Home Wirtschaftssanktionen im 13. Jahrhundert
Article Open Access

Wirtschaftssanktionen im 13. Jahrhundert

Narrationen, Praktiken, Perspektiven
  • Maximiliane Berger EMAIL logo
Published/Copyright: October 18, 2023
Become an author with De Gruyter Brill

Abstract

The history of medieval economic sanctions is currently both known and unknown. Many instances of their deployment have been acknowledged or analysed in the context of the conflicts they were part of, like the 1205/1206 blockade of the Rhine as an element in the struggle between Philipp of Swabia and Otto of Brunswick. On the other hand, research in Medieval Studies that puts economic sanctions centre stage is still an emerging field. This paper argues that a broader investigation of episodes of economic sanctioning in the narrative sources is a sensible next step to develop this field, since it would bring the triple advantages of expanding its current geographical and prosopographical scope beyond the ecclesiastic Mediterranean ( 1 ), of putting its currently prevailing focus on normative texts into context ( 2 ), and of obviating the more unnecessary pessimisms currently characterising evaluations of medieval economic sanctions ( 3 ). To show the potential of narrated medieval sanctions episodes to inform our understanding of economic thinking around medieval economic sanctions, three examples from 13th-century historiography are analysed: the above-mentioned blockade of the Rhine, a smugglers’ tale in Matthew Paris’s ‘Cronica Majora’ against the backdrop of papal embargo legislation, and Salimbene of Parma’s report on third-party participation in a Venetian blockade of the river Po.

Die Geschichte mittelalterlicher Wirtschaftssanktionen führt gegenwärtig ein zwiespältiges Dasein zwischen Bekanntheit und Unbekanntheit. Bekannt sind viele ihrer Elemente, wie etwa Blockaden des Rheins 1205/1206 oder des Po in den 1260er Jahren, als Etappen innerhalb von Konflikten, die meist auf andere Problemstellungen hin untersucht werden, wie etwa die Entwicklung des Königswahlrechts im römisch-deutschen Reich oder Faktionsbildungen für und wider die Staufer in Italien. Bekannt sind diese Elemente auch als knappe Narrationen oder bloße Erwähnungen in Quellen, die breit rezipiert werden, etwa in der Kölner Königschronik oder bei Salimbene von Parma. Zugleich steht jedoch die Forschung, die mittelalterliche Wirtschaftssanktionen als Gegenstand ins Zentrum rückt, noch am Anfang und weist entsprechende Einseitigkeiten auf. Es ist daher nicht übertrieben, die Geschichte mittelalterlicher Wirtschaftssanktionen als solche für noch weitgehend unentdeckt zu halten.

Die Entdeckung dieser Geschichte ist dabei mehr als eine Neuetikettierungsübung unter aktuellem Rubrum, bzw.: Die Neuetikettierung verspricht Erkenntnismöglichkeiten, die ihr Potential zur Aufmerksamkeitsattraktion bei weitem übersteigen. Die bisherige Forschung zu mittelalterlichen Wirtschaftssanktionen konzentriert sich auf Fallstudien, kirchliche Institutionen und v. a. Sanktionen als und im Umfeld von schriftlichen Normen, etwa in der Erforschung der päpstlichen Handelsverbote. Mindestens ebenso viele Nachrichten über mittelalterliche Wirtschaftssanktionen dürften darüber hinaus in der oben erwähnten Form vorliegen, verstreut, disparat, und tendenziell lakonisch. Für sich genommen bleibt jede einzelne dieser Erwähnungen, etwa der Rheinblockade von 1205/1206, schwer zu evaluieren. Eine weiterführende Einordnung sowie Üblichkeitserwägungen lassen sich isoliert nicht vornehmen. Handelte es sich wahrscheinlicher um einen lokalen Gewaltausbruch oder eine zentral mandatierte, kontrolliert abgewickelte Zwangsmaßnahme? Wer lässt sich wo, bei welchen Gelegenheiten und zu welchem Zweck als Urheber oder Objekt einer solchen Maßnahme erwarten? Welche Implementierungsroutinen herrschten vor? Mit welchen Wirkungen rechneten Zeitgenossen üblicherweise? Kurz: Welcher mittelalterliche Vorstellungs- und Vergleichshorizont einzelnen Quellenstellen zugrundezulegen ist, wird erst deutlich, wenn solche Ereignisse und Handlungen auch vergleichend innerhalb einer Geschichte ähnlicher Praktiken betrachtet werden können. Dafür sind nach gegenwärtigem Stand der Forschung v. a. zwei Perspektiverweiterungen nötig. Die erste ist die breite Erschließung narrativer Quellen für die mediävistische Sanktionsforschung. Die zweite ist eine Abkehr von, wenn man einmal etwas polemisch formulieren möchte, pessimistischen Grundhaltungen, die bisher auf Wirtschaftssanktionen eher als Regulierungsaspirationen denn als politische Praxis haben blicken lassen. Diese zwei Vorschläge werde ich im Folgenden näher erläutern, indem ich Stand und Schwerpunkte der beginnenden mediävistischen Sanktionsforschung vorstelle und ihr die Sanktionsforschung in sozialwissenschaftlichen Disziplinen gegenüberstelle. Wenn dabei von normativen Quellen und Normen in Abgrenzung von narrativen Quellen und Praxisbeschreibungen die Rede ist, so handelt es sich um eine pragmatische, alltagssprachlich gefasste und im Einzelfall durchlässige Unterscheidung [1]. Der Blick in die moderne Sanktionsforschung ist u. a. deshalb geraten, weil sich aus einem bisher eher im- als expliziten Vergleich mit ihr die angesprochene pessimistische Grundhaltung zur Effektivität mittelalterlicher Wirtschaftssanktionen hauptsächlich zu speisen scheint. Im zweiten Teil dieses Beitrags werde ich drei Fallbeispiele von Erzählungen über Wirtschaftssanktionen aus der Chronistik des 13. Jahrhunderts besprechen. Die Verstreutheit, Disparität oder Lakonik solcher Erzählungen muss kein Untersuchungshindernis darstellen, sondern kann vielmehr einen Ansporn bieten, den Formen, Bedeutungen und Orten von Wirtschaftssanktionen als so vielfältiger wie alltäglicher mittelalterlicher Praxis systematisch auf die Spur zu kommen.

*

„Economic warfare was well understood, even if largely incapable of being effectively pursued, given that policing the seas was impossible.” [2] Christopher Tyerman bringt hier die Charakteristika weniger mittelalterlicher Wirtschaftssanktionen als vielmehr der mediävistischen Forschung auf diesem Gebiet auf den Punkt. Es war lange eher die Rede von Wirtschaftskrieg als von Wirtschaftssanktionen; der Wirtschaftskrieg wird entlang der größeren bekannten Feindschaftslinien, v. a. der kirchlich definierten, aufgesucht; er gilt als Maßnahme, die in erster Linie Meere und Wasserwege betraf; und es herrschen größte Zweifel daran, dass Wirtschaftssanktionen unter mittelalterlichen Bedingungen umsetzbar oder effektiv waren.

Die Wurzeln mediävistischer Beschäftigung mit Wirtschaftssanktionen liegen zum einen in Forschungen zu den ökonomischen Grundlagen spätmittelalterlicher Großkonflikte [3], namentlich des Hundertjährigen Krieges und der englischen Embargo- und Monopolexperimente, und zum anderen in der ( Wieder )Entdeckung mittelalterlichen Interesses für ökonomische Theorie [4]. Auf dieser Basis begann die Forschung, Wirtschaftssanktionen gezielt in den Blick zu nehmen [5] und, im Wesentlichen seit etwa 2010, detaillierte Studien zum Thema vorzulegen [6]. Das Forschungsfeld ist geprägt durch Schwerpunktsetzungen und Grundannahmen, die auch seine bisher drei zentralen Monographien kennzeichnen.

Ein wichtiger Referenzpunkt für die mediävistische Forschung ist Stefan Stantchevs Monographie zu den seit dem späten 12. Jahrhundert erlassenen päpstlichen Embargos [7]. Stantchev untersucht die Reihe päpstlicher Verbote des Handels mit Muslimen, sowohl im Kriegsfall als auch zu Friedenszeiten, hauptsächlich in ihrer Gestalt als normative Texte. Er hebt dabei darauf ab, das Embargo in erster Linie als regulative Selbstvergewisserung der christlichen Gemeinschaft nach innen zu betrachten, als ‚pastoral staff‘. Bezüglich politischer Verwendungsweisen und Auswirkungen jenseits der pastoralen Signalfunktion zeigt sich Stantchev zurückhaltend, obwohl er in einigen ( Streit )Fällen auf der italienischen Halbinsel auch die Umsetzung des Embargos nachverfolgt. Tatsächlich bedürfen Rezeption und Implementierung der päpstlichen Embargos noch weiterer Studien. Die betreffenden Texte des 12. und frühen 13. Jahrhunderts ( wie ‚Ita quorundam‘, Alexander III., 1179; ‚Quia major‘, Innozenz III., 1213; ‚Ad liberandam‘, Innozenz III., 1215; ‚Quod olim‘, Gregor IX., 1234; ‚Afflicti corde‘, Innozenz IV., 1245 ) sind von einiger Prominenz, wurden teils auf Generalkonzilien promulgiert und gingen in kanonisch-rechtliche Sammlungen ein [8]. Bei aller berechtigten Skepsis angesichts lokaler bischöflicher Indifferenzen und Abänderungen [9] kann dennoch von weiter Verbreitung ausgegangen werden. Dass auch über die italienische Halbinsel hinaus Formen der Rezeption in der politischen Praxis zu finden sind, ist keinesfalls auszuschließen. Für die traditionelle Arena des Handels mit Nichtchristen hat Mike Carr seither eine monographische Studie vorgelegt, die die dezentrale Umsetzung päpstlicher Embargos im 14. Jahrhundert durch genuesische Politikunternehmer aufarbeitet [10]. Er zeigt Prozesse der Auslegung und Operationalisierung der päpstlichen Normen, mittels derer diese Politikunternehmer nicht zuletzt ihre eigenen finanziellen Interessen verfolgen konnten. Eine dritte Monographie behält den Fokus auf Handelsverbote seitens kirchlicher Institutionen bei, verlässt jedoch den Mittelmeerraum. Alexandra Kaar widmete sich dem Handelsverbot im Konflikt mit den Hussiten im 15. Jahrhundert im Anschluss an die Tradition päpstlicher Embargoerlasse [11]. Im Gegensatz zu Stantchev zieht sie es vor, näher an der Sprache der Quellen zu bleiben und nicht von ‚Embargo‘ zu sprechen. Zum einen suggerieren, so Kaar, moderne Begriffe für wirtschaftliche Sanktionstechniken Systematik, Kontrolle und Effektivität [12]. Zum anderen sieht sie es zurecht als schwierig an, auf mittelalterliche Realitäten schließen zu wollen, ohne dem Schreckgespenst „faktografische[ r ] Darstellungen zur Geschichte der Wirtschaft und des Handels“ zum Opfer zu fallen [13].

Diese drei Monographien und bisherige kürzere Studien brachten eklatante Fortschritte darin, Wirtschaftssanktionen auf der Agenda mediävistischer Forschung zu etablieren. Dank ihnen hat sich zunächst ein besseres Verständnis für mittelalterliche Erscheinungs- und Gebrauchsweisen einer heute noch gängigen Form bzw. eines gerade heute einschlägigen Aspekts von Wirtschaftssanktionen entwickelt: für Texte mit normativer Kraft, die Handel untersagen. Sie stellen darüber hinaus deutliche Wegweiser zur Verfügung, denen weitere Forschungen zu mittelalterlichen Wirtschaftssanktionen folgen können. Der Schwerpunkt im Mittelmeerraum, bei päpstlichen bzw. kirchlichen Akteuren sowie bei normativen Quellen und denjenigen Wirtschaftssanktionen ( Embargo ), die darin sichtbar werden, wirft klare Fragen auf: Wie verhält es sich jenseits des Mittelmeerraums, mit anderen Beteiligten und anderen Sanktionstechniken? Welchen Platz haben – historiographische, aber auch literarische – Erzählungen über wirtschaftlich sanktionierende Praktiken in der Geschichte, die die bisherige mediävistische Forschung zu Wirtschaftssanktionen schreibt? Das Ziel, das Matthew Strickland in ‚War and Chivalry‘ 1996 gesteckt hat [14], nämlich die Rolle ökonomischer Aggressionen, ökonomischer Feindseligkeiten und ökonomischer Verteidigungsmöglichkeiten in hochmittelalterlichen Gesellschaften zu verstehen, liegt noch immer vor uns.

Neben ihren Schwerpunkten der Untersuchungsgegenstände durchzieht viele Beiträge der bisherigen mediävistischen Sanktionsforschung meines Erachtens teils explizit, teils impliziter eine gemeinsame Erwartungshaltung: Pessimismus ( um es noch einmal plakativ zu formulieren ). Wirtschaftssanktionen, am besten bekannt im textlichen Erscheinungsbild von Verhaltensregelungen, seien eben im Mittelalter „incapable of being effectively pursued“ [15], noch seien Forschende in der Lage, ihre Wirkungen angemessen zu evaluieren. Diese Annahmen scheinen zwei Wurzeln zu haben, die untereinander nicht ganz widerspruchsfrei sind.

Zum einen speisen sie sich aus einem Zurückschrecken vor dem Einsatz von Anachronismen, in der deutschsprachigen Forschung etwas mehr als in der englischsprachigen. Wirtschaftssanktionen sind ein modernes Konzept, geknüpft an die Vorstellung der politischen Instrumentalisierung einer ‚Wirtschaft‘, die als eigenständige Entität gedacht wird. Zusätzlich verbindet sich diese Vorstellung von Wirtschaftssanktionen oft mit modernen Konzeptionen von ‚Staat‘ oder ‚Legislative‘ [16]. Ähnliches gilt dann in jeweils leicht unterschiedlicher Weise für einzelne Sanktionsarten, von asset freeze über Boykott bis Embargo. Dass Wirtschaftssanktionen auf der konzeptionell-definitorischen Ebene zweifellos Kinder der Moderne sind, ja, dass sich auch innerhalb des 20. Jahrhunderts jeweils deutlich von der politischen Großwetterlage abhängige Zielvorstellungen im jeweiligen Begriff von Wirtschaftssanktionen niederschlagen, ist aus ihrer Forschungsgeschichte klar ersichtlich [17]. Das muss jedoch nicht bedeuten, dass der Anachronismus als Denkanstoß, Differenzierungsaufforderung und Übersetzungsleistung für die mittelalterliche Geschichte nicht sowohl gut kontrollierbar [18] als auch nützlich sein kann ( ähnlich etwa wie ‚Demokratie‘ oder ‚Diplomatie‘ ). In der gezielten Gegenüberstellung des modernen Begriffs ‚Wirtschaftssanktionen‘ und der mittelalterlichen Evidenz lassen sich beispielsweise Konzeptionen von Wirtschaftshandeln flexibilisieren: Wie sehen Techniken wirtschaftlicher Sanktionierung etwa in der feudalen Überschussextraktion aus [19]? Wie gestalten sie sich jenseits von Handel und monetarisierter Tauschwirtschaft? Ebenso lassen sich Vorstellungen von der Akteursbasis von Wirtschaftssanktionen hinterfragen, indem Akteure jenseits der von der Moderne vorausgesetzten Herrschaftsträger betrachtet werden. Was ist etwa mit Gastwirten in Ravenna oder auch mit Gott?

Die zweite Komponente des mediävistischen Sanktionspessimismus besagt hingegen, dass Wirtschaftssanktionen, wie sie heutige Gesellschaften routiniert anwenden, schlicht das Leistungsvermögen mittelalterlicher Politikgestaltung überstiegen. Den Schiffsverkehr auf dem Mittelmeer zu kontrollieren, die Alpen abzuriegeln oder Wales unter Blockade zu setzen scheint aus dieser Perspektive jenseits des mittelalterlich Möglichen zu liegen. Etwaige päpstliche Pergamente, die dergleichen vorsahen, sind unter dieser Voraussetzung bestenfalls Teil eines Diskurses von Ansprüchen. Diese Annahme speist sich, im Unterschied zur eben diskutierten, gerade aus einer für das Mittelalter immer schon a priori nachteiligen Erwartungshaltung an mittelalterliche Implementierungsbedingungen, die den Vergleich mit der Moderne voraussetzt. Ihr stehen allerdings zeitgenössische Stimmen entgegen, die Wirtschaftssanktionen wie selbst eine Sperrung der Alpen [20] nicht als Persiflage oder fiktionales Intermezzo berichten, sondern schlicht konstatieren [21]. Es soll natürlich nicht in Abrede gestellt werden, dass die Art von Informationen ( Daten ), die die Moderne verlangt, um wirtschaftliche Zustände und Veränderungen zu bewerten, in den meisten Fällen für mittelalterliche Wirtschaftssanktionen nicht zu beschaffen sein wird. Dennoch gibt es in Gestalt solcher zeitgenössischer Einschätzungen jenseits normativer Texte Möglichkeiten, die die Forschung erst noch auszuschöpfen hat [22]. Derlei Erzählungen ernst zu nehmen muss nicht heißen, dass man ihnen bis ins Detail glaubt oder von der Erwähnung auf den Erfolg schließt. Es heißt nur, dass man ihnen als zeitgenössisch validen Erklärungen, Deutungen und Handlungsgrundlagen nachgeht. Wenn Zeitgenossen Praktiken, die sich als Wirtschaftssanktionen beschreiben lassen, für einen Teil ( macht )politischer Vorgänge und für berichtenswerte Ereignisse hielten, spielten für sie Wirtschaftssanktionen eine Rolle, welche das auch immer gewesen sein mag. Doch darüber noch hinausgehend verkennt eine von Vornherein pessimistische Einschätzung auch die moderne Lage, denn sie überschätzt das, was über die Durchsetzung moderner Sanktionen in Erfahrung gebracht wurde und werden kann. Die mediävistische Sanktionsforschung kann hier von einem Dialog mit den Interessen – auch den Problemen und dem eigenen Pessimismus – moderner Sanktionsforschung profitieren.

*

Die Forschung zu Wirtschaftssanktionen, wie sie v. a. in den Wirtschafts- und Politikwissenschaften betrieben wird, zeichnet ihrerseits zwei Merkmale aus, die sich die mediävistische Forschung zum Anlass nehmen kann, um den eigenen Blick auf mittelalterliche Wirtschaftssanktionen zu überdenken und möglicherweise auch den Beitrag, den sie zu einem breiteren Diskurs über Sanktionen leisten kann, neu zu positionieren. Das eine Merkmal ist eine die gesamte Forschungsgeschichte moderner Sanktionsforschung begleitende Diskrepanz zwischen der Wechselhaftigkeit ihrer Konzepte und der Konstanz ihrer Untersuchungsgegenstände. Das zweite Merkmal ist die Entwicklungsrichtung der jüngeren Forschungsdebatte zu Sanktionen in den Sozialwissenschaften. Dort wird die quantitative Effektivitätsforschung zunehmend zugunsten qualitativer Fragestellungen in den Hintergrund gerückt.

Die moderne sozialwissenschaftliche Forschung zu Wirtschaftssanktionen erhielt ihre ersten wesentlichen Impulse durch Analysen kriegswirtschaftlicher Maßnahmen in Folge des Ersten und Zweiten Weltkriegs [23]. Die Wirtschaftskriege ( zu dieser Zeit der gebräuchliche Oberbegriff, der jüngst eine Renaissance erlebt [24] ) dieser Forschung definierten sich anhand vorhandener Feindschaften und anhand der wirtschaftlichen Zielsetzungen feindschaftlicher Handlungen [25]. Parallel zu Änderungen der geopolitischen Lage änderten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die Begriffe und Definitionen. Eine bis heute gültige Verlagerung des maßgeblichen Definitionskerns initiierte David Baldwins ‚Economic Statecraft‘ [26], das Wirtschaftssanktionen angesichts der nuklearen Bedrohungslagen des Kalten Krieges aus dem Kontext von Krieg und Feindschaft herauslöste. Nicht mehr von den Zielsetzungen her – Zerstörung der feindlichen Kriegswirtschaft und/oder Lebensgrundlage, von den chevauchées des Hundertjährigen Krieges bis zur Blockade der Achsenmächte –, sondern von den eingesetzten Mitteln her werden Wirtschaftssanktionen seither definiert. Denn, in den Worten Baldwins, auch „[ b ]ombing a library is not called cultural warfare.“ [27] Konnte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Baldwin unter ‚economic statecraft‘ jeglicher politische Beeinflussungsversuch mit ökonomischen Mitteln verstanden werden [28], wurden in der Operationalisierung für empirische Forschungen seither pragmatische Verengungen der Definition vorgenommen, die ‚Wirtschaftssanktionen‘ an bestimmte Elemente moderner Staatlichkeit und Ökonomie ketten, vom monetarisierten Gütertausch über ein globales Finanzsystem bis zu ( demokratischen ) Legislativakten [29]. Heutige Definitionen reichen vom „Kampf gegen die feindliche Kriegswirtschaft“ [30] bis hin zu allgemeinen „interfere[ nces ] in economic relationships between consenting economic parties for the sake of bringing about foreign policy goals.“ [31] Keine Definition der modernen Sanktionsforschung kann allgemeine Akzeptanz für sich beanspruchen.

Mit dieser Wechselhaftigkeit kontrastiert eine seit dem frühen 20. Jahrhundert konstant bestehende Einigkeit darüber, was als ‚Wirtschaftssanktionen‘ untersucht werden soll, nämlich: Embargo, Boykott, Strafzölle, Import- und Exportquoten, Import- und Exportlizenzierungssysteme, Dumping, Aufkäufe, Verbote oder Lizenzierungen finanzieller Transaktionen, asset friezes, Beschlagnahmungen, Enteignungen, Blockaden und Reisebeschränkungen, jeweils angedroht und/oder eingesetzt in Verfolgung politischer Ziele [32]. Hinter diesen meist ebenfalls modernen Benennungen stehen klar wiedererkennbare Praktiken. Ihre Zusammenführung unter dem Dach der ‚Wirtschaftssanktionen‘ hat auch heute einen gewissen Abbreviaturcharakter und dient der eingängigen Kommunikation, denn die Praktiken selbst sind untereinander stark heterogen und setzen je ganz unterschiedliche Handlungen, Befähigungen und Ressourcen voraus, physisch wie konzeptionell. Einer Reisebeschränkung beispielsweise liegt der zunächst recht simple Akt zugrunde, einer oder mehreren Personen bestimmte Ortsveränderungen zu verwehren. Ein Lizenzierungssystem finanzieller Transaktionen hingegen ist wesentlich voraussetzungsreicher hinsichtlich Normsetzung und Gehorsam, Gestaltbarkeit von Interdependenzen, Kulturtechniken der Administration, Pool der beteiligten Akteure, Monetarisierung der Wirtschaftsbeziehungen, etc. Erstere betrifft menschliche Körper und erst nachgeordnet die wirtschaftlichen Aktivitäten, denen diese in persönlicher Anwesenheit nachgehen können. Letzteres setzt im Wesentlichen bei Zahlungen an [33]. Der Sammelbegriff ‚Wirtschaftssanktionen‘ fungiert demnach auch in der modernen Sanktionsforschung eher pragmatisch-deskriptiv denn analytisch.

Diese Forschungslage in der politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Sanktionsforschung bedeutet, dass es für die Mediävistik keinen Grund gibt, sich vor der Untersuchung von Wirtschaftssanktionen – verstanden als deskriptiver Sammelbegriff für eine Reihe kulturell ganz unterschiedlich ausgestaltbarer Praktiken – in all ihren Facetten, einschließlich derjenigen, die heute interessieren, zu scheuen. Die bisherige Forschung zur päpstlichen Embargopolitik hat implizit bereits gezeigt, welcher mittelalterliche Variantenreichtum dieser Wirtschaftssanktion verhältnismäßig problemlos an das deskriptive Vokabular der Sanktionsforschung angeschlossen werden kann, ohne mittelalterliche Spezifika zu negieren: Es gab generelle Embargos und partielle Embargos, Export- und Importlizenzierungsmöglichkeiten sowie extraterritoriale Embargoumsetzung [34]. Diese Beschreibungen sind als historische Übersetzungsleistungen mittelalterlicher Verhältnisse für Beobachter des 21. Jahrhunderts umso valider, als das 21. Jahrhundert bei näherem Hinsehen eben keinen fixierten, vorherrschenden konzeptionellen Begriff von ‚Wirtschaftssanktion‘ pflegt, sondern variabel gestaltbare Praxis darunter erwartet.

Wie aber steht es mit dem Leistungsvermögen von Wirtschaftssanktionen? Die sozialwissenschaftliche Sanktionsforschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich vornehmlich mit der Frage der Effektivität. Verschiedenste, meist quantitative Methoden wurden eingesetzt, um herauszufinden, ob Wirtschaftssanktionen erstens überhaupt einen messbaren, ihnen und nichts anderem zurechenbaren Effekt auf die Wirtschaft der sanktionierten Entität zeitigten, und ob zweitens von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen den Sanktionen, diesen Effekten und eventuellen politischen Verhaltensänderungen der Sanktionierten die Rede sein kann. Das Resultat dieser Bemühungen war ein bis zur Sprichwörtlichkeit wiederholter Pessimismus: „It could be said that a sieve leaks like a sanction.“ [35] In jüngster Zeit jedoch nimmt auch die Debatte in den Sozialwissenschaften von der Effektivitätsfrage Abstand. Das Interesse namentlich der politikwissenschaftlichen und international-rechtlichen Forschung geht nun dahin, festzustellen, unter welchen Bedingungen es zu Sanktionen kommt, unter welchen Bedingungen sie welche Wirkungen hervorbringen, wie sich Sanktionsarten diesbezüglich unterscheiden, und was sie jeweils im politischen Kontext zu bedeuten haben [36]. Damit verschiebt sich zugleich der Schwerpunkt der eingesetzten Methoden in Richtung qualitativer Studien. Die aufschlussreichsten unter ihnen nähern sich bereits zeitgeschichtlichen Herangehensweisen an [37]. Diese Schwerpunkt- und Perspektivenverschiebungen bringen es mit sich, dass Wirtschaftssanktionen auch in den Sozialwissenschaften als veränderliche Praktiken untersucht werden. Kurz: In der sozialwissenschaftlichen Sanktionsforschung geht es zunehmend um den politik-kulturellen Ort von Wirtschaftssanktionen, dem man sich mittels qualitativer Methodik anzunähern hofft. Angesichts dessen muss gerade die ( mittelalter )historische Forschung nicht vor der Effektivitätsfrage verharren, statt sich den mittelalterlichen Kulturen und Gestalten derjenigen Praktiken zu widmen, die man Wirtschaftssanktionen nennen kann.

*

Dabei ist es zunächst sinnvoll, von den Erwartungen und Interessen zeitgenössischer Kommentatoren auszugehen. Im Folgenden seien drei der zahlreichen Erzählungen über und um Wirtschaftssanktionen im 13. Jahrhundert vorgestellt. In allen drei Fällen werde ich mich auf die Erzählungen selbst als Kommentare zu wirtschaftlich sanktionierenden Praktiken und ihren Auswirkungen, mithin auf die Ebene des zeitgenössisch Vorstellbaren über Wirtschaftssanktionen konzentrieren [38]. Es wird zu beobachten sein, dass zeitgenössische Reflexionen über bestimmte Wirtschaftssanktionen weder Effektivitätspessimismus noch blindes Erfolgsvertrauen zeigen, sondern ausgewogene Ansichten zu Reichweite, Wirkungen und Einzelaspekten der Sanktionsanwendung beitragen. Die drei Fallbeispiele sind: eine Erzählung über ein verräterisches Komplott zugunsten der Mongolen 1241 bei Matthäus Parisiensis ( 1 ), Erwähnungen der Rheinblockade gegen die Stadt Köln in den Jahren 1205/1206 in der dortigen Historiographie ( 2 ) sowie der Bericht des Salimbene von Parma über Venedigs Zugriff auf den Pohandel bei Ravenna in den 1260er Jahren ( 3 ). Die Arbeitsorte und Perspektiven dieser Kommentatoren unterscheiden sich ebenso stark wie die Konfliktkontexte der Sanktionsmaßnahmen, von Mongoleneinfällen ( 1 ) über den deutschen Thronstreit ( 2 ) bis zu venezianischem Wirtschaftsimperialismus ( 3 ). Dennoch haben alle drei Erzählungen gemein, Wirtschaftssanktionen – in der Umsetzung als Personen- und Warenverkehrskontrolle – als übliche Bestandteile mittelalterlicher politischer Praxis in Aktion zu zeigen. Diese je für sich genommen mehr oder minder bekannten Stellen aus der Chronistik des 13. Jahrhunderts unter dem Rubrum der Wirtschaftssanktionen zu lesen, verschiebt jeweils den Akzent gegenüber bisherigen Interpretationen: Matthäus Parisiensis’ Komplott wird zu einem Teil der Rezeptionsgeschichte des päpstlichen Embargos ( 1 ); die Kölner Blockade wird als eigenständiger Konfliktschritt betrachtet ( 2 ); Salimbenes Bericht wird zu einer Beobachtung der Wirkungen einer Blockade auf eine nur indirekt beteiligte Wirtschaft und Gemeinschaft ( 3 ).

*

Die erste dieser Sanktionsepisoden ist prima facie gar keine: Sanktionen werden nicht explizit besprochen. Darüber hinaus ist es mehr als wahrscheinlich, dass die geschilderten Begebenheiten, nur in der ‚Cronica Majora‘ des Matthäus Parisiensis überliefert [39], nie stattfanden. Sophia Menache, die die Passage im Kontext hochmittelalterlicher jüdisch-christlicher Beziehungen analysiert, nennt die Geschichte ein „good mystery tale.“ [40] Angesiedelt im Jahr 1241, handelt es sich bei dieser Erzählung um ein Zeitgeist-Destillat gängiger Vorstellungen, Erwartungen und v. a. Bedrohungswahrnehmungen im westlichen Europa. Die Mongolen hatten in der ersten Jahreshälfte die Heere Schlesiens und Ungarns geschlagen. Die Front zu den fremden Kriegern war bis an Böhmen und Österreich herangerückt [41].

Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungslage erzählt der zeitgenössische Chronist von St. Albans verschwörungstheoretisch: Unter den – stereotyp nicht weiter spezifizierten – Juden v. a. auf dem Gebiet des Reiches sei der Glaube verbreitet gewesen, die Mongolen ( tartari ) seien ihres, also jüdischen Glaubens. Von ihnen sei demnach eine Befreiung vom christlichen Joch zu erhoffen gewesen, was Motivation genug gewesen sei, den Mongolen zu Hilfe zu kommen. Bei einer geheimen Zusammenkunft wird eine wirtschaftliche Hilfeleistung beschlossen, da die Glaubensbrüder Bedarf an Wein, Waffen und Getreide hätten [42]. Aktiv wurden Matthäus Parisiensis’ Figuren jedoch nur bezüglich des Postens ‚Waffen‘: Schwerter, Dolche, Messer und Panzer seien in großem Stil auf den westeuropäischen Märkten aufgekauft worden [43]. Diese Waffenlieferung wurde, so geht weiter aus der Erzählung des Chronisten hervor, in etwa dreißig Fässer verpackt, die Stichwaffen aus Gründen der Platzersparnis ohne Griffe. Daraufhin wandten sich die Verschwörer mit dem Vorschlag einer Intrige an die Herrscher ( principes Christiani ), denen sie unterstanden. Abermals geht es um die angebliche Glaubensgemeinschaft der Juden und Mongolen. Hier wird ihre Interpretation jedoch umgedreht, denn die Juden hätten versprochen, auf diesem Wege gegen die Mongolen vorzugehen: Sie tränken nur von Juden hergestellten Wein, ein knappes und schwer zu beschaffendes Gut. Wenn nun gestattet würde, dass den Mongolen solcher Wein – dreißig Fässer etwa – geliefert würde, sei das ein sicherer Weg, die hostes publici zu vergiften und die Christen von ihrer Tyrannei zu befreien. Die christlichen Herrscher stimmten dem Plan zu und die von Matthäus Parisiensis sorgfältig inszenierte Waffenlieferung nahm ihren Lauf. Verschwörer und Schmuggelware seien bereits an den Peripherien des Reiches angekommen – remotae partes Alemanniae –, als die Intrige doch noch entdeckt wurde. Die Transporteure mussten eine Brücke überqueren und trafen auf einen dominus pontis, der für eine Zollerhebung zuständig war. Die Verschwörer hätten sich nun geweigert, diesen Zoll zu zahlen, da sie in einer wichtigen Mission für Reich und Christenheit unterwegs seien. Ihr Gegenüber sei allerdings misstrauisch geblieben. Er öffnete eines der Fässer und fand natürlich keine Flüssigkeit vor, sondern Waffen, dicht and dicht ins Fass geschichtet. Nach dieser glücklichen Entdeckung in letzter Minute wird das Fazit gezogen: Es sei entsetzlich, wie die Juden lieber den Feinden zu Hilfe kämen als den Christen, unter denen sie doch leben und mit denen sie Handel treiben dürften [44].

Bei allem auf Unterhaltung seines Publikums zielenden Skandalgeruch und verschwörungstheoretischen Reiz weist diese Erzählung doch logische Lücken auf. Matthäus Parisiensis’ Wahl jüdischer Akteure lässt sich leicht durch verbreitete Vorurteile und Ressentiments erklären, auch wenn dieser Chronist sonst dazu neigte, mit allen Objekten herrschaftlicher Übergriffe Mitgefühl zu zeigen ( 1241 war ein Jahr großangelegter königlicher Erpressung der jüdischen Bevölkerung in England ) [45]. Was aber motivierte die elaborierte Scharade des doppelten Schmuggels? Warum die Kontaktsuche zur Obrigkeit, warum die Erklärung der falschen Intrige? Der Zusammenhang mit der schlussendlichen Kontrolle an der Brücke ist allenfalls lose. Um das Stereotyp der geizigen Fernhändler aufzurufen, deren verräterischen Absichten zum Verhängnis wird, dass sie sich trotz prekärer Fracht weigern, Zoll zu zahlen, hätte ein sozusagen einfacher Waffenschmuggel ausgereicht. Auch unter der Annahme, dass Matthäus Parisiensis die Reaktionen westlicher Herrscher auf die Mongolengefahr als zu zögerlich bewertet, ist nicht unbedingt hinreichend erklärt, wie er ihre aktive Beteiligung an der hinterlistigen Vergiftungsaktion vorführt [46].

Die Episode wird besser verständlich, wenn man sie vor dem Hintergrund von Wirtschaftssanktionen liest. Was Matthäus Parisiensis seinen Leser*innen hier zeigt, ist auch der Umgang mit der päpstlichen Embargopolitik, die in der mediävistischen Sanktionsforschung bisher die stärkste Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Gegen die Mongolen war ein Kreuzzug ausgerufen worden. Selbst wenn damit nicht ein vollständiges Embargo einhergegangen wäre, unterlag der Handel mit bestimmten Gütern über die päpstlich definierten Glaubensgrenzen hinweg einem stehenden partiellen Embargo, das nicht nur Waffen, sondern seit den Pontifikaten Honorius’ III. und Gregors IX. auch Lebensmittel, namentlich Getreide und Wein umfasste [47]. Waffen, Getreide und Wein – das entspricht exakt der Liste, mit der Matthäus Parisiensis die wirtschaftliche Hilfeleistung der fiktiven Verschwörer beschreibt [48], auch wenn im Fortgang der Erzählung als Schmuggelware nur noch Waffen, als Deckmantel nur noch Wein eine Rolle spielen. Allein Bauholz, ebenfalls Gegenstand des päpstlichen Embargos, fehlt in der Liste des Chronisten aus St. Albans. Das mag damit zusammenhängen, dass Bauholz v. a. für den Flottenbau und die feindliche Seemacht als strategisches Gut angesehen wurde, im Falle der mongolischen Reiter also weniger einschlägig war. Dass diese Übereinstimmung bei Matthäus Parisiensis kein Zufall ist, scheint mehr als wahrscheinlich. Päpstliche Embargos wurden weit publiziert, denn ihre Durchsetzung beruhte auf der dezentralen Kooperation kirchlicher und namentlich auch weltlicher Herrschaftsträger vor Ort, besonders in Häfen und an anderen Nadelöhren, an denen Warenverkehr kontrolliert und gesteuert werden konnte [49]. Matthäus Parisiensis selbst referiert in seiner ‚Cronica Majora‘ päpstliche Embargopolitik seit ihren öffentlichkeitswirksamen Anfängen unter Alexander III. auf dem Laterankonzil von 1179 und zitiert auch die Handelsverbote Gregors IX. von 1234 [50]. Dass in seiner Erzählung die Feinde genau der Güter bedürfen, deren Entzug christliche Wirtschaftssanktionen als strategisch entscheidend festgelegt hatten, zeigt die Konzeption dieser Wirtschaftssanktionen als Bestandteil der Erzählkultur im europäischen Nordwesten.

Ähnlich verhält es sich mit dem rätselhaften doppelten Schmuggel im Fortgang der Erzählung: Die Doppelintrige ist dadurch motiviert, dass grundsätzlich in der gesamten Christenheit, auch abseits der Mittelmeerhäfen, mit der Durchsetzung des Embargos gerechnet werden sollte. Vor dem Hintergrund einer Situation, in der jegliche Warenlieferung Richtung Mongolen als gefährlich, da zwangsläufig erhöhter Aufmerksamkeit der weltlichen Herrschaftsträger unterliegend, gelten musste, wird es zum naheliegenden Kunstgriff, das Vorhaben unter einem Deckmantel sichtbar-unsichtbar zu machen. Die weltlichen Obrigkeiten wiederum haben ein Projekt in der rechtlichen Grauzone abzuwägen. Von ihnen war gefordert, ein Auge zuzudrücken und Nichtchristen das päpstliche Embargo brechen zu lassen. Dafür wurde die Chance angeboten, die ( vermutete ) Angebotsknappheit bestimmter für den Feind notwendiger Güter ( von Juden hergestellten Weins ) auf dem internationalen Markt auszunutzen, um über vermeintlich gewogene Dritte die Versorgungsaktivitäten des Feindes zu dessen verheerendem Nachteil zu manipulieren. Ein solcher Plan liest sich aus der Perspektive christlicher Herrschaftsträger fast wie klassische „ökonomische Kriegführung“, wie sie auch aus den Weltkriegen des letzten Jahrhunderts beschrieben wird [51]. Die Doppelintrige zeigt im internationalen Handel versierte jüdische Akteure und christliche Herrschaftsträger im Bunde, um gemeinsam das Embargo für einen höheren Zweck zu unterlaufen. Sie zeigt sie damit als Personengruppen, bei denen Vertrautheit mit der päpstlichen Embargopolitik plausibel angenommen werden konnte, und die von der Umsetzung dieser Politik auf die eine oder andere Weise betroffen waren.

Zweideutiger ist diesbezüglich die Figur des dominus pontis an der Peripherie. Auch in den als entlegen gekennzeichneten Gegenden des Reiches treffen die Verschwörer auf einen lokalen Herrschaftsträger bzw. Beauftragten, der den Personen- und Warenverkehr an einem dafür geeigneten Ort kontrolliert. Über sein Wissen um die ökonomische Außenpolitik der Päpste lässt sich jedoch streiten. Hätte er keine weiteren Fragen gestellt, wenn die Verschwörer klaglos den verlangten Zoll gezahlt hätten? Er hatte offenbar die Befugnis, Transporte zu kontrollieren, verbotene Güter zu beschlagnahmen und diejenigen, die das Embargo unterliefen, festzusetzen. Dass in dieser Richtung keine Waffenlieferungen unterwegs sein sollten, v. a., wenn die Lieferanten behaupteten, es handle sich um Wein, ist auch ihm klar. Zunächst sei es ihm jedoch schlicht um den Zoll gegangen. Die lückenlose Durchsetzung des päpstlichen Embargos scheinen ihm die Leser*innen von Matthäus Parisiensis nicht zutrauen zu müssen. Das wiederum mag man entweder dem Umstand zuschreiben, dass der Schauplatz immer noch zu weit von Grenze und Frontlinie entfernt war, oder aber der Unwissenheit dieses lokalen Akteurs über seine Rolle in der päpstlichen Embargopolitik. In letzterem Fall ist der dominus pontis, ein Zöllner irgendwo im östlichen Reich, diejenige Figur, mit der die von Matthäus Parisiensis’ Leser*innen anzunehmende Reichweite des päpstlichen Embargos ausfranst.

Wie die meisten in der mediävistischen Forschung diskutierten Sanktionen wird die Wirtschaftssanktion in dieser Erzählung von einer kirchlichen Autorität als Verhaltensregelung mit Anspruch auf Verbindlichkeit erlassen und zielt auf die kirchlich definierte Glaubensgrenze, bzw. gegen Personengruppen jenseits dieser Grenze. Sie ist kriegsbegleitend und richtet sich gegen Feinde. Matthäus Parisiensis bietet darüber hinaus ein plastischeres Bild. Er lässt seine Leser*innen den päpstlichen Embargoerlass gerade an den Grenzen seiner Wirksamkeit erleben, zeigt also Möglichkeiten, ihn zu unterlaufen oder seine Bestimmungen aus guten Gründen zu verbiegen. Das gesamte Ensemble an Beteiligten ( Juden, Akteure des westeuropäischen Waffenmarkts, Transporteure, dominus pontis ) sowie der Chronist, der über sie berichtet, gehen davon aus, dass grenzübergreifende Warenströme bewaffnete Konflikte beeinflussen ( selbst wenn kein Gift im Spiel ist ). Der Fokus liegt dabei auf Ressourcen, die entweder aufgrund ihres Preises und ihrer internationalen Begehrtheit [52] ( europäische Klingen ) oder aufgrund einer spezifischen kulturell bedingten Nachfragesituation ( von Juden hergestellter Wein ) knapp sind. Für Beobachter im St. Albans des 13. Jahrhunderts entschied sich demnach nicht schlicht aufgrund der absoluten materiellen Beschaffenheit eines Gutes, sondern aufgrund der jeweiligen Angebots- und Nachfragesituation, welche Waren als strategische Güter instrumentalisiert werden konnten [53]. Diesbezüglich zeigen sich Matthäus Parisiensis und seine Leser*innen als gewitzter im wirtschaftlichen Denken denn etwa die Figur des dominus pontis, dem bei Waffen sehr viel klarer ist als bei Wein, dass es sich um strategische Güter handelt. Diese Unterscheidung fungiert ihrerseits wieder als Kommentar auf Schwierigkeiten und Grenzen der Durchsetzung des Embargos im Detail. Schließlich zeigt uns die Verschwörungserzählung des Matthäus Parisiensis die Bekanntheit des päpstlichen Embargos, den Willen weltlicher Herrschaftsträger, es durchzusetzen ( oder strategisch gezielt zu brechen ), und die zunächst große, letztlich aber dennoch begrenzte Reichweite einer paneuropäisch gedachten, top-down verhängten, extraterritorial auf dezentrale Durchsetzung bauenden Wirtschaftssanktion als selbstverständliche Einflussfaktoren individuellen Handelns im Konfliktkontext.

*

Im Sommer 1205 wurde Köln durch Rheinblockaden in einen ökonomischen Würgegriff genommen. Eine Fortsetzung der ‚Chronica Regia‘ ( ‚Chronica‘ ) vermerkt lediglich die Sperrung des Flusses; eine andere, die ‚Annales Colonienses Maximi‘ ( ‚Annales‘ ), verknüpfen mit dieser Notiz explizit den Zweck, Lebensmittel- und Warentransporte in die Stadt zu unterbinden [54]. Über die Blockade wird im Kontext des deutschen Thronstreits berichtet, in dem der Staufer Philipp von Schwaben und der Welfe Otto IV. um fürstliche Unterstützung sowie rechtmäßige Wahl und Krönung rangen. Dem Kölner Erzbischof Adolf I. von Altena und seiner Stadt kam dabei keine geringe Rolle zu. Ursprünglich Parteigänger Ottos, auch wegen seiner für Stadt und Erzstift Köln wichtigen Beziehungen nach England, hatte sich Adolf von Altena im Spätherbst 1204 Philipp von Schwaben angeschlossen. Als klar wurde, dass er bei dieser Haltung zu bleiben gedachte, wurde er im Frühjahr 1205 exkommuniziert und abgesetzt. Die Stadt Köln vollzog den Seitenwechsel ihres Erzbischofs nicht mit, sondern hielt zu Otto IV., der sich zu diesem Zeitpunkt in Köln aufhielt. Adolf von Altena führte daraufhin gegen seine Stadt Beschwerde bei Philipp von Schwaben. Der Stauferkönig und seine Anhänger beschlossen auf dem Pfingsthoftag in Speyer einen herbstlichen Heerzug gegen Köln [55].

In diesem Kontext nun finden sich in der Kölner Chronistik die recht lakonischen Notizen über die Rheinblockade. Die parataktische Erzählweise beider Texte lässt Zustandekommen und Urheber der Blockade im Unklaren. Während die ‚Annales‘ aus einer regional gefassten Konfliktkonstellation berichten, in der lokale Feinde um die Stadt herum Feindseligkeiten anzetteln, schließt die ‚Chronica‘ die Blockade direkt an den Pfingsthoftag und dessen Beschlüsse an. Darin bieten die dürren Erzählungen immerhin Hinweise darauf, ob und unter welchen Bedingungen eine solche Blockade als Kampf- oder Kriegsmaßnahme gesehen werden konnte: In der ‚Chronica‘, folgend auf den Beschluss einer Heerfahrt gegen Köln, ist sie kriegerischen Auseinandersetzungen vorgelagert, aber doch vorbereitend an ihnen orientiert [56]. Dieser Interpretation entsprechend ist dort auch vermerkt, dass die Blockade in direkter Folge der Versöhnung zwischen König Philipp und der Stadt Köln im Herbst 1206 aufgehoben und der Rhein wieder für die Handelsschifffahrt geöffnet wurde, abermals suggerierend, dass königlich angeregte Planung für die Sperrung verantwortlich zeichnete. Die Blockade erscheint als kontrolliert abgewickelte ökonomische Beugemaßnahme, ohne dass freilich ein ursächlicher Zusammenhang mit dem schlussendlichen Nachgeben der abgeriegelten und bekriegten Stadt explizit gemacht würde. Die ‚Annales‘ hingegen stellen die Sperrung des Flusses für jeglichen Warenverkehr als stimmiges Element in einer Reihe von werre, incendia und Plünderungen infolge der Absetzung Adolfs I. von Altena und der Wahl Brunos IV. von Sayn dar [57], interpretieren sie mithin als Teil von wenn auch nicht völlig „[ w ]ilde[ n ] Fehden“ [58], so doch von Gelegenheitsgewalt in lokalem Kontext. Nach deren Zielsetzung jenseits von Gewaltausübung und Gewalterleiden wird in den ‚Annales‘ nicht weiter gefragt, auch wenn sich natürlich politisch folgenreiche Wirkungen damit verknüpften.

Im Kontext des Verlaufs des Thronstreits zwischen Philipp von Schwaben und Otto IV. wird der Episode oft selbst dort keine größere Bedeutung beigemessen, wo die Kölner Historiographie explizit ausgewertet wird [59]. Wo die Blockade Beachtung fand, folgte die Forschung in aller Regel der regionalen Interpretation der ‚Annales‘ [60]. Dass es sich gleichwohl nicht um eine rein lokale Affäre oder einen unwesentlichen Konfliktschritt handelte, wird beispielsweise beim Blick in die elsässische Chronistik deutlich. In den Weinexportregionen am Oberrhein schlug das Jahr 1206 nicht mit den politischen Konflikten um den Thron zu Buche, sondern mit einem signifikanten Einbruch der Weinpreise und Rekordhöhen der Preise für leere Fässer [61]. Die Dürftigkeit der Quellennotizen ist durchaus üblich für Erwähnungen von Wirtschaftssanktionen in der kontinentalen Chronistik des 13. Jahrhunderts. Auch ein breiterer Vergleichshorizont mittelalterlicher Wirtschaftssanktionen wird aller Voraussicht nach nicht dazu führen, dass zwischen den Interpretationen der Rheinblockade durch ‚Chronica‘ und ‚Annales‘, also zwischen Deutungen als lokaler Gewaltausbruch oder königliche Beugemaßnahme, endgültig entschieden werden kann. Doch er hilft, sie erst als Spielarten des Zustandekommens von Blockaden sichtbar zu machen. Im Zusammenhang mit der bisherigen mediävistischen Forschung zu Wirtschaftssanktionen ließe sich auf Basis der ‚Chronica‘ spekulieren, ob sich die exkommunizierte Partei um Philipp von Schwaben und Adolf von Altena, der als hochrangiger Kirchenfürst und bisheriger Parteigänger Ottos IV. in engem Kontakt mit Innozenz III. gestanden hatte, an der päpstlichen wirtschaftlichen Exklusionspolitik, oder zumindest ihrer Signalwirkung, orientierte. Zugleich wird – nicht nur, aber auch im Kontext weiterer Narrationen über Wirtschaftssanktionen, wie etwa dem vorigen und dem folgenden Beispiel – unmittelbar deutlich, dass eine gezielte, routinierte Anwendung wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen im Konfliktfall keineswegs einen Lernprozess von der päpstlichen Normsetzungszentrale in die weltliche Sphäre voraussetzt. Einer ganzen Reihe von Akteuren, nicht zuletzt dem Opfer Köln selbst, das in anderen Konstellationen selbst ökonomische Zwangsmaßnahmen anzuwenden wusste, konnten Wirtschaftssanktionen als regulärer Teil der politischen Praxis in den Sinn kommen. Insofern ist gerade die Sparsamkeit der Kölner Nachrichten über die Rheinblockade von 1205/1206 und vergleichbarer Notizen ein Hinweis auf die Alltäglichkeit und Erwartbarkeit des ökonomischen Konfliktrepertoires.

*

Mein drittes Beispiel lässt, ganz im Kontrast zu den Kölner Texten, an Ausführlichkeit wenig zu wünschen übrig. Salimbene von Parma schildert eine Begebenheit, die mehr als deutlich macht, dass Wirtschaftssanktionen im 13. Jahrhundert innerhalb der Christenheit und ohne Referenz auf kirchliche Autoritäten routiniert praktiziert wurden [62]. Der Franziskaner Salimbene strukturierte seine Chronik grob entlang seiner eigenen Lebensphasen [63]: Je nach dem, in welchem Konvent er sich gerade aufhielt, wird über regionale Ereignisse und Persönlichkeiten berichtet. Für eine Weile lebte er in Ravenna und Umgebung und beobachtete Feindseligkeiten der Venezianer gegen die ‚Lombardei‘ poaufwärts und gegen Bologna in den mittleren Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts [64]. Diese Feindseligkeiten waren wirtschaftlicher Natur und Teil der bereits lange währenden und von Bologna bekämpften Bestrebungen Venedigs, sich die ökonomische Souveränität über die Regionalhandelsströme Oberitaliens, v. a. den lukrativen Salzhandel, zu sichern [65].

Salimbene berichtet vor diesem Hintergrund über eine Blockade, deren Anlass und Grund er in Gier und Geiz Venedigs sieht. Die Venetianer pachteten, so Salimbene, am südlichen, von den Ravennaten kontrollierten Ufer des Po di Primaro bei Sant’ Alberto den Baugrund für eine Befestigung auf fünfzig Jahre, gegen eine Zahlung von fünfhundert ravennatischen Pfund jährlich [66]. Das dort zunächst aus Holz errichtete Kastell nannten sie Marcamò [67], und sie zahlten gewissenhaft für die so gewonnene Position auf der Schifffahrtsroute von Ravenna poaufwärts [68]. So weit so gut, wären die Besitzer von Marcamò nicht auf, wie Salimbene es formuliert, calliditates sive malitias [69] aus gewesen. Von den fünf gewieften Böswilligkeiten, die er im Folgenden nennt, seien zwei, deren Schauplatz nicht der Baugrund am Fluss, sondern die Stadt Ravenna selbst war, nicht im Vertrag vorgesehen gewesen. Wofür die Venetianer die Befestigung Marcamò nutzten, muss im Gegenschluss nicht nur hinreichend klar, sondern eventuell zum Teil bereits Gegenstand der Vereinbarung gewesen sein. Erstens hätten sie mittels Investitionen versucht, ihre Position in Marcamò auf Dauer zu stellen, indem sie die hölzernen Befestigungen durch Mauerwerk ersetzten [70]. Zweitens hätten sie den so ermöglichten Würgegriff um die Pomündung genutzt, um den Handel von Städten des Landesinneren mit der Romagna und der Mark Ancona zu unterbinden. Getreide, Wein, Öl, Fisch, Fleisch, Salz, Feigen, Eier, Käse, Obst und weitere Lebensmittel konnten so nicht mehr den Po hinauf geliefert werden [71]. Mit anderen Worten: Ein Teil der Grundversorgung der Anwohner poaufwärts hing mit einem Mal vom Wohlwollen der Venetianer ab [72]. Die dritte Maßnahme ist in ihrem Zusammenhang mit der Befestigungsanlage etwas unklar: Die Venetianer hätten in großem Stil Nahrungsmittel aufgekauft, um zu verhindern, dass Bologna sie kaufe, das doch aufgrund seiner demographischen Entwicklung und dem Wachstum der dortigen Universität gesteigerten Bedarf hätte [73]. Vielleicht diente Marcamò als zentrale Organisationsstelle bzw. als Stapel? Viertens, und hier überschritten die Venetianer laut Salimbene ihre Vereinbarung mit Ravenna, hätten sie ein Kriegsschiff permanent im ravennatischen Hafen stationiert, um auch dort den Warenverkehr zu überwachen [74]. Ergänzend dazu hätten sie, fünftens, einen Agenten in Ravenna unterhalten, um die dortige Politik und besonders die Einhaltung der Vereinbarung zu beobachten [75].

Venedig konnte seine ökonomische Aggression nur extraterritorial durchsetzen, indem es von Ravenna den dafür nötigen Stützpunkt pachtete. Salimbene zeigte sich neugierig über die Motive, die Ravenna dazu bewogen, die nach seiner Schilderung hauptsächlich gegen Bologna gerichtete Handelssperre zu ermöglichen. Also fragte er Ruggero di Bagnacavallo, den damaligen Podestà in Ravenna, ob er die Befestigung von Marcamò veranlasst habe. Die Antwort fällt differenziert aus ( und Salimbene nummeriert auch dies sorgsam durch ): Ruggero di Bagnacavallo habe die Befestigung, und mit ihr die Blockade, nicht veranlasst, sondern lediglich zugelassen. Denn erstens habe er eine Venetianerin zur Frau. Zweitens stünden seine Feinde außerhalb Ravennas. Und drittens habe er ökonomische Nutzenmaximierung verfolgt, consequabar inde utilitatem [76]. Darunter seien nicht nur die jährlichen Zahlungen an Ravenna zu verstehen, sondern auch die angenehmen Nebeneffekte, die die Blockade der Stadt einbringe. Was mit Hilfe von Marcamò blockiert wurde, war zum großen Teil verderblich und wurde in Ravenna selbst verkauft: das Angebot war reich und billig. Ruggero schwärmt bei Salimbene von den geringen Preisen für große, volle Schüsseln Salz, fetteste Wildenten [77] oder zwölf gekochte Eier in der Taverne, alles zu haben, wann immer einem Kunden die Lust danach stünde [78]. An Salimbenes temporärem Wohnort herrschte aufgrund der venetianischen Blockade Überfluss. Er beendet seine Erzählung von Marcamò damit, seine Leser*innen in Gedanken an günstige Gastronomie und fette Enten schwelgen zu lassen. Doch auf der anderen Seite der Blockade war die Lage ernst. Als er von Aufkäufen und Blockade spricht, merkt Salimbene an, dass es angesichts dessen nicht verwundern könne, wenn Bologna gegen Venedig zum Krieg rüste und seinerseits eine Festung errichte, um Marcamò zu neutralisieren [79]. Und tatsächlich sind die resultierenden Kämpfe zwischen Bologna und Venedig 1270–1273 der erzählerische Rahmen für Salimbenes Bericht über die Poblockade [80]. Fortgesetzte, gezielte ökonomische Aggressionen dieser Art sieht er als legitime Kriegsursache.

Moderne Kommentatoren weisen darauf hin, dass die stringente Erzählung Salimbenes, die auf Ursachensuche direkt von militärischer Eskalation zu ökonomischer Aggression und Profitsuche führt, entzerrt werden muss. Bolognas kriegerisches Vorgehen gegen Marcamò begann 1270. Der Pachtvertrag mit Ravenna, der Venedig die Befestigung einbrachte, ist vermutlich 1251 anzusiedeln, der Ausbau von Marcamò 1258 [81]. Dieser Ausbau war seinerseits eine Reaktion auf den Versuch Bolognas, Ravenna mittels ökonomischer und politischer Knebelverträge in seinem Einflussbereich zu verankern [82]. Bologna betrieb angesichts seines Bevölkerungswachstums bereits länger immer wieder Ressourcenkontrolle ( v. a. der Getreideex- und -importe ); Teuerung und Knappheit verschärften sich jedoch gerade 1258 deutlich [83]. Die ökonomische Situation in Bologna war demnach längerfristig angespannt, der ökonomische Würgegriff von Marcamò wurde je nach Bedarf und politischer Situation reguliert, und auch sonst gab es Bruchlinien zwischen Bologna, Ravenna und Venedig je nach Stand der Auseinandersetzungen um Staufer und Papsttum. Darüber hinaus kann Ravenna nicht nur als Gewinnerin der Situation angesehen werden, denn Ravenna selbst wurde durch Venedig zwischen ca. 1250 und 1270 aus dem See- und Flusshandel von den Marken den Po hinauf verdrängt und musste sich mit der Existenz als landgebundene Regionalmacht zufrieden geben [84].

Salimbenes Interpretation arbeitet mithin gezielt die Blockade und ihre Wirkungen als Angelpunkt der Geschehnisse heraus, im Verfahren der dramatischen Raffung und Zurückführung auf moralisch bewertbare Handlungen. Er bietet einen klassischen Fall politischer Entitäten, die Strukturen schaffen, um Handelsströme und Märkte zu Ungunsten der Gegner und zum eigenen Nutzen zu beeinflussen. Die von ihm bevorzugten Aufzählungen stellen fünf venetianische Maßnahmen drei Beweggründen für das Handeln Ruggeros di Bagnacavallo gegenüber. Dadurch gerät der ravennatische Podestà ins Zentrum der Aufmerksamkeit [85]. Venedig wird bereits zu Beginn der Blockadenerzählung der Gier nach ökonomischer Dominanz bezichtigt. Die konkreten Maßnahmen, die es von Marcamò aus ergreift, entspringen bei Salimbene dieser allgemeinen eher als einer situativen Dynamik. Ravennas Mitspielen hingegen, obschon die Stadt zwischen Bologna und Venedig lavierte und von letzterem allmählich wirtschaftlich vereinnahmt wurde, mithin reichlich strukturellen Zwängen ausgesetzt war, nutzt der Franziskaner, um einen Einblick in Interessenlagen im Umfeld der Blockade zu geben. Die Beweggründe, die Ruggero di Bagnacavallo nach sorgfältiger Unterscheidung zwischen aktiver Beteiligung und bloßem Zulassen der Blockade nennt, korrespondieren einerseits mit politisch-diplomatischen, andererseits mit ökonomischen Zielsetzungen. Ruggero, ein Anhänger der Staufer, war nach dem Ende einer Besetzung Ravennas durch Bologna 1249 an die Macht gekommen. Er brauchte und bekam venetianische Unterstützung. In der Konstellation, in der Venedig Marcamò plante, kann sowohl aufgrund seiner Verbundenheit mit Venedig als auch aufgrund der Konfrontationslinien zum guelfischen Bologna vermutet werden, dass er weder über die Neigung noch über viel Spielraum verfügte, sich der Ermöglichung der Blockade zu verweigern – in Salimbenes Worten: Seine Frau sei aus Venedig und seine Feinde seien außerhalb Ravennas. Dass Salimbene den Podestà Ruggero als seinen Gesprächspartner dergestalt ins Zentrum rückt und die Gelegenheit ergreift, nicht nur diese seine politischen, sondern wesentlich ausführlicher noch seine ökonomischen Interessen zu referieren, animiert seine Leser*innen zum Nachdenken über Elemente der Blockade, die beim Blick nur auf die Hauptkontrahenten leicht in Vergessenheit geraten.

Die ravennatische Perspektive, die Salimbene einnimmt, stößt uns direkt auf den weiten Kreis der in der einen oder anderen Weise am Konflikt Interessierten, die nicht qua Familienzugehörigkeit oder militärischer und diplomatischer Schulung direkt an seiner Führung beteiligt waren. Dieser weitere Kreis an Konfliktinteressierten lässt sich in engem Zusammenhang mit Auswirkungen der Blockade jenseits ihres Zielobjekts beobachten. Heute werden solche aufgrund weiterer Interdependenzen entstehenden, indirekten Auswirkungen wirtschaftlicher Handlungsweisen auf Dritte als Externalitäten oder externe Effekte bezeichnet. Die Sperrung des Po di Primaro hatte nicht nur verheerende Auswirkungen auf Bologna, sondern zeitigte auch positive Effekte in Ravenna, wo sie zu einer gewaltigen Angebotssteigerung geführt habe. Die Zustimmung Ruggeros zur Errichtung und Nutzung von Marcamò wurde mit Blick auf die Auswirkungen dieses Angebots – quod stultus esset qui maiorem inquireret [86] – auf die Preisbildung in dem von ihm geleiteten Gemeinwesen erteilt. All das billige Salz, die günstigen fetten Enten und die im Überfluss zu habenden gekochten Eier waren dazu geeignet, kein Mitglied dieses Gemeinwesens leichtfertig einen baldigen Politikwechsel befürworten zu lassen. Die positiven Externalitäten einer solchen Blockade dürften ihre bindende Wirkung umso stärker entfaltet haben, je länger man sich an ihr Vorhandensein gewöhnen konnte. Ob diese Rekrutierungswirkung bei kollektiven Wirtschaftssanktionen weiter reichte als bei militärisch ausgetragenen Konflikten, lässt sich im Detail kaum berechnen – schließlich gab es Truppenverpflegung, mobiles Sexgewerbe, Waffenhandel, Schlachtrosszuchtbetriebe, etc. –, kann aber vermutet werden. Nicht zuletzt Salimbenes Schilderung selbst deutet darauf hin: Ruggero di Bagnacavallo spricht auch von Bevölkerungskreisen, die sich einen Teil ihres Unterhalts mit dem Rupfen der Enten anderer verdienen [87].

Salimbene von Parma zeigt mit dieser Passage seiner Chronik einen politischen Akteur, der mit den weiteren marktwirtschaftlichen Auswirkungen einer gegen einen bestimmten Gegner gerichteten ökonomischen Feindseligkeit Dritter rechnet, um die Politik seiner Allianzen voranzutreiben und seine eigene Position zu festigen. Auch die weiteren Akteure der Episode, vom Eier kochenden Wirt über den neugierigen Franziskaner bis zum venetianischen Agenten in Ravenna, sind Gestalten des politischen Alltags. Sie interessieren sich für die Blockade, oder beteiligen sich an ihr, ohne dass Verbindungen zu den kirchlichen Normen sichtbar würden, die das 13. Jahrhundert in der bisherigen mediävistischen Sanktionsforschung auszeichnen. Ganz unabhängig von der generellen Verbreitung militärischer Konflikte auf der italienischen Halbinsel dieser Jahrzehnte ist in der Darstellung Salimbenes die Blockade zudem nicht Teil eines Kriegsgeschehens, sondern eine selbständige Maßnahme mit dem Ziel ökonomischer Dominanz, auch wenn sie dem Chronisten als legitimer Beweggrund für militärische Eskalation gilt [88].

*

Bereits der kurze Blick in diese drei mittelalterlichen Erzählungen über Wirtschaftssanktionen offenbart ein unterschiedlich detailliertes, aber nichtsdestoweniger genaues zeitgenössisches Beobachten von Sanktionspraktiken, den Grenzen ihrer Durchsetzung, den Interessen und Handlungsmöglichkeiten unterschiedlicher Beteiligter, sowie von einzelnen Aspekten wie der Identifizierung strategischer Güter oder dem Rechnen mit positiven externen Effekten. Die Wirtschaftssanktionen sind dabei ein selbstverständlicher Teil der politischen Praxis, der nicht notwendigerweise mehr Skepsis provozierte als andere Handlungen von Herrschaftsträgern auch. Allein diese Stellen machen deutlich, dass es sich zur Einschätzung mittelalterlicher Möglichkeiten von Wirtschaftssanktionen lohnt, sich auf breiterer Basis, als es hier geleistet werden kann, den Erwartungen, Aspekten und Problemen zuzuwenden, die die mittelalterliche Historiographie diesbezüglich beschäftigten. Keine der drei vorgestellten Sanktionsepisoden eignet sich besonders gut für „faktografische Darstellungen“ [89], obschon wir es in jedem der Fälle mit Sanktionen zu tun haben, die nicht der Faktizität oder Realität entbehrten: Die höchstwahrscheinlich fiktive Verschwörungserzählung bei Matthäus Parisiensis nutzt Sanktionen, deren Stattfinden historisch gesichert ist, nur mittelbar als erzählerischen Hintergrund. Die Rheinblockade fand statt und zeitigte die ökonomisch-theoretisch vorhersehbaren Wirkungen, doch mehr ist darüber kaum in Erfahrung zu bringen. Auch die venetianische Blockade des Po di Primaro ist historisch gesichert, aber Salimbene von Parma interessieren daran v. a. die Effekte, die nicht Ziele der Maßnahme waren. In der Historiographie lassen sich Deutungsmuster, zeitgenössische Einordnungen und Interessen im Umfeld praktizierter Wirtschaftssanktionen verfolgen. Eine ganze Reihe solcher Erzählungen vergleichend zu analysieren hilft daher modernen Kommentatoren, die zeitgenössischen Vorstellungen und Möglichkeitshorizonte, kurz: das zeitgenössische ‚economic thinking‘ ( im Gegensatz zur ökonomischen Theorie, ,economic thought‘ [90] ) über Wirtschaftssanktionen in den Blick zu bekommen.

Diese Perspektive erweitert den Fokus bisheriger mediävistischer Sanktionsforschung über Normen und Normdurch- bzw. -umsetzung hinaus und kann so erst den Stellenwert schriftlicher Regelungen innerhalb des Spektrums mittelalterlicher Wirtschaftssanktionen kontextualisieren. Schon diese drei disparaten Sanktionsepisoden zeigen mehrere Spielarten möglicher Verhältnisse zu den bereits gut bekannten kirchlichen Normsetzungen. Die Verschwörungserzählung bei Matthäus Parisiensis inszeniert das päpstlich erlassene Embargo im Moment des Gebrochen- und Unterlaufenwerdens. Bei Salimbenes Schilderung der Blockade von Marcamò hingegen ist keine wirtschaftlich sanktionierende Normsetzung im Spiel. Auch der Fall der Kölner Rheinblockade zeigt die Handelssperre als Exekutivhandlung. Die Kölner ‚Chronica‘ lässt jedoch, indem sie die Urheberrolle König Philipps sowie des Kölner Erzbischofs Adolf von Altena im Unklaren lässt, mögliche herrscherliche Normsetzungsakte und mögliche Anleihen bei päpstlichen Erlässen ebenfalls im Unklaren.

Im Zentrum der zwei Darstellungen, die Sanktionsepisoden ausführlicher beschreiben, finden sich Interessen und Verhaltensweisen Dritter außerhalb der direkten Achse Sanktionierender und Sanktionierter. Ausschlaggebend für das Nachdenken über diese Episoden werden Helfer, Begünstigende und Verweigerer. Die Effekte, die Matthäus Parisiensis und Salimbene von Parma interessieren, sind nicht ausschließlich oder auch nur in erster Linie diejenigen auf die Wirtschaftsleistung der Sanktionierten, sondern solche, die heute noch die unbekannten oder zweifelhaften Variablen in der Sanktionsanwendung darstellen: Welche strategischen Güter lassen sich wie gut für Sanktionen einsetzen? Welche geographischen und sozialen Grenzen sind der Reichweite der Sanktionen in der Praxis gesetzt? Was sind die Interessenlagen benachbarter Dritter?

Zum Abschluss seien zusammenfassend einige allgemeine Beobachtungen und Anregungen zur Erforschung mittelalterlicher Wirtschaftssanktionen angeführt:

  1. Wirtschaftssanktionen sind für das 13. Jahrhundert auf breiter Quellenbasis auch als Teil der politischen ( Alltags )Praxis verschiedenster Akteure untersuchbar.

  2. Dabei ist der Sammelbegriff der ‚Wirtschaftssanktionen‘ ein gut kontrollierbarer Anachronismus, da er einerseits auch in heute gebräuchlicher Verwendung ein deskriptiver, nicht analytischer Begriff ist, der ein Ensemble kulturell ganz unterschiedlich ausgestaltbarer Praktiken zusammenfasst. Andererseits lässt sich bei mittelalterlichen Zeitgenossen, obschon sie über einen derartigen Sammelbegriff für diese Praktiken nicht verfügten, sowohl Vertrautheit mit als auch ein gewisses Vertrauen in wirtschaftssanktionierende Praktiken als wirksame ( was noch nicht heißen muss: erfolgreiche ) Elemente in politischen Konflikten beobachten.

  3. Zur Erforschung von Wirtschaftssanktionen als Teil der politischen Praxis eignen sich narrative Quellen, die über Sanktionstechniken auch abseits von Normsetzungen berichten, und die zeitgenössische Interessen und Deutungsangebote bereithalten. Darauf basierende Analysen stellen eine gute und notwendige Ergänzung zu den Schwerpunkten der bisherigen mediävistischen Sanktionsforschung dar. Die Gesamtheit der als Episoden von Wirtschaftssanktionen untersuchbaren Erzählungen ( die mehrheitlich erst noch unter diesem Rubrum zusammengetragen werden müssen ) verspricht ein ergiebiges Bild zeitgenössischer Beobachtung wirtschaftlich sanktionierender Praktiken.

  4. Erzählungen über Wirtschaftssanktionen in der Chronistik des 13. Jahrhunderts zeigen uns Beteiligte und Interessen jenseits päpstlich postulierter Gemeinschaftsgrenzen oder kirchlicher Normen. Es gibt keinen Grund, warum Bandbreite und Gestalt mittelalterlicher Wirtschaftssanktionen in Europa ( und darüber hinaus ) nicht auch jenseits von Blockaden und Embargo noch beträchtliches Erkenntnispotential bereithalten sollten.

  5. Mit wachsender Bekanntheit der Geschichte mittelalterlicher Wirtschaftssanktionen lassen sich vermutlich auch Ergebnisse für andere mediävistische Debatten gewinnen: über das politisch-wirtschaftliche Leistungsvermögen mittelalterlicher Herrschaftsträger nach zeitgenössischer Einschätzung, über politische und wirtschaftliche Verflechtungen, über ökonomisches Denken jenseits der Geschichte ökonomischer Theorie und über Handlungsregister in Konflikten, zwischen Vermittlung und Krieg.

Published Online: 2023-10-18
Published in Print: 2023-10-12

© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 26.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/fmst-2023-0005/html
Scroll to top button