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Cirese Alberto Mario Clemente Pietro Raccontami una storia. Fiabe, fiabisti, narratori Studi e materiali per la storia della cultura popolare. Nuova serie 8 3Palermo Museo Pasqualino 2021 1 487
Uther Hans-Jörg Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation 3., durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin/Boston Walter de Gruyter 2021 611 S. 1
Raccontami una storia, auf Deutsch: Erzähl’ mir eine Geschichte, ist ein wichtiger Band, der die zahlreichen, hier und da verstreuten Aufsätze des Doyens der italienischen demo-ethno-anthropologischen Forschung, Alberto Mario Cirese (1921–2011), und dessen Schüler, Pietro Clemente, ehemaliger Professor an den Universitäten Siena, Florenz und Rom, zum Thema ‚Märchen‘ versammelt. Es ist ein „notwendiger“ Band, auch wenn er größtenteils bereits publizierte Texte enthält. Denn abgesehen davon, dass er eine Hommage an einen Meister wie Cirese, ein Jahrhundert nach seiner Geburt und zehn Jahre nach seinem Tod, darstellt, ist die Zusammenstellung der Schriften ein Stück Wissenschaftsgeschichte (der erste Essay von Cirese stammt aus dem Jahr 1955, der letzte von Clemente aus dem Jahr 2014), die den impliziten Anspruch hegt, ein Referenzwerk zu sein, das die Form einer Einladung oder Aufforderung zu neuen Forschungen und Studien einem in den letzten Jahren vernachlässigten Bereich zugunsten von rein anthropologischen Themen annimmt.
Der Band ist in zwei Teile gegliedert: der erste enthält Cireses Schriften (ca. 300 Seiten einschließlich des langen, akkuraten Vorworts von Maria Federico), die in vier thematische Bereiche unterteilt sind, von denen das zweite und dritte Kapitel über „vergleichende Märchenforschung“ und „Märchen-Morphologie“ die wichtigsten sind.
Bei der (erneuten) Lektüre der Aufsätze Cireses fällt die methodische Strenge, die Solidität der wissenschaftlichen Argumentationen und die Klarheit der Darstellung auf. Darin werden die italienischen Studien zur populären Literatur seit dem neunzehnten Jahrhundert einer genauen Prüfung unterzogen, ihre wichtigsten Etappen nachgezeichnet und in ihrer Bedeutung abgewogen. Ungefähr gleichzeitig mit dem theoretischen Wendepunkt, der durch Cireses Band Cultura egemonica e cultura subalterna (Hegemoniale Kultur und subalterne Kultur, 1971) über die internen Kulturunterschiede einer Gesellschaft auf der Grundlage der Beobachtungen Antonio Gramscis zur Folklore markiert wurde, organisierte und leitete Cirese die erste nationale Feldforschung über sogenannte „unbesungene mündliche Traditionen“, die zwischen 1968 und 1972 mit Unterstützung der Staatlichen Diskothek (heute Teil des Zentralinstituts für Ton- und Bildträger) durchgeführt wurden und zum Aufbau des ersten Verzeichnisses der gesprochenen mündlichen Überlieferungen nach Erzähltypen (1975) führten. Cireses positive Aufnahme der internationalen Repertoire, zuerst der finnischen (Antti Aarne) und dann der amerikanischen Schule (Stith Thompson), und ihre Verbindung mit dem Strukturalismus russischer Provenienz, allen voran mit Vladimir Propps Morphologie des Märchens, hat zwei wahrhaft monumentale Werke hervorgebracht: die mehr als 8000 im Zentralinstitut für Ton- und Bildträger gesammelten mündlichen Erzählungen, die darauf warten, einem breiteren Publikum (und nicht nur einer Gruppe von Spezialisten) zugänglich gemacht zu werden, und den ersten Katalog der italienischen Märchentypen, der das nationale Erbe für die internationale Forschung zugänglich gemacht hat. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang zwei unveröffentlichte Aufsätze (im Band 109–123 bzw. 125–131) über „Allgemeine Hinweise zur Aufzeichnung von Märchen und anderen mündlichen Dokumenten“ und über die „Normen für die Erfassung und Verwaltung von Daten im Zusammenhang mit der Erfassung von Märchen“, die an die an der Feldforschung Beteiligten gerichtet waren. Sie werfen ein Licht auf die bis jetzt wenig bekannten Hintergründe der Erhebungskampagne von 1968 bis 1972, auf die Art und Weise, wie der Katalog zustande kam bzw. weshalb bestimmte Märchentypen im Katalog stärker vertreten sind als andere.
Bedeutungsvoll ist weiterhin die Veröffentlichung eines undatierten Briefes des über achtzigjährigen Cirese an Hans-Jörg Uther, der kurz nach dem Erscheinen (2004) von dessen dritter Revision des Märchentypen-Katalogs geschickt wurde und in dem Cirese die Notwendigkeit unterstreicht, den italienischen Katalog von 1975 im Lichte der von Uther vorgenommenen Änderungen zu überarbeiten. Im Zusammenhang damit steht auch Cireses Aufsatz Il catalogo dei cataloghi delle fiabe (2005), der über sein „jüngstes Unternehmen“ eines Computerprogramms mit dem Titel „Repertorio informatico delle fiabe italiane“ informiert und die neuen Forschungsaufgaben skizziert, die in Betracht zu ziehen wären, um den Katalog zu aktualisieren und ihn gleichzeitig in der internationalen Forschung zu verankern und zu vernetzen.
Die Öffnung der Studien hin zu anderen mündlichen, populären Erzählgattungen wurde dann von Pietro Clemente vollzogen (seine Aufsätze werden in chronologischer Reihenfolge vorgestellt), der von einer radikalen, poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen, Kritik des Märchens ausging („Le fiabe non esistono“), um dann zu einem sehr viel differenzierteren Ansatz zu gelangen („Le fiabe ci sono ancora“, 382–384). Und so verlagerte sich die Forschung vom Text auf den Kontext, auf die Performanz und auf die Stimme, auf die Repertoires der Erzähler*innen und auf die Modi der sozialen Übertragung. Das Märchen nahm zugleich andere Bedeutungen an z. B. im Rahmen der individuellen Biografien der Erzähler*innen (ausgehend von Aurora Milillos Forschungen) und neben anderen traditionellen Erzählgattungen wie Rätsel oder Legende (auf der Grundlage der zuletzt publizierten toskanischen Sammlungen von Gastone Venturelli, Roberto Ferretti und Fabio Mugnaini) sowie Lebensgeschichten oder der oralen Erinnerung an den Widerstandskampf (vgl. Clementes zusammen mit Fabio Dei, Poetiche e politiche del ricordo: memoria pubblica delle stragi nazifasciste in Toscana, 2005). Im Zusammenhang mit dem Beharren auf den Formen der semioralen Weitergabe von erzähltem Wissen verweist er unter anderem auf Rudolf Schenda, der darauf zitiert, dass das mündliche Gedächtnis nicht über mehrere Generationen hinausreicht und daher auf schriftliche Formen der Überlieferung angewiesen ist. Bücher wie Pinocchio, mit dem sich Cirese auch beschäftigt hat, oder ein Autor wie Hans Christian Andersen, der mit dem Blick des Anthropologen untersucht wurde, kehren zurück, und der Band schließt mit der „Utopie“ eines städtischen Schalters („Le storie a memoria“, 457–458), an dem von Amtes wegen älteren Menschen zugehört werde. Damit soll einerseits „der Kreislauf und der Übergang der Überlieferung wieder geöffnet“ („riaprire il circuito e il passaggio della tradizione“), anderseits ein Archiv von Stimmen und Gesichtern der lokalen Geschichten aufgebaut werden, worin das Recht, Zeugnis abzulegen, als ein Recht jeder Person anerkannt wird. Der soziale Wert der Zeugenschaft trägt nach Clemente zum Gedächtnis des Territoriums bei.
Lindemann, Uwe: Der Krake. Geschichte und Gegenwart einer politischen Leitmetapher. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2021. 148 S.
Das anzuzeigende Buch hat sein Autor, der Literaturwissenschaftler Uwe Lindemann, im Rahmen des Förderprogramms Originalitätsverdacht? Neue Optionen für die Geistes- und Kulturwissenschaften der Volkswagen Stiftung verfasst. Dies ist zweifellos ein sehr treffendes Gefäß für das dabei entstandene Werk – formal ein Langessay –, dessen Kernthese ja tatsächlich äußerst originell ist: Im neunzehnten Jahrhundert habe sich demnach nicht nur die politische Ökonomie des globalen Kapitalismus konsolidiert, sondern es habe sich zugleich ein narratives Register etabliert, das die Motive und Tropen bereitstelle, um über diese politische Ökonomie erzählen zu können. Im Mittelpunkt dieses narrativ-symbolischen Registers wiederum stehe der Krake, die Figur des Oktopusses.
Wenn man über den Kraken als politische Metapher spricht, redet man unweigerlich über die Vorstellungen, die mit der globalisierten Moderne verbunden sind. Meine Leitthese lautet, dass die Krakenmetapher als kollektivsymbolisches Brennglas fungiert, mit dessen Hilfe die strukturelle und metaphorische Verfasstheit des modernen Globalisierungsdenkens sichtbar gemacht werden kann. (13)
Gleich zwei der für die (populäre) moderne Literatur grundlegenden Romane würden schließlich an zentralen Stellen von Kraken bzw. genauer: von menschlichen Kämpfen mit Kraken erzählen – Victor Hugos Arbeiter des Meeres (1866) und Jules Vernes reich bebilderter Roman Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer (1869/1870). Zeitleich dazu findet, wie Lindemann prägnant darstellt, eine meeresbiologische Debatte darüber statt, ob bzw. was für eine Art Leben in der Tiefsee überhaupt möglich sei, eine Debatte, in der auch darüber gestritten wird, welcher Wesensart eigentlich der Oktopus sei: Ist der Oktopus, so eine These, vielleicht ein Mischwesen aus Tier und Pflanze?
Dass der Krake eine Figur des Dritten ist, also dem sehr nahekommt, was Michel Serres als Parasiten bezeichnet, wird bereits dadurch markiert, dass im Deutschen sowohl der als auch die Krake sagbar ist – der Krake oszilliert zwischen Existenzweisen und Geschlechterformen. Genau dies mache den Kraken zu einem, wie Lindemann mit dem Diskurstheoretiker Jürgen Link fasst, „Kollektivsymbol“, also einer ikonisch-metaphorischen Figur, deren kollektive Geltung und Verwendung Diskurse mit unterschiedlichen Wissens- wie Sprachregistern verschränkt: Zeitungskarikaturen verwiesen genauso auf Kraken wie Agentenfilme, populärwissenschaftliche Erzählungen griffen auf Krankenmotive genauso zurück wie politische Traktate. Die elementare, diskursverbindende Semantik des Kranken bestehe dabei in dessen parasitärer, formoszillierender Dritthaftigkeit.
Mit dem Kraken als textliches wie bildliches Erzählmotiv ließen sich schließlich solche Weltzustände fassen, die das empirisch Eindeutige sprengen. Dass mache den Kraken zu einer idealen Leitmetapher, um eine politische Ökonomie sprachlich-ikonisch zu greifen, die sich dadurch kennzeichne, dass sie die empirische Welt transzendiere – Warenströme, Zinsentwicklungen, Mehrwertproduktion, Aktienkursschwankungen etc. seien unsichtbare Abstrakta, die durch die Krakenmotivik sichtbar würden. Der Krake ereigne sich daher geradezu idealtypisch für die Bebilderung als intransparent imaginierter Machttechniken, nichts sei so geeignet, Verschwörungsimaginationen zu bebildern wie der Krake: Seine Fangarme, so ein beliebtes Karikaturmotiv, greifen um die Welt, während der Krakenkopf, so er überhaupt identifizierbar ist, abgehoben herausragt.
Dies sei schließlich der Hauptgrund für den Einsatz des Krakenmotivs in antisemitischen Diskursen – die phantasierte jüdische Weltverschwörung, die spätestens durch das antisemitische Machwerk Die Protokolle der Weisen von Zion zu einem kollektiven Phantasma wurde, findet ihr Bild in einem zylindertragenden Kraken, mit einer anthropomorphen Gesichtsphysiognomie, die dem antisemitischen Klischee folgt. Eindrucksvoll – und auch sehr erschütternd – stellt Lindemann dar, wie eine ähnliche, wenn auch um die Physiognomie bereinigte, Motivik noch heute in sogenannten deutschen Qualitätsmedien, etwa der Süddeutschen Zeitung, in Karikaturen auftaucht, um den globalen Kapitalismus zu ikonographieren.
Genauer erkennt Lindemann drei symbolisch-imaginative Krakentypen: „der imperiale Krake“, nach der ein imperialistischer Staat (das Deutsche Reich, die Sowjetunion, die USA usw.) seine Machtsphäre ausweiten will; „der konspirative Krake“, der – erheblich antisemitisch imprägniert – eine versteckte Weltmacht signiert, die sich demokratischer Kontrolle entzieht; und schließlich „der monopolistische Krake“, worunter kapitalistische, ständig nach Mehrwert dürstende Marktakteure zu verstehen sind. „Alle drei Krakentypen verbindet die Idee einer faktisch umsetzbaren bzw. umgesetzten politischen, wirtschaftlichen oder ideologisch fundierten Weltherrschaft.“ (18)
Auch wenn diese Thesen äußerst originell erscheinen, konnte das Buch den Rezensenten letztlich nicht überzeugen, auch wenn bzw. gerade weil – scheinbar paradox – der Text äußerst leichtgängig, geradezu flott geschrieben ist und man Lindemanns Ausführungen sehr gerne folgt. Diese Leichtgängigkeit weist nämlich m. E. auf das zentrale Problem des Werks hin: Lindemann liest die seines Erachtens krakenmotivisch gesättigten Texte auf eine Weise, die sein Argument genau unterstützt, und bei der er eine mögliche andere Lesart unterschlägt. So ist etwa Lindemanns Argument, weshalb die in mehreren Bond-Filmen auftretende Super-Verbrecher-Organisation S.P.E.C.T.R.E erheblich antisemitisch dargestellt sei, äußerst dünn und auch zirkulär. Antisemitisch sei ihre Darstellung nämlich deswegen, weil auf dem Ring, den die Organisationsmitglieder tragen, ein Oktopus zu sehen sei. Bedeutet dies, so möchte man Lindemann fragen, dass ein so verwendetes Oktopusmotiv hinreichender Anlass ist, um den schwerwiegenden Antisemitismus-Verdacht zu äußern?
Gänzlich verloren hat Lindemann den Rezensenten dann bei dessen Ausführungen über den angeblichen strukturellen Antisemitismus im Kommunistischen Manifest von Marx/Engels. Dass linke Gesellschaftskritik nicht selten antisemitische Motive heranzieht, ist ein schon lange diskutiertes Thema. Insofern erstaunt die Schärfe mit der Lindemann diese Position vorträgt, da dies eben alles andere als eine Neuigkeit ist. Warum erwähnt Lindemann aber überhaupt das Manifest, in dem doch kein einziges Mal ein Krake erwähnt wird? Mehr noch: Widerlegt das Manifest dann nicht vielmehr Lindemanns These, zeigt es doch, wie man über Kapitalismus sprechen kann, ohne von Kraken reden zu müssen?
Dies leitet über zu einer Kritik, die sich aus einer motivgeschichtlich interessierten Erzählforschung ergibt, und infrage stellt, ob Lindemanns Grundargument vom Kraken als Kollektivsymbol intransparenter Machtechniken überhaupt aufgeht. Bei Lichte betrachtet – und etwas kleinlich gezählt – baut Lindemann letztlich auf dem empirischen Befund auf, dass das Krakenmotiv prominent nur in zwei Romanen des neunzehnten Jahrhunderts auftaucht, dann in einem politischen Karikaturentypus, der, wie bei Karikaturen sehr üblich, als zu variierende Vorlage für Folgekarikaturen dient, dann in einigen wenigen populärwissenschaftlichen Bildbänden und schließlich in Form eines recht unerheblichen Requisits in Teilen der Bond-Reihe.
Reicht das aus, um von einem Kollektivsymbol zu sprechen? Zu Erinnerung: Jürgen Link versteht darunter – ähnlich wie George Lakoff mit seinem Begriff der master metaphor –kultursemiotisch fundamentale Schlüsse wie Licht als Wahrheit, Spiel als Leben oder Dunkelheit als Tod. Der Krake scheint hier in seiner metaphorischen Geltung doch etwas geringer dimensioniert zu sein. Dies wird auch durch den Befund bestätigt, dass in den einschlägigen Nachschlagewerken der Erzählforschung, der Enzyklopädie des Märchens und in Thompson Motif-Index, keine Kraken (in der EM) erwähnt werden bzw. nur sehr begrenzt im Zusammenhang mit ozeanischem Erzählgut. Wäre der Krake ein Kollektivsymbol, müsste von ihm oder auch nur krakenähnlichen Wesen nicht viel häufiger die Rede sein?
Insofern bleibt ein zwiespältiger Leseeindruck: Lindemanns Werk liest sich gut, ist klar aufgebaut und thesenstark geschrieben. Gleichwohl liegt genau darin auch seine Schwäche, nämlich dass es mitunter zu sehr for the sake of the argument ausgerichtet ist. Hätte Lindemann hingegen herausgestellt, dass der Krake eine politische Metapher neben vielen anderen ist, und eben keine politisch-kulturelle Leit- gar Kollektivmetapher, dann hätte er weder Bond noch Marx/Engels en passant als antisemitisch einordnen müssen und wäre auch nicht in den Beweiszwang geraten, ob der Krake tatsächlich die Leitmetapher schlechthin ist. Schade, dass Lindemann dies unterlassen hat.
Michalec, Anna/Niebrzegowska-Bartmińska, Stanisława: Jak chłop u diabła pieniądze pożyczał. Polska demonologia ludowa w przekazach ustnych (Wie der Bauer vom Teufel Geld geliehen hat. Polnische Volksdämonologie in der mündlichen Überlieferung) (Materiały etnolingwistyczne 3). Lublin: Wydawnictwo Uniwersytetu Marii Curie-Skłodowskiej, 2019. 316 S.
Das Buch Jak chłop u diabła pieniądze pożyczał. Polska demonologia ludowa w przekazach ustnych (Wie der Bauer vom Teufel Geld geliehen hat. Polnische Volksdämonologie in der mündlichen Überlieferung) ist 2019 im wissenschaftlichen Verlag der Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin als der dritte Band der Reihe Materiały etnolingwistyczne (Ethnolinguistische Materialien) erschienen. Während der erste Band den Pflanzen[1] und der zweite den Tieren in den mündlich tradierten Volkstexten gewidmet war,[2] fokussiert sich der dritte auf die dämonischen Wesen in der polnischen Folklore.
Es ist eine Sammlung von insgesamt 380 Texten, die von 231 Beiträgern und Beiträgerinnen aus 124 Orten stammen und in denen Begegnungen mit dämonischen Wesen, ihre Aktivitäten, ihr Aussehen, Zeit und Ort des Auftretens und Möglichkeiten des Umgangs mit ihnen thematisiert werden. Auch wenn sich die Herausgeberinnen dieser Publikation einer möglichen Typologie der Dämonen in der polnischen Folklore bewusst sind, konstruieren sie die Struktur ihrer Sammlung, ohne auf diese Typologien zu rekurrieren, denn – wie sie im Anschluss an die Forschungen von Renata Dźwigoł[3] feststellen – solche Aufteilungen sind nicht im Bewusstsein des Volkes verankert, sondern in erster Linie als Resultat der systematisierenden Arbeit der EthnografInnen zu verstehen. Deswegen fußt die Struktur des Bandes auf dem Gattungskriterium: Die Sammlung eröffnen Märchen (Nr. 1–20), denen Sagen und Legenden (Nr. 21–25), Glaubenserzählungen (Nr. 26–217), scherzhafte Erzählungen (Nr. 218–219), Erzählungen über Träume (Nr. 220–222), allgemeine Berichte, Aufzeichnungen des Volksglaubens (Nr. 223–378) und Zauberformeln (Nr. 379–380) folgen. In den meisten dieser Texte stehen die Dämonen im Mittelpunkt der dargestellten Welt, in einigen spielen sie eine Randrolle.
Die im Band veröffentlichten Texte wurden während der Feldforschungen gesammelt, die seit 1960 zuerst in der Region um Lublin, dann aber in ganz Polen durchgeführt wurden. An ihnen beteiligten sich Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Studierende der Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin: aus der Dialektologie und der Folkloristik (Leon Kaczmarek, Jerzy Bartmiński, Jan Adamowski, Grażyna Żuraw, Stanisława Niebrzegowska-Bartmińska), Mitarbeiterinnen vom Ethnolinguistischen Archiv (Anna Michalec, Beata Maksymiuk-Pacek) und Studierende der polnischen Philologie, der Bibliothekswissenschaft und der Kulturwissenschaft. Drei Jahre lang nahm an ihnen auch Wanda Księżopolska, eine Mitarbeiterin vom Zentrum für Kultur und Kunst der Woiwodschaft Siedleckie, teil. Die Studierenden sammelten die Volkserzählungen im Rahmen der Jugendlager (1984, 1985, 1991, 1992, 1993, 1994, 1996, 1997, 1998, 2008, 2009, 2011), die speziell zu diesem Zweck organisiert wurden, und werteten dann die aufgenommenen Materialien in ihren Semester-, Lizenziats- und Magisterarbeiten aus. Außerdem wurden im Band Texte veröffentlicht, die die Herausgeberinnen vom Zentrum „Stadttor“ des Lubliner Theaters „NN“ erwarben. All die im Buch publizierten Erzählungen wurden ursprünglich auf Band aufgenommen und dann transkribiert. Die Originalaufnahmen wurden im Ethnolinguistischen Archiv der Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin deponiert, in dem sich auch die früher publizierten Materialien befinden, die in der vorliegenden Sammlung nicht berücksichtigt wurden. Jeder Text wird mit Angaben zu seiner genauen Lokalisierung im Ethnolinguistischen Archiv, zum Ort und zur Zeit der Aufnahme sowie zu der beitragenden Person versehen.
Der Band wird mit einem Vorwort eröffnet und mit akribisch erstellten Verzeichnissen abgeschlossen: Angegeben werden hier sowohl die verwendeten Tonbänder, die Beiträgerinnen und Beiträger wie auch die Orte der Aufnahmen. In diesem Teil des Buches befinden sich ferner ein Sachregister, ein Verzeichnis der Texte und der Institutionen, die ihre Sammlungen den Herausgeberinnen zur Verfügung stellten, sowie Informationen zu den Personen, die die Materialien aufnahmen und transkribierten.
Die Veröffentlichung Jak chłop u diabła pieniądze pożyczał. Polska demonologia ludowa w przekazach ustnych lässt sich sowohl als eine selbständige Publikation als auch eine Begleitsammlung zu dem seit 1996 in Entstehung begriffenen Kompendium Słownik stereotypów i symboli ludowych (Wörterbuch der Volksstereotype und -symbole) betrachten. Das Wörterbuch wird von Jerzy Bartmiński redigiert und wird sieben Bände umfassen: Bd. I. Kosmos, Bd. II. Pflanzen, Bd. III. Tiere, Bd. IV. Mensch, Bd. V. Gesellschaft, Bd. VI. Religion und Dämonologie, Bd. VII. Zeit, Raum, Maße und Farben. Bisher wurden vier Teile des ersten[4] und sechs Teile des zweiten Bandes herausgebracht.[5] Während die bereits erwähnten Sammlungen Przestrach od przestrachu. Rośliny w ludowych przekazach ustnych (Schreck vom Schreck. Pflanzen in der mündlichen Volksüberlieferung) und Dlaczego wąż nie ma nóg? Zwierzęta w ludowych przekazach ustnych (Warum hat die Schlange keine Beine? Tiere in der mündlichen Volksüberlieferung) die Materialbasis vom zweiten und dritten Band des Wörterbuches bereichern, steht das Buch Jak chłop u diabła pieniądze pożyczał. Polska demonologia ludowa w przekazach ustnych (Wie der Bauer vom Teufel Geld geliehen hat. Polnische Volksdämonologie in der mündlichen Überlieferung) im engen Zusammenhang mit dem geplanten sechsten Band.
Die vorliegende, von Anna Michalec und Stanisława Niebrzegowska-Bartmińska herausgegebene Veröffentlichung ist eine wertvolle und aufschlussreiche Sammlung der Materialien zur polnischen Volksdämonologie, die fast 400 bisher nicht publizierte und während der Feldforschungen in ganz Polen aufgenommene Texte enthält. Deswegen ergänzt sie wesentlich die Materialbasis der polnischen Volkserzählungen und lässt sich als inspirierende Quelle für weitere Forschungen auf diesem Gebiet auffassen. Somit vermittelt sie auch Informationen zur polnischen Volkskultur, zumal nach der Meinung von Anna Michalec und Stanislawa Niebrzegowska-Bartmińska die im Band veröffentlichten Texte eine Lebensphilosophie, aber auch ein ganzheitliches Wertesystem, wie bestimmte Moralvorstellungen und Gesellschaftsnormen des Volkes, widerspiegeln. Andererseits liefern sie konkrete praktische Hinweise, die den Volkskulturträgern halfen, die Naturerscheinungen, Gesellschaftsprozesse und den eigenen Lebensweg zu „modellieren, zu klassifizieren und zu interpretieren“ (14). So ist es eine unentbehrliche Lektüre nicht nur für Volkskundler und Erzählforscherinnen, sondern auch für alle, die Interesse an Volkskultur haben.
Sanga, Glauco: La fiaba: morfologia, antropologia e storia. Padova: Cleup (Coop. Libraria Editrice Università di Padova) 2020. 308 p.
Dieses Buch, das nach einigen Jahrzehnten, in denen nur wenig über Märchen in Italien publiziert wurde, erschien, präsentiert sich auf den ersten Blick wie ein Handbuch für Universitätsstudenten, mit dem der Autor, ein emeritierter Ethnologie-Professor der Universität Venedig, einen möglichst vollständigen Überblick über populäre Erzählungen und insbesondere das Märchen gibt. In Wirklichkeit hegt Glauco Sanga ganz andere Ambitionen, nämlich eine neue Phase in der Rezeption von Vladimir Propp (1895–1970) in Italien zu initiieren.
Nach einer reichen und noch nicht abgeschlossenen Forschungskarriere, er war u. a. Gründer und Herausgeber der Zeitschrift La ricerca folklorica sowie langjähriger Mitarbeiter der mit Bruno Pianta verbundenen Forschergruppe der Volkskunde-Stelle der Region Lombardei, fasst Sanga die bisher geleistete Arbeit zusammen, mit dem Ziel, sie jungen Forschenden zugänglich zu machen. So beginnt der Band mit einem Kapitel über die mündliche Kultur (die Theorien über Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das homöostatische Gedächtnis, die „Objektivität“ der Schriftlichkeit und die „Tugenden“ des Analphabetismus), gefolgt von einem zweiten Kapitel über die Volkskultur. Darin werden die bewertenden bzw. beschreibenden Konzepte der Kultur und die historischen Definitionen vom ‚Volk‘ untersucht, während das Konzept der „kulturellen Zirkulation“ insofern kritisiert wird, als es einer stark asymmetrischen Dynamik nicht gerecht werde. Die „Degradierung der gelehrten Stoffe“ stelle nach Sanga „die Grenze der Expansionsfähigkeit der hegemonialen Kultur“ dar (37). Dabei wird der gramscianische Begriff des ‚Volkes‘ als Gesamtheit der subalternen und instrumentellen Klassen eingeführt, während ein Überblick über die in Italien durchgeführten Arbeiten der ersten Nachkriegszeit skizziert wird.
Im dritten Kapitel werden die historischen Formen des populären Erzählens vorgestellt, wobei drei Schichten (eine traditionelle, eine moderne und eine zeitgenössische) unterschieden werden, die „in verschiedenen Epochen entstanden sind und dennoch nebeneinander bestehen“: 1. Die traditionelle volkstümliche Erzählung (v. a. Märchen und Legenden), die sich autonom und vollständig mündlich entwickelt hat, den archaischen ethnographischen Hintergrund bildet und vor allem in den Bauern- und Berggebieten verbreitet ist; 2. die moderne volkstümliche Erzählung, die sich im Kontakt mit der vorherrschenden schriftlichen Kultur entwickelt hat (Missionstätigkeit der Kirche; Bedeutung der Erfindung des Buchdruckes, Verbreitung der Kolportageliteratur; Alphabetisierungskampagnen); 3. die zeitgenössische Populärliteratur, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat und hier mit der sogenannten ‚Trivialliteratur‘ identifiziert werden kann. Dabei ist Sangas Hypostasierung einer autonomen und vollständig mündlichen traditionellen Volkserzählung („die erste Schicht“) ohne Kontakt oder Austausch mit der Schriftlichkeit m. E. nicht haltbar. Die Einflüsse z. B. der schriftlichen mittelalterlichen Traditionen sowie die Rezeption der orientalischen Tradition dank des kulturellen Transfers im Mittelmeerraum werden außer Acht gelassen.
Anschließend werden die Gattungen der populären Erzählung beschrieben, wobei sich Sanga am meisten für das Märchen interessiert, dem er Kapitel 4 widmet. Jede Untergattung (Tier-, „Kinder-“, Ketten- und Zaubermärchen) wird durch eine Erzählung veranschaulicht (bemerkenswert ist, dass für Dornröschen Perraults Fassung in der Übersetzung von Collodi zitiert wird). Kapitel 5 ist ganz Vladimir Propp gewidmet, seiner Morphologie des Märchens (russ. Original 1928) und den Historischen Wurzeln der Märchen (russ. Original 1946). Im Gegensatz zur strukturalistischen Methode wird der AaTh-Index für eine unwissenschaftliche „äußerliche Klassifikation“ (117) gehalten, der nicht zu erklären vermag, warum Märchen auf der ganzen Welt ähnlich seien, was hingegen Propps Theorie zu leisten vermöge (uns hingegen scheint das AaTh-Repertorium, umso mehr nach Hans-Jörg Uthers Revision, aus heuristischer Sicht ein nützliches Instrument für die historische komparative Analyse von populären Erzählungen – und nicht nur von Zaubermärchen – zu sein).
Im Kap. 6 nimmt der Autor eine Überarbeitung der 31 Funktionen Propps vor, indem er zwei neue hinzufügt – Ausgangssituation [i] und Unglück [H] (nach der ersten „Bewegung“ mit dem zurückgekehrten erfolgreichen Helden kann das Märchen vom Neuen anfangen mit einem zweiten Schaden, den Sanga von dem ersten [X] unterscheiden will) (150–151). Sangas wichtigste Neuerung betrifft aber den Vorschlag eines neuen morphologischen Schemas (Kap. 7) zur Erklärung der Märchen mit unschuldig verfolgten Heldinnen (fast immer sind es Frauen), die sich von den Märchen mit einem aktiven, suchenden (männlichen) Helden unterscheiden.
Kapitel 8 ist den historischen italienischen Sammlungen, den Transkriptionsmethoden bis in die jüngste Zeit (Ende des letzten Jahrhunderts) und der Sprachanalyse gewidmet. Unter Bezugnahme auf Studien zur Volksballade erwähnt Sanga die Theorie von Bruno Pianta, dass Volksballaden „bewusste schöpferische Akte“ professioneller Erzähler sind, die nach einer „Marktlogik“ handeln. Mit einer Analogie zwischen Märchen und Ballade stellt Sanga die zeitlich nicht ganz stimmige Hypothese auf, dass sowohl Balladen als auch Märchen auf die Romantik zurückgehen. In beiden Fällen hätten sich professionelle fahrenden Erzähler bzw. Bänkelsänger, „den neuen romantischen Geschmack der literarischen und urbanen Matrix“ angeeignet (welche Texte bzw. Stoffe hier gemeint sind, ist allerdings unklar), ihn überarbeitet und auf dem Land mündlich verbreitet, was später von den Folkloristen gesammelt wurde. Damit will Sanga nicht den prähistorischen Ursprung des Märchens in Frage stellen, der von Propp (1946) in seinen historischen Wurzeln aufgezeigt wurde, sondern „seine moderne Überarbeitung in einer mittelalterlichen Form, wobei jedoch die innere Struktur beibehalten wurde“.
In Kapitel 9 befasst der Autor sich mit den professionellen Erzählern der Populärkultur, den marginalisierten umherziehenden Erzählern. Ein interner Beweis für die Hypothese der Überlieferung von Märchen durch Landstreicher ist nach Sanga die verbreitete italienische Schlussformel: „stretta è la foglia, larga la via, dite la vostra che ho detto la mia“ (schmal ist das Blatt, breit der Weg, erzählt Eure [Geschichte], ich habe meine gesagt), wobei Sanga „foglia“ als Rotwelsch-Lemma mit der Bedeutung „Tasche, Beutel, Geld“ interpretiert, so dass die Schlussformel „i denari sono pochi, la strada è lunga, io ho finito e riprendo il cammino“ bedeuten würde. Dieser suggestiven Hypothese (also kein Beweis) steht allerdings z. B. Folgende gegenüber, wonach ein typografischer Fehler (Austausch des langen <s> mit dem Buchstaben <f>) zu Beginn des Buchdrucks der Ursprung der obskuren Formel wäre. Daher sollte man nicht ‚Blatt/foglia‘, sondern ‚Schwelle/soglia‘ lesen („stretta la soglia, larga la via“ usw., eine Formel, die im siebzehnten Jahrhundert literarisch belegt ist).
Im letzten Kapitel weist Sanga noch einmal auf den historischen Ursprung der Zaubermärchen hin. Während das Märchen nach Propp das Ergebnis der Entwicklung von Jäger- und Sammler- zu Bauerngesellschaften ist, mit dem Bedeutungsverlust der Initiationsmythen und ihrer Umwandlung in Märchen, ist Sanga der Meinung, dass das Märchen das kulturelle Produkt der Beziehung zwischen Jäger- und Sammler- und Agro-Pastoral-Gesellschaften ist (281). Die Märchen über schuldlos verstoßenen Heldinnen stellen hingegen ein „sekundäres Produkt“ dar, das sich aus den Zaubermärchen mit aktiven Helden durch einen Prozess der Wiederanpassung entwickelt habe (vgl. 183). Die Situation der Unterordnung der Heldin/des Opfers stimme nach Sanga nicht mit dem Status der Frauen in Jäger- und Sammlergesellschaften überein, während sie auf die Situation der Frauen in Agrargesellschaften schließen lasse.
Es mögen suggestive Thesen sein, die aber kaum zu beweisen sind. Uns muten diesbezüglich die Erörterung von Elfriede Moser-Rath im Artikel Frau in der Enzyklopädie des Märchens überzeugender an, wo sie auf die Entsprechungen in der altindischen und orientalischen Überlieferung, auf die reiche Ausgestaltung in der mittelalterlichen Roman- und Novellenliteratur usw., und auf die konsequente massive literarische Beeinflussung der mündlichen Überlieferung verweist.
Kurzum, das Buch leidet etwas unter dem Versuch, Propps Positionen zur Entstehung der Märchen mit Sangas dialektologischen Studien in Einklang zu bringen, die er Randgruppen gewidmet hat – was meiner Meinung nach einige Verzerrungen mit sich bringt, wie die, nach der die vagierenden Erzähler die kulturellen Nachfahren der Jäger wären. Das Buch enthält andererseits eine Fülle von bibliographischen Hinweisen, Auszügen aus Märchensammlungen, die wenig bekannt sind, die aber zu den besten Italiens gehören, und kluge Einsichten, die zur Reflexion und Diskussion anregen.
Fantasy Fictions from the Bengal Renaissance, including Abanindranath Tagore’s “The Make-Believe Prince” (Kheerer Putul) and Gagendranath Tagore “Toddy-Cat the Bold” (Bhondar Bahadur). Translated and annotated by Sanjay Sircar. Oxford: Oxford University Press, 2018. 339 pp. (exclusive of a “Foreword” by Peter Hunt and a self-authored “Preface”).
This is an unusual book to review because it is several things at once. Targeted at both an academic audience and a general readership, Fantasy Fictions from the Bengal Renaissance is first and foremost a highly sophisticated scholarly work that acts as an introduction, a critical exposition, and an annotated translation to two of the most cherished late nineteenth and early twentieth century folk stories from Bengal in India. With a length of around 370 pages (including a foreword and a preface), the two stories written by the Tagore brothers Abanindranath and Gagendranath actually run for a total of less than one hundred pages, complete with illustrations and Sircar’s annotations. The rest of the book is devoted to lengthy deliberations on the contextual politics of the tales, as well as to keen-eyed observations on their stylistic and cultural dynamics. Since the introductions preceding the annotated primary texts delve into a vast wealth of minutiae surrounding and feeding the narratives, I would suggest the first-time reader to straightaway immerse herself in the texts after going through the brief “Foreword” and “Preface”. For as with every popular folktale, it is the story that needs to be relished in the beginning as an imaginative feat, and then critiqued for its politics of construction and circulation. While Sircar subtly defends placing these long reflections before the narratives by constantly referring to them in their footnotes, I found it much useful to first read the stories and then return to them in an enriching fashion, having ploughed through the editor-translator’s treasure-trove of information and interpretative scaffolding.
The greatest reward of appraising this work is the familiarity that the reader develops with the lived cultures of colonial Bengal, even as she is ostensibly encountering only fictive stories. I use the plural “cultures” because the environment birthing the two narratives was astonishingly fertile and far-reaching in its inspiration and scope. Sircar does a dazzling job in keeping alive the numerous complexities of the time, and deploys the two folktales as springboards to explore the many facets of Bengali culture, be they religious, gendered, literary, sociological, gastronomical, or non-human. But he is also aware that “our texts are not high-canonical literature (though such status comes and goes over time); they are not ‘difficult’; they are not solemn or hortatory” (xix). He adds unequivocally, “They are fun” (xix). While the first story, The Make-Believe Prince by Abanindranath Tagore, illuminates the shrewd machinations of a monkey who provides justice to his wronged mother (a fallen human queen), the second tale, Toddy Cat the Bold by Gagendranath Tagore, thrills in the adventures of an eclectic anthropomorphized army of animals, out in the world to rescue the eponymous cat’s stolen child. Read singularly or together, the tales make for a wonderfully engaging experience in a style that surely does justice to the creative energy of the originals in Bengali. In the words of Sircar,
If translation is a form of rewriting both produced and read within the ideological and political constraints and a particular poetics [in-text emphasis] of the cultural system of a target language […] my annotated translations today are for all the ‘target cultures’ of those Anglophone readers who do not know Bengali, be those readers South Asian or international. (xxii)
The rigour that Sircar brings to his endeavour honours the eclectic visions of the two writers, who were the nephews of the Nobel Laureate Rabindranath Tagore and Renaissance men in their own right. Growing in the Tagore household as brothers and sharing the same set of childhood “night time imaginings” (xxi), Abanindranath Tagore and Gagendranath Tagore went on to gain fame as practitioners and promoters of art and culture. While the first won acclaim as a writer-illustrator assimilating influences from China, India and Japan, the second pioneered lithography and design in India and was also involved in interior decoration, photography and theatre. Their worldview therefore was truly global, even as they were firmly rooted in the zeitgeist of the rapidly changing Bengali culture. This is a crucial point, because it was during this period of transformation and cross-cultural dialogue that the study of folktales and folk culture in general became popularised by the ruling British. In a fascinating segment of the first introduction, Sircar relays the colonial politics of “collecting” folktales, which was inextricably tied to the questions of power, control and administration. Yet, paradoxically, this same effort at collating together the folklore of India from near and far also developed into an opportunity for the Indian enthusiasts, for they could now build upon an oral tradition in a written sense to collectively take pride as a budding nation.
Whilst furnishing a discursive space for such “ordinary” culture, influences and inspirations come from far and wide. Thus, a mix of both Eastern and Western sources can be discerned in the two stories. While the first tale Kheerer Putul evolved as a form of the AT (Aarne and Thompson) tale type 459, the second story built on the beast-fable cycle. Not found in Europe, the AT tale type 459 uses figures such as the monkey-hero, a make-believe child and a goddess, and draws upon the tradition of women’s ritual tale. Sircar explains that
In Bengal, one of the forms of this basic type is found both within the ordinary Maerchen genre and in the genre of the women’s ritual brata-tale […] Kheerer Putul, with its own particular set of folk-narrative motifs as well as Abanindranath’s own additions, is in between a pukka Kunstmaerchen and a pukka Maerchen, and could be seen as either or both. (52)
[“Kunstmaerchen” refers to the artistically rendered fairy-tales where non-folk art modulates into a sense of middle-class artifice or artificiality, and “Maerchen” simply points to tales of magic.]
Bhondar Bahadur on the other hand is not a Kunstmaerchen but a stylish interweaving of the mock-heroic genre with the beast-fable form, even as it is significantly inspired by Lewis Carroll’s Alice books (which to a lesser extent also stimulate Kheerer Putul). Hybridity thus reigns over in both the stories in distinctive ways. And it is during the elaboration of this uniqueness that Sircar gets to demonstrate his prodigious penchant for detailing, which is itself suffused with a high degree of self-reflexivity.
The editor-translator’s proclivity for particularities is directly inspired from the nineteenth century tradition of presenting folk tales with much scholarly information, a style championed most forcefully by the Brothers Grimm. Sircar is equally comfortable with using the aforementioned foreign terms like “Maerchen” and “Kunstmaerchen” as part of his critical lexis, as he firmly believes in their aptness and adaptability for different contexts. His incisive, investigative approach doesn’t let the reader take anything for granted, and even the mention of one term, phrase or apparently insignificant action becomes a prompt to provide a meticulously researched background context or branch references. Thus, for instance, in the first tale, a mere mention of a type of punishment meted out to an evil “Witch Crone” has Sircar expounding for more than one page on its several “variations” that “seem to form a motif cluster in South Asia” (122). Similarly, a magical “staff” that the cat-protagonist of the second story uses only a few times (and which disappears by the end of the tale) also merits around four pages of explanation, replete with cultural references. Sircar’s excellent grip on biographical sources additionally inspires him to scrutinize the assorted facets of the brothers’ lives, and to deliberate upon the “influences” and “parallels” between literature and other forms of art. Thus, in the final set of appendices, Sircar thoughtfully connects Gagendranath’s development as a painter with the psychological themes of Bhondar Bahadur, even though the text itself (unlike Abanindranath’s Kheerer Putul) doesn’t include any artwork.
Throughout this exceptional study, Sircar seems to literally embody the “wonder” of folk tales (arguably, the most crucial aspect of the genre that also makes it fantastical), as he dextrously slips in and out of the sea of allusions he has amassed over long years of archival research. His handling of the matter is no patchwork either; rather, it is an astutely grounded exercise in recognising understated transactions and transformations over diverse contexts and cultures. To illustrate, as Sircar painstakingly conjures an elaborate map of links between Bhondar Bahadur and Carroll’s classics in the tellingly titled second introduction “‘In the Manner of Lewis Carroll’, but a Very Different Matter”, he observes that “Carroll’s ‘back-formation’ creatures” like the Mock Turtle and the “bread-and-butterfly” foreshadow “Gagendranath’s literal embodied palm-leaf sentries, generated by the Bengali idiom talpatar sepai, ‘weakling’” (187). In the space of only one sentence then, we gain a sense of equivalences developing and working comfortably side-by-side, that not only bridge the inspiration with the inspired but also – and quite thrillingly – help retain the distinctiveness of the two.
As a literary quality, distinctiveness is what Sircar himself seeks and values in his act of translation. He states that “Bengali is not English. So, in trying to move meaning from one language to another, even while striving […] to be as faithful to the original text […] perfect accuracy sometimes has to be sacrificed so that the resulting story is readable without extreme strain” (62). This greater readability is also occasioned by Sircar’s decision to add chapter titles and fuse and break paragraphs from the original Bengali. It is additionally furthered by Sircar’s inclusion of a number of translated nursery rhymes in the first story, that do not occur in the original Bengali text but inspire Tagore’s narrative through a variety of allusions. Tellingly, no standard agreed-upon original (single) text of either of the two tales exits, which only goes on to demonstrate that originality itself is a slippery concept, always susceptible to degrees of creative adjustments. Here, I was particularly reminded of the newest edition of Grimm’s fairy tales by Jack Zipes (2014), which similarly dwells upon this very elasticity of originality. I simultaneously recalled the recently issued series of “Oddly Modern Fairy Tales” by Princeton University Press, which is dedicated to the rejuvenation of international, path-breaking fairy tales of the early twentieth century. Given the sheer hybrid energy and the “cross-generic fluidity” (50) that our two tales sparkle with, it wouldn’t be incorrect to recommend and hope for their inclusion in this series as well.
Sircar’s work goes a long way in securing a robust afterlife for the two Tagore stories, and one can only hope that both the international and the non-Bengali South Asian readership take cognizance of the book with the passage of time. In its narrative inventiveness and intellectual rigour, Fantasy Fictions from the Bengal Renaissance stands out in an assured manner, and ranks high along with the celebrated editions of children’s and folk-tale classics such as Martin Gardner’s The Annotated Alice (1960)[6] and Jack Zipes The Original Folk and Fairy Tales of the Brothers Grimm (2014).[7]
Solms, Wilhelm: Die Familie in Grimms Märchen. Marburg: Verlag LiteraturWissenschaft.de, 2021. 149 S.
Wilhelm Solms (geb. 1937), von 1977 bis 2001 Professor für Neuere deutsche Literatur und Medien an der Universität Marburg, langjähriger Märchenforscher, legt mit Die Familie in Grimms Märchen einen Führer durch die Familienbeziehungen in Grimms Märchen vor, eine Typologie der Figuren der Väter und Mütter, Söhne und Töchter. Die feinteilig gegliederte, klassifikatorisch durchaus ambitionierte Figurenlehre stellt die „abgrundböse Stiefmutter“ (45–50) und die „böse Schwiegermutter“ (50–52) ebenso vor wie den „abwesende[n] oder untätige[n] Vater“ (12), den „ahnungslose[n] Vater“ (26–28), den „Zieh- oder Pflegevater“ (29–32) oder den Schwiegervater (32–33), die „Pflegemutter“ (54 f.) und Großmutter (57) ebenso wie die „Eltern eines missgebildeten Kindes“ (55–56). In einigen Figurenkapiteln werden Untergruppen mittels einzelner Motive gebildet, z. B. im Kapitel „Vater und Sohn“ (19–28) u. a. „Vermachung eines wunderbaren Helfers“ (19), „Bitte um Patenschaft“ (19–20) oder „Verstoßung des Sohnes“ (23–24). Mit anderen Rubriken wie „Zweibrüdermärchen“ (59–63) und „Dreibrüdermärchen“ (63–66) sind generische Aspekte benannt. Den einzelnen Figuren sind jeweils die Märchen, in denen sie eine Rolle spielen, zugordnet. In den Ausführungen nehmen (teilweise längliche) Inhaltsangaben einen großen Raum ein. Mehrfachbehandlungen sind die Regel. Beispielsweise wird Die zwölf Brüder (Kinder- und Hausmärchen [im Folgenden abgekürzt als KHM] 9) u. a. in den Rubriken „Die gute Mutter“ (36–37), „Die böse Schwiegermutter“ (50–52) und „Die Schwester und ihre vielen Brüder“ (66–68) besprochen. Leider fehlt eine Zuordnung zu den großen Erzähltypen, wie sie in Hans-Jörg Uthers Typenkatalogen[8] ausgewiesen sind: u. a. ATU 300: Drachentöter (KHM 60: Die zwei Brüder, 60), ATU 310: Jungfrau im Turm (KHM 12: Rapunzel, 53), ATU 451: Mädchen sucht seine Brüder (u. a. KHM 25: Die sieben Raben, 66). Solche Zuweisungen wären nicht nur hilfreich bei der Klassifikation der besprochenen Märchen im Sinne einer historisch-vergleichenden Erzählforschung, sondern dienten auch ihrer besseren Profilierung und Konturierung.
Durchgängig – das gilt auch für die den Figurenkapiteln folgenden Kapitel „Brautwerbung und Hochzeit“ (79–103), „Die Märchenehe“ (105–117) und „Brautwerbung und Ehe im Schwank“ (119–133) – zeichnet der Autor das düstere Bild einer zutiefst unheilen (wenn auch nicht gänzlich heillosen) Welt, in der Spannungen und Konflikte dominieren. Kinder, die in ihrer Not dringend die Hilfe ihrer Eltern bräuchten, werden alleingelassen, verstoßen und ausgesetzt, Bräutigame ihren Bräuten untreu, Söhne von ihren Vätern in mörderische Wettbewerbe getrieben, Familienglieder auf grausame Weise hingerichtet. Neid und Eifersucht, Rivalität, Zwist und Streit, Illoyalität und Untreue – wenn auch nur selten in ihren extremen märchengenuinen Formen – sind zusammen mit Fragen nach deren moralischer Bewertung im Alltag unserer Zeit weiterhin unstrittig präsent. Sie sind dabei von so großer Bedeutung, dass – so meint der Autor zu Recht – ein „Sitz der Märchen im heutigen Leben“ (135) gesichert scheint, selbst wenn seit Grimms Märchen gewaltige gesellschaftliche Veränderungen stattgefunden haben (28–29, 81) und viele neue Familienstrukturen, wie etwa die der Patchwork–Familie (8, 50), zu Grimms Zeiten noch nicht existent waren.
Solms’ Märchenbetrachtungen sind gesamt betrachtet zweischrittig: zunächst die Benennung der so vielen unterschiedlichen Verfehlungen der Märchenfiguren und Kritik an ihnen (Befund und Aufriss des Problems), zum Zweiten Verbesserungsvorschläge zur Behebung des Fehlverhaltens (Vortrag von Angeboten zur Problemlösung). Im Fehlverhalten so vieler Familienmitglieder werden „Schreckbilder“ sichtbar, die uns zeigen, „wie wir uns als Vater oder Mutter, Bruder oder Schwester oder als Ehepartner besser nicht verhalten“ (139). Zur Abwehr dieser Schrecken klagt der Autor in besonderem Maße die Rücksichtnahme auf Kinder ein: In den Märchen „können Eltern Familienkonflikte aus der Sicht der Kinder betrachten“ und so „versuchen, die für ihre Kinder richtige Lösung zu finden“ (9). Es zeigt sich, dass Solms bei der Interpretation von Märchen Fragen der Moral über alles stellt, ein Thema, dem er sich schon vordem in einer eigenen, in dieser Hinsicht programmatischen Studie gewidmet hat (Die Moral von Grimms Märchen, Darmstadt: Primus-Verlag, 1999). In seinen märchenmoralischen und -pädagogischen Betrachtungen bietet der Autor ein breites Spektrum von Sprechakten auf: Er klagt, zweifelt, kritisiert, wendet ein, moniert, tadelt, mahnt, warnt, schreibt vor, rät, belehrt und empfiehlt, klagt an und richtet – als Moralist, aber auch als bodenständiger, realistischer Skeptiker von lebenserfahrener Nüchternheit, als besonnener, nüchterner und misstrauischer Betrachter mit praktischem Lebenssinn und dem Wunsch, Lebenshilfe zu bieten. Den Leserinnen und Lesern der Märchen empfiehlt er ebenfalls einen „kühlen Kopf“ (80): Ist dies aber wirklich eine adäquate Voraussetzung für das Märchenlesen?
Der Autor kritisiert die vielen seitens der Märchenfiguren unterbliebenen Hilfeleistungen (u. a. 42), geißelt die Gedanken-, Verantwortungs- und Gewissenlosigkeit der Väter (12–15) und das Versagen der Mütter, Adoptiv- und Pflegemütter (52–54). In Solms’ Formulierungen sind Unverständnis, aber auch Empörung und Zorn deutlich hörbar: „Hat der Erzähler Verständnis für Väter, die ihre Kinder lieben und trotzdem aussetzen?“ (14) Besonders scharf rügt Solms seines Erachtens nach unangemessene Sympathielenkungen und Parteinahmen, etwa für „abstoßende[s]“ (53) Verhalten der Märchenfiguren. Unter anderem entsetzt ihn hierbei, dass sich in KHM 1: Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich der König, vom Erzähler geduldet, auf die Seite des Erpresser-Frosches stellt und nicht seiner Tochter beisteht (17). Solms liebt Belehrungen: „Eine Großmutter ist für das Enkelkind oder die Enkelkinder eine große Bereicherung, wenn sie nicht als Arbeitstier eingesetzt wird, sondern sich wie in Rotkäppchen mit ihnen vergnügt […]“ (57). Der Autor formuliert ethisch begründbare Erwartungen, die in Ratschläge für ein gedeihliches familiäres Miteinander münden, empfiehlt aber vorbeugend zugleich den „Mut […], sich selbst zu helfen und von Zuhause aufzubrechen“ (39). Solms will dem Scheitern von Beziehungen durch entsprechende Empfehlungen vorbeugen (106) und aus Märchen lernen, „aus falschen Beziehungen richtige Konsequenzen zu ziehen“ (78). Für die einzelnen Mitglieder einer Familie erstellt er sogar detaillierte Anforderungs- und Verhaltensprofile (139–140).
Insgesamt stellt sich der Autor mit seinen Ausführungen nicht selten in große Distanz zum Märchen und genuin Märchenhaften. Immer wieder stellt er die Nachhaltigkeit von Gefühlen und die Glücksverheißungen des Märchens in Frage, hinterfragt das mit dem guten Ende des Märchens, dem sozialen Aufstieg und der Hochzeit der Figuren propagierte „immerwährende[ ] Glück“ (78) des Märchenpaares (79). Die Charakterschwächen der Märchenfiguren brächten schnell schon neue Unbill und Leid. Letztlich verlässt Solms hiermit den abgesteckten zeitlichen, dramaturgischen und poetologischen Rahmen der Märchen. Und gelegentlich hat es den Anschein, als spreche der Autor eher über beliebige Texte denn über Märchen, zumal er bei der Bewertung von Märchen dem Kriterium der Bezugsgröße Realitätsnähe zu große Bedeutung beimisst. Auch wenn Solms übermäßige Bestrafungen (69) und die Gleichsetzung von hässlich mit böse und schön mit gut (96) tadelt, kritisiert er letztlich märchengenuine Strukturen und Stilmerkmale: den Hang zum Extremen, die Vorliebe für Formeln, den abstrakten Stil des Märchens. Solms’ dezidiert moralischer Blick auf Märchen führt dazu, dass er Fragen nach dem Wesen und der Essenz des Märchens, nach dessen Ontologie, Logik und Baugesetzen, nach dem Zauber und der nachhaltigen Suggestivkraft der Märchenbilder zu wenig berücksichtigt. Letztlich entzaubert der Autor Märchen, indem er sie vom common sense geleitet ‚gegen den Strich‘ liest und Märchen ihn nicht selten nur überzeugen, wenn deren Handlungen vernunftgeleitet sind (z. B. 92, 111). Doch die allermeisten Märchenleserinnen und -leser dürften sich darin einig sein, dass die Attraktivität der Märchen, ihr Wundersames, ihre die Zeiten überdauernde Gültigkeit definitiv nicht auf Fragen aufgeklärter Moral gründen.
Ein weiteres dem Autor wichtiges Anliegen ist die Gegenüberstellung der sich aus dem Erzählten der Märchen ergebenden Lehre mit den Belehrungen des Erzählers Wilhelm Grimm (9, 138). Wilhelm Grimm war jener Grimm-Bruder, der seit der Zweitauflage der Grimm’schen Märchen von 1819 umfängliche Veränderungen an den Märchen vorgenommen hat. Wilhelm Grimm ist ein dem Autor der Studie vielfach unliebsamer Erzähler, sein „Urteil“ (138) wird von ihm vor allem wegen oft fehlenden Einsatzes für die Verfolgten, ausbleibender Kritik an den Verfolgern, der nicht nachvollziehbaren (oben bereits angesprochenen) Parteinahmen und Sympathielenkungen vehement kritisiert. Angesichts des prononciert vorgetragenen, die gesamte Studie so sehr dominierenden Plädoyers für eine eigene lebensnahe, skeptische und oft sehr märchenkritische und -ferne Moral gelangt die Unterscheidung von Märchenmoral und Wilhelm Grimms Moral jedoch nicht so recht zur Geltung. Um Leserinnen und Leser hier mitzunehmen, hätte es kleinteilig vorgestellter und exakt belegter textkritischer Befunde zu Wilhelm Grimms Erzählerzusätzen (138) bedurft. Im Übrigen handelt es sich hierbei um eine hochproblematische, narratologisch fragwürdige Unterscheidung, da sie Gefahr läuft, den Erzähler Wilhelm Grimm aus dem Textkorpus des Märchens zu drängen, während das von ihm Erzählte und Kommentierte doch selbstverständlich Teil der Märchen ist. Und das reduzierte, einseitig negative Bild, das Solms von Wilhelm Grimm zeichnet, wird dessen überragender Bedeutung als literarisch brillanter Schöpfer eines eigenen Märchenstils und maßgeblicher Begründer der Gattung Buchmärchen nicht gerecht.
Problematisch ist sicherlich auch eine durch den Topos vom ‚Sitz im Leben‘ mit ausgelöste Bewertung der Märchen nach ihrem heutigen Nutzen, wenn eine solche zu einseitig Kriterien wie Aktualität, Verwertbarkeit und Verwendbarkeit in den Vordergrund rückt. Darüber droht das Wissen um die Historizität der Märchen wie auch um ihre generischen Spezifika zu verblassen. Dies geschieht z. B., wenn Solms bei seinen Betrachtungen der sozialen Stellung der Familienmitglieder einen „Königskult in Grimms Märchen“ (135) wahrzunehmen meint, wo doch Grimms Märchen nur den märchengeläufigen König als Typus des Herrschers herausstellen, der für Macht, Recht und Reichtum steht. Und auch eine den Grimm’schen Märchen spezielle „Frauenfeindlichkeit“ (136) lässt sich nicht so pauschal attestieren. Denn vieles in der Schilderung der Frauen, das aus heutiger Sicht als befremdlich, verstörend oder oft sogar als empörend wahrgenommen wird, ist nach Maßgabe der bürgerlichen Tugendkataloge des neunzehnten Jahrhunderts und des in ihnen propagierten Rollenverständnisses modelliert. Im Übrigen sollte unter den sozialen Fragen auch noch die zu Grimms’ Zeiten hohe Müttersterblichkeit erwähnt werden, da sie die auffallend hohe Zahl von Stiefmüttern in den Märchen erklärt.
Solms’ Studie ist theoretisch kaum unterlegt; dies gilt insbesondere für den vom Autor reklamierten vielschillernden Topos ‚Sitz im Leben‘, der aufgrund seiner unsteten Begriffsgeschichte dringend einer Definition und Explikation bedurft hätte. Ein Blick in die Geschichte des Topos zeigt, dass mit ihm zunächst nur die ursprünglichen Entstehungs- bzw. Verwendungssituationen eines Textes angesprochen sind, mit der Mahnung, sie bei dessen Interpretation angemessen zu berücksichtigen. Inzwischen ist hingegen mit diesem Topos mehr und mehr ein Sitz im heutigen Leben gemeint: ein nicht unproblematischer Ansatz, da er, so viele Kritiker, willkürlichen Deutungen Vorschub leisten könne. Als Beispiel sei hier die märchenpädagogische und -therapeutische Studie von Angelika-Benedicta Hirsch[9] genannt, die das Märchen vom Rumpelstilzchen (KHM 55) zum Verständnis von Lebenskrisen nutzt, von deren fallweiser Bewältigung mit Hilfe einer Metapher des Märchens, „Stroh zu Gold spinnen“, berichtet und sich hierbei auch der Gefahr beliebiger Deutungen aussetzt.
Der Band stellt kein eigenes Literaturverzeichnis bereit, doch finden sich Literaturhinweise, wenn auch sehr spärliche, in den ebenso knappen Anmerkungen (141–145). Sie verdeutlichen, in welch starkem Maße sich Solms’ Ausführungen auf einschlägige Artikel in der Enzyklopädie des Märchens wie „Vater“, „Stiefgeschwister“ oder „Eheschwänke und -witze“ stützt. Ein alphabetisches Register der Märchentitel (147–149) beschließt den Band.
Trotz der vorgetragenen Vorbehalte bietet Solms’ Studie ein nützliches, umfassendes, sehr lesenswertes und auch ohne literaturwissenschaftliche Vorkenntnisse lesbares Kompendium der innerfamiliären Beziehungen und Rollen in Grimms Märchen, das sich durch des Autors Interpretation in einer hermeneutisch ergiebigen Spannungszone zwischen Märchen und Realität, zwischen Zauber und Skepsis bewegt. Weitere Verdienste des Autors sind zu unterstreichen: Selbst wenn viele der hier besprochenen familiär bedingten Nöte und Verheerungen in ihren extremen Formen eher dem Märchens zuzuordnen sind als realen sozialen Verhältnissen, so stellt doch, dies macht der Autor deutlich, der Glaube, es habe in der Vergangenheit eine gute alte Zeit der intakten, ‚heilen‘ Familie gegeben, einen Irrglauben dar. Und, auch das wird klar ersichtlich, das Verhältnis von Moral und Literatur bleibt ein unverändert heikles Thema; moralische Urteile sind von Zeiten und Personen, framings und Gattungen abhängig.
Uther, Hans-Jörg: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. 3., durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2021. 611 S.
Im Jahr 2021 erschien im Verlag Walter de Gruyter die dritte Auflage des Handbuches zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation von Hans-Jörg Uther. So wie die zwei früheren Auflagen dokumentiert das Kompendium all die im Rahmen der KHM-Ausgaben publizierten Märchentexte, während die Kommentierung auf der sogenannten KHM-Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm von 1857 basiert. Hans-Jörg Uther bespricht in dem Handbuch zuerst die klassischen 200 KHM, dann 10 Kinderlegenden und zu guter Letzt die 44 „im Verlauf der Druckgeschichte ausgeschiedenen Stücke“ (v), zu denen u. a. solche populären Texte gehören, wie Der gestiefelte Kater und Blaubart. Mit großer Akribie charakterisiert der Autor die einzelnen Grimm’schen Märchen und berücksichtigt dabei ihre Quellen und Vorlagen, Beiträger und Bearbeitungsphasen, Erscheinungsjahre sowie Editionsgeschichte, Thematik und Struktur, Varianten und Rezeption, aber auch mediales Weiterleben der KHM, Umgang mit ihren Bildmotiven und Interpretationsmöglichkeiten. Ein wesentliches Element der jeweiligen Charakteristik bilden Literaturangaben. Sie enthalten jedoch
nur jene Werke und Beiträge […], die nach heutigem Stand die ältere Literatur aufgearbeitet und entweder Neues oder Weiterführendes zu einzelnen Erzählungen oder zum gesamten Werk erbracht haben“ (v–vi), sowie die ältere Sekundärliteratur, die „für die Forschungs- und Entstehungsgeschichte und die Themen-, Stoff- und Motivforschung unerläßlich ist. (vi)
Das Buch wird durch Illustrationen zu einzelnen Texten der Brüder Grimm bereichert. Sie stammen aus dem Bildarchiv des Autors und
mögen einen Eindruck von der Vielfalt künstlerischer Gestaltungen vermitteln und verdeutlichen, daß in den Stücken selbst häufig eine einzige Szene die Künstler und Künstlerinnen so sehr angesprochen hat, daß sie zur Leitbildillustration der betreffenden Erzählung geworden ist. (vii)
Dem Hauptteil der Publikation, also den Nachweisen und Kommentaren zu den KHM, folgt ein aufschlussreicher Beitrag, der in die Geschichte der Grimm’schen Märchensammlung einführt und sich nicht nur auf ihre Genese und das Spezifikum der Textbearbeitung konzentriert, sondern auch die in dem KHM-Kontext auftauchenden Gattungsprobleme bespricht. Einen separaten Abschnitt dieses Teiles der Veröffentlichung widmet der Verfasser den KHM-Illustrationen und den Nachwirkungen der Grimm’schen Märchen, also der Rezeption, Verbreitung und Medialisierung von den Texten der Brüder Grimm, ohne dabei „die Unterschiedlichkeit der Interpretationsmuster“ (504) aus den Augen zu verlieren.
Die sich dem Teil Zur Geschichte der Kinder- und Hausmärchen anschließende Bibliographie besteht aus Angaben zu einzelnen Ausgaben der KHM (1812/1815, 1819, 1819/1819/1822, 1837, 1840, 1843, 1850, 1856, 1857, 1825) und der umfangreichen Literatur, deren Verzeichnis 50 Seiten umfasst und als eine relevante Inspirationsquelle zu weiteren Forschungen betrachtet werden kann.
Einen integrativen Bestandteil der Veröffentlichung machen zahlreiche, bei der Erforschung der Grimm’schen Märchen sehr hilfreiche Register aus: eine Typen- und Motivkonkordanz, ein Verzeichnis der Quellen, Beiträger und Vermittler, ein Titelverzeichnis sowie ein Verzeichnis der Namen, Sachen, Werke und Örtlichkeiten. Sie ermöglichen den Rezipientinnen und Rezipienten, sich u. a. einen Einblick in Motive, Themen, Namen der Informanten und literarische Vorlagen der KHM zu verschaffen.
Im Verhältnis zu den zwei früheren Ausgaben des Handbuches wurde die vorliegende Auflage überarbeitet und durch Ergebnisse der neuesten Untersuchungen zu den KHM und die „Angaben zu Erzähltypen der früheren und heutigen deutschsprachigen Gebiete“ (viii) wesentlich ergänzt.[10] So rekurriert das Handbuch auf das Ausmaß der KHM-Bedeutung, denn
[d]araus geht hervor, in welchem hohen Maße die Brüder Grimm nachfolgende Sammler und Herausgeber von Volkserzählungen beeinflußt haben. Nicht wenige Stücke der Brüder Grimm wirken als Leitfassungen nach und haben ältere und zeitgenössische Überlieferungen verdrängt (viii),
resümiert Hans-Jörg Uther im Vorwort Zur dritten Auflage. So lässt sich das Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation als ein unentbehrliches Nachschlagewerk auf jeder Etappe der Arbeit mit den Grimm’schen Märchen begreifen. Es führt in ihre Problematik ein, erweitert und vertieft sie aber auch, ohne das breite Spektrum des weiteren KHM-Lebens in der modernen Welt, samt diversen Interpretationsmöglichkeiten, zu vergessen. Somit ist es ein sehr wertvolles Kompendium für alle, die zu Märchen forschen, und alle Märcheninteressierten. Es bleibt zu hoffen, dass der dritten noch weitere aktualisierte Auflagen des Handbuches folgen werden.
© 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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