über die Erfordernisse eines funktionalen Fingierens im Dienste einer eindrücklicheren Vermittlung der heilsgeschichtlichen Ereignisse hinaus [71]. Die Erzählung von den beiden Paradieszweigen zum Ort einer metapoetischen Reflexion über die Rolle höfischer Adaptionen geistlicher Stoffe als Heils- oder Erbauungsmedien zu machen, setzt zunächst ein autorseitiges Bewusstsein im Hinblick auf die divergenten Textgattungen und Erzählmodi voraus. Über den ihnen jeweils zugeschriebenen Wahrheitsanspruch bzw. Fiktionalitätsstatus lässt sich deswegen allerdings noch nicht viel aussagen, zumal sämtliche von diesem Punkt weiterführenden Überlegungen stark von der grundsätzlichen Akzeptanz der Quast’schen Thesen abhängig sind. Ungeachtet dessen erfährt das distinkt höfische Erzählen in seiner Parallelisierung mit der apokryphen und auch biblischen Überlieferung von Heilsgeschichte eine starke Aufwertung, deren prekäres Moment im Symbol des angebissenen Apfels eventuell bereits mitgedacht wird [72].
3. Gott und Lutwin: Die zwei Herren der ( Heils- )Geschichte. Oder: Der fingierende Autor als Gottes Vermittler
Als den Offenbarungstexten ebenbürtiger, aber keinesfalls mit ihnen identischer Modus der Vermittlung von Heil und Heilsgeschichte versucht Lutwins ‚Eva und Adam‘ eine göttliche Inspiration für sich zu reklamieren, wie an den oben bei Anm. 37–39 zitierten Passagen und gegebenenfalls auch an dem paradiesischen Ursprung des Apfelbaumzweigs abzulesen ist. In Segenswünschen [73], Bitten um Fürbitte [74] oder auch Klagen über den Sündenfall [75], Aufforderungen zur Befolgung göttlicher Lehren [76] und sehnsuchtsvoller Antizipation zukünftiger himmlischer Freuden [77] wird zwischen der Erzählinstanz und den Rezipierenden außerdem eine ( fingierte ) Kommunikationsgemeinschaft gläubiger Christen etabliert [78]. Auf solche Weise macht sich Lutwin zum Sender und Empfänger der erzählten Heilsbotschaften; das Erzählte geht auch die Erzählinstanz selbst etwas an. Insofern liegt hier sicherlich im Sinne Kochs ein „Erzählen aus dem Glauben heraus, um Glauben zu erzeugen oder zu stärken“ [79] vor.
Gleichwohl inszeniert sich die Erzählstimme an mehreren Stellen, ganz den Konventionen des höfischen Erzählens entsprechend, als die über Form und Fortgang der Dichtung maßgeblich verfügende Instanz, als Orchestrator und Vermittler des Geschehens: Sie allein entscheidet, wann, wie ausführlich und wovon erzählt wird – und was verschwiegen wird [80]. Dies ist zwar ein grundsätzliches Spannungsmoment der volkssprachigen Bibelepik bzw. des Erzählens von heilsgeschichtlichen Inhalten im Allgemeinen [81]. Allerdings stellt die Erzählinstanz in Lutwins ‚Eva und Adam‘ ihre daraus resultierende Macht über die Erzählung besonders deutlich zur Schau. So werden Zeitsprünge, Themen- oder Schauplatzwechsel nicht etwa möglichst nahtlos mit dem Kontext verblendet, sondern durch abruptes Unterbrechen und Umlenken des Erzählflusses stark betont. Nach der Schilderung von Kains wundersamer Geburt beispielsweise tut die Erzählinstanz weitere Ausführungen zu Kains frühester Kindheit unvermittelt als unnötig ab und setzt stattdessen mit der Geburt von dessen jüngerem Bruder Abel neu ein. Dies wird mit der Absicht begründet, weitere Informationen über Evas Lebensweg bieten zu wollen:
Was touget dovon me zu sagen?
Wir söllent der rede hie getagen
Und lossen Cayn wahssen hie
Und sagen, wie es ergie
Eua, der müter sin.
Die gebar ein ander kindelin,
Einen sün zü rehtem zil,
Den ich ouch nennen wil,
Der Abel wart genant,
Als uns Genesis düt bekannt. ( V. 1896–1905 ) [82]
Die Bemerkung, man wolle Kain nun gewissermaßen außerhalb des Erzählfokus weiter wachsen lassen, dürfte als komisches Element eine distanzierende Wirkung auf die Rezeptionshaltung des Publikums ausüben. Geradezu ironisch wirkt auch der Kommentar, mit dem die Erzählinstanz die immerhin 33 Verse lange Klage [83] der unter Wehen leidenden Eva beendet, um Adams Unwissenheit bezüglich ihres Zustands zu erwähnen:
Nü was hie geclaget genüg.
Von der swere die su trüg
Hup su die lenden mit beider hant.
Adam was das unerkant,
Do er dort ostern lag
Und su grosser swere pflag. ( V. 1702–1707 )
Auch ohne derartige humoristische Ergänzungen verweisen die genannten Erzählereinschübe auf den Prozess des Erzählens zurück und lassen ihn im Bewusstsein der Rezipierenden vordergründig werden:
Bei einem höfischen Roman von Hartmann von Aue oder Wolfram von Eschenbach würde[ n ] uns diese Formulierung[ en ] nicht weiter verwundern. Beide Autoren legen mit dieser Wendung an erzählerischen Einschnitten immer wieder die Künstlichkeit ihrer Erzählung offen und beziehen ihre Leser und Hörer in das Mehrwissen des Erzählers ein. [ … ] Lutwin verfällt in jenen Passagen seiner Dichtung [ … ] in den Erzählduktus des Erzählers höfischer Romane [84].
Dem Publikum wird vorgeführt, dass ihnen die erzählte Welt gefiltert durch die Perspektive der Erzählinstanz vermittelt wird, dass die erzählte Welt als solche vom Akt des Erzählens abhängig ist. Insofern lässt sich auch für Lutwins ‚Eva und Adam‘ eine These in Anschlag bringen, die Rainer Warning in Bezug auf die Artusromane Chrétiens aufgestellt hat: „Die Wahrheit [ … ] wird thematisiert als eine erzählerisch konstituierte und an ihre erzählerische Vermittlung gebundene.“ [85]
Wenn die Erzählinstanz anlässlich eines Wechsels des Erzählfokus der wehklagenden Eva das Wort abschneidet, Kain abseits der erzählten Handlung aufwachsen lässt oder der im Tigris büßenden Eva Gottes Segen für ein gutes Gelingen ihres Vorhabens wünscht [86], obwohl Autor und Rezipierenden der schlechte Ausgang der Unternehmung bereits von vornherein bekannt sein dürfte [87], demonstriert sie ihre Verfügungsgewalt über die Erzählung und die darin vorkommenden Akteure [88]. Das eindrücklichste Beispiel hierfür findet sich im Umfeld der vorübergehenden Entzweiung Evas und Adams nach deren Minne-Streit. Es sei daran erinnert, dass Lutwin die Begründung des Zerwürfnisses gegenüber seinen Quellen verändert bzw. erweitert hat. Als Adam und Eva sich voneinander zurückgezogen haben, ruft die Erzählinstanz aus:
Eya, süsser got und here,
Wo koment zwey liebe ie so verre
Von einander als sü beide?
Obe ich nü bas bescheide,
Das duncket mich vur niht.
Doch eins zu tün mir geschiht,
Als mir seit myn gedinge,
Das ich zü sammen wider dringe.
Got gebe, das mir wol gelinge. ( V. 1627–1635 )
Hier reklamiert die Erzählinstanz für sich, Adams und Evas Trennung herbeigeführt zu haben [89] und beide auch wieder zusammenbringen zu wollen. Die Protoplasten werden dabei als literarische Abbilder präsentiert, die sich nur auf Geheiß Lutwins in Bewegung setzen und nicht etwa als historische Persönlichkeiten mit einem autonomen Aktionspotential. Obwohl sich die Erzählinstanz mit dem Autor in eins setzt und somit der Anschein einer „doppelte[ n ] Kommunikationssituation“ [90] nach Art moderner fiktionaler Rede negiert wird, legt sie den Inszenierungscharakter ihrer Erzählung offen: Einerseits gilt es, sich die in Lutwins ‚Eva und Adam‘ geschilderten Akteure und Vorgänge so vorzustellen, ‚als ob‘ es sich um die tatsächlichen Ureltern von Autor und Publikum sowie die tatsächlichen Ereignisse um Schöpfung und Sündenfall handelt. Andererseits entsteht der Eindruck, es existiere ein Bewusstsein für die lediglich stellvertretende Qualität der Dichtung, deren Form und Inhalt zwar auf als real gedachte Orte, Personen und Begebenheiten verweist, jedoch nicht mit ihnen identisch ist, sondern von der Gestaltung durch den Autor abhängt [91].
Auch die thematisierte Heilsgeschichte wird dementsprechend erst durch den Akt des Erzählens konstituiert und vorangetrieben. Ihr Fortgang unterliegt dabei jedoch nicht gänzlich der Willkür der Erzählinstanz: Letztere formuliert ihre Hoffnung ( gedinge ), dass ihr die Aufgabe zukomme, die zerstrittenen Liebenden wieder zusammenzubringen. Woraus sich diese Hoffnung speist oder welche Instanz Lutwin die Zusammenführung Adams und Evas auftragen könnte, wird zwar nicht explizit gemacht, es ist jedoch anzunehmen, dass an dieser Stelle eine Anspielung auf die Publikum und Autor durchaus vertraute heilsgeschichtliche Überlieferung durch Bibel und Apokryphen vorliegt [92]. Diese setzt voraus, dass die Protoplasten wieder zueinander finden; Kain muss geboren, Abel gezeugt werden. Daran kann und will auch Lutwin nichts ändern, er ‚darf‘ Adam wieder zu Eva zurückführen. Völlig autonomes Fingieren, das Erdichten einer alternativen Heilsgeschichte steht dem Autor trotz der innovativen Erweiterung der Kreuzesholzlegende nicht zu Gebote. Die Erzählung hat an das allgemein geteilte Wissen um die ersten Menschen anschließbar zu sein [93]. Wenn die Erzählinstanz also ihre vage Hoffnung auf die Möglichkeit einer Versöhnung der Entzweiten formuliert, ist dies evidentes Rollenspiel, in dem Lutwin wohl zum Zwecke der Belustigung vorgibt, den Ausgang seiner eigenen Erzählung nicht sicher absehen zu können und damit über einen geringeren Wissensstand als sein Publikum zu verfügen. Dieser rhetorische Kniff reicht für sich genommen allerdings keinesfalls aus, um auf das Vorliegen einer klar fiktiven, von der Person des Autors abzugrenzenden Erzählerrolle und die damit verbundene Ausstellung von Fiktionalität zu schließen.
Vor dem Hintergrund des unabänderlichen Verlaufs der Heilsgeschichte scheint auf den ersten Blick auch die neuerliche Bitte der Erzählinstanz um göttliche Unterstützung bei der Wiedervereinigung der Ureltern redundant: Dass Lutwins Werk abgeschlossen vorliegt, dokumentiert notwendigerweise schon für sich genommen seinen Erfolg in dieser Angelegenheit. Dennoch ist die Anrufung Gottes gerade an dieser Stelle, an der sich Lutwin am eindrücklichsten als Arrangeur seiner Erzählung, ihrer Handlung und Akteure inszeniert, keinesfalls willkürlich platziert. Sie ist vielmehr für die Legitimation und Absicherung seines poetologischen Programms von essentieller Bedeutung, denn die Bitte um Gottes Segen für die Zusammenführung der literarischen Repräsentationen Adams und Evas aktualisiert und bekräftigt sowohl den Wahrheitsanspruch der Dichtung als auch ihre heilsvermittelnde Funktion: Der Umstand, dass Lutwin nach erfolgter Gottesanrufung seine Erzählung vollenden, die Protoplasten wieder vereinen und die Heilsgeschichte somit ihren Fortgang hat nehmen lassen können, suggeriert das Eintreten der erbetenen göttlichen Eingebung, die wiederum die Gültigkeit und Heilswirksamkeit des Textes garantiert. Auf diese Weise auratisiert Lutwin sein Werk mit einer heiligmäßigen Autorität, obwohl oder gerade weil er unmittelbar zuvor dessen grundsätzlich artifizielle Komposition offengelegt hat. Unter Berücksichtigung von Bruno Quasts Interpretation der beiden Paradieszweige [94] liegt der Schluss nahe, dass dieses Vorgehen nicht einer Verlegenheit des Autors geschuldet ist, der versucht, seine Dichtung notdürftig an die Erfordernisse geistlicher Erzählungen zurückzubinden. Stattdessen ist von einer absichtsvollen Aufwertung der verwendeten Erzählmodi als Medien der Vermittlung von Heilsgeschichte auszugehen. Auch das selbstreflexive Fingieren einzelner Elemente der Heilsgeschichte, die Literarisierung von heiligen Offenbarungstexten kann bei göttlicher Inspiration heilsrelevante Wahrheiten zu Tage fördern, die gerade in ihrer höfisierten Form zur Erbauung und Belehrung eines entsprechenden Rezipient:innenkreises beitragen, so ließe sich die implizierte Botschaft mit modernen Begrifflichkeiten und Kategorien umschreiben.
Die Instanz des Autors, die die Literarisierung umsetzt, nimmt im Zuge dessen eine Mittlerposition ein zwischen höfischem Publikum und den in biblischen und apokryphen Texten überlieferten Heilswahrheiten. Damit einher geht ein starkes dichterisches Selbstbewusstsein, das sich in der Inszenierung der Erzählinstanz bespiegelt. Obwohl auf Quellentexte und himmlischen Segen angewiesen, beansprucht diese die alleinige Verantwortung für die literarische Gestaltung und erfolgreiche Vermittlung von Heilsgeschichte [95]. Die durch göttliche Inspiration autorisierte Erzählung wird ausdrücklich als ihr Produkt deklariert [96]. Zweifelsohne soll Lutwins ‚Eva und Adam‘ der Verherrlichung Gottes dienen. Zugleich treten Autor bzw. Erzählinstanz nicht als demütig-passive Instrumente göttlichen Offenbarungswirkens in den Hintergrund, sondern verlangen ihrerseits Anerkennung für ihre vermittelnde Tätigkeit. Wenn Lutwin mitten in der Handlung seines Werks Gott um Erfolg bei der Zusammenführung seiner Figuren bitten kann und dabei zugleich den Konstruktcharakter und den Wahrheitsanspruch seines Textes bekundet, legitimiert er folglich nicht nur seinen Text als Träger von Heilswahrheiten, auch das Wirken des fingierenden Autors wird bewusst gemacht und seine Position erheblich aufgewertet.
4. Fazit
Lutwins ‚Eva und Adam‘ ist zumindest nach heutigem Empfinden durchzogen von einer Spannung, die mehrere einander augenscheinlich widerstreitende Aspekte der Dichtung erzeugen: Einer behaupteten und auch von den Rezipierenden eingeforderten Weltabkehr steht die unproblematisierte Verwendung von Allusionen an weltliche Texte entgegen, die über weiteste Strecken durchgehaltene Quellentreue wird zugunsten einer höfischen Moraldidaxe sowie einer erheblichen Erweiterung der Kreuzesholzlegende zeitweise vernachlässigt und die bewusste Entblößung der dichterischen Gestaltungstätigkeit innerhalb der Erzählung scheint ihrem Wahrheitsanspruch und dem ihrer heilsgeschichtlichen Inhalte zuwiderzulaufen [97]. In ihr spannungsvolles Verhältnis eingesetzt sind diese Aspekte von einem Autor, der einerseits bestrebt ist, christliche Heilsversprechen einem höfischen Publikum zu vergegenwärtigen und andererseits höfische Erzählkonventionen zu einem adäquaten Mittel dieser Vergegenwärtigung zu erheben. Bei der Verfolgung seiner Ziele gibt er sich kompromisslos: Die in die Heilsgeschichte eingesetzten höfischen Motive, Wertevorstellungen und insbesondere die sich der Dichtung und des Aktes ihrer Vermittlung bemächtigende Erzählinstanz werden kaum bis überhaupt nicht an die Spezifika geistlichen Erzählens angeglichen. Daraus resultiert der Eindruck, Lutwin beziehe eine „conscious position between the religious narrator and the literary stylist in a familiar idiom.“ [98]
Dennoch besteht offenkundig die Überzeugung, göttliche Inspiration und himmlisches Offenbarungswirken würden sich in der Dichtung von den verwendeten literarischen Verfahren ungehindert manifestieren. Der Geltungsbereich, der für ‚Eva und Adam‘ reklamiert wird, ist konsequenterweise mit dem der Bibeltexte und Apokryphen identisch: Er ist unbegrenzt. Zu einem nicht näher bestimmbaren Grad partizipiert Lutwins ‚Eva und Adam‘ an der Dignität seiner heiligen Quellen [99]. Ohne Auswirkungen bleibt diesbezüglich die offene Zurschaustellung der Textkonstruktion durch den Verfasser. Per Inanspruchnahme einer göttlichen Segnung des Autors werden dessen literarisierende Verfahren legitimiert und das Fingieren von Heilsgeschichte zum akzeptablen und wahrheitsfähigen Modus ihrer Repräsentation erklärt.
Es spricht folglich wenig dafür, im Falle von ‚Eva und Adam‘ eine Produktion und Rezeption unter dem Vorbehalt der Fiktionalität anzunehmen. Ungeachtet aller ironischen und metapoetischen Einschübe der Erzählinstanz liefert auch sie aufgrund ihrer inszenierten Verschaltung mit der Gestalt des Autors sowie insbesondere ihrer Einreihung in die Gemeinschaft gläubiger Empfänger der Heilsbotschaften keine ausreichenden Argumente, um das Vorliegen einer bewussten Distinktion zwischen Autor und Erzähler belegen zu können [100]. Da Lutwin dennoch wie selbstverständlich nicht nur über den Fokus der Erzählung, ihre Ausgestaltung sowie Deutung, sondern selbst über wesentliche inhaltliche Elemente der Kreuzesholzlegende frei zu verfügen vermag, und dies teils offen zur Schau stellt, erweist sich auch die Kategorie des Faktualen in ihrer Anwendung auf den Text als widerständig.
Wer nicht gewillt ist, von der klassischen Dichotomie ‚faktual/fiktional‘ abzurücken, dem ist Lutwins ‚Eva und Adam‘ damit ein weiteres Beispiel für die paradoxalen Erzähltechniken des Mittelalters, deren Kontradiktionen entweder einer vortheoretisch, doch planvoll operierenden Kunstfertigkeit oder aber literarischem Unvermögen zugeschrieben worden sind. Ein entsprechendes Werturteil lässt sich vermeiden, wenn man Lutwins Werk im Sinne Elke Kochs eine Art ‚Rechtfertigung durch den Glauben‘, einen spezifisch fideal begründeten Erzählmodus einräumt. Dann nämlich zeichnet sich in den gemachten Beobachtungen das Bewusstsein eines Autors ab, der aus seiner Quellenkenntnis sowie einer demutstopisch erbetenen Eingebung Gottes Legitimation und Befähigung ableitet, Einsichten in und Aussagen über Glaubenswahrheiten zu tätigen, die sich dem epistemischem Zugriff verschließen. Lutwin würde diese Wahrheiten also weder im eigentlichen Sinne ‚behaupten‘ noch ‚erfinden‘, sondern vielmehr ‚bezeugen‘ und dabei auf ein Publikum vertrauen, das seine Erzählung adäquat zu rezipieren weiß [101]. Vieles von dem, was sich an Lutwins amplifizierendem und selbstreflexivem Umgang mit seinem Stoff prekär auszunehmen scheint, dürfte den fideales Erzählen gewohnten Zeitgenoss:innen mithin vergleichsweise unproblematisch vorgekommen sein.
Dennoch wirft Lutwins Höfisierung von Heilsgeschichte Fragen nach dem grundsätzlichen Verhältnis höfischer Erzählverfahren zu einer fidealen Rahmung des Erzählens auf. Bekanntlich existieren noch weitere Beispiele für entsprechende Überformungen geistlicher Stoffe. Ob diese Adaptationen jedes Mal tatsächlich auch als solche wahrgenommen wurden, als prekäre literarische Experimente, als bewusste Vermischung divergenter Erzählmodi mit jeweils textgattungsspezifischen kommunikationspragmatischen Prämissen oder ob die Vermittlung von Heilsgeschichte nach Art höfischer Literatur dem intendierten Zielpublikum gänzlich unproblematisch erschien, ist zumeist ungeklärt. Zwar konnte Bruno Quast mit seiner poetologischen Interpretation der beiden Paradieszweige in Lutwins ‚Eva und Adam‘ nahelegen, dass zumindest ein autorseitiges Bewusstsein für die Heterogenität höfischen und geistlichen Erzählens existiert haben mag, für den abschließenden Beweis in dieser Angelegenheit entbehren wir allerdings nach wie vor der notwendigen para- und extratextuellen Belege. Die wiederholte Anwendung amplifizierender höfischer Erzähltechniken zur Artikulation von Glaubensinhalten verweist jedenfalls im Umkehrschluss auf ihre prinzipielle Wahrheitsfähigkeit. Ob deshalb auch abseits geistlicher Thematiken – beispielsweise für den höfischen Roman mit seinen unterschiedlichen Stoffkreisen – eine Auflösung der dichotomischen Opposition von Faktualität und Fiktionalität zugunsten alternativer Begriffsbildungen angestrebt werden sollte, bedarf in zukünftigen Untersuchungen einzelfallorientierter Erwägungen.
© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.
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