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Der Werwolf in norddeutschen Sagen

  • Petra Himstedt-Vaid EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 12. Juli 2022
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Fabula
Aus der Zeitschrift Fabula Band 63 Heft 1-2

Zusammenfassung

Die Darstellung des Werwolfs in norddeutschen Sagen basiert auf den größtenteils handschriftlichen Zetteln aus der Sammlung von Richard Wossidlo. Die in dem Zettelkasten „Werwolf“ versammelten Sagen spiegeln vor allem soziale Strukturen der ländlichen Gesellschaft des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in Mecklenburg-Vorpommern wider. Es geht insbesondere um das konfliktreiche Verhältnis von Gutsbesitzern und Bediensteten, aber auch um die Verwandlung von sozialen Außenseitern in einen Werwolf. Neben der sozialen Komponente kommen bei der Selbst- und Fremdverwandlung in die Wolfsgestalt Elemente des Volksglaubens und Zaubermittel zum Tragen.

Abstract

A presentation of the werewolf in north German legend based on the largely handwritten slips from Richard Wossidlo’s collection. Under the category of “Werewolf”, the legends primarily reflect the social structures of rural Mecklenburg-Vorpommern society during the eighteenth and nineteenth centuries. In particular, they involve the difficult relationships between landowners and those in their service, but also the morphing of social outsiders into werewolves. In addition to the social component, elements of folk belief and magic come into play in a person’s transformation of themselves or of others into the form of a wolf.

1 Einleitung

Die Figur des Werwolfs in der norddeutschen (vor allem niederdeutschen) Sage soll anhand von vorwiegend unveröffentlichten Sagen aus der Zettelsammlung[1] von Richard Wossidlo (1859–1939) dargestellt werden. Der Beitrag folgt größtenteils auch dessen Unterteilung der Varianten. Nach einer Beschreibung, wie und durch welche Zaubermittel ein Mensch sich in einen Werwolf verwandeln kann, folgt die Darstellung des hungrigen Knechts, der sich in einen Werwolf verwandelt und ein Tier auffrisst. Die Sagen um den hungrigen Knecht bilden in zahlreichen Varianten den größten Teil der Werwolfsagen bei Wossidlo. Danach folgt das international bekannte Motiv vom Werwolf, der sich in den Unterrock seiner eigenen Frau verbeißt (Mot. H64)[2], ergänzt um Sagen rund um einen weiblichen Werwolf. Sodann ist die Rückverwandlung eines Werwolfs in einen Menschen durch magische Mittel Thema (u. a. Mot. H64.2). Einen Exkurs bildet die Verwandlung in Hund, Bär oder Katze, die Wossidlo zu den Werwolfsagen hinzugenommen hat, da sie dem Schema einer Werwolfsage entsprechen.

2 Die Figur des Werwolfs in der Zettelsammlung von Richard Wossidlo

Richard Wossidlo hat norddeutsche Werwolfsagen auf insgesamt 90 Zetteln dokumentiert. Die meisten Zettel beziehen sich auf seine eigene Feldforschung. Auf einigen stehen Schlagwörter aus den Briefen seiner Sammelhelfer, wenige andere beziehen sich auf exzerpierte Literatur zu Sagen aus Mecklenburg. Diese Sagen sind größtenteils unveröffentlicht. Überdies gibt es noch insgesamt 827 Zettel zu Exzerpten aus der Bibliothek Wossidlos. Diese Zettel beziehen sich auf den Werwolf im europäischen Kontext; sie bleiben hier außen vor. Für die Auswertung herangezogen habe ich indes vollständige, meist in niederdeutscher Sprache aufgeschriebene Sagen aus Briefen von Wossidlos Sammelhelfern.

90 handschriftliche Zettel zu norddeutschen Werwolfsagen erscheinen angesichts der Gesamtzahl von fast 900 000 handschriftlichen Belegen in der Wossidlo’schen Zettelsammlung eine relativ geringe Anzahl. Dennoch spiegelt sich darin die Motivvielfalt der Werwolfsagen in ihrer Gesamtheit wider. Zahlreiche Sagen erzählen von der Selbst- und Fremdverwandlung in die Wolfsgestalt durch Zaubermittel, vom hungrigen Knecht, vom Ehemann, der seine eigene Ehefrau angreift, von den Mitteln, den Werwolf wieder in seine Menschengestalt zu verwandeln, und vom weiblichen Werwolf. Der Glaube an Werwölfe scheint zu Lebzeiten Wossidlos noch bestanden zu haben: „Als mein Großvater 1865 nach Appelhagen kam, erzählte ihm dort ein alter Jäger: er hätte noch mehrere in Wölfe verwandelte Menschen geschossen (von Bülow in Kobrow 1936).“ (Wossidlo-Sagen, Nr. 1330, 392)

Für das Verständnis des Werwolfs ist der Aspekt des sozialen Außenseiters von zentraler Bedeutung; Werwölfe stehen außerhalb der Gesellschaft: „Werwolf nannten Germanen einen zum friedlosen Geächteten und Waldgänger Verurteilten, der damit außerhalb menschlicher Gesellschaft stand oder sich aufgrund innerer Spannung und Unruhe selbst ausgrenzte und das Licht floh.“ (Zerling 2012: 336) Auch in der Enzyklopädie des Märchens wird der Aspekt des Außenseitertums hervorgehoben: „Wolfsmenschen wurden in der Regel als soziale Außenseiter oder Verbrecher imaginiert; man legte ihnen Inzest, Brutalität und Sexualverbrechen zur Last.“ (Blécourt 2013: Sp. 976) Dieser Aspekt wird in den folgenden norddeutschen Sagen eine Rolle spielen, denn oft verwandelt sich derjenige in einen Werwolf, der außerhalb der Gesellschaft steht, also fremd im Dorf ist oder aus einem Nachbarort stammt, oder über den es bereits Gerüchte in der Dorfgemeinschaft gibt. Dann wiederum ist es der Nachbar, der sich mittels eines Wolfriemens in einen Werwolf verwandelt hat.[3]

2.1 Selbst- und Fremdverwandlung in die Wolfsgestalt durch Zaubermittel

Menschen können sich vor allem durch Zaubermittel in Wölfe verwandeln: mittels eines Wolfsriemens, einer magischen Salbe, wie sie von den Hexenverwandlungen und der Blocksbergfahrt der Hexen her bekannt ist, oder durch von außen auf den Menschen treffende Magie.

Der Wolfsriemen ist das Zaubermittel schlechthin, um die Wolfsgestalt anzunehmen. Er vermag es, dass sich größtenteils Männer, aber auch Frauen und Kinder für einige Stunden in einen Werwolf verwandeln können. „Dei Lüüd hebben ʼnʼ Wulfsreimen. Sei willen anner Lüüd allerhand Leegheiten andauhn“ [Die Leute haben einen Wolfsriemen. Sie wollen anderen Leuten allerhand Schlechtes antun], so die Witwe S. in Belsch (im heutigen Landkreis Ludwigslust-Parchim), deren Vorstellungen vom Werwolf der Sammelhelfer von Richard Wossidlo, der Lehrer Ernst Pegel im Jahr 1903 aufgezeichnet hat.[4] Der Wolfsriemen soll aus Wolfsleder oder Menschenhaut gemacht worden sein. Der Gürtel wird um den nackten Körper (manchmal auch auf die Kleider) geschnallt (Wuttke 1925: 277; Hertz 1862: 79).[5] Eine Informantin von Wossidlo, Frau Wulff, ist sich nicht ganz sicher, ob der Wolfsriemen aus der Haut eines ungeborenen Wolfes gemacht wird, und entscheidet sich dann für die Haut eines ungeborenen Hirschkalbes: „Wulfband ward je wol/ Ungeburen wulf/ Ne, vonʼn un ungeburen hirschkalw/ Wenn se sik umsnallen,/ koenen se alles maken.“ [Wolfsband wird ja wohl/ Ungeborenem Wolf/ Nein, von einem ungeborenen Hirschkalb/ Wenn sie sich den umschnallen,/ können sie alles tun].[6] Wenn der Werwolf wieder seine menschliche Gestalt annehmen will, öffnet er die Schnalle.

Das Motiv der Verwandlung in einen Werwolf muss im Bewusstsein der Menschen und im Volksglauben verankert gewesen sein, denn im mecklenburgischen Sprachgebrauch hat sich das eigenständige Verb „wulfen“[7] herausgebildet. Von einer Informantin, der Häusler-Witwe V., hat Lehrer Pegel im Jahr 1903 gehört, dass Kinder erzählt haben, dass ihre Eltern sich einen Wolfsriemen umgebunden haben und dann „wulfen“ gegangen seien: „Dei kinner hebben seggt, as Lüüd kamen sünd, dei Öllern wiern hen wulfen, sei hadden sick ʼn Reimen ümsnallt (mehr war nicht zu erfragen).“ [Als Leute gekommen sind, haben die Kinder gesagt, die Eltern wären „wulfen“ gegangen, sie hatten sich einen Riemen umgeschnallt].[8] Wossidlo weist in seiner Sagensammlung explizit darauf hin, dass das Verb „wulfen“ gebraucht wird, um die Verwandlung in einen Werwolf und wahrscheinlich das Erschrecken anderer Leute zu beschreiben. Eine im Jahr 1892 aufgezeichnete Sage schildert, dass jeder, der den Wolfriemen benutzt, sich in einen Werwolf verwandeln kann. Das können neben Mann und Frau auch Kinder sein: Eine Schäferfrau[9] konnte sich in einen Wolf verwandeln und hat die Schafe von anderen Schafherden nach Hause getragen. Ihr Sohn schnallt sich den Riemen um, verwandelt sich in einen Wolf und beißt die eigenen Schafe tot. Dann ist er weggelaufen und nicht wiedergekommen.[10]

Neben dem Riemen als Hilfs- und Zaubermittel zur Wolfsverwandlung kann auch das Einreiben mit einer magischen Salbe die Gestaltwandlung bewirken. Zwei Knechte mähen zusammen, frühstücken und legen sich dann zum Schlafen hin. Der Großknecht tut aber nur so, als ob er schlafen würde. Er nimmt ein Glas mit Salbe und streicht seinen Körper damit ein. Daraufhin verwandelt er sich in einen Werwolf, der ein ganzes Fohlen verschlingt. Nachdem die Salbe abgewaschen ist, verwandelt er sich zurück in einen Menschen und beklagt sich, dass es ihm so schlecht gehe. Der andere antwortet, dass das ja kein Wunder sei, da er ja ein ganzes Fohlen gefressen habe. Der Werwolf daraufhin drohend: „dat süsst ihrer seggt hebben“ [das hättest du eher sagen sollen].[11] Das Motiv, dass der andere Knecht es dem Werwolf eher hätte sagen sollen, dass dieser ihn bei der Gestaltwandlung und dem Fressen eines ganzen Fohlens beobachtet hat, kommt in zahlreichen Sagen vor.

Neben Riemen und Salbe kann auch ein Zauberspruch die Verwandlung in einen Werwolf erwirken. So wird in einem Dorf Hochzeit gefeiert. Ein Mann kommt herein und spielt auf der Geige. Das ist den Hochzeitsgästen unheimlich, und sie werfen ihn raus. Als sie am nächsten Tag in die Kirche wollen, müssen sie durch ein Stück Wald. Da steht der Mann, und es schneit und hagelt. Dann hat er die ganze Hochzeitsgesellschaft in Wölfe verwandelt.[12] In dieser Sage wird der soziale Hintergrund sichtbar, wenn aus der Gesellschaft ausgeschlossene Personen mittels Magie Menschen in Werwölfe verwandeln. Das Motiv der Verwünschung und Verwandlung von Hochzeitsgästen in Werwölfe ist im ganzen baltischen und skandinavischen Raum bekannt. In einer polnischen Sage verzaubert ein Soldat, der vom Bräutigam mit Hunden weggehetzt wird, die Hochzeitsgäste in Werwölfe (Hertz 1862: 119). Ebenso ist in finnischen und estnischen Sagen die Verwandlung von Hochzeitsgästen ein beliebtes Thema (Blécourt 2007: Sp. 980). In schwedischen Sagen verflucht eine Bettlerin die Hochzeitsgäste aus Rache, da sie beim Betteln vom Hof verscheucht worden ist (Q46: „Wedding party turns into wolves“, Klintberg 2010: 308).

Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Werwolf sich im Mecklenburgischen nicht aus eigenem Antrieb, Willen oder einer bestimmten Mondkonstellation aus seinem eigenen innersten Körper hinaus vom Menschen in einen Werwolf verwandelt, sondern durch ein von seiner Person unabhängiges Zaubermittel wie Riemen, Salbe oder Sattel. Daneben gibt es auch das Motiv der Verwünschung oder der Verfluchung einer Hochzeitsgesellschaft, die ein aus der Gesellschaft Ausgestoßener vornimmt.

2.2 Der hungrige Werwolf überfrisst sich

Zahlreiche von Wossidlo gesammelte Sagen erzählen davon, wie ein Bauer, ein Knecht, ein Holzarbeiter oder ein Handwerksbursche ein Auge auf ein Fohlen, ein Kalb oder auf Schafe und Schweine wirft, seinen Begleiter zum Schlafen überredet, sich dann meistens heimlich mittels eines Riemens oder (wie im folgenden Beispiel) mittels eines Sattels in einen Werwolf verwandelt und ein Tier mit Haut und Haar auffrisst. Wenn er sich dann zurückverwandelt hat, klagt er seinem Begleiter, dass ihm so schlecht sei. Dieser antwortet, dass das ja kein Wunder wäre, da er ja ein ganzes Fohlen aufgefressen habe. In einer 1896 in Wittenburg (im heutigen Landkreis Ludwigslust-Parchim) aufgezeichneten Sage hüten zwei Knechte Pferde. Gegen zwölf Uhr wacht der eine Knecht auf, weil er merkt, dass etwas an ihm schnüffelt. Da sieht er, dass sein Begleiter in Menschengestalt aufsteht, sich einen Sattel überschmeißt und sich in einen Wolf verwandelt:

In frühere Tiden würden jo nachts de pierd un fahlen hödd. Dunn legen ok eins twei knechts buten bi de pierd un slöpen toletzt beid in. So henne twölwen hürte de ein knecht wat gegen sich snüffeln. Dorbi wakte hei up un seg dat, wo dei anner upstünn, sick einen sadel äwersmet un sick mitʼn mal tauʼn wulf makte. Hei let sick äwer nicks marken un ded, as wenn hei noch slöp. Nu seg hei, wie dei anner weglöp un ein von dei fahlen terret un ga[n]z un gor upfret. As hei dat vertehrt hadd, köm hei wedder, smet den sadel wedder af un läd sick wedder gegen em dal. Hei blifft äwer ümmer ganz still. As sei den annern morgen bi ehr morgenbrod sitten, seggt dei anner: Wat is mi einmal leg! Ja, seggt dunn de irst, di sall woll leg sin, du hest jo äwer nacht ʼn ganz fahlen vertehrt. As dei anner dat hürte, wir hei mitʼn mal verswunnen.[13]

In früheren Zeiten wurden ja nachts die Pferde und Fohlen gehütet. Da lagen auch einst zwei Knechte draußen bei den Pferden und beide schliefen zuletzt ein. So gegen Zwölf hörte der eine Knecht, wie etwas an ihm schnüffelt. Dabei wachte er auf und sah, dass der andere aufstand, sich einen Sattel überschmiss und sich auf einmal in einen Wolf verwandelte. Er ließ sich aber nichts anmerken und tat so, als wenn er noch schlief. Nun sah er, wie der andere weglief und eines der Fohlen zerriss und ganz und gar auffraß. Als er es verzehrt hatte, kam er wieder, schmiss den Sattel wieder ab und legte sich wieder gegenüber von ihm hin. Er bleibt aber immer ganz still. Als sie am nächsten Morgen beim Frühstück sitzen, sagt der andere: Was ist mir auf einmal schlecht! Ja, sagt da der erste, dir soll wohl schlecht sein, du hast ja über Nacht ein ganzes Fohlen verzehrt. Als der Andere das hörte, war er auf einmal verschwunden.

In den Sagen wird immer wieder erzählt, dass derjenige zum Werwolf wird, von dem sich die Leute schon immer allerhand Geschichten erzählt haben. Es ist derjenige, über den man sich wundert, der zauberkundig ist und damit zum Außenseiter der Dorfgemeinschaft wird. Der Grund für das Fressen eines Fohlens oder Kalbs ist oft der Neid auf ein prächtiges Tier des Nachbarn oder die Schönheit des Fohlens, die den Appetit anregt. Aber auch die Feindschaft zu einem Menschen verleitet den Werwolf dazu, ein Tier des anderen zu töten. Neid kommt wahrscheinlich zum Ausdruck, wenn erzählt wird, dass ein Bauer und sein Knecht auf der Weide des Nachbarn ein Pferd mit seinem Fohlen weiden sehen und der Bauer sich daraufhin in einen Werwolf verwandelt und das Fohlen auffrisst.[14] Neid spielt auch eine Rolle, wenn zwei Holzführer im Wald arbeiten und der eine nur ein paar schlechte Pferde hat, der andere aber gute, darunter ein tragendes, das dann fohlt. Der eine ist neidisch auf das Fohlen, verwandelt sich in einen Werwolf und frisst das Fohlen auf.[15]

In einer 1907 aufgezeichneten Sage wird erzählt, dass der Nachbar, mit dem der Bauer sich die Pferdekoppel teilt, ein „echtes“ Fohlen auf der Koppel stehen hat. Der Bauer verwandelt sich in einen Werwolf und frisst es halb auf.[16] Dann wiederum ist das Fohlen so klein und hübsch, dass ein Mann auf die Idee kommt, dass es gut schmecken könnte.[17] Neben dem Nachbarn und dem Begleiter bei der Arbeit kann es auch andere Personen treffen, die ein Fohlen oder ein Kalb an den Werwolf verlieren, zum Beispiel einen Holländer, der im Wald auf Holzfäller trifft,[18] oder einen Priester.[19]

Wenn der Werwolf sich sattgefressen hat und wieder zum Menschen geworden ist, klagt er seinem Begleiter oft sein Leid: „‚Mi is so leg tau Maur‘. ‚Ja, di sall woll slecht sin‘, harr ʼn anne meint, dei blot tauʼn Schin slapen harr, du hest jo ʼn ganz Kalf upfreten.“ [„Mir ist so schlecht zu Mute.“ „Ja, dir soll wohl schlecht sein“, meinte ein anderer, der bloß so getan hatte, als würde er schlafen, „du hast ja ein ganzes Kalb aufgefressen“].[20] Oder: „na, is de falen noch nich rottʼt?“ [Na, ist das Fohlen noch nicht verrottet?].[21] Einige Sagen enden damit, dass der ertappte Werwolf wütend wird und demjenigen, der ihn bloßgestellt hat, droht: „dat harrk weiten sullt, dun / harr di ok upfreten“ [Das hätte ich wissen sollen, dann hätte ich dich auch aufgefressen].[22]

Es stellt sich die Frage, warum gerade die Werwolfsagen vom hungrigen Knecht in Mecklenburg und im Ostseeraum so populär waren. Es spricht viel für die Annahme, dass sich im Herdenraub und Viehdiebstahl soziale Konflikte widerspiegeln:

[…] in der Sippengesellschaft [drückt sich] die Mentalität des Rechts des Stärkeren in Viehdieben oder -räubern aus, die mit Wolfsfellen maskiert die territorialen Grenzen der Sippen überschritten, um sich als Nahrung die Jagd- oder Herdentiere anderer Sippen zu beschaffen. Den Dieb könnte man sich metaphorisch als Werwolf vorstellen. (Vähi 2011: 137)

Der Werwolf ist somit ein Rechtsbrecher, der Vieh raubt oder schädigt. Die Strafen und magischen Abwehrmethoden, die der Werwolf zu spüren bekommt, erinnern an die Sanktionen des Gewohnheitsrechts: „öffentliche Bloßstellung durch Zurechtweisung, Verletzung durch Erntewerkzeuge oder Erschießen mit einer Silberkugel“ (Vähi 2011: 135). Zur Verbreitung und Lebendigkeit der Werwolfsagen im ganzen Ostseeraum haben demnach folgende soziale und ökonomische Faktoren erheblich beigetragen: eine ähnliche Wirtschafts- und Lebensweise der Getreidebauern und Viehzüchter, die Leibeigenschaft[23] und später die soziale Benachteiligung der angestellten Knechte, überdies Ähnlichkeiten im (Volks-)Glauben und den Rechtsbräuchen. Ganz reale Viehdiebstähle auf Dorfweiden oder Raub auf Wegen bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts haben das ihre zur Verbreitung der Werwolfsagen getan. Obwohl das Vieh eingezäunt wurde und die reale Wolfspopulation dezimiert war, hielten die Viehdiebstähle an. Da die Identifizierung der Viehdiebe schwierig war und eine Spannung zwischen Nachbarn vermieden werden sollte, wich man auf den Werwolf aus. Dieser konnte dann mit Hilfe von Magie – mit Kugeln aus „Erbsilber“ (gegossen aus geerbtem Familiensilber) oder durch Nennung des Namens – sowie mit technischen Mitteln – durch Schlagen mit dem Stock, Verletzen, Beschimpfen – abgewehrt werden. Dies war einfacher, als den realen Viehdieb zu stellen und vor Gericht zu bringen (Vähi 2011: 144).

Die Sage vom hungrigen Knecht, der heimlich als Werwolf ein Fohlen reißt, spiegelt nicht zuletzt die damalige Gesellschaftsstruktur wider, nämlich den sozialen Konflikt zwischen Gutsbesitzern und Leibeigenen beziehungsweise zwischen Hofbesitzern und Lohnarbeitern, die in ihrer Not nicht selten Viehdiebstähle begangen und, um nicht zur Rechenschaft gezogen werden zu können, den Werwolf dafür verantwortlich gemacht haben. Blécourt hingegen macht auf die Tatsache aufmerksam, dass Werwölfe sich stets mit einem einzigen Fohlen oder Kalb begnügen, während Viehdiebe es in der Regel auf mehrere Tiere oder auf die ganze Herde abgesehen hätten. Überdies sei der Hunger des Werwolfs oft schon mit einem halben Tier gestillt. Für Blécourt handelt es sich deshalb nicht um sozialen, sondern um sexuellen Hunger (Blécourt 2007: 33, 34). Gegen die soziale Erklärung führt Blécourt außerdem die Wanderhypothese ins Feld. Demnach stammt das Motiv des hungrigen Knechts wahrscheinlich aus Dänemark. Söldner könnten es während des siebzehnten Jahrhunderts im Zuge des Schwedeneinfalls in Norddeutschland erzählt und verbreitet haben (Blécourt 2007: 30, 40). Dafür spricht, dass die die Sage mit dem hungrigen Knecht vor allem in Norddeutschland verbreitet ist.

2.3 Der Werwolf fällt Frauen an

Eine nur in wenigen Varianten bei Wossidlo vorkommende Wandersage ist die vom Werwolf, der eine Frau anfällt. Meistens ist es der Ehemann. Dabei warnt er sie oft noch vor, dass ein Wolf kommen und sie anfallen werde. Der Ehemann verbeißt sich in Wolfsgestalt in den roten Unterrock der Frau. Nachdem er sich zurückverwandelt hat, erkennt die Frau ihren Mann an den roten Fäden, die noch aus seinem Mund heraushängen:

Vom Wärwolf. Ein Mann fuhr mit seiner Frau auf einem Wagen aus. Als sie in einem Walde an der Schale gelegen kamen, sagte der Mann zur Frau, sie sollte einen Augenblick die Pferde festhalten. Er müsse mal absteigen. Das geschah. Kaum war er aber im Gebüsch verschwunden, so kam aus dem Walde ein Wärwolf, sprang zu der Frau auf den Wagen und zerriß ihr die Kleidung in Fitzen und Fetzen, so auch das Unterzeug, und anderem auch ihren roten Fransen Unterrock. Darauf verschwand er. Bald darauf kam ihr Mann aus dem Walde. Sie schalt. Du bist auch solange fortgeblieben, währenddessen ist ein Wolf zu mir auf den Wagen gesprungen und hat mir all mein Zeug zerrissen. Dabei sah sie voll Zorn ihren Mann an. Und wurde voll Schreck gewahr, daß er noch Fetzen von ihrem roten Unterrock zwischen den Zähnen hatte.[24]

Der Angriff des Werwolfs kann aber auch im eigenen Haus bei der Arbeit stattfinden, so in einer Sage von 1923, in der die Frau gerade am Weben ist. Nachdem sie ihren Mann als Werwolf erkannt hat, bringt sie sich um.[25]

In der Sagenwelt in Nord- und Mitteleuropa hat das Motiv des Werwolfs, der sich in den roten Unterrock oder in die Schürze einer Frau verbeißt (Mot. H64.1), einen großen Stellenwert, etwa in der historischen Landschaft Livland (Loorits 1926: 64–65). Blécourt zufolge stellt dieses Motiv eine Warnung vor bestimmten Beziehungsformen dar, die zu dieser Zeit als unanständig und unmoralisch empfunden wurden (Blécourt 2013: Sp. 980, Blécourt 2015: 3). Für Deutschland listet Blécourt 35 unterschiedliche Varianten auf (Blécourt 2007: 29). In der Sammlung von Richard Wossidlo ist sie hingegen nur in wenigen Varianten vertreten. Hierin verteidigt sich die von einem Werwolf angefallene Frau mit einem Handtuch oder mit ihrem roten Unterrock, den der Werwolf in seiner Wut und seinem Rausch zerfetzt.[26] Die rote Farbe des Unterrocks oder (in dänischen und südschwedischen Sagen) einer Schürze hat offenbar apotropäische Bedeutung, ist Farbe und Zeichen der Abwehr des Werwolfs. Sie kann aber auch, so vermutet Blécourt (2007: 35), die Menstruation der Frau symbolisieren. Der Angriff durch den Werwolf wird demnach zur Verleugnung ihrer Unreinheit. Die Sage vom Werwolf, der eine Frau angreift und ihre Kleidung zerfetzt, hat jedenfalls eine eindeutig sexuelle Konnotation (Blécourt 2011: 81).

2.4 Der weibliche Werwolf

Das Bild des Werwolfs ist männlich dominiert, doch in norddeutschen Sagen verwandeln sich auch Frauen in Werwölfe und gehen auf Jagd nach Fohlen und Schafen. 1894 wird berichtet, dass der Werwolf eine Frau gewesen sei, ein ganzes Fohlen aufgefressen und dann einen dicken Bauch gehabt habe.[27] Oder es wurden Tiere von der Weide gestohlen, und man habe Wölfe dabei gesehen. Eines Tages nimmt eine große Anzahl von Menschen die Verfolgung auf, treiben den Wolf in die Enge: „Da lief er über das Ufer der Rögnitz, als wollte er durch das Wasser schwimmen. Als die Leute aber dorthin kamen, saß eine Frau am Ufer u. wusch ihre Füße.“[28] 1922 wird erzählt, dass eine Frau in Wolfsgestalt auf Diebestour geht: „Dor is ne frug wäst, dee hett / sik to wulf maken künnt / se is allerwägt hingahn / un hett de lüd wat wegnahmen.“ [Da ist eine Frau gewesen, die konnte sich zu einem Wolf machen. Sie ist überall hingegangen und hat den Leuten etwas weggenommen].[29] In Klein Krams (im heutigen Landkreis Ludwigslust-Parchim) hat sich ein Mensch als Wolf gezeigt und ist stets bei der Jagd aufgetaucht, aber niemand konnte ihn schnappen. Als die Jäger wieder hinter ihm her waren, ist der Wolf in einem Bauernhaus verschwunden. Darin fand man den vermeintlichen Wolf im Bett: Sein Schwanz schaute aus dem Bett heraus, die Bauersfrau hatte sich ein Wolfsfell übergezogen.[30]

Wossidlo notiert auf einem Zettel, dass ein weiblicher Werwolf mit einer Hexe gleichgesetzt wurde: „mädchen / hexe / wolf et schaf / heleneken wat wist du mit dat schapeken“ [Mädchen / Hexe / Wolf und Schaf / Helenchen, was willst du mit dem Schäfchen].[31] Als Helene als Werwolf die Schafe klaut, sprechen die Dorfleute sie mit ihrem Namen an. Daraufhin verwandelt sich das Mädchen in einen Menschen zurück. In einer weiteren Version, datiert auf das Jahr 1895, notiert Wossidlo, dass Helene ein Wolfsmaul gehabt haben soll.[32] Als Wossidlo 1911 in Doberan (im heutigen Landkreis Rostock) erzählt bekommt, dass eine Frau sich in einen Wolf verwandelt habe, fragt er explizit nach, ob es nicht ein Mann gewesen sei, bekommt aber zur Antwort, dass tatsächlich eine Frau in Wolfsgestalt Vieh totgebissen habe. Diese sei beim Namen gerufen worden, daraufhin „ist sie wieder lebendig geworden“ und habe menschliche Gestalt angenommen.[33] Berührungen von Werwolf- und Hexenglauben finden sich in folgenden Motiven: Verwandlung von Menschen wie Hexen in Tiere (Hexen auch in einen dreibeinigen Hasen, eine Katze, eine Maus etc.), Schadenzauber an Mensch und Vieh, Abwehrzauber gegen Hexen wie gegen Werwölfe. Die Abwehr geschieht sowohl bei Hexen als auch bei Werwölfen durch eine Kugel aus Erbsilber.[34] Die Nähe von Hexen- und Werwolfglauben spiegelt sich überdies in den Hexen- und Werwolfprozessen wider. So stellt Blécourt fest:

Im Zuge der Reformation und Gegenreformation im 16./17. Jh. kam es verstärkt zu W.[erwolf]prozessen. Oft waren sie Teil größerer Hexenprozesse. Diese zuerst in Burgund geführten Verfahren breiteten sich im späten 16. Jh. ins Rheinland und von da in andere Teile Deutschlands, nach Luxemburg und in die nörd. und südl. Niederlande aus. […] Während Hexenprozesse sowohl gegen Männer als auch gegen Frauen geführt wurden, betraf die Anklage als W.[erwolf] lediglich eine kleine Minderheit der verfolgten Männer. […] Frauen wurden in diesen Gegenden nur sehr selten der Verwandlung in einen Wolf bezichtigt (häufig in Verbindung mit anderen Verwandlungen). […] Im 17. Jh. kamen W.[erwolf]anschuldigungen in Mecklenburg und in verschiedenen balt. Staaten vor allem in spätereren Phasen von Hexenprozessen zum Tragen. Hier finden sich auch relativ viele weibliche Werwölfe. (Blécourt 2013: Sp. 978)

Der weibliche Werwolf in den norddeutschen Sagen weist deutliche Ähnlichkeiten mit estnischen Sagen auf. Den weiblichen Werwolf erklärt man dort mit der Stellung der Frau innerhalb der estnischen und livländischen Gesellschaft im Altertum, die nach Meinung von Archäologen matrilinear und matrilokal gewesen sein soll (Metsvahi 2015: 32). Aber auch in der patriarchalen Gesellschaft sei der weibliche Werwolf populär, da er neben dem Beschaffen von Fleisch durch die Wölfin auch eine Flucht vor den harten Lebensbedingungen und vor der Willkür des Gutsherrn bedeutet habe:

Wenn das Thema von dem Gesichtspunkt der Frau aus gesehen wird, war das Projizieren auf die Wölfin außer dem möglichen Hinaufhelfen vom Mutterinstinkt[35] noch wegen der Kraft, Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu Ressourcen (Fleisch) des Wolfes verlockend. Das waren die drei Dinge, nach denen die Frau in der patriarchalen und sklavengesellschaftlichen Welt unter armseligen Lebensbedingungen und Willkür des Gutsherren sehnte. (Metsvahi 2011: 213)

Schaut man sich bei den niederdeutschen Sagen an, wer vom weiblichen Werwolf erzählt, so sind es größtenteils Frauen. Sie berichten von weiblichen Werwölfen, die auf Viehjagd gehen und sich entweder Tiere von der Weide holen oder den Jägern die Beute wegschnappen. Durch die Fokussierung auf die Fleisch erbeutende Werwölfin könnte man Metsvahi zustimmen, dass die jagende Wölfin eine virtuelle Flucht aus dem Alltag der Gutsherrenbediensteten und armen Tagelöhner- oder Bauersfrauen war. Ein anderer Hintergrund kann aber auch in der norddeutschen (mecklenburgischen) Sagenwelt liegen, in der männliche Sagengestalten durch weibliche ersetzt worden sind. Ein Beispiel ist die Wilde Jagd, die aus männlichen Reitern bestand – ein von Hunden angeführtes Totenheer unter dem Anführer „Waud“ (Wotan). In Verbindung mit „Fru“ oder „Mudder“ als Fru Waud, Fru Waur, Fru Gode[36] etc. handelt es sich in Mecklenburg allerdings um eine weibliche Sagengestalt, die, von Hunden begleitet, auf einem Wagen umherzieht (Mecklenburgisches Wörterbuch 7, 1215). Fru Waud kann aber auch (wie ursprünglich der Waud) als Sammelbegriff für die Wilde Jagd fungieren. Fru Waur war ein gefürchtetes Wesen, das in der Gegend umherzieht und die Menschen je nach ihrem Verhalten entweder belohnt oder bestraft. Der Glaube war noch Ende des neunzehnten Jahrhunderts sehr lebendig.

Eine weitere Erklärung für den weiblichen Werwolf könnte laut Blécourt in Überbleibseln aus Hexenprozessen liegen. Möglich ist dann auch, dass Werwolfsagen im Rückgang begriffen waren und mit dem Hexendiskurs verschmolzen sind: „They [werewolf legends] may have been rare remnants from witch trials, or they could also possibly be interpreted as a sign that werewolf lore was in decline, and that it was being contaminated by the witchcraft discourse.“ (Blécourt 2007: 32) Für die norddeutschen Sagen um den weiblichen Werwolf hingegen, wie sie darüber hinaus im ganzen Ostesseraum verbreitet waren, würde ich die sozialwissenschaftliche Erklärung aus sozialen Konflikten bevorzugen.

2.5 Rückverwandlung des Werwolfs und sein Tod

Der Werwolf lässt sich abwehren und wird zur Rückverwandlung in einen Menschen gezwungen, wenn man ihn beim Namen nennt. In einer Sage über einen Arbeiter im Barther Wald (im heutigen Landkreis Vorpommern-Rügen), der schon immer im Verdacht stand, dass er zaubern und sich in einen Werwolf verwandeln kann, heißt es über Werwölfe ganz allgemein: „Wenn se bi nam ropen sünd, sünd se wedder minsch.“ [Wenn man sie beim Namen ruft, sind sie wieder Mensch.][37] In der 1898 aufgezeichneten Sage muss der Werwolf beim Taufnamen gerufen werden. Den richtigen Namen zu finden, scheint im Eifer des Gefechts, wenn der Werwolf vor einem seine Zähne fletscht, schwierig. Hier ist es gleich eine ganze Familie, die sich mittels eines Riemens in Werwölfe verwandelt. Der Nachbar rettet sich vor der verwandelten Tochter auf den Dachboden und ruft „von oben mehrere Namen, bis er ihren Taufnahmen traf. Nun stand sie wieder als Mädchen vor ihm. Er fragte: worüm deedst du dat? [warum tust du das?] Sie antwortete: O, ik lacht [dacht?] mi man, dat hei so bang vör mi wier [Oh, ich dachte mir einfach, dass er dann Angst vor mir bekäme]“.[38] In einer im Jahr 1913 aufgezeichneten Sage erkennt ein Mann in dem Werwolf seinen Nachbarn, mit dem er im Streit liegt: „Müller, was willst du… Da steht der Müller als Mensch da.“[39]

Dem Werwolf eine blutende Wunde zuzufügen, ist in mecklenburgischen Sagen als Abwehrmethode verbreitet: „wenn se blautwundt würden, süllen se wedder minschen sien“ [Wenn sie blutig verwundet werden, sollen sie wieder Menschen sein];[40] „de buer hett em blauwundt dor is je ʼn minsch wäst“ [der Bauer hat ihm eine Blutwunde zugefügt, da ist er (wieder) Mensch gewesen].[41] Schießt man auf einen Werwolf, so wird er vom Haus abgehalten: „ok de worwulf / ward dörch dat scheeten vonʼt huus afhollen“ [auch der Werwolf / wurde durch das Schießen vom Haus abgehalten].[42] Als ein Werwolf in die Schmiede von Labs (Ortschaft, vermutlich Lapitz im heutigen Landkreis Mecklenburgische Seenplatte) eindringt und einen Riesenlärm veranstaltet, indem er die Hühner jagt, kommen die Leute und stechen ihm mit einer Forke direkt über das Auge. Da verwandelt sich der Wolf: „Dor is dat oll schultenwief. / de kraft hett in den / reim insäten.“ [Da ist das alte Schultenweib. / Die Kraft hat im / Riemen gesteckt].[43] In der Sage Der Werwolf und der Schäfer geht ein Schäfer mit einem Beil auf den Werwolf los und zertrümmert ihm die Hüfte. Es handelt sich beim Werwolf um eine Frau, die großen Schaden für den Schäfer angerichtet hat, da sie seine Schafe gefressen hat. Der Wolf verkriecht sich in einen Busch, der Schäfer hinterher, um den Wolf zu töten. Da entdeckt er im Busch eine Frau, die versucht, die Blutung zu stillen.[44]

In mehreren Sagen wird erzählt, dass der Werwolf durch Schussverletzungen abgewehrt wird. In Möllenbeck (im heutigen Landkreis Mecklenburgische Seenplatte) frisst ein Werwolf Schweinehirten die Ferkel weg. Ein Jäger schießt ihm das Vorderbein ab, doch der Wolf verschwindet. Als die Verfolger ihm in einem Haus nachspüren, hängt der Schwanz noch aus dem Bett heraus.[45] In einer Variante wird die Art der Waffe präzisiert: Der Schuss muss mit einer Kugel aus Erbsilber geschehen, denn nur dieses Material kann einen Werwolf verletzen oder töten. In diesem Fall gießt sich der Jäger eine solche Kugel und schießt den Werwolf an. Auch hier handelt es sich um eine verwandelte Frau. Als die Verfolger sie aufspüren, liegt sie im Bett und hat eine Wunde am Bein oder an der Hand.[46] Wiederum zeigen sich Parallelen zur Abwehr von Hexen, denn auch diese können mit Hilfe von Erbsilber – in Form eines Erbschlüssels[47] – erkannt oder – in Form einer Kugel – verwundet werden.[48]

Die Rückverwandlung durch eine Kugel aus Erbsilber ist eine magische Handlung, während das Verletzen mit anderen Gegenständen wie Peitsche oder Beil sich von der Zauberei entfernt hat. Die Rückverwandlung durch Nennung des Taufnamens zeigt indes noch magische Züge und lässt Parallelen zur Namensnennung im Märchen erkennen, etwa im Rumpelstilzchen (KHM 55). Mit dem Aussprechen des Namens erlischt die Macht des übernatürlichen Wesens. Übrigens sind in dieser Beziehung wiederum Parallelen zu skandinavischen und baltischen Sagen zu erkennen: Auch in den livländischen Sagen verwandelt sich der Werwolf wieder in einen Menschen, wenn er mit Namen angeredet wird. Und der verwundete Werwolf wird in Menschengestalt an seiner Wunde erkannt. Den Ostseeraum vereint ein gemeinsames Repertoire an Werwolfsagen.

2.6 Verwandlung in Hund, Katze oder Bär

In einer Sage aus dem Jahr 1921 ist sich der Erzähler nicht ganz sicher, ob es sich bei dem verwandelten Schäfer, der nachts überall Schafe raubt, um einen Hund oder Wolf handelt: „Scheper in Dargelütz hett sik to ʼn hund maken künnt: dann is he annerwägs henwäst un hett schap rowt (ms. werwolf / oder is dat wulf wäst).“ [Schäfer in Dargelütz (heute ein Stadtteil von Parchim im Landkreis Ludwigslust-Parchim) konnte sich zu einem Hund machen: dann ist er woanders hingelaufen und hat [ein] Schaf geraubt (ms. Werwolf / oder ist das ein Wolf gewesen).][49] Wossidlo fragt nach (ms. = mea sponte: „auf meinen Antrieb hin“), ob es sich nicht um einen Werwolf handeln könne, doch der Erzähler bleibt beim Hund. 1939 wird erzählt, „[e]ine Bauersfrau hatte einen Wehrwolfsgürtel. Sie verkleidete sich in einen schwarzen Hund“.[50]

Neben dem Hund tritt auch noch der Bär in den Sagen um die Verwandlung eines Menschen auf. „Am Kreuzweg Rühn-Zernin [im heutigen Landkreis Rostock] schießen abends 12 Uhr Jäger auf einen Bären, doch es ist vergeblich, die Kugel prallt ab. Da schießen sie mit einem Erbschlüssel und siehe, der Bär ist eine alte Frau aus einem Nachbarorte.“[51] Und dann gibt es noch die Verwandlung mittels Zaubermittel in eine Katze: 1923 wird in Penzin (im heutigen Landkreis Rostock) erzählt, dass Frauen sich durch Umlegen eines Gürtels in Katzen verwandeln können. Die Katzen, die nachts durch ein Schloss spuken, werden mit einer Eisenstange verprügelt. Am nächsten Morgen liegen mehrere Frauen des Dorfes im Bett und können nicht aufstehen. Bei ihnen fand man einen Gürtel, der die Verwandlung in eine Katze erwirkte.[52]

Die Verwandlung in einen Fuchs – „Dat hett Lüd geeben / De hebben sik / Ton voss maken kunnt“ [Es hat Leute gegeben, die haben sich zu einem Fuchs machen können][53] –, von der 1933 erzählt wird, erinnert an die Verwandlung von Hexen mittels eines Riemens/Stricks in ein Tier. Nur auf zwei Zetteln von Wossidlo findet sich eine Verwandlung in eine Katze und in einen Fuchs. Aufgrund der geringen Zahl an Varianten könnte man spekulieren, dass sich die Erzähler in dem Tier geirrt haben. Aber auch Bartsch verzeichnet in seiner Sammlung eine Sage mit der Verwandlung in einen Fuchs. Diese Sage hat Wossidlo nicht dokumentiert, da er nur unveröffentlichte Sagen gesammelt hat.

3 Fazit

Der Werwolf in der norddeutschen Sage spiegelt vor allem soziale Strukturen der ländlichen Gesellschaft des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in Mecklenburg-Vorpommern wider, insbesondere die sozialen Konflikte und Konfrontationen zwischen adeligen Gutsbesitzern und ihren Bediensteten. Der Werwolf ist in einem Großteil der Sagen ein Viehdieb. Unterstützt wird diese sozialwissenschaftliche Deutung der Sagen durch die Darstellung der Erzählorte auf einer Landkarte (Abb. 1).

Abb. 1: Ortsverteilung der Werwolfsagen in Mecklenburg-Vorpommern (Quelle: https://search.isebel.eu/dataset?q=werwolf&organization=wossidia&sort=score+desc%2C+metadata_modified+desc, 10. Dezember 2021)
Die blauen Nadeln geben den Standort einer einzigen erzählten Sage an. Die unterschiedlich farbigen Standortkreise geben die Anzahl der Sagen an. Anhand der Karte lässt sich erkennen, an welchen Orten besonders viele Varianten von Werwolfsagen erzählt wurden.
Abb. 1:

Ortsverteilung der Werwolfsagen in Mecklenburg-Vorpommern (Quelle: https://search.isebel.eu/dataset?q=werwolf&organization=wossidia&sort=score+desc%2C+metadata_modified+desc, 10. Dezember 2021)

Die blauen Nadeln geben den Standort einer einzigen erzählten Sage an. Die unterschiedlich farbigen Standortkreise geben die Anzahl der Sagen an. Anhand der Karte lässt sich erkennen, an welchen Orten besonders viele Varianten von Werwolfsagen erzählt wurden.

Darauf ist zu sehen, dass Sagen vom Werwolf vor allem dort erzählt werden, wo Weideland auf Wald trifft und eine Angst der Viehbesitzer vor reißenden Wölfen realistischere Gründe gehabt haben könnte als an anderen Orten. Hier konnten Leibeigene oder Tagelöhner, die in ihrer Not nicht selten Viehdiebstähle begingen, die Mär vom Werwolf instrumentalisieren, um nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden. Da die Identifizierung der Viehdiebe schwierig war und eine Spannung auch zwischen Nachbarn vermieden werden sollte, wich man auf den Werwolf aus. Ganz reale Viehdiebstähle auf Dorfweiden oder Raub auf Wegen bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts haben also das ihre zur Verbreitung der Werwolfsagen getan.

Für das Verständnis des Werwolfs ist außerdem der Aspekt des sozialen Außenseiters von zentraler Bedeutung. Werwölfe stehen außerhalb der Gesellschaft; sie sind Rechtsbrecher. Sozial heißt das: In den Sagen verwandelt sich oft gerade derjenige in einen Werwolf, der nicht zur Dorfgemeinschaft gehört oder fremd im Dorf ist, zum Beispiel aus einem Nachbarort stammt. Auch zur geographischen Verbreitung der Werwolfsagen im ganzen Ostseeraum dürften soziale und ökonomische Faktoren erheblich beigetragen haben. Eine ähnliche Wirtschafts- und Lebensweise der Getreidebauern und Viehzüchter, eine vergleichbare Sozialstruktur mit starker Benachteiligung der angestellten Knechte, überdies Ähnlichkeiten in den Rechtsbräuchen und (Volks-)Glauben bilden die Grundlage für die Verbreitungsgeschichte. So ist zum Beispiel das Motiv des hungrigen Knechts im ganzen skandinavischen und baltischen Raum anzutreffen. Durch diesen nicht zuletzt durch die Ostsee eng verbundenen und gut vernetzten Raum hatten Sagen beste Voraussetzungen, sich zu verbreiten. Hinzu kommen Söldner, die im siebzehnten Jahrhundert im Zuge des Schwedeneinfalls in Norddeutschland Werwolfsagen aus Skandinavien mitgebracht und in Norddeutschland verbreitet haben könnten.

Jedenfalls spielen meines Erachtens landwirtschaftliche Bezüge rund um das Vieh und die Gefahr des Viehdiebstahls eine entscheidende Rolle für die Verbreitung und Lebendigkeit der Werwolfsagen in Mecklenburg-Vorpommern. Aber auch wenn die sozialwissenschaftlichen und geographischen Erklärungen besonders einleuchtend erscheinen, sollte die vor allem von Blécourt vertretene Hypothese und Metapher des sexuellen Hungers nicht außer Acht gelassen werden. Denn der in einen Werwolf verwandelte Knecht frisst nur ein einziges oder gar nur ein halbes Fohlen. Er stiehlt nicht mehrere Tiere, wie es Viehdiebe tun würden. Blécourt macht überdies darauf aufmerksam, dass sexuelle Elemente in Sagen nicht sofort ins Auge springen:

In many werewolf texts the sexual element is not immediately evident. It has to be kept in mind, however, that sexuality was rarely openly discussed, certainly not by elderly people telling legends in the presence of a folklorist, who has just dropped by for a couple of hours to record tales about ‘superstition’. But wild hair stands for wild morals and, if the texts are read carefully enough, the werewolf does emerge as a metaphor for deviant male sexuality. (Blécourt 2007: 38).

Ein Typus der Werwolfsage mit starken sexuellen Konnotationen ist indes in Mecklenburg-Vorpommern in keiner Variante vertreten: Die Erscheinungsform des Werwolfs als Aufhocker. Diese Figur kommt, so die Untersuchung von Strube (2000), zwar in niederdeutschen Sagen Mitteldeutschlands vor, aber eben nicht in Norddeutschland. Der Aufhocker wartet hinter Hecken oder nicht einsehbaren Wegen auf sein Opfer und springt ihm dann auf den Rücken. Dann lässt er sich einen Teil des Weges tragen (Strube 2000: 19). Blécourt (2007: 36) sieht im Aufhocken zwar nicht offensichtlich sexuelle Bezüge, aber es handelt sich dennoch um ein enges körperliches Aufeinandertreffen von Mensch und Werwolf, so dass diese Interpretation nicht abwegig erscheint. Folgt man Blécourts Annahme, dass beim Erzählen vom Werwolf sexuelle Elemente mitschwingen, würde man angesichts der Erzähldaten im neunzehnten Jahrhundert davon ausgehen, dass eher Männer offener von sexuell konnotierte Sagenfiguren sprechen als Frauen. Und die Auswertung der Geschlechterverteilung der Erzähler und Erzählerinnen gibt dieser These Recht.

4 Literatur

4.1

4.1 Primärliteratur

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4.2

4.2 Sekundärliteratur

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Published Online: 2022-07-12
Published in Print: 2022-07-06

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