Das Europäische Denkmalschutzjahr von 1975 liegt 50 Jahre zurück. Da lohnt es sich zu überlegen, was sich in diesem halben Jahrhundert in der Denkmalpflege verändert hat. Die auffälligste Veränderung ist wohl die deutliche Professionalisierung sowohl, was die Methoden, die Techniken und die Konzepte als auch, was die Ausbildung der Fachleute anbelangt. Dieser Aufsatz will einer viel verborgeneren Veränderung nachgehen, deren Auswirkungen vermutlich einschneidender sind, als ihre geringe Beachtung vermuten ließe. Hier soll der These nachgegangen werden, dass sich in diesen 50 Jahren der Niedergang des Bildungsbürgertums, obwohl schon vorher einsetzend, für die Denkmalpflegeanliegen mehr und mehr bemerkbar machte. Hatte sich der Schutz der Denkmale um 1975 in Politik, Kirche und Gesellschaft noch immer und wie selbstverständlich auf bildungsbürgerliche Kreise stützen und verlassen können, wurden diese Kreise gegen Ende des Jahrtausends immer älter und erlebten kaum mehr Verjüngung. Dass es sich dabei um ein gesamteuropäisches Phänomen handelt, zeigt die Konvention von Faro, die, so auch eine hier vertretene These, 2005 mit der Erfindung einer »Teilhabe am Kulturerbe« die Lücke zu schließen versuchte, die das langsam aussterbende Bildungsbürgertum hinterlassen hatte. Es fragt sich, ob dieser Ersatz gelungen und gleichwertig ist.
Zum Niedergang des Bildungsbürgertums
Interessanterweise ist eine Literatursuche nach dem »Niedergang des Bildungsbürgertums« deutlich weniger erfolgreich als die Suche nach der »Auflösung des Bildungskanons«. Darin zeigt sich womöglich bereits, dass beim Bildungsbürgertum weniger ein Niedergang als vielmehr eine grundsätzliche Veränderung, wohingegen beim tradierten Bildungskanon zweifelsfrei eine Auflösung stattgefunden hat.
Dietrich Schwanitz lässt den Lektürekanon der gymnasialen Ausbildung 1968 enden, begründet seine Entscheidung allerdings nicht.[1] Manfred Fuhrmann setzt den Niedergang des Bildungskanons in seinem Buch Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters früher an: »Fest steht, dass die Epoche, die den bürgerlichen Kanon hervorgebracht, erweitert und in unangefochtener Geltung von Generation zu Generation weitergegeben hat, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Ende gegangen ist; sie wurde durch das Zeitalter der Massen abgelöst.«[2] Er relativiert allerdings die frühe Datierung, indem er weiter unten schreibt, dass der Übergang vom bürgerlichen Kanon zu etwas Neuem generationenweise erfolgt sei, indem der alte Kanon bei der noch bildungsbürgerlich aufgewachsenen Generation bis zum Tod weiter tradiert worden sei.[3] In seinem späteren Buch Bildung. Europas kulturelle Identität setzt Fuhrmann die Auflösung des Bildungsbürgertums für Deutschland später und vor allem exakter an: Hier nennt er bildungskritische Bücher um 1965 sowie den Strukturplan für das Bildungswesen von 1970 und den Bildungsgesamtplan von 1973 als Endpunkte.[4] Beide Autoren sind sich also sowohl über den Niedergang einig als auch in der Ursache, die sie in einem bildungskritischen Diskurs rund um das antibürgerliche Revolutionsjahr 1968 ausmachen. Interessant ist, dass alle drei Bücher zeitlich sehr nahe um die Jahrtausendwende publiziert wurden, womit deutlich wird, dass die beobachtete Auflösung des Bildungskanons rund eine Generation später offensichtlich geworden ist.
Das Bildungsbürgertum und die Denkmalpflege
Auf den ersten Blick scheint es kaum einen Zusammenhang zwischen dem bürgerlichen Bildungskanon und der Denkmalpflege zu geben, zählt man doch Kenntnisse in Architekturgeschichte oder gar in Denkmalkunde üblicherweise nicht zum Bildungskanon. In Schwanitz’ Buch Bildung. Alles was man wissen muss von 1999 kommen zwar die Baustile im Kapitel III »Geschichte der Kunst« immer wieder vor. Allerdings ist zu beobachten, dass in der chronologischen Darstellung der Kunst vom Mittelalter bis in die Gegenwart der Architekturteil immer kürzer wird, um dann nach der Darstellung des Barock ganz zu verschwinden. In dem von Fuhrmann beschriebenen Bildungskanon spielen Architektur und Denkmalpflege gar keine Rolle. Interessant wird es aber in seinem Kapitel über die Bedeutung der Geschichte innerhalb des Kanons. Dieses beginnt mit der Feststellung, dass das Bewusstsein der Geschichtlichkeit der menschlichen Kultur das bürgerliche Zeitalter augenfälliger und nachhaltiger geprägt habe als jede andere Instanz.[5] Lesen wir im Kapitel weiter, finden wir folgende Stelle: »Denn die Nation, das Volk wurde nunmehr, im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleonischen Kriege, zum zweiten Kristallisationspunkt der historiographischen Bemühungen und überhaupt aller Beschäftigung mit Geschichte: Die nationale Identität, das Wesen der Nation, abgeleitet aus der gesamten Vergangenheit, avancierte zum wichtigsten Ziel; die Erinnerung an gemeinsame Schicksale sollte der Übereinstimmung im Fühlen, Denken und Handeln für Gegenwart und Zukunft förderlich sein.«[6] Aus diesen Sätzen wird indirekt klar, weshalb im frühen 19. Jahrhundert die Denkmalpflege erfunden und als wichtiges Anliegen der Selbstdefinition in den noch jungen Nationalstaaten installiert worden ist. Klar wird auch der immer wieder zitierte Satz des Denkmalpflegetheoretikers Georg Dehio, wonach wir Denkmale deshalb konservieren, weil sie ein Stück des nationalen Daseins seien.[7] Die Erhaltung und Pflege der historisch bedeutenden Bauwerke als Erinnerungsstücke der nationalen Herkunft ist damit als wichtiges bildungsbürgerliches Anliegen erkannt, auch wenn Kenntnisse über die Entwicklungsgeschichte der Architektur nur am Rand zum Bildungskanon gehörten. Daraus kann abgeleitet werden, dass die Denkmalpflege in der Zeit, als das Bildungsbürgertum noch gesellschaftlich relevant war, durch dieses eine starke Rückendeckung erfahren haben muss.
Da die wichtigste Rekrutierungsstätte des Bildungsbürgertums nebst der Familie das humanistische Gymnasium war, umfasste es nicht nur spezifische Berufsgruppen, sondern alle akademischen Berufe der Juristerei, der Medizin, der Theologie, der Natur- und selbstverständlich der Geisteswissenschaften. Durch die Selbstverständlichkeit, mit der sich Bildungsbürgerinnen und Bildungsbürger in der Öffentlichkeit engagierten, erlangten sie in öffentlichen Ämtern und bei politischen Mandaten einen sehr großen Einfluss und dürften also auch den Denkmalpflegenden eine wichtige Stütze gewesen sein.

Bern, Hirschengraben, Brunnen, 1912–1923, Aufnahme 2025. Dieses Monument wurde im Andenken an den Schriftsteller, Förderer und Literaturkritiker Joseph Viktor Widmann (1842–1911) errichtet. Der in Brünn geborene und in Liestal und Basel aufgewachsene Feuilleton-Redakteur war ein zu seiner Zeit hoch geschätzter Bildungsbürger. Heute ist er nahezu vollständig vergessen und nur noch wenigen Menschen in Bern bekannt.
Das Bildungsbürgertum im Denkmaljahr 1975
Wie sehr das Bildungsbürgertum 1975 das europäische Denkmalschutzjahr noch geprägt hat, lässt sich nur schwer eruieren. Vermutlich kann nur indirekt darauf geschlossen werden. Im Rahmen dieses Aufsatzes sollen nur zwei Zahlen den Niedergang des Bildungsbürgertums illustrieren. Die Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, die sich sehr intensiv am Denkmalschutzjahr beteiligte, darf von ihrer Gründung im ausgehenden 19. Jahrhundert her sicherlich als bildungsbürgerliche Institution gelten. 1975 begrüßte sie im ersten Heft ihrer Zeitschrift das zehntausendste Mitglied.[8] Heute scheinen die Verantwortlichen die Mitgliederzahl tunlichst zu verschweigen. Die Mediadaten ihrer Zeitschrift k+a nennen 3.700 verkaufte Exemplare pro Jahr. In dieser Zahl enthalten sind sowohl alle Mitglieder als auch andere Abonnenten.[9] Im gleichen Zeitraum, in dem die Mitgliederzahl um zwei Drittel schrumpfte, ist die Schweizer Bevölkerung von 6,3 auf 9 Millionen Einwohner angestiegen.
Nach dem Bildungsbürgertum
Im Kapitel »die Demontage des Bildungskanons und sein Aufgehen im Hochkulturschema« liefert Manfred Fuhrmann die für unseren Zusammenhang passenden Erklärungen für das, was nach dem Ende des Bildungsbürgertums mit den klassischen Bildungsinhalten geschehen ist.[10] Er stützt sich dabei auf den Soziologen Gerhard Schulze und dessen Begriff der »Erlebnisgesellschaft«.[11] In der »Erlebnisgesellschaft« gebe es auch weiterhin Personen, die sich für dieselben Inhalte und Veranstaltungen interessierten wie zuvor die bildungsbürgerlichen Kreise. Die Gruppe des »Hochkulturschemas« sei sogar zahlreicher als ehemals das Bildungsbürgertum: »Einst waren es wenige, die sich den ganzen Kanon gründlich zu eigen gemacht hatten; jetzt sind es viele, die sich mehr oder weniger oberflächlich auf einen Teil davon einlassen.«[12] Abgeschafft seien also nicht primär die tradierten Bildungsinhalte, sondern der Gesamtzusammenhang des Kanons. Das heißt aber nichts anderes, als dass beispielweise Personen, die sich für die Oper interessieren, mit Kunstausstellungen womöglich nichts anfangen können, oder andere, die Klassiker lesen, womöglich keine klassischen Konzerte besuchen. Diese Interessensverschiebung nicht weg von tradierten Bildungsinhalten, sondern weg vom Gesamtpaket des Bildungskanons erklärt wohl auch die eingangs erwähnten unterschiedlichen Trefferquoten bei der Literatursuche mit den Stichworten »Niedergang des Bildungsbürgertums« oder »Auflösung des Bildungskanons«.
Die Auflösung des einst verbindlichen Bildungskanons bedeutet nun allerdings für das Anliegen der Denkmalpflege, dass Kulturinteressierte nicht mehr zwingend hinter den denkmalpflegerischen Konservierungsbemühungen stehen. Wer ein Kunstmuseum besucht, ins Theater geht oder Klassiker liest, hat nicht zwingend ein Verständnis für die Anliegen der Denkmalpflege. Die Denkmalämter müssen sich wie alle anderen Kulturinstitutionen um »ihr« Publikum, um »ihre Fangemeinde« bemühen und sie umwerben.
Was hat der Niedergang des Bildungsbürgertums mit der Konvention von Faro zu tun?
Die Literatur über die Entstehung der Konvention erwähnt den Niedergang des Bildungsbürgertums nicht. Vielmehr ist von einem neuen Verständnis des Kulturerbes, von Erfahrungen aus dem Balkankrieg und von der Globalisierung die Rede.[13] Das neue Verständnis des Kulturerbes sei kein elitäres mehr, sondern ein demokratisch-egalitäres. Es wolle allen Menschen, ob gebildet oder nicht, eine Teilhabe am Kulturerbe ermöglichen. Diese Formulierungen deuten stark darauf hin, dass hier nicht mehr bildungsbürgerliche Kreise, die sich immer als Elite verstanden haben, angesprochen werden sollen, sondern vielmehr die oben erwähnte Gruppe des »Hochkulturschemas«. Das Neue am neuen Kulturverständnis ist also nichts anderes als eine Anpassung in der Adressierung der Denkmalpflege: nicht mehr an ein Bildungsbürgertum, das um 2005 bereits weitgehend verschwunden war, sondern an die Menschen der neuen »Erlebnisgesellschaft«. Mit einer Auswechslung der Adressierung ist allerdings wenig geleistet, denn die Menschen, die keinen Bildungskanon mehr akzeptieren, interessieren sich nur für Kulturinhalte, die sie ansprechen. Es reicht also nicht aus, diesen Menschen eine Teilhabe am Kulturerbe zu versprechen, vielmehr muss ihnen diese auch anempfohlen werden. Die Konvention von Faro geht auf die Frage, ob die Menschen die angebotene Teilhabe auch tatsächlich in Anspruch nehmen wollen, kaum ein und spricht einzig davon, dass sie zu dieser Teilhabe »ermutigt« werden sollen. Die Frage scheint aber indirekt auf, wenn etwa in einem Buch über die Konvention geschrieben steht, dass eine der Gefahren für das Kulturerbe neben anderen auch das Vergessen sei.[14] Diese Bedrohung durch das Vergessen deutet darauf hin, dass die Motivation für eine Teilhabe am Kulturerbe nicht mehr von den Menschen selbst kommt, sondern herbeigeführt werden muss. Die neue Gesellschaftsschicht, die sich für kulturelle Inhalte interessiert, steht also nicht bedingungslos hinter den Schutzanliegen der Denkmalpflege wie einst das Bildungsbürgertum, sondern will umworben und dazu motiviert werden. Für die Denkmalpflegenden heißt das nun, dass sie sich in der Gesellschaft viel stärker Gehör verschaffen müssen als noch vor Jahrzehnten. Eine durch einen verbindlichen Bildungskanon gesicherte Rückendeckung gibt es nicht mehr, die Menschen erwarten, dass sie immer wieder neu zum Schutz ihrer Kulturgüter »ermutigt« werden.
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Abbildungsnachweis:
Dieter Schnell, Bern.
© 2025 Dieter Schnell, published by De Gruyter
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