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Unendliche Erhaltung

Authentizität und Originalität reproduzierbarer Materialien am Beispiel von Ludwig Leos Umlauftank 2
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Veröffentlicht/Copyright: 1. Mai 2025
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Nach der Charta von Venedig 1964, der Gründung von ICOMOS 1965 und anderen denkmalpflegerischen Bemühungen der Nachkriegszeit war das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 ein vorläufiger Kulminationspunkt der Aufwertung baukulturellen Erbes.[1] Seitdem wurden immer jüngere Bauten unter Schutz gestellt.[2] Gleichzeitig verlangsamte sich der architekturtheoretische Diskurs ab den 1970er Jahren.[3] Genau in diese Zeit hinein baute der Berliner Architekt Ludwig Leo (1924–2012) seinen ikonischen Umlauftank 2 (UT2, 1967–1974) an der Straße des 17. Juni in Westberlin, der bereits 21 Jahre nach seiner Errichtung unter Denkmalschutz gestellt wurde. Der UT2 ist mit seinen kurzlebigen, industriellen Baustoffen nicht für die Ewigkeit konzipiert, muss als Denkmal nun aber mit aller Sorgfalt erhalten werden. Was heißt eine solche, bei jungen Denkmalen nicht untypische Ausgangslage für Denkmaltheorie und -praxis?

Enigmatische Symbolik

Als rosa Röhre mit blauem Block zieht der UT2 am Zugfenster zwischen Bahnhof Zoo und S-Bahnhof Tiergarten vorüber. Auf dieser Strecke verkehren alle zwei bis drei Minuten Personenzüge mit bestem Blick auf den UT2. Obwohl das intensive Blau schon seit Langem zu Grau verblasst war und sich rostige Streifen in das leuchtende Rosa gefressen hatten, hat der UT2 nie seine enigmatischen Qualitäten verloren. In der ringförmigen Röhre können Modelle von Schiffsrümpfen, Propellern und anderen Objekten in einem konstanten Wasserstrom getestet werden. Der blaue Block auf der Röhre ist das Laborgebäude, in dem die Versuche durchgeführt werden. Ursprünglich entwickelte der Schiffbauingenieur Christian Boës (* 1931) den UT2 für die Versuchsanstalt für Wasserbau und Schiffbau (VWS) bereits in den 1960er Jahren. Als die Westberliner Baubehörde die Planung des Gebäudes an Ludwig Leo übertrug, waren die technischen Parameter des UT2 bereits festgelegt.[4] Im Dialog mit Boës und den Forscher*innen der VWS änderte Leo einige wesentliche Aspekte. Er erhöhte das Gebäude und machte es im Stadtraum deutlicher sichtbar. Außerdem integrierte er ein Wasserreservoir im Fundament, das vorne dem Bug und hinten dem Achterkastell eines Schiffes ähnelt (Abb. 1). Auch an anderen Stellen machte Leo die Funktionen des Gebäudes von außen mal ironisch, mal spielerisch sichtbar, ohne sie allerdings unmittelbar zu entschlüsseln. Das zentrale Element des UT2, die Röhre, ist mit rosa angestrichenem Polyurethan-schaum (PU) verkleidet. Das blaue, monolithische Laborgebäude auf der Röhre unterstreicht den rätselhaften Charakter des gesamten Arrangements (Abb. 2).

1 Der UT2 kurz nach Fertigstellung im Jahr 1974
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Der UT2 kurz nach Fertigstellung im Jahr 1974

2 Der UT2 neben einer der älteren Schlepprinnen auf der Schleuseninsel, 2018
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Der UT2 neben einer der älteren Schlepprinnen auf der Schleuseninsel, 2018

In der Mitte des Labors öffnet sich im Inneren ein Luftraum, um den herum drei Etagen wie Decks auf einem Schiff mit bester Sicht auf das Testareal angeordnet sind (Abb. 3). Der gesamte Gestaltungsansatz ist typisch für Leos Denken, das immer auf der Suche nach experimentellen, Arbeit und Leben verändernden Verbindungen zwischen Form und Funktion war.[5] Leos Ziel könnte man damit beschreiben, Funktionalität, Wissenschaft und Gestaltung im UT2 in einen organischen Zusammenhang zu bringen.[6] Was den UT2 allerdings auch aus Leos eigenem Werk heraushebt, ist die konsequente Nutzung billiger, industriell und in Masse gefertigter Materialien. Das Laborgebäude ist mit Blechpaneelen verkleidet, die in Form und Farbe standardisiert vom Band laufen und beim Bau von Lagerhallen und anderen, oft anonymen Architekturen eingesetzt werden. Der PU-Schaum auf der Röhre ist ein Material, das normalerweise als Lückenfüller und Isolierung unsichtbar bleibt. Als Außenverkleidung sieht man dieses anarchische, sich selbst ausdehnende Material selten. Wahrscheinlich gibt es kein anderes denkmalgeschütztes Gebäude auf der Welt, das PU-Schaum in so großen Mengen so sichtbar macht. Budgetäre Gründe waren für diese Materialwahl sicherlich wichtig. Die Art und Weise, wie diese Materialien eingesetzt wurden, verraten aber eine spielerische Leichtigkeit, die sich für finanzielle Erwägungen nicht übermäßig interessiert.

3 Berlin, UT2, Ebenen im Inneren mit Blick auf die geöffnete Röhre, 2019
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Berlin, UT2, Ebenen im Inneren mit Blick auf die geöffnete Röhre, 2019

Reproduzierbare Authentizität

Kostendruck und Digitalisierung führten dazu, dass der UT2 trotz Unterschutzstellung 1995 weiter verfiel. Architekten wie Norman Foster und Peter Cook setzten sich zwar (fach-)öffentlichkeitswirksam für den UT2 ein. Die TU Berlin, die den UT2 mittlerweile betrieb, beschloss dennoch, die denkmalgeschützte Einrichtung nicht weiter zu nutzen.[7] Ab etwa 2010 wurden im UT2 keine Experimente mehr durchgeführt. Auch seine technischen Anlagen waren nun reparaturbedürftig. Die Wüstenrot Stiftung veranlasste 2012 eine Machbarkeitsstudie, die Grundlage für die ebenfalls von der Stiftung finanzierte Instandsetzung war, die 2017 abgeschlossen war.[8]

Die mit der Durchführung der Instandsetzung beauftragten Architekten legten an den UT2 dieselben Maßstäbe wie an jedes andere Denkmal.[9] Dieser Ansatz führte zu einer sorgfältigen Bestandsaufnahme. Die blaue Pulverbeschichtung der Blechverkleidung war an den meisten Stellen vollständig abgeblättert und gab den Blick auf den nackten, verzinkten Stahl frei. An vielen Stellen war auch die Verzinkung dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Das Metall der Paneele rostete und bröckelte teilweise ab (Abb. 4). An einigen Stellen waren die Paneele dilettantisch ausgebessert. Statt des monolithischen Erscheinungsbilds der blauen Box von einst zeigte sich ein Sammelsurium unterschiedlicher Fassadenfarben und -strukturen. Auch das Rosa der Schaumverkleidung der Röhre war verblasst. Da Vögel Struktur und Klang des PU-Schaums mit Totholz verwechseln, war er mit Löchern übersät, aus denen bereits kleine Birken wuchsen. Einige dieser Löcher waren behelfsmäßig mit Mörtel statt PU-Schaum ausgebessert und mit unterschiedlichen Farbtönen überstrichen worden.

4 Berlin, UT2, verwitterte und gerostete Fassadenpaneele, 2012
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Berlin, UT2, verwitterte und gerostete Fassadenpaneele, 2012

Erst nach dem Bau des Gerüsts konnte man den Zustand sowohl des Schaums als auch der Paneele genauer einschätzen. Bei den Fassadenpaneelen stellte sich heraus, dass sie auch auf der Seite zur Füllung hin rosteten, wodurch sich das Metall vom PU-Schaum in der Mitte der Paneele löste (Abb. 5). Dies war auch an Stellen der Fall, an denen der Rost von außen nicht sichtbar war. Eine Inaugenscheinnahme allein war also nicht ausreichend. Die gesamte, etwa tausend Quadratmeter große Fassade des Laborgebäudes wurde deshalb mit einem münzgroßen Sensor untersucht, um über die elektrische Leitfähigkeit des Metalls Rückschlüsse auf den inneren Rostbefall zu ziehen. Da auch diese Methode keine belastbaren Ergebnisse erzielte,[10] wurde die Fassade komplett demontiert. Der ursprüngliche Hersteller produzierte die Paneele noch im gleichen Farbton – nur mit einer veränderten rückseitigen Struktur und ohne Verschraubung auf der Vorderseite. Diese fast identischen, neuen Paneele frisch aus der Fabrik ersetzten die alten (Abb. 6). Die fehlende Verschraubung auf der Vorderseite wurde nachgerüstet. Nur an den Stellen der Fassade, die vor Sonneneinstrahlung und Regen geschützt waren, wurden die bauzeitlichen Paneele beibehalten.

5 Berlin, UT2, Roststellen auf der Innenseite der Sandwichpaneele lösen das Blech vom inneren PU-Kern ab, 2016
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Berlin, UT2, Roststellen auf der Innenseite der Sandwichpaneele lösen das Blech vom inneren PU-Kern ab, 2016

6 Berlin, UT2, Montage der fast identischen, neuen Paneele mit eigens nachgerüsteter Verschraubung, 2017
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Berlin, UT2, Montage der fast identischen, neuen Paneele mit eigens nachgerüsteter Verschraubung, 2017

Nach diesem Vorgehen hätte ein kompletter Austausch des PU-Schaums nahe gelegen, zumal sich heutiger PU-Schaum kaum vom bauzeitlichen PU-Schaum unterscheiden dürfte. Nach der Untersuchung jedes Quadratzentimeters Schaum wurde er jedoch nur dort repariert, wo es durch Löcher oder Mörtelausbesserungen unbedingt nötig war. Beschädigte Schaumstellen wurden klassisch durch Vierung ausgeschnitten (Abb. 7) und mit neuem PU-Schaum aufgefüllt (Abb. 8). Der neue Schaum dehnte sich hinter den alten Schaum aus und verband sich wieder mit dem Stahl der Röhre. Diese klassische Sanierung sollte auch die handwerkliche Arbeitsweise des ersten, bauzeitlichen PU-Schaumauftrags für nachfolgende Generationen als bauhistorische Quelle konservieren.

7 Vierung des PU-Schaums der Röhre, 2015
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Vierung des PU-Schaums der Röhre, 2015

8 Auftrag des »neuen« PU-Schaums, 2015
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Auftrag des »neuen« PU-Schaums, 2015

Nach Abschluss der architektonischen Instandsetzung ist der UT2 aufgrund fehlender finanzieller Mittel der TU Berlin weiterhin nicht betriebsbereit, auch wenn die TU ihn gern für freiere wissenschaftliche Projekte nutzen würde.[11] Die rosa Farbe der Röhre verblasst wieder. Spechte hämmern fleißig neue Löcher in den Schaum. Die bald fällige nächste Sanierung kann sich zumindest auf die vorbildliche Dokumentation der von 2012 bis 2017 durchgeführten Instandsetzung stützen.

Originalität vom Fließband

Beim denkmalpflegerischen Umgang mit massenproduzierten, standardisierten Materialien ist es sinnvoll, die Begriffe der Authentizität und Originalität eindeutig zu definieren. Zwar wurde der Begriff der Authentizität durch die Charta von Venedig (1964) eingeführt, von den UNESCO-Richtlinien (1977) übernommen und durch das Nara Document on Authenticity (1994) weiter ausgeführt,[12] a ber nie klar definiert.[13] Vorteil dieser Offenheit ist, dass der Begriff auf unterschiedliche (historische/kulturelle) Kontexte anwendbar ist.[14] Etymologisch gesehen kann man ein Werk oder eine Handlung dann als authentisch bezeichnen, wenn eine direkte Beziehung zum Urheber dieses Werks oder dieser Handlung besteht.[15] Die seriell zu unterschiedlichen Zeiten identisch gefertigten Paneele als »authentisch« zu bezeichnen, ist problematisch. Leos Wahl dieses Baumaterials ist hingegen eindeutig authentisch.

Originalität im Sinne von echt, ursprünglich (lat. origo: Ursprung) sollte im Zusammenhang industriell produzierter Materialien eher durch bauzeitliche oder noch präziser »für den Bau dieses Gebäudes eingesetzte« Materialien ersetzt werden. Wenn man nach »originalen« Paneelen gesucht hätte, hätte man höchstwahrscheinlich bei anderen Gebäuden aus der gleichen Zeit Paneele aus derselben industriell gefertigten Charge finden können. In der Instandsetzung kamen neue Blechpaneele vom selben Hersteller zum Einsatz – fast identisch, doch eben nicht original. Weder Authentizität noch Originalität waren die Argumente, die zu dieser Entscheidung führten. Die Unmöglichkeit der einwandfreien Bestimmung ihres Zustands war ausschlaggebend. Die Entscheidung war pragmatisch – und dadurch erleichtert, dass die (fast identischen) Paneele immer noch produziert wurden.

Beim PU-Schaum ist die Problematik vergleichbar. Die Wahl des Materials und sein handwerklicher Auftrag sind sinnvoll als authentisch zu beschreiben. Das Material selbst kann es aufgrund seines industriellen Charakters kaum sein. Wenn es allein um originalen PU-Schaum gegangen wäre, hätte das Team das Rohr komplett mit neuem PU-Schaum auskleiden können, denn PU-Schaum mit den exakt gleichen Bestandteilen wie aus der Entstehungszeit des UT2 ist auch heute noch erhältlich bzw. könnte wieder so hergestellt werden. So wird im Einverständnis mit den Denkmalbehörden teils auch bei Betonsanierungen vorgegangen.[16] Nach der denkmalpflegerischen Maxime, so viel vorhandene Substanz wie möglich zu erhalten, wurden aber nur beschädigte Stellen ersetzt. Das lag auch an der Zielsetzung, die Art des handwerklichen Auftrags des PU-Schaums aus der Entstehungszeit als historische Quelle zu erhalten. Allerdings ist PU-Schaum, auch wenn er saniert wird, nur sehr begrenzt haltbar. Eine solche Sanierung müsste also immer wieder ausgeführt werden, bis der bauzeitliche Schaum über kurz oder lang eben doch vollständig ersetzt ist. Thomas Hobbes’ in der Denkmalpflege oft zitiertes Paradox von Theseus’ Schiff [17] würde sich hier also bewahrheiten, ironischerweise für eine Anlage, die gebaut wurde, um Schiffe zu testen.

Neue Diskurse für junge Denkmale

Der UT2 zeigt erstens, dass es grundsätzlich möglich ist, klassische denkmalpflegerische Ansätze auf junge Denkmale anzuwenden. Zweitens zeigt das Projekt, dass die Grenze zwischen Rekonstruktion und Konservierung gerade bei der Behandlung von Materialien junger Denkmale leicht verschwimmen kann. Deshalb sollten bestimmte Begriffe und damit verbundene Haltungen und Handlungen hinterfragt und neu ausgelotet werden, um eine Denkmalpflege für Gebäude ohne Ewigkeitsanspruch möglich zu machen. Ansonsten kann es drittens leicht passieren, dass die Erhaltung junger Denkmale mit industriellen, kurzlebigen Baumaterialien zu einer bloßen Performanz bzw. einem Reenactment ihrer Erhaltung wird.

Die Instandsetzung junger Denkmale arbeitet meist außerhalb kanonisierten Wissens über bestimmte Zeiten, Bauweisen und Materialien. Sie muss deshalb offener und kritischer vorgehen, um diesen Mangel auszugleichen. Hinzu kommt, dass sich andere Interessen in Denkmaldebatten leichter durchsetzen können, wenn weniger Wissen vorhanden ist. Diese Form der »heritagization« ist in ihrem Einfluss auf die Denkmalpflege bislang kaum untersucht.[18] Der Denkmalpraxis sollten neue Wege eröffnet werden, um gerade bei jungen Denkmalen auf einem festeren Fundament zu stehen, Wege, »that are more creative, meticulous, political, interdisciplinary, and engaged«.[19] Dafür braucht sie eine disziplinäre Öffnung ihrer Begriffs- und Theoriebildung. Die Philosophie könnte beispielsweise dabei helfen, Begriffe zu definieren und sie im Hinblick auf historische und kulturelle Unterschiede zu reflektieren.[20] Die Soziologie ist ein guter Sparringspartner, wenn man verstehen möchte, warum ein Gebäude gebaut wurde, warum und wie es unter Schutz gestellt und instand gesetzt wurde, wie sich seine gesellschaftliche und wissenschaftliche Wahrnehmung über die Zeit verändert und wie kontingent Konzepte des kulturellen Erbes und des Denkmalschutzes sind.[21] Hier können auch Kulturwissenschaft und Ethnologie anschließen, wenn globale Vorstellungen von Schutzwürdigkeit oder regionalspezifische Unterschiede in der Konservierungspraxis eine Rolle spielen. Die Beschäftigung gerade mit jungen Denkmalen kann nur dann relevant bleiben, wenn sie sich stärker Disziplinen und gesellschaftlichen Diskursen gegenüber öffnet, die nicht allein architektur- und kunsthistorischer Prägung sind.

  1. Abbildungsnachweis:

    1: Archiv VWS, unbekannter Fotograf. — 2: Dreas/CC BY-SA 4.0. — 3: Pablo von Frankenberg, Berlin. — 48: Steffen Obermann, Berlin.

Published Online: 2025-05-01
Published in Print: 2025-05-26

© 2025 Pablo von Frankenberg, published by De Gruyter

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