Home Literary Studies Genetic Criticism in Motion. New Perspectives on Manuscript Studies. Hrsg. von Sakari Katajamäki und Veijo Pulkkinen, Associate Editor: Tommi Dunderlin. Helsinki: Finnish Literature Society, SKS 2023 (Studia Fennica. Litteraria. 14), 183 S., auch digital im ‘open access’ zugänglich: https://doi.org/10.21435/sflit.14.
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Genetic Criticism in Motion. New Perspectives on Manuscript Studies. Hrsg. von Sakari Katajamäki und Veijo Pulkkinen, Associate Editor: Tommi Dunderlin. Helsinki: Finnish Literature Society, SKS 2023 (Studia Fennica. Litteraria. 14), 183 S., auch digital im ‘open access’ zugänglich: https://doi.org/10.21435/sflit.14.

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Published/Copyright: October 30, 2024
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Rezensierte Publikation:

Genetic Criticism in Motion. New Perspectives on Manuscript Studies. Hrsg. von Sakari Katajamäki und Veijo Pulkkinen, Associate Editor: Tommi Dunderlin. Helsinki: Finnish Literature Society, SKS 2023 ( Studia Fennica. Litteraria. 14 ), 183 S., auch digital im ‘open access’ zugänglich: https://doi.org/10.21435/sflit.14.


Im letzten Band von editio erschien eine Rezension von Mathias Grüne zu Dirk Van Hulles grundlegender Einführung in den derzeitigen Stand der genetischen Textkritik Genetic Criticism. Tracing Creativity in Literature.[1] Passgenau lässt sich daran eine Besprechung des 2023 in Finnland erschienenen Sammelbands Genetic Criticism in Motion anschließen. Auch hier wird aus der französischen Wissenschaftstradition heraus die ‹critique génétique› als eigenständiges Forschungsgebiet präsentiert, auch hier wird die Textgenese im größeren Kontext kreativer Prozesse gesehen. Dieser Ansatz könnte – Grünes Argumentation folgend – die Chance einer neuen Wahrnehmung der Textgenetik in der germanistischen Literaturwissenschaft bedeuten, die das Studium der Textgenese vorrangig als Teil der Editionspraxis sieht.

Genetic Criticism in Motion geht zurück auf die Gründungskonferenz des inzwischen erfolgreich etablierten Konferenzformats Genesis, das international und interdisziplinär ausgerichtet ist, aber – schaut man auf die Liste der Teilnehmerinnen und Teilnehmer – im deutschsprachigen Raum bislang wenig wahrgenommen wurde. Das Format wendet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an Literatur, Theater, Musik, Bildender Kunst und weiteren Disziplinen interessiert sind, in denen der kreative Prozess von zentraler Bedeutung ist. Die erste Tagung wurde federführend von der Finnischen Literaturgesellschaft (SKS) und dem französischen Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM) 2017 in Helsinki durchgeführt.[2]

Die Herausgeber des Bandes, Sakari Katajamäki und Veijo Pulkkinen, sind Dozenten an der Universität von Helsinki. Katajamäki ist darüber hinaus Geschäftsführer der Abteilung ‘Edith – Critical Editions of Finish Literature’ in der Finnischen Literaturgesellschaft (SKS). Beide waren Mitglied des Organisationskomitees der Helsinkier Konferenz, und Katajamäki kommt seither eine wichtige Rolle im Hintergrund der Konferenzreihe zu. Das Logo – die Randnotiz sei erlaubt – hat Pulkkinen entworfen; es zeigt einen schwarzen Handabdruck als Papier-Riss auf blauem Grund. Die Publikation versteht sich nicht als Tagungsband. Sie ist als eigenständige Sammlung konzipiert, auch wenn die Beiträge überwiegend auf die in Helsinki gehaltenen Vorträge zurückgehen. Das umfassende Konzept zeigt sich in der Strukturierung des Bandes in vier Themenschwerpunkte: ‚Schreibtechnologien‘, ‚Digitalität und genetische Kritik‘, ‚Entwürfe lesen‘ sowie ‚Multimodalität‘. Jedem Schwerpunkt sind zwei Aufsätze zugeordnet.

In der Einführung würdigen die Herausgeber die aus Deutschland stammende Romanistin und Germanistin Almuth Grésillon; als “pioneer genetic scholar” (S. 7) ist sie – neben Louis Hay – die maßgebliche Theoretikerin der ‹critique génétique›. Von 1986 bis 1994 war sie in der Nachfolge von Louis Hay Direktorin des ITEM. Katajamäki und Pulkkinen greifen einen 2001 in der amerikanischen Zeitschrift L’Esprit Créateur erschienen Beitrag Grésillons auf, in dem sie nach zwanzig Jahren Forschungsarbeit die Frage nach der Zukunft der ‹critique génétique› im neuen Millennium, und das heißt: im Kontext der digitalen Medien, stellt.[3] Weitere zwanzig Jahre später können die Herausgeber das Resümee ziehen, dass die Praxis der ‹critique génétique› durchaus überlebt hat und in Bewegung geraten ist; wie Frankensteins Monster sei die genetische Kritik ein “beast” (S. 7), ein wildes Tier, geworden, das nicht länger festgehalten oder kontrolliert werden könne. Dieses im wissenschaftlichen Diskurs höchst ungewöhnliche Bild mildern die Herausgeber mit einem weiteren Vergleich ab: “or to use a more positive analogoy, it is like a child flying the nest and starting an independent life” (ebd.). Die ‹critique génétique›, so umreißen Katamajäki und Pulkkinen die heutige Situation, sei über die institutionelle Bindung an das ITEM in Paris und über die französische Sprache hinaus an vielen Orten und in vielen Sprachen verbreitet, offen für weitere Theorieansätze und nicht-literarische Disziplinen. Auch der mediale Wandel habe nicht das Ende der textgenetischen Forschung bedeutet, wie Anfang des 21. Jahrhunderts noch befürchtet, im Gegenteil: Durch die Digitalisierung seien neue Forschungsmöglichkeiten und Forschungsgegenstände entstanden.

Dieser Aufbruchssituation trägt das Konzept der Genesis-Konferenzen Rechnung. Der Forschungsansatz ist weit gefasst und spiegelt sich in der programmatischen Formulierung des Leitthemas der ersten Konferenz Creative Processes and Archives in Arts and Humanities. Die Verschiebung des Schwerpunkts von den Schreibprozessen auf die ‚kreativen Prozesse‘ signalisiert auch der Untertitel in Van Hulles oben genanntem Buch: Tracing Creativity in Literature.[4] Van Hulle befasst sich mit Literatur, stellt aber explizit die Beschäftigung mit der Genese von Texten in den Kontext kreativer Prozesse, deren Untersuchung auch anderen Gegenständen gelten kann. Die Öffnung der genetischen Kritik für weitere Forschungsbereiche zeichnet sich schon länger international ab, auch in den Tagungen und Publikationen der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, die schon lange neben der Philosophie die Musik- und Filmwissenschaft in ihr Programm integriert hat.[5]

Die für den Band ausgewählten Beiträgerinnen und Beiträger aus Finnland, Frankreich, Großbritannien und Polen haben die Möglichkeit genutzt, in diesem Gründungsdokument ein Thema aus ihren Forschungsgebieten vertiefend darzustellen, auch auf der Basis bereits veröffentlichter Texte. Das Themenspektrum ist breit. In der Rubrik “Writing Technologies” geht es um die Begründung einer modernen Paläografie (Wim Van Mierlo) und ein Plädoyer für das bislang in textgenetischen Studien wenig wertgeschätzte Typoskript (Veijo Pulkkinen). In der Rubrik “Digitality and Genetic Criticism” werden Möglichkeiten der Anwendung des Begriffs ‘version’ in der Untersuchung digital entstandener Literatur aufgezeigt (Dirk Van Hulle) und Einblicke in Prinzipien der digitalen genetischen Nietzsche-Edition gegeben (Paolo D’Iorio).[6] Die Rubrik “Draft Reading” befasst sich mit dem Status genetischer Varianten bei nicht abgeschlossenen Werken (Mateusz Antoniuk) und präsentiert eine Fallstudie zur Genese einer kollaborativ entstandenen Übersetzung (Julia Holter). Unter dem Stichwort ‘Multimodality’ geht es in der vierten Rubrik um die Genese eines illustrierten Kinderbuchs (Claire Doucet und Solène Audebert-Poulet) sowie die Referenz auf Folklore und mündlich überlieferte Dichtung in Gedichtentwürfen (Hanna Karhu). Mit Ausnahme von Friedrich Nietzsche beziehen sich Textbeispiele und Fallstudien weitgehend auf Autorinnen und Autoren sowie Übersetzungen aus dem Sprachraum der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Leserinnen und Leser gewinnen so Einblick auch in Literatur, mit der sie nicht vertraut sind, was den Reiz der internationalen Konferenzen und dieses Sammelbands ausmacht. Er ist mit knapp 200 Seiten überschaubar, das Sachregister ist dennoch hilfreich und bietet – von “abbreviation” bis “XML” – eine interessante Übersicht der verwendeten Fachtermini aus Rhetorik, Stilistik, Typografie, Literatur- und Editionswissenschaft, Literaturtheorie sowie Textgenese und Textkritik. Die Lektüre der auch online verfügbaren Publikation empfiehlt sich zum Einstieg in den aktuellen internationalen Diskurs der genetischen Textkritik.

Online erschienen: 2024-10-30
Erschienen im Druck: 2024-11-26

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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Downloaded on 31.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/editio-2024-0017/html
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