Das Organisationsteam Sabine Wienker-Piepho und Markus Tauschek luden vom 11. bis 13. August zur 11. Tagung der dgv-Kommission (Deutsche Gesellschaft für Volkskunde) für Erzählforschung ein, die sich dem politischen Erzählen widmete. Wegen der Coronasituation konnte die eigentlich schon für September 2020 geplante Tagung nur in virtueller Form via Zoom durchgeführt werden. Wie Sabine Wienker-Piepho erläuterte, ermögliche aber gerade diese Form die Teilnahme eines vielfältigen und diversen Publikums.
Markus Tauschek betonte einleitend, dass Narrativität nicht nur für die Erzählforschung ein zentraler Begriff sei, es gehe dabei vielmehr grundsätzlich um das Wechselspiel von Faktualität und Fiktionalität. Die kulturwissenschaftliche Erarbeitung, wie politisches Erzählen genau funktioniere, stehe noch aus. Dabei betonte Tauschek, dass sich der kulturwissenschaftliche Blick den narrativen Formen von Weltdeutung und Verständigung widmen müsse und aufmerksam für die Handlungsweisen sein sollte, die sich daraus ergeben.
Eröffnet wurde die Tagung mit Stefan Groths Keynote Kontext und politisches Erzählen. Er zeichnete anhand von vier Shifts – von (1) Text zu Kontext, (2) Kontext zu Kontextualisierung, (3) Kontextualisierung zu De- und Entextualisierung und (4) Kontext zu Skalierung – Debatten um Kontext und Erzählen nach. Weiter befragte er die Relevanz dieser Verschiebungen für das politische Erzählen, bei dem Kontext aufgrund von narrativen Ambiguitäten, umstrittenen Deutungsweisen und strategischen Bemühungen um Kontextualisierung eine zentrale Rolle zukommt und beschäftigte sich mit Fragen von Autorität, Kontrolle und Macht bei der Enttextualisierung und Zirkulation von politischen Narrativen. Er zeigte auf, wie als Teil von Erzählungen auch Skalierungen von politischen gesellschaftlichen Prozessen entworfen und enacted werden, die über spezifische Erzählereignisse hinausweisen, indem sie andere Kontexte antizipieren.
Makoto Yokomichi führte in seinem Beitrag Politisches und unpolitisches Erzählen über die NSDAP in Japan aus, wie in japanischen Mangas bzw. Schulbüchern die Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands erzählt und damit erinnert wird. Makoto Yokomichi vertrat dabei die These, dass japanische Erzählungen vom Nationalsozialismus primär die eigene Geschichte Japans im Zweiten Weltkrieg betreffen.
Brigitte Frizzoni ging in „Moskau einfach!“ Die narrative Aufarbeitung des Fichenskandals in der Schweiz auf die Darstellung des Fichenskandals in einem aktuellen Spielfilm ein. Dabei interessierte sie sich vor allem für inszenatorische Techniken der rezeptiven Sympathiesteuerung, wobei hier besonders Techniken und Strategien des Humors und des Witzes bedeutsam waren.
Der zweite Tag begann mit der Keynote von Sebastian Dümling Der märchenhafte Populismus oder: Die Politik der Gattung. Dümling entwickelte die These, dass sich populistische Kommunikation besonders auf solche Gattungen stützt, zu deren Gattungslogik es gehört, großflächige Kollektive (Volk, Nation etc.) zu adressieren. Dieses Argument leitete er über die, vor allem von den Grimms und Brentano geführte, (spät-)romantische Diskussion über Kunstpoesie und Volkspoesie her: Echte Volkspoesie, so die Grimms, sei jene Poesie, in der sich die kollektive Volkshaftigkeit der Vielen in die Gattungskomposition eingeschrieben hätte, wohingegen die Kunstpoesie ein elitäres Projekt der Wenigen sei. Diese Polarität arbeitete Dümling gattungstheoretisch aus und zeigte, wie eine ähnliche sozial-poetologische Dimension auch in den aktuellen digitalen Medien wirksam ist, auf die sich populistische Kommunikation besonders stützt.
Samuel Wegmann befasste sich in Zürich – Millionärin der Vielfalt mit Vielfalt als Ordnungsbegriff und Verständigungsprozess, was er am Gegensatzpaar Natur und Kultur ausmachte, wie es in städtischen Publikationen regelmäßig aufgegriffen wird. Die Grenzen von Stadt und Natur werden verhandelt, wenn sich Zürich als offene Stadt präsentiert. Diversität auch von Flora und Fauna wird in dieser Deutungsweise als Standortvorteil der Stadt gedeutet.
Daran schloss sich Kathrin Pöge-Alders Beitrag Oberbürgermeisterwahl in der „Boomtown“ Leipzig. Eine empirische Studie zu den Narrativen der Auseinandersetzung an, bei der Sicherheit und ‚Krawall‘ als zentrale Themen auftauchen. Leipzig gentrifizierte sich in den frühen 2000er Jahren zu einer lebhaften Boomtown. Neben einer hohen Zahl linksaktivistischer Bewohner*innen ist hier auch der Anteil der AfD-Wähler*innen sehr hoch. Diese Spannungen drückten sich im letzten Wahlkampf um das Oberbürgermeisteramt aus.
Dennis-Marius Thieme stellte in seiner Untersuchung der Debattenkultur des Deutschen Bundestages in der 19. Legislaturperiode unter dem Stichwort der Mediendemokratie dar, welche diskursiven und rhetorischen Regeln die Auseinandersetzungen im Deutschen Bundestag steuern. Dabei zeichnete er nach, wie sich diese Regel gleichsam durch Praxis verändern und konstituieren.
In So geht sächsisch legte Dieter Herz dar, wie sich eine ‚Sachsenerzählung‘ entwickelte, die die Sachsen als arbeitsam und tüchtig zeigt, die in der DDR an der Entfaltung dieser Tugenden verhindert wurden. Diesem Selbstverständnis stehen Umfrageresultate entgegen, die den sächsischen Dialekt als unbeliebt zeigen. Eine Kritik dieses Narratives sieht im Lob des Sächsischen einen Politikersatz, dessen Folge eine Vernachlässigung des zivilgesellschaftlichen Engagements ist.
Wilhelm Solms ging auf Gedenkreden. Reden von deutschen Politikern zum Gedenken an die Sinti und Roma, die im Dritten Reich deportiert und vernichtet wurden ein. Eine solche Rede zum Gedenken der Toten wurde erstmals am 27. 10. 1979 auf dem Gelände des KZ Bergen-Belsen gehalten, um dann in den späten 1980er Jahren von diversen deutschen Politikern adaptiert zu werden. Die Gedenkreden appellieren an erlittenes Unrecht, sie zielen in ihren Effekten auf Betroffenheit statt auf konkrete Handlungen, denn es steht außer Debatte, dass sich die Benachteiligungen der Sinti und Roma über Generationen fortsetzt.
Barbara Gobrecht entwickelte in Hier spricht der König ein Gegenargument zum häufig gehörten Vorwurf, dass Märchen apolitisch seien. Insbesondere französische und russische Märchensammlungen weisen einen deutlich politisch gefärbten Impetus auf. Danach ging sie auf die verschiedenen Königsworte in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ein.
Christine Shojaei-Kawan nahm sich Revolutionäre Narrative um Marie-Antoinette oder: wie mit Liedern, Spottversen, Gerüchten und Anekdoten bis heute Politik gemacht und Geschichte erzählt wird vor. Der Ausspruch qu’ils mangent de la brioche wurde der als wenig an Politik interessierten Königin zugeschrieben und soll ihre Entfremdung zu den Nöten der Bevölkerung illustrieren.
Den dritten Tag eröffnete Ove Sutter mit Experientiality, personal action frames und epistemische Sozialitäten. Zur Bedeutung des Narrativen in gegenwärtigen Protestmobilisierungen, worin er herausarbeitete, was für eine wichtige Rolle das Erzählen innerhalb sozialer Bewegungen hat. Als Beispiele bezog er sich auf die Bewegung ‚Ende Gelände‘, die Erfahrung und experientiality nutzt, um die eigene Sichtweise auf die Welt zu beglaubigen.
Unter Rückgriff auf vor allem Jean Pauls Humortheorie ging Malte Völk in Inhalte überwinden! Politisches Erzählen im Modus des Humors auf die, von Autor*innen des Satiremagazins Titanic gegründete Partei Die PARTEI ein und zeigt dabei die reflexiven Potentiale, die politisch-humoristisches Erzählen hat.
Claudia Willms Beitrag Narrative Herstellung von immanenter und transzendenter Ethik bei religiösen Antikapitalist*innen befasste sich mit einem narrativen Milieu, das Erzählen oft als Handlungsmacht deutet, wobei die mehrdimensionalen Erzählungen den Leuten als Strukturierungshilfe dienen.
Lars Winterberg zeigte in seinem Beitrag „Fleischnarrative“. Politisches Erzählen im Umgang mit Tier und Fleisch, dass Massentierhaltung und die große Nähe zwischen Menschen und Tieren nach besonderer Narrativierung des Mensch-Tier-Verhältnisses verlangen, die zu Distanzierungseffekten in diesem Nahverhältnis führen.
Meret Fehlmann stellte in Heimelige Pfahlbaudörfer auf paradiesischer Höhe – vom Mythos der Pfahlbauer als idealisierte Vorfahren des Schweizer Volkes einen im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts in Vergessenheit geratenen Schweizer Herkunftsmythos ins Zentrum. Die ab den 1860er Jahren verbreitete Vorstellung der vermeintlichen Herkunft von den Pfahlbauern bot idealisierte Vorfahren, die trennende Unterschiede der Gegenwart in einer primordialen Vorzeit auflösten. Dieses Narrativ wurde in einer Vielzahl von Medien vermittelt.
In der Schlussdiskussion wurde mehrfach betont, dass Erzählungen, insbesondere politische, der Ermächtigung dienen und sie eine Ordnungsleistung erbringen. Neben den Schwierigkeiten, was denn mit dem Begriff „politisches Narrativ“ genau gemeint sei, wurde in der Diskussion die Frage nach der verwendeten Methode als zentral benannt: Was ist ein Narrativ und wie kann man mit einem solch umfassenden Begriff umgehen? Es sei notwendig, offenzulegen, was man mit Narrativ meine, also eine individuelle Definition sei gefordert. Die drei Tage, die sich mit verschiedenen Aspekten des politischen Erzählens befassten, zeigten deutlich, welche unterschiedlichen Elemente des politischen Erzählens in den Vordergrund gerückt werden können.
Die nächste Tagung ist für 2023 in Regensburg geplant, das Thema und die Rahmendaten werden beim nächsten Kommissionstreffen besprochen.
© 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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