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Ein Bibliotheksgesetz für Nordrhein-Westfalen. Bibliothekspolitischer Mythos, bibliothekspolitische Utopie oder realistische Perspektive?

  • Harald Pilzer

    Harald Pilzer M.A.

    Stadtbibliothek, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, Neumarkt 1, 33602 Bielefeld

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Veröffentlicht/Copyright: 1. Dezember 2016
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Zusammenfassung

Das Land Nordrhein-Westfalen begeht 2016 seinen 70. Geburtstag. 1946 aus den ehemaligen preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen hervorgegangen und 1947 um das ehemals selbständige Land Lippe erweitert, war die Bibliotheksstruktur des neuen Bundeslandes von wenigen Hochschulbibliotheken und in den verstädterten Kernbereichen an Rhein und Ruhr von großen kommunalen Bibliotheken geprägt, jedoch ohne zentrale landesbibliothekarische Strukturen. Diese mussten erst aufgebaut und arbeitsfähig gestaltet werden.

Der Artikel verfolgt die Absicht, anlässlich der durch einen neuerlich vorgelegten Entwurf zu einem „Landesbibliotheksgesetz“ im März 2016 ausgelösten Diskussion nachzuspüren, auf welche Situation der Gesetzentwurf reagiert. Dazu muss in der gebotenen Kürze die historische Entwicklung der landesbibliothekarischen Strukturen resümiert und breiter die jüngere Debatte um ein allgemeines Bibliotheksgesetz ab 2008 beleuchtet werden, um anschließend die strukturelle und fachliche Berechtigung und Aussage des neuen Gesetzentwurfs bewerten zu können. Der Artikel beleuchtet die Fokus- und Akzentverschiebungen unterschiedlicher Entwürfe und Vorhaben aus knapp 70 Jahren bibliothekarischer Gesetzesdiskussion. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob nicht anhängige landesbibliothekarische Grundsatzentscheidungen nicht nur dilatorisch sondern nahezu peremptorisch behandelt wurden, so dass jetzt wieder vermeintlich längst bei Seite Gelegtes als Grundsatz- und Strukturfrage wieder auftaucht. Angemerkt sei noch, dass der Tätigkeit des Autors entsprechend der Blickwinkel aus dem Öffentlichen Bibliothekswesen überwiegt.

Abstract

In 2016, North Rhine-Westphalia celebrates its 70th birthday. When the state was made up of the former Prussian provinces Rhineland and Westphalia in 1946 and joined by the formerly independent state of Lippe in 1947, the library structure of the new federal state was characterised by a few university libraries and large municipal libraries in the city areas on the Rhine and the Ruhr, but there were no central state library structures. These had to be built up and enabled to work.

The article intends to investigate to which situation the bill of a “state library law” reacts which was introduced again in March 2016 and caused a discussion. In order to do so, the historical development of the state library structures has to be summarised briefly whereas the more recent debate about a general library law as from 2008 is given more attention, followed by an assessment of the structural and professional legitimacy and content of the new bill. The article gives details about shifts in focus and emphasis in different bills and initiatives during almost 70 years of library law discussions. It focusses on the question whether pending state library rulings have not only been treated dilatorily but almost peremptorily so that matters that seemed to have been dealt with a long time ago, arise anew as basic and structural problems. Note: As the author works in the public library system, the article is primarily written from this point of view.

1 Bibliothekspolitische Utopie oder realistische Perspektive?

Vorbemerkung

Vermutlich hat Bibliothekspolitik im Kern nur zwei Anliegen: Zum einen in einer engen Auslegung des Begriffs Systemerhaltung zu betreiben und akzidentiell auf die kontingente Veränderung von Rahmen-und Marktbedingungen – wer z. B. kann schon die technische Entwicklung voraussehen – zu reagieren und für die technischen, materiellen und personellen Betriebsmittel beim jeweiligen Träger einzutreten und sich zum anderen für allgemein passable und gesetzlich sanktionierte Rahmenbedingungen zu engagieren. Im Falle der Bibliotheken ist seit der Einführung von Gemeinschaftsverfahren aus der Erkenntnis, dass die Buchproduktion und Titeldiversifikation ein einzelnes Institut überfordert, in einer Art Mentalitätswechsel spätestens seit den 1950er Jahren als neben dem Einzelinteresse dominanter Aspekt ein „Stufen-“ oder „Netzprinzip “ als dominantes Element aufgetaucht, das die zeitgenössische Planungs- und Gesetzesdiskussion in wesentlicher Weise prägte und die bekannten Stufenmodelle komplementärer Literaturversorgung evozierte. Zeitgenössische Formulierungen postulierten, dass eine Bibliothek ohne Bibliotheksnetz nicht denkbar sei. Heute ist der Zugang zu Informationen weniger von einem gestuften Modell von Bibliothekstypen unterschiedlicher Größe und Bestandsbreite abhängig als vielmehr von Lizenzen und der Qualität und Bandbereite der Datennetze. Ein Gesetz, so die ältere Erwartung, sollte beidem dienen – dem Erhalt der einzelnen Institution und zugleich der Netzstruktur. Hiervon setzen sich, wie wir sehen werden, die jüngsten Entwürfe deutlich ab. Man ist bescheidener geworden.

Hat das Reden über Bibliotheksgesetze nicht die doppelte Qualität sowohl eines bibliothekspolitischen Mythos als auch einer bibliothekspolitischen Utopie? In der Literaturwissenschaft verbinden sich mit dem Mythos vor allem Erzählungen über allgemeine Urerlebnisse oder Gegebenheiten, die nach Erklärungen suchen. Der Wunsch nach Vereinfachung und Erklärung statt nach differenzierender Komplexität mache einen Mythos aus.[1] Der politische Mythos sei, so aktuelle landläufige Definitionen „… eine intellektuelle und emotionale Erzählung über eine historische Person, einen politischen Sachverhalt oder ein politisches Ereignis mit einem kollektiven, sinn- und identitätsstiftenden Wirkungspotential.“[2] Er integriere über soziale und kulturelle Gräben hinweg und gelang zu fragloser Gültigkeit. Und ähnlich: „Charakteristisch für einen politischen Mythos ist, dass er sich durch komprimierte, mitreißende Bilder bzw. Erzählungen auszeichnet. Dies führt dazu, dass andere Sachverhalte von der mythischen Narration „übersehen“ bzw. vernachlässigt werden. Damit wird ein Ereignis, Sachverhalt oder die Leistung einer Person über Gebühr bewertet und glorifiziert.“[3] Unterstellt man also einem Mythos, er erkläre einen Sachverhalt simplifizierend, er werte ein Ereignis oder ein Thema über Gebühr auf, er berichte von zeitlich fernen Heldentaten und zudem erlaube er die „Sammlung unter einer Fahne“, so kann man auf die zahlreichen Anläufe in bibliothekarischen Gesetzes- und Planungsvorhaben verweisen, die „es hätten richten können“, und das „glänzende Scheitern“ ohne die Akteure diskreditieren zu wollen. Unterliegt man zudem einer bibliothekspolitischen Utopie, die wir hier kurzerhand als ideale Zukunftsordnung definieren,[4] wenn einem Bibliotheksgesetz eine umfassende Lösungsleistung unterstellt wird, die de facto sich eher in kleinen Schritten und en passant einstellt und im besten Fall einen status quo festschreibt und gerade keinen Zukunftsent- wurf?

2 Historische Einführung I

Würde man sich volkstümlich ausdrücken wollen, so könnte man sagen, die deutsche Diskussion um Bibliotheksgesetze „habe einen Bart“. Erste Maßstäbe und Anstöße vermittelte im 20. Jahrhundert der im Nachhinein epochale Artikel zur „Büchereigesetzgebung“, in dem Erwin Ackerknecht 1933 die Lösungen des europäischen Auslands referierte,[5] und wenn selbst unter totalitären Vorzeichen ein „Reichsbüchereigesetz“[6] nicht zustande kam , so sollten zumindest die 1937 erlassenen „Richtlinien für das Volksbüchereiwesen“ der Intention nach für eine Vereinheitlichung der Praxis der Öffentlichen Bibliotheken mit quasi Gesetzescharakter sorgen.[7] Immerhin waren diese nach 1945 anscheinend noch immer so präsent, dass der langjährige Direktor der Kölner Stadtbücherei Johannes Langfeldt 1952 auf der Jahrestagung des Verbandes der Bibliotheken des Landes Nordrhein-Westfalen dafür eintrat, diese wegen „Veraltung“ zu ersetzen.[8] Es möge dies für das Beharrungsvermögen auf einmal gefundenen organisatorischen Lösungen stehen ohne eine inhaltliche Kontinuität zu unterstellen und zum anderen auf die Bereitschaft, fachliche Themen in Richtlinien und gesetzlichen Vorgaben sanktioniert zu sehen, um damit Stabilität und Legitimation zu erzeugen. Bemerkenswerterweise existierte auch in der DDR kein aktuelles oder zeitgemäßes Bibliotheksgesetz: „In der DDR gibt es kein ‚Bibliotheksgesetz’. Die wichtigste Rechtsvorschrift in der Bibliotheksgesetzgebung ist die Bibliotheksverordnung – (BVO) – vom 31.Mai 1968 (Gbl. II 1968 S. 565)“, beschied das „Rechts-ABC für Bibliothekare“ seine Leserinnen und Leser.[9]

Am 22. Juli 2016 verabschiedete der Landtag von Schleswig-Holstein ein „Gesetz für die Bibliotheken in Schleswig-Holstein“.[10] Schleswig-Holstein ist damit nach Thüringen, Hessen, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz das fünfte Bundesland,[11] das ein Bibliotheksgesetz verabschiedet hat, was man wiederum als Fern- und Nachfolgewirkung der 2007 in der Kulturenquete des Deutschen Bundestages formulierten Empfehlung verstehen kann. Die Enquete hatte ihre Formulierung so gefasst: „Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern, Aufgaben und Finanzierung der öffentlichen Bibliotheken in Bibliotheksgesetzen zu regeln. Öffentliche Bibliotheken sollen keine freiwillige Aufgabe sein, sondern eine Pflichtaufgabe werden.“[12] Die weiteren Empfehlungen hinsichtlich länderübergreifender Bibliothekspläne, einer Bundesbibliotheksentwicklungsagentur oder eines nationalen Bestandserhaltungskonzepts[13] sind bekannt und benötigen hier in diesem Darstellungszusammenhang keiner weiteren Würdigung. Jedoch keines der jetzt vorliegenden Gesetze ist bislang dieser Anregung zur Pflichtigkeit von kommunalen öffentlichen Bibliotheken gefolgt. Mehr als den Status einer Anregung wird man dem Votum des Bundestages, das sich an die Länder als Gesetzgeber und zugleich als kommunalaufsichtliche Exekutivinstanz wendet, auch nicht zubilligen können, ist hier doch unmittelbar die in Artikel 28 Abs. 2 Grundgesetz garantierte kommunale Selbstverwaltung tangiert.[14]

Gelten also doch eher noch die Pappermannschen Erkenntnisse und Positionen aus den 1980er Jahren?[15] Die Kulturpolitik in der Bundesrepublik wäre, konstatierte Ernst Pappermann, „… in erster Linie Kommunalpolitik …“[16] , und bei dieser Gewichtung ist es auch geblieben, kann man heute hinzufügen.[17] Pappermann untersuchte unter dem Aspekt eines „kommunalen Kulturverfassungsrechtes“ die rechtlichen Grundlagen kommunaler Kulturarbeit. Über Analogieschlüsse zu elementaren und lebenswichtigen Bereichen wie der Wasserver- und entsorgung oder der Benennung gemeindlicher Straßen, die ohne spezialgesetzliche Regelungen von den Kommunen geleistet wurden, gelangte Pappermann zum Ergebnis, dass auch der Kulturpflege der Status einer „Selbstverwaltungspflichtaufgabe“ zukäme, wenn denn die communis opinio so sei, dass zu einem Gemeinwesen Theater, Bibliotheken und Museen gehörten, ohne dass hierbei die Selbstverwaltungsprärogative der Ausgestaltung dieses Angebotes in Frage gestellt sei. Soweit die inzwischen historische und sicherlich breit geteilte Auffassung über die Selbstverpflichtung der Kommunen zur Kulturarbeit, wenn auch die Formulierung Ernst Pappermanns eher eine kulturpolitische als eine juristisch belastbare Formulierung darstellt.[18]

3 Historische Einführung II

70 Jahre NRW – mindestens 68 Jahre Diskussion über ein Bibliotheksgesetz für Nordrhein-Westfalen

Das Thema des Bibliotheksgesetzes für Nordrhein-Westfalen ist nur unwesentlich jünger als das 1946 aus den ehemaligen beiden preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen begründete Bundesland; der dritte Landsteil, das ehemalige Land Lippe, wurde 1947 eingegliedert. Die Gründungsversammlung des Verbandes der Bibliotheken des Landes Nordrhein-Westfalen fand am 8. Oktober 1947 in Düsseldorf im Plenarsaal des Kultusministeriums statt und bereits auf der ersten ordentlichen Mitgliederversammlung am 17. März 1948 wurde auf Initiative des Kölner Stadtbüchereidirektors Johannes Langfeldt der Satzungsausschuss in einen Fachausschuss zur Vorbereitung eines Büchereigesetzes umgewandelt.[19] Grundlegende Überlegungen hierzu veröffentlichte er im Mitteilungsblatt des Verbandes im Frühjahr 1949[20] , als er vor dem Hintergrund eines gerade erlassenen Bibliotheksgesetzes für Sachsen für ein Büchereigesetz für die westdeutschen Länder oder das eigene Bundesland nicht als Gebots- sondern als Angebotsgesetz plädierte und somit für ein Fördergesetz, um die örtliche Initiative zu achten. Schließlich seien die Kommunen und weniger die Länder und Staaten bislang die Träger des Bibliotheksgedankens gewesen. Das Thema „Bücherei- oder Bibliotheksgesetz“ wurde wiederholt auf den ersten Jahresversammlungen des jungen Verbandes behandelt, dann aber doch auf Drängen des damaligen und langjährigen Vorsitzenden Prof. Josef Kroll aus Köln in den Hintergrund gedrängt und bis zur Mitte der 1960er Jahre eher untergründig als offen behandelt.[21] Es wird wieder virulent, als ab der Mitte der 1960er Jahre die ersten Gutachten und Planungspapiere zu den kommunalen Bibliotheken und zur Informationsversorgung im Lande erscheinen. So bezeichnete 1965 der damalige Leiter der Stadtbücherei Bielefeld, Hansjörg Süberkrüb, das „Gutachten der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung“[22] als „… so etwas wie ein städtisches Büchereigesetz“[23] .Der Autor ging sogar noch weiter. Eine derartige Standardsetzung stelle die Städte vor die „Kernfrage“, ob sie bereit seien, sich dergestalt für ein Büchereiwesen zu engagieren, oder ob sie diese Verantwortung dem Staat überlassen wollten.[24]

Das erste KGSt-Gutachten markierte den Beginn einer geradezu euphorischen und von großen Zukunftserwartungen begleiteten Großplanungsphase im Bibliothekswesen. Dabei spielen nicht nur fachliche Entwicklungskonzepte, wie der erste, 1969 vorgelegte Bibliotheksplan,[25] eine große Rolle, sondern auch die Erwartungen an regionale Konzepte wie einen nordrhein-westfälischen Landesentwicklungsplan, der nebenbei die Struktur- und Raumfragen der Informationsversorgung in Nordrhein-Westfalen lösen sollte[26] – was sich jedoch nicht einstellen wollte.[27] 1973 schließlich legte der Verband ein umfangreiches Planungspapier vor, was wiederum als Strukturplan und Zuarbeit für den nächsten Landesentwicklungsplan (1975–1980) gedacht war[28] und sich als Bibliotheksentwicklungsplan oder Gesetzesersatz lesen lässt. „Das Ringen um ein Bibliotheksgesetz“[29] zeitigte eine intensive Entwurfsarbeit in bibliothekarischen[30] und anderen Gremien, z. B. der kommunalen Spitzenverbände. Der vbnw veröffentlichte 1978 einen „Arbeitsentwurf. Gesetz zur Förderung des Öffentlichen Bibliothekswesens. Stand: 1.1.1976.“[31] Ambitioniert wie man war, unterbreitete dieses Papier eine Strukturvorschlag mit einem Netz aus unterschiedlichen, aufeinander abgestimmten Bibliotheks- und Größentypen ähnlich der Typologie aus den Bibliotheksplänen 1969 und 1973 und erlegte dem Land eine anteilige grundständige Finanzierung auf. Schlussendlich, d. h. um 1980 stand man jedoch mit leeren Händen da. Weder der nordrhein-westfälische Landtag noch der einflussreiche Städtetag waren dem Gedanken eines Bibliotheksgesetzes gefolgt. Der eine nicht, weil er nicht gegen den Städtetag oder die kommunalen Spitzenverbände votieren wollte, der andere nicht, weil ein verpflichtendes Gesetz zum einen nicht auf Zustimmung in der Mitgliedschaft stieß, zum anderen weil sich für Aufgaben diesen Zuschnitts die Formel von der „freiwilligen Pflichtaufgabe“ finden ließ.[32]

4 Historische Einführung III

„Braucht das Land Nordrhein-Westfalen eine neue Landesbibliothek?“ und andere landesweite Maßnahmen

Unter diesem Titel resümierte der damalige Direktor der Universitätsbibliothek Bonn, Hartwig Lohse, eine seit den 1960er Jahren geführte Debatte über die Wahrnehmung der landesbibliothekarischen Aufgaben in einem Bundesland, dem aus historischen Gründen eine genuine Landes- oder Staatsbibliothek fehlte.[33] Seit dem 19. Jahrhundert war das Pflichtexemplarrecht bei den Hochschulbibliotheken der Universitäten Bonn und Münster angesiedelt. Der sich aus der bibliothekarischen Regionalplanung der späten 1960er Jahre entwickelnde, durchaus komplizierte und von mehreren Richtungswechseln und Gutachten gekennzeichnete Verlauf von Debatte und Entscheidungsfindung umkreiste neben der prekären Standortfrage – hier musste es zu einer Verdichtung auf wenige Standorte kommen – zugleich das Thema einer landeseinheitlichen Nordrhein-Westfälischen Bibliographie, deren erster Band 1984 erschien. Ein weiteres Element der Debatte betraf eine zentrale Speichermöglichkeit für wenig häufig benutzte Literatur. Dem 1985 eingerichteten Speichermagazin gelang allerdings nie die Weiterentwicklung zur Bibliothek. Es blieb ein Magazin zur räumlichen Entlastung von Hochschulbibliotheken.[34] Seine Auflösung 2002 wurde von Überlegungen zur Überlieferung und Aussonderung von Beständen begleitet.[35] Heute ist die Frage des „Entsammelns“ oder der Deduplizierung der Bestände und dauerhaften Überlieferung mehr denn je ein Thema. Die 1993 schließlich installierte Lösung der „kooperativen Landesbibliothek“ aus den drei Universitäts- und Landesbibliotheken in Bonn, Düsseldorf und Münster und dem Hochschulbibliothekszentrum in Köln war und ist sicherlich eine dem bisherigen Gestaltungswillen des Landes angemessene Lösung. Allein sie war und ist finanziell unzureichend unterlegt und ausgestattet; ihr gesetzlicher Auftrag erscheint zudem nur schwach abgesichert und zudem zu eingegrenzt, um auf die allenthalben einstellenden Herausforderungen reagieren zu können.

Es würde den Rahmen der Darstellung sprengen, hier auf die Entstehung und Entwicklung des 1973 gegründeten Hochschulbibliothekszentrums und der Verbundaktivitäten einzugehen. Hier möge der Hinweis genügen, dass z. B. die Mitte der 1990er Jahre unternommenen Versuche wie die „Verbundkatalogisierung für Öffentliche Bibliotheken“ in die nicht weiter verfolgte Richtung der Evolution des Hochschulbibliothekszentrums zu einem Landesbibliothekszentrum wiesen.[36] Auch andere landesweite Verfahren wie das Mitte der 1960er Jahre einsetzende und um 2010 eingestellte Sondersammelgebietsprogramm der Öffentlichen Bibliotheken[37]

5 Neue Anläufe für ein allgemeines Bibliotheksgesetz 2008 bis 2011

5.1 2008 „Was regelt ein Bibliotheksgesetz?“

Als relativ unmittelbare Reaktion auf die Vorlage der Kulturenquete des Deutschen Bundestages diskutierte der Landtag Nordrhein-Westfalen im März 2008 zwei Anträge zum Themenfeld Bibliotheken, einen der oppositionellen SPD[38] und einen der regierenden CDU/FDP-Koalition.[39] So finden sich im Antrag der SPD die Empfehlungen der Enquetekommisson („länderübergreifender Bibliotheksentwicklungsplan“, „Einrichtung einer Bibliotheksentwicklungsagentur“) neben landesspezifischen Anliegen wie die Forderungen nach einer auskömmlichen Finanzierung der drei Landesbibliotheken in Nordrhein-Westfalen, nach Stärkung der Förderstrukturen für Öffentliche Bibliotheken und an zentraler Stelle die Forderung nach einem Bibliotheksgesetz, „… das unter strenger Berücksichtigung des Konnexitätsprinzips ein leistungsstarkes Bibliothekssystem zum Ziel hat, welches im Bestand gesichert und unter Berücksichtigung internationaler Standards weiter ausgebaut werden muss.“[40] Enthielt der Antrag der SPD schon Skizzen einer Lösung, so setzte der Antrag der CDU auf Untersuchungsarbeit. Auf die Analyse sollten zunächst die Vorlage des Berichts, dann die Identifikation von Handlungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten folgen, die wiederum danach in ein Bibliotheksförderprogramm hätten einfließen können.[41] Auch dieser Antrag rekurrierte auf den Bericht der Enquetekommission, war jedoch ganz und ausschließlich auf Öffentliches Bibliothekswesen fokussiert. In der Plenardebatte am 13. März 2008, in der beide Anträge eingebracht wurden, wurden die unterschiedlichen Fokussierungen und die divergierenden Auffassungen hinsichtlich des Tempos und der Vorgehensweise deutlich. Bemerkenswert auch der Hinweis des Abgeordneten Oliver Keymis (Bündnis90/Grüne), man habe bereits intensiv zwischen 2000 und 2005, als man in der Regierungsverantwortung stand, in den Koalitionsfraktionen über ein Bibliotheksgesetz diskutiert, habe dieses aber vor dem desolaten Zustand der Landes- und Kommunalfinanzen zurückgestellt.[42] Der die Landesregierung vertretende Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration fügte hinzu, man wisse eigentlich nicht recht, „… was in einem solchen Gesetz denn geregelt werden soll.“[43] Dieses zu eruieren, führten die Abgeordneten Monika Brunert-Jetter und Thomas Sternberg für die CDU und Angela Freimuth für die FDP in der Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien im Juni 2008 aus, wäre gerade die Aufgabe der angestrebten Bestandserhebung. „Ob ein Gesetz dabei herauskomme, müsse man sehen.“[44]

5.2 2009

Bestandsaufnahme: Der Untersuchungsbericht zur Lage der Öffentlichen Bibliotheken in NRW

Das Thema Bibliotheken und Bibliotheksgesetz wurde erst wieder virulent, als mit Datum vom 31. August 2009 der geforderte Bericht von der Landesregierung vorgelegt wurde. Wie schon durch den Parlamentsauftrag präformiert referiert der Titel seinen Untersuchungsgegenstand: „Das Öffentliche Bibliothekswesen in Nordrhein-Westfalen. Bericht zum Entwicklungsstand“.[45] Solchermaßen gegenständlich eingeschränkt gerieten die sogenannten „klassischen“ Landesbibliotheksaufgaben und die Besserstellung bzw. Sanktionierung der drei Landesbibliotheken, die noch im Antrag der SPD eine gewisse Rolle gespielt hatten, außer Sichtweite. Das wesentliche Instrument der Landespolitik im Bereich der Öffentlichen Bibliotheken musste somit in den Mittelpunkt rücken und nicht von ungefähr findet sich bereits auf S. 6 – von insgesamt 52 Seiten – eine Übersicht zur „Entwicklung der Fördermittel für kommunale Bibliotheken seit 1980.“ Sie zeigt eine schwankende Kurve sich zunächst stetig verringernder Ansätze, deren Tiefststand im Jahr 2005 mit 734.000 Euro erreicht ist, denen zudem 30 % gesperrt wurden. Danach wieder ein Anstieg auf die genannten 2,3 Mio. Euro. Für 2016 sind 3,49 Mio. Euro ausgewiesen.[46] Sieht man davon ab, dass die Mittel von rund 6 Mio. Euro 1980 auf 2,3 Mio. Euro sanken, während in der gleichen Zeit die Zahl der kommunalen Bibliotheken deutlich anstieg, so fügte sich diese Fokussierung vorab in das sich in der 15. Wahlperiode zwischen 2010 und 2012 abzeichnende und in der 16. Wahlperiode zu Ende gebrachte Verfahren zugunsten eines allgemeinen Kulturfördergesetzes. Der Bericht fand zunächst nur ein geringes Echo in der Sitzung des zuständigen Ausschusses am 2. September 2009.[47] Doch da war er zudem noch nicht breit rezipiert und zugleich zeichnete sich bereits der Wahlkampf für die Landtagswahlen am 9. Mai 2010 ab. Zu weiteren Behandlung oder gar Beschlussfassungen kam es in der 14. Wahlperiode (2005 bis 2010) nicht mehr.

5.3 15. Wahlperiode 2010–2012

Vom Werden keines Bibliotheksgesetzes

Nach der Wahlniederlage der regierenden Koalition aus CDU und FDP im Mai 2010 schlossen SPD und Bündnis90/Die Grünen für die 15. Wahlperiode eine Regierungsvereinbarung – als Minderheitsregierung. Zum Ausbau der „reiche[n] und vielfältige[n] Bibliothekslandschaft im unserem Lande“ zu „multimedialen Kommunikationszentren“ wurde vereinbart: „Zu diesem Zweck wollen wir die Aufgaben und die Finanzierung der öffentlich zugänglichen Bibliotheken in unserem Lande entweder in einem Bibliotheksgesetz NRW oder im Rahmen eines Gesetzes zur kulturellen Bildung neu regeln.“[48] In einer Kleinen Regierungserklärung zur Kulturpolitik der kommenden Jahre erklärte die neue Ressortchefin des MFKJKS, des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport, Ute Schäfer (SPD) am 22. September 2010: „Moderne und leistungsfähige Bibliotheken sind als wohnortnahe Kultur- und Lerneinrichtungen für uns alle unverzichtbar. Wir wollen sie für die Bewältigung dieser Herausforderungen stärken. Ob für ihre Sicherung und Förderung ein Gesetz hilfreich ist, werden wir schnellstmöglich klären. Da müssen wir mit den kommunalen Spitzenverbänden entsprechende Gespräche führen. Auch das ist ein Auftrag aus unserer Koalitionsvereinbarung.“[49] Bei der ehemaligen Opposition, die noch in der vorangehenden Wahlperiode eine schnelle Entscheidung hatte herbeiführen wollen, war somit in der Zwischenzeit eine abwartende und den Sparten- oder Spezialgesetzen im Kulturbereich gegenüber eher abgeneigte Positionierung eingekehrt.

Doch zunächst suchte die CDU-Landtagsfraktion noch einmal Akzente zu setzen. Im März 2010 stellten die Abgeordneten der CDU im Landtag von Nordrhein-Westfalen, Monika Brunert-Jetter und Thomas Sternberg „Eckpunkte eines Bibliotheksgesetzes zur Regelung der Aufgaben von öffentlichen Bibliotheken in Nordrhein-Westfalen“[50] vor. Diese Eckpunkte flossen in den Entwurf eines Bibliotheksgesetzes ein, das am 10. November 2010, nunmehr in der 15. Wahlperiode, in den Landtag eingebracht wurde – allerdings mit dem nicht ganz unwesentlichen Unterschied, dass es sich hierbei nicht mehr um den Entwurf einer regierenden Koalition, sondern um einen Oppositionsentwurf handelte.[51] Der insgesamt nur neun §§ umfassende Entwurf beschreibt in § 1 „die Bibliotheken“ als Informations-, Bildungs- und Kultureinrichtungen. Die §§ 2 und 3 definieren den Geltungsbereich und den Gegenstandbereich „Bibliothek“. In § 4 wird die Arbeit der Landesbibliotheken als „nach Weisung und im Auftrag des Landes“ erfolgend gefasst. Er erlegt den Landesbibliotheken zudem die Koordination von Maßnahmen zum Bestandserhalt auf. § 5 umschreibt Zugangsregelungen für Nichthochschulangehörige zu Hochschulbibliotheken. Ein Kernstück des Entwurfs ist sicherlich der § 6, der die Förderung der Öffentlichen Bibliotheken im Umfang von „mindestens zwölf Millionen Euro im Jahr“ nennt. Hiermit sollte, wie die Kommentierung hervorhebt, explizit eine Mindestförderung gesetzlich verankert werden. Die Vergabe der Fördermittel sollte nach den Förderichtlinien des Ministeriums erfolgen, die „… im Benehmen mit den Trägern und den bibliothekarischen Verbänden erlassen werden.“ Die bibliotheksfachlichen Beratungsstellen des Landes erfahren eine organisatorische Neuanbindung bei den Landschaftsverbänden. Dies wirkt zudem organisationssystematisch stimmig, sind doch auch die Medienzentren Rheinland und Westafeln sowie archiv- und museumsfachliche Beratungsstellen bei den Landschaftsverbänden und somit in der „kommunalen Familie“ angesiedelt.[52] Fachlich sollte dies zu einer Stärkung und Modernisierung der Fachberatung führen, da man sich synergetische Effekte aus der Zusammenarbeit mit den Medienzentren erhoffte.

Zumindest kann man diese Ausführungen als Reaktion auf den Untersuchungsbericht zum Entwicklungsstand der öffentlichen Bibliotheken aus dem Jahre 2009 lesen, der den Bibliotheken einen deutlichen Ausstattungsrückstand im Sektor der digitalen Bibliotheksservices bescheinigt und einen dringenden Qualifizierungsbedarf hervorgehoben hatte.[53] Der § 7 konzediert die „sozial ausgewogene Gebührenerhebung“ durch Bibliotheken, also keine allgemeine Freistellung von Grundgebühren wie einer Jahresgebühr oder Hinwendung zu einer allgemeinen Gebührenfreiheit für Öffentliche Bibliotheken, wie sie z. B. in Dänemark praktiziert wird. In einem solchen Fall wäre das Land Nordrhein-Westfalen von den kommunalen Bibliotheksträgern im Rahmen des Konnexitätsprinzips in die Pflicht genommen worden. Der § 8 regelt die Abgabe von Belegexemplaren für Bibliotheken – ein Eingriff in das individuelle Eigentumsrecht, das einer Sanktionierung bedarf, wie es Archivgesetz NRW im Falle der kommunalen und staatlichen Archive regelt.[54] Ein weiteres Kernstück von Bibliotheksgesetzen, nämlich die Regelung des Pflichtexemplarrechtes, berührt der Entwurf nicht. Er umschreibt zwar die Aufgabe der Landesbibliotheken in § 4, jedoch ohne die Ablieferungspflicht körperlicher und nicht-körperlicher Veröffentlichungen zu kodifizieren.[55]

Seine erste parlamentarische Behandlung erlebte der Entwurf anlässlich seiner Einbringung am 10. November 2010 im Plenum des Landtages.[56] Monika Brunert-Jetter (CDU) befand sich nun in einer ähnlichen Position wie Claudia Nell-Pell (SPD), als sie im März 2008 von der CDU/FDP-Koalition die schnelle Verabschiedung eines Bibliotheksgesetzes gefordert hatte. Die Vorzeichen waren zumindest insofern andere, als die rot-grüne Koalition den Erlass eines Bibliotheksgesetzes im Koalitionsvertrag nicht ausgeschlossen hatte, mit dem genannten Untersuchungsbericht belastbare und fundierte Erkenntnisse vorlagen und man sich in den Mainstream der durch die Kulturenquete angestoßenen allgemeinen Debatte einfügen konnte. Die Antwort des Abgeordneten Andreas Bialas für die regierende SPD klang zunächst eindeutig: „Das Bibliotheksgesetz ist wichtig und es ist richtig, ein Bibliotheksgesetz zu erlassen.“[57] Vorrangiger sei jedoch die Sanierung der Kommunalfinanzen, um den Spielraum der Städte und Gemeinden auch im Kultursektor wieder herzustellen: „Es erscheint daher folgerichtig, dass keine einzelne Sparte aus der Kulturlandschaft separiert und zeitlich getrennt herausgelöst und in Eigengesetzlichkeit geregelt wird, sondern eine Diskussion über ein grundsätzliches Gesetz für kulturelle Bildung stattfindet, verknüpft mit der Frage der Pflichtigkeit der kulturellen Leistung.“[58] Und ähnlich und darüber hinaus äußerte sich die zuständige Ministerin, Ute Schäfer. Die bisherigen verabschiedeten oder eingebrachten Bibliotheksgesetze in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Hessen und Schleswig-Holstein brächten nicht viel: „Eigentlich sind es nicht mehr als Absichtserklärungen. Wenn wir ein Gesetz formulieren, in dem steht, dass es gut ist, dass es Bibliotheken gibt, ist das etwas zu mager.“[59] Schäfer formulierte anschließend Anforderungen an ein Gesetz mit klarem Profil, das gegebenenfalls qualitative Standards setze oder die Schulbibliotheken einbeziehe. Auch das Pflichtexemplargesetz von 1993 bedürfe dringend der Novellierung. Man wolle sich der Thematik annehmen, aber vermutlich im „… größeren Kontext der kulturellen Bildung und des Fördergesetzes.“[60]

Damit waren die programmatischen Weichen, so erscheint es in der Retrospektive, in zwei Richtungen gestellt: Konzentration auf ein allgemeines Gesetz zur kulturellen Bildung, wie mehrfach vom Städtetag Nordrhein-Westfalen gefordert[61] , oder ein allgemeines Kulturfördergesetz und zudem die dringende Novellierung des Pflichtexemplarrechtes als eigenständiges Gesetz außerhalb der Bibliotheksgesetzgebung. An diesen politischen Richtungsvorgaben änderte auch die umfangreiche Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am 4. Mai 2011 nichts, auch wenn dort die strukturellen und materiellen Erfordernisse der kommunalen, kirchlichen Öffentlichen und Schulbibliotheken benannt wurden und zugleich die auf zentrale Dienstleistungen angewiesene vernetzte Arbeitsweise thematisiert wurde. Zudem wurde der Regulierungsbedarf in landesbibliothekarischen Fragen unter drei Aspekten beschrieben, nämlich dem der Unterstellung der Universitäts- und Landesbibliotheken unter die Weisungsbefugnis des Landes, dem der Verpflichtung zu bestandserhaltenden Maßnahmen – eine Verpflichtung, die das Pflichtexemplarrecht nicht abdeckt – und dem der Novellierung des Pflichtexemplargesetz als solchem.[62] Mit der Nachbereitung der Anhörung als Peripetie des 2011er Entwurfs für ein Bibliotheksgesetz in der Sitzung des Kulturausschusses am 13. Juni 2011 trat denn auch schon die Agonie dieser Vorlage ein. Angesichts der von SPD und Bündnis90/Die Grünen eingenommenen positiven Positionierung gegenüber einem erst in Umrissen erkennbaren Kulturfördergesetz war dem Entwurf kein langes Überleben beschieden. Seine Vertagung auf unbestimmte Zeit am 13. Juli 2011[63] war somit nur eine Formsache, nachdem die Regierungsfraktionen am 12. Juli eine Entschließung eingebracht hatten, die die Landesregierung zur Erarbeitung eines „Gesetzes zur Förderung und Entwicklung der Kultur, der Kunst und der kulturellen Bildung“ auffordert.[64] Sie enthält die häufig zitierte und zum Anlass mancher Hoffnungen anregende, wenngleich nicht berechtigende Formulierung, „… dass die besonderen Erfordernisse des komplexen Bibliothekswesens in NRW im Rahmen eines neuen Gesetzes zur Förderung und Entwicklung der Kultur […] Berücksichtigung finden.“[65]

Wir haben die parlamentarische Behandlung des CDU-Entwurfs aus dem Jahre 2010 so ausführlich dargestellt, weil sich daran mehrere Gestaltungsfragen der Bibliotheksproblematik zeigen lassen. Der Landesgesetzgeber befindet sich gegenüber den Kulturtragenden und auf ihre Kommunalhoheit bestehenden Städten und Gemeinden in einer prekären Situation, solange er sie nicht „am goldenen Zügel“ finanzieller Zusagen und hierfür erwarteter Gegenleistungen führen kann, wenn er denn überhaupt zu besonderen Aufwendungen in diesem Programmbereich der Kulturarbeit bereit ist.[66]

Die 14. Wahlperiode endete abrupt. Nach einer verlorenen Haushaltsabstimmung wurden im Frühjahr 2012 der Landtag aufgelöst und für den 12. Mai 2012 Neuwahlen angesetzt, die die vormaligen Regierungsparteien SPD und Bündnis90/Die Grünen gewannen und die sie in die Lage versetzten, die vorherige Koalition nunmehr mit einer Mehrheit ausgestattet fortsetzen zu können.

6 16. Wahlperiode 2012 bis 2017

Auf dem Weg zum Kulturfördergesetz

Enthielt der im Sommer 2012 zustande gekommene Koalitionsvertrag einerseits die eindeutige Aussage, der Kulturförderung über ein Kulturfördergesetz nicht nur auf Seiten des Landes eine „verlässliche Grundlage“[67] verschaffen zu wollen, so andererseits die Ankündigung in diesem Zusammenhang prüfen zu wollen und prüfen zu lassen, „… ob entweder – in Abstimmung mit der kommunalen Finanzaufsicht – , trotz bisheriger „Freiwilligkeit“ der Kulturausgaben, auch für Kommunen in finanziell schwieriger Situation ein Grenzwert für die Kulturförderung gesichert werden kann; oder wie es gelingen kann, die kommunale Kulturförderung auf der Grundlage des Artikels 18 Absatz 1 der Landesverfassung rechtlich verbindlicher zu gestalten.“[68] Dieser „Kulturschutzkorridor“ sollte eine bedeutende Rolle spielen, die Hoffnungen auf dementsprechende Lösungen wollten sich jedoch nicht einstellen.[69] Für die Bibliotheken und ein Bibliotheksgesetz blieb somit wenig übrig im Koalitionsvertrag: „Die reiche und vielfältige Bibliothekenlandschaft in unserem Land muss erhalten bleiben und ihr Ausbau zu multimedialen Kommunikationszentren soll unterstützt werden.“[70]

Auch die neue (und alte) Ministerin Ute Schäfer stellte in ihrer Kleinen Regierungserklärung zu Beginn der neuen Legislaturperiode im Herbst 2012 das Kulturfördergesetz als das vorrangige kulturpolitische Vorhaben und die wichtigste kulturgesetzliche Initiative heraus. Vor allem die Partnerschaft von Land, Städten und Gemeinden sollte vorrangig beachtet werden: „Nordrhein-Westfalen ist auch deshalb ein starkes Kulturland, weil wir starke Kommunen haben. Ohne sie wäre die kulturelle Vielfalt in unserem Land nicht denkbar. Die Verbesserung der kommunalen Finanzsituation ist deshalb kulturpolitisch von größter Bedeutung. Sie zielt darauf, die kommunale Selbstverwaltung und damit auch den Spielraum für Kunst- und Kulturförderung zu sichern. […] Die Förderung von Kunst und Kultur ist in Nordrhein-Westfalen eine Gemeinschaftsaufgabe von Land und Kommunen. Mir ist diese Partnerschaft sehr wichtig. In Zusammenarbeit mit den Kommunen wollen wir kulturelle Substanz erhalten und Erneuerung mittragen.“ Und weiter: „Das Kulturfördergesetz soll die Bedeutung der Kultur für unsere Gesellschaft hervorheben und einen Beitrag leisten, um die Kulturförderung planvoller und transparenter zu gestalten, das vorhandene Geld effizient und zukunftsgerichtet einzusetzen und die breit und vielfältig gewachsene Kulturlandschaft des Landes mit ihren Strukturen zu erhalten.“[71]

Die Erwartungen an die möglichst zügige Einbringung eines Regierungsentwurfs im Frühjahr 2013 erfüllten sich nicht; der Gesetzesentwurf wurde erst im September 2014 vorgelegt und im Dezember 2014 verabschiedet.[72] Sachlich hat sich die im Vorfeld von hohem politischem Gestaltungswillen getragene Intention, in Kommunen mit Haushaltssicherungskonzepten einen „Kulturschutzkorridor“ einzurichten, nicht umsetzen lassen. Sowohl aus verfassungsrechtlicher[73] als auch aus der Perspektive der Finanzaufsicht ließ sich keine stichhaltige und belastbare Argumentation zur Pflichtigkeit von kommunalen Leistungen im Kultursektor entwerfen und begründen. Die gewünschte kultur- und kommunalpolitische Wirkung, die ein Gesetz mit einer solchen ordnungspolitischen Reichweite hätte erzielen können, wurde verfehlt.[74] Auch die durchaus bibliotheksspeziellen Vorgaben im Bereich der landesbibliothekarischen Aufgaben wurden nur teilweise erfüllt, wie wir sehen werden.

Da die Anfangsgründe dieses „Gesetzes zur Förderung der Kultur, der Kunst und der kulturellen Bildung in Nordrhein-Westfalen (Kulturfördergesetz NRW)“[75] zeitlich und sachlich mit dem Vorschlag eines Bibliotheksgesetzes verwoben waren, wurden die Öffentlichen Bibliotheken mit dem § 10 berücksichtigt: „Förderung der Bibliotheken“. Was nicht neu ist oder war, denn etablierte Förderverfahren für Öffentliche Bibliotheken bestanden und bestehen seit langem. Verfahrenstechnisch und beteiligungsrelevant unbefriedigend ist die Festlegung: „Das Nähere regelt das für Kultur zuständige Ministerium in einer Förderrichtlinie.“ Hier hatte der Entwurf der CDU die Beteiligung des Bibliotheksverbandes vorgesehen. Hinsichtlich der landesbibliothekarischen Aufgaben macht das Gesetz einen Halbschritt. § 10(2) sieht zwar die Einrichtung einer zentralen Fachstelle für Öffentliche Bibliotheken unter Heranziehung der bei den Regierungspräsidenten angesiedelten Fachstellen vor. Ein Halbschritt, weil kein ganzer Schritt in Richtung auf ein Landesbibliothekszentrum, aber vor allem kein ganzer Schritt in Richtung einer Bibliotheksserviceagentur, die die Öffentlichen kommunalen (und kirchlichen) Bibliotheken mit digitalen Dienstleistungen beliefern kann. Programmentwicklung, Information, Beratung und Unterstützung, so die Arbeitsschwerpunkte der Fachstelle, sind notwendig aber nicht hinreichend, um diesen Terminus zu nutzen.

Ohne die Lösung weiter fachlich zu bewerten, können wir doch konstatieren, dass mit § 10 KFG das Thema der Fachstellen aus § 6(2) des eingangs geschilderten Entwurfs der CDU unter Beibehalt der Landeszuständigkeit und zudem zentralisierend „abgearbeitet“ wurde. Ein weiteres Thema, das des kulturellen Erbes, das im CDU-Entwurf unter „§ 4 Landesbibliotheken“ rangierte, wird im KFG in § 8 KFG „Erhalt des kulturellen Erbes“ thematisiert, ohne jedoch die Landesbibliotheken an dieser Stelle zu nennen. Sie sind in § 19 „Eigene Einrichtungen und Beteiligungen des Landes“ zu finden und zwar in § 19(3): „Die Universitäts- und Landesbibliotheken nehmen im Auftrag und nach Weisung des Landes arbeitsteilig landesbibliothekarische Aufgaben wahr, insbesondere solche nach dem Pflichtexemplargesetz […] vom 29. Januar 2013.“[76] Diese Formulierung kann als Befähigung der Universitätsbibliotheken in Bonn, Düsseldorf und Münster als Landesbibliotheken zu fungieren gesehen werden, klärt aber nicht die Mittelausstattung der Bibliotheken zur umfassenden, sachgerechten und verantwortungsvollen Wahrnehmung dieser Aufgabe. Indem aber alle Fragen und Angelegenheiten der finanziellen Ausstattung der kulturellen Projekte, Vorhaben und Aufgaben aus dem KFG ausgeschlossen sind, bedarf es des Kulturförderplanes (KFP)(§ 22). Für jeweils einen Zeitraum von fünf Jahren enthält er „… nähere Angaben zu den Handlungsfeldern und zu den geplanten Ausgaben vorbehaltlich der Bereitstellung entsprechender Mittel durch den Haushaltsgesetzgeber.“[77] Inwieweit der KFP die Balance zwischen sich ändernden „Handlungsfeldern“ und institutionellen Daueraufgaben halten kann, muss sich erst noch erweisen.

7 Das Pflichtexemplargesetz von 2013

Bevor wir uns abschließend einer Beleuchtung des jüngsten Gesetzesvorschlages der CDU zuwenden, noch ein kurzer Rückblick. Anlässlich der Einbringung des Entwurfs eines Bibliotheksgesetzes im November 2011 hatte die damals zuständige Ministerin Ute Schäfer auf den Novellierungsbedarf des Pflichtexemplarrechtes hingewiesen. Es war somit stringent, wenn in der gleichen Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien, in der im September 2012 die kulturpolitischen Schwerpunkte der neuen Legislaturperiode umrissen wurden und ein klares Bekenntnis zum Kulturfördergesetz abgegeben wurde, auch die erste Beratung des Entwurfes der Landesregierung zu einem „Gesetz über die Ablieferung von Pflichtexemplaren in Nordrhein-Westfalen“ stattfand.[78] Er war mehr als überfällig, war doch die geltende Regelung aus dem Jahre 1993 seit dem 31. Dezember 2011 ausgelaufen. Wie in der am 22. November durchgeführten Anhörung deutlich wurde, hatten schon Beratungen zwischen dem Ministerium und den in erster Linie betroffenen Landesbibliotheken stattgefunden, deren Anregungen und Anforderungen bereits in den vorliegenden Entwurf eingegangen waren.[79] In diesem Zusammenhang wurde zwar mehrfach die Auffassung vertreten, die anhängige Regelung gehöre rechtssystematisch sauberer in ein Bibliotheksgesetz, aber sie blieb in der Minderzahl.[80] Eher suchte man nach einer pragmatischen, schnellen und konfliktärmeren Lösung. Ohne die komplexen und regelungsbedürftigen Gehalte des Pflichtexemplarrechts und vor allem der digitalen Publikationen und ihrer urheberrechtlich einwandfreien Darbietungsformen unterbewerten zu wollen, interessiert hier der weitere, eher unspektakuläre und sachliche Verlauf der weiteren parlamentarischen Behandlung vorrangig nur insofern, als mit der Verabschiedung des Gesetzes am 23. Januar 2013[81] eine weitere bibliotheksrechtliche Klärung vorgenommen wurde, die dem Korb des Bibliotheksgesetzentwurfes bzw. seiner Argumentationsumgebung entstammte. Die Pflichtexemplarregelung erlegt in § 1 und § 2 den Universitäts- und Landesbibliotheken in Bonn, Düsseldorf und Münster die gemeinsame Wahrnehmung der Sammlung, Erschließung, Bereitstellung der abgelieferten Medienwerke sowie deren dauerhafte Erhaltung und Benutzbarkeit auf sowie in Verbindung mit dem Hochschulbibliothekszentrum in Köln die gemeinsame Erstellung und Herausgabe der Nordrhein-Westfälischen Bibliographie.[82]

8 Kommen einem Bibliotheksgesetz die Materien abhanden?

Wir haben den bibliothekspolitischen und bibliotheksgesetzlichen Diskurs so ausführlich referiert, um kenntlich zu machen, welche Anliegen einer Bibliotheksgesetzgebung in den letzten Jahren durch den Gesetzgeber abgearbeitet worden sind, so noch vor Verabschiedung des KFG die Sanktionierung der kooperativen Landesbibliothek im novellierten Pflichtexemplarrecht. Welche Akzentverschiebungen sich daraus für einen neuerlichen Vorstoß in Sachen Bibliotheksgesetz für NRW ergaben, den die Landtagsfraktion der CDU in diesem Jahr mit der erneuten Einbringung eines Gesetzentwurfes unternehmen sollte, wird nunmehr abschließend beleuchtet.

8.1 Akzentverschiebung

Im März 2016 legte die Landtagsfraktion der CDU den erneuerten Entwurf eines Bibliotheksgesetzes für Nordrhein-Westfalen vor, allerdings nicht als „Bibliotheksgesetz“, sondern als „Landesbibliotheksgesetz“ mit dem Anspruch, Defizite der bisherigen Gesetzgebung auszugleichen: „Im Kulturfördergesetz werden wichtige strukturelle Fragen des Bibliothekswesens die Landesbibliothek und den digitalen Wandel betreffend ausgeklammert. Die Bibliotheken werden dort zu wenig in ihrer Bedeutung als Bildungseinrichtungen gewürdigt. Zudem wurde die Bibliotheksförderung des Landes gesetzlich auf Öffentliche Bibliotheken beschränkt.“[83] Der Anspruch, so der CDU-Abgeordnete Thomas Sternberg anlässlich der Einbringung des Entwurfs, sei es nicht, weiteres Recht zu schaffen, sondern vorhandenes zu bündeln.[84] Erwartungsgemäß verwandten sich die parlamentarischen und ministeriellen Vertreterinnen und Vertreter der regierenden Koalition gegen die Gesetzesvorlage, da zum einen die Ausführungen in § 10 „Förderung der Bibliotheken“ des KFG hinreichend und ausführlich wären. Der SPD-Abgeordnete Andreas Bialas verwies auf die anstehenden Förderrichtlinien und die Frage, ob „… die Richtlinien ausreichen oder ob es ein Gesetz werden muss.“[85] Ansonsten, so übereinstimmend weitere Beiträge aus der Koalition, würde vor allem der Kulturförderplan Schwerpunksetzung und Ausstattung der Landesbibliothekspolitik fixieren.[86] Unterzieht man den vorliegenden Entwurf einer knappen Prüfung, so verwundert zunächst die in der Präambel unter „D Kosten“ zu findende Aussage, dass von diesem Gesetz keine weiteren finanziellen Auswirkungen ausgingen. Das ist zumindest für ein „Strukturgesetz“ ungewöhnlich.

8.2 Strukturelle Fragen des Bibliothekswesens

In den §§ 5 bis 7 entwickelt der Entwurf einen Strukturvorschlag für die zentralen landesbibliothekarischen Einrichtungen, für die Landesbibliothek Nordrhein-Westfalen, für ein Landesbibliothekszentrum und eine Landesspeicherbibliothek.

8.2.1 Landesbibliothek Nordrhein-Westfalen“

Neu und über die Pflichtexemplarregelung hinausgehend ist die „Mitwirkung“ der Lippischen Landesbibliothek für den dritten, oftmals nicht wahrgenommenen Landesteil dieses kompilierten Bundeslandes. Die Verpflichtung des Landes sich an der landesbibliothekarischen Aufgabenwahrnehmung finanziell angemessen zu beteiligen – diese historisch dauerhaft unbeantwortete Frage scheint das Gesetz lösen zu wollen. Die Kommentierung zum Gesetzentwurf erläutert den in § 5(1) erwähnten Zuschuss als gesetzliche Absicherung einer „finanziellen Kompensation für die Aufgaben im Grundsatz“.[87] Gegenwärtig werden die Aufwendungen für die landesbibliothekarischen Aufgaben ausschließlich über den Haushalt bzw. den beabsichtigten Kulturförderplan gesteuert.[88]

Der kooperativen Landesbibliothek wird in § 5(2) aufgegeben als zentrale landesbibliothekarische Aufgabe, die „… Koordination von Maßnahmen zur Erhaltung des schriftlichen kulturellen Erbes des Landes“ zu übernehmen. Diese Aufgabe ist bislang weder gesetzlich fixiert noch ausfinanziert und stellt doch eine der zentralen Herausforderungen der Landeskulturpolitik dar, sind doch die Träger zahlreicher öffentlicher Printsammlungen von einer konservatorischen Ansprüchen genügenden Aufbewahrung oder zumindest einer Sicherungsdigitalisierung überfordert.

8.2.2 „Landesbibliothekszentrum Nordrhein-Westfalen“

Seit mehr als zehn Jahren häufig kontrovers und hitzig diskutiert unternimmt der Gesetzesentwurf einen erneuten Anlauf, die Evolution des Hochschulbibliothekszentrums zu einem Landesbibliothekszentrum zu befördern. Dazu soll zum einen die nach § 10 KFG neue geschaffene, beim Regierungspräsidenten in Düsseldorf, also einer Mittelbehörde, angesiedelte Fachstelle mit dem Hochschulbibliothekszentrum zusammengeführt werden. Inwieweit dies behördenorganisatorisch und mitarbeiterpsychologisch kurz nach der Einrichtung der Dienststelle angezeigt ist, muss zunächst ungeklärt bleiben. Zugleich soll der Aufgabenkanon des HBZ zugunsten der Öffentlichen Bibliotheken aufgebohrt werden: „Dies dient vor allem einer besseren Versorgung der öffentlichen Bibliotheken mit informationstechnischen Dienstleistungen und der Verbesserung des Angebots an digitalen Medien …“[89] So begrüßenswert diese Aufgabenstellung ist, kann sie doch der seit Jahren erlebten Unterversorgung kommunaler Bibliotheken im Digitalsektor zumindest Abhilfe versprechen, so sehr stößt diese Erwartung an organisatorische und Kapazitätsgrenzen. Die Autoren des Entwurfs wissen um die Satzung des HBZ und seine Verankerung im Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für Innovation, Wissenschaft und Forschung. Die potentielle Versorgung der zahlreichen kommunalen Bibliotheken, derer die Deutsche Bibliotheksstatistik für 2015 273 mit hauptamtlicher Leitung in Nordrhein-Westfalen zählt, dürfte aktuell das Hochschulbibliothekszentrum auch unter neuem Namen überfordern und die Leistungserbringung für den Sektor der Hochschulbibliotheken über Gebühr belasten. Ohne eine deutliche personelle und sachliche Verstärkung würde dieses Modell nicht funktionieren, bleiben doch nach § 6(2) bei der Fachstelle die Hauptaufgaben wie Beratung, Information, Unterstützung oder Konzept-und Programmentwicklung der kommunalen Bibliotheken ungeschmälert.

8.2.3 „Landesspeicherbibliothek“

Als dritte Säule landesbibliothekarischer Gestaltung führt der Entwurf eine Landespeicherbibliothek ein, deren Aufgabe darin gesehen wird, das in Nordrhein-Westfalen gesammelte Bibliotheksgut in inhaltlicher und thematischer Breite physisch und nutzbar zu erhalten, resp. zu digitalisieren: „… soll eine Speicherbibliothek mit angeschlossenem Digitalisierungszentrum errichtet werden.“ Hierzu sei binnen zwei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes ein Konzept zu erarbeiten.[90] Die Idee ist nicht neu, die Praxis des von 1985 bis 2002 in Bochum betriebenen Speichermagazins jedoch nicht befriedigend, wobei sich per definitionem an eine Bibliothek andere Erwartungen richten als an ein Magazin. Es wäre dies also eher eine neue Institution oder die Ergänzung einer bestehenden, worauf die Vokabel „errichtet“ verweist. Die prinzipiellen Bedingungen und Anlässe unterschieden sich Ende der siebziger Jahre nur bedingt von den heutigen Anlässen. Standen damals die mangelnden Raumkapazitäten im Vordergrund, so treten heute Fragen des Bestands- und Substanzerhalts hinzu sowie der Bedarf der Umnutzung von Flächen, wenngleich auch in Fragen der Berufsmentalität ein Wandel eingetreten ist. Die damals noch für unrealistisch erklärte Idee der nicht mehr wachsenden Bibliothek[91] – schließlich definierte man sich über die Zahl der Bände – ist heute obsolet. Auch die potentiellen Interessenlagen waren ähnlich den heutigen. So forderte 1977 die Kommunalpolitische Vereinigung der CDU von Nordrhein-Westfalen die Errichtung einer Speicherbibliothek für die Aufnahme von Altbeständen, um die in den Kommunen praktizierte Vernichtung von Beständen, um eventuell anstehende, „erhebliche“ bauliche Investitionen nicht zu Lasten der jeweiligen Bibliotheksetats tätigen zu müssen.[92] Auch in der Kommentierung des aktuellen Entwurfs ist zu lesen: „Die Landesspeicherbibliothek soll für alle Bibliotheken in Nordrhein-Westfalen zuständig sein.“[93] Wie ein praktikables und dennoch nicht zu schmales Sicherungskonzept beschaffen sein müsste, kann hier nicht diskutiert werden. Aber die Aussage des Gesetzes, keine weiteren Kosten zu verursachen, mag nur für die Konzeptionsphase gelten, in der bereits beschäftigte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der Planung beschäftigt sind.

8.2.4 „Landesförderung“

Wenngleich die Förderung der Öffentlichen Bibliotheken nach § 10 KFG „Förderung der Bibliotheken“ unangetastet bleibt, so dehnen die Formulierungen den Tatbestand der in § 10(1) KFG auf die Öffentlichen Bibliotheken beschränkten Förderung auf weitere Bibliotheken aus. Explizit werden im Entwurf in § 8(2) die Konversion von Schul- zu Öffentlichen Bibliotheken genannt und unter § 8(4) Bibliotheken inkludiert, die im öffentlichen Auftrag handeln oder von wissenschaftlicher Bedeutung sind, auch wenn sie sich in kirchlicher oder privater Trägerschaft befinden. In § 8(3) schließlich wird der Landesförderung mit einem breiten Spektrum von Projekten und Verfahren aus dem Bereich der Digitalisierung von Beständen, der Langzeitverfügbarkeit oder dem konsortialen Erwerb von Lizenzen ein breites Betätigungsfeld eröffnet. Ähnlich zielgerichtet ist die in § 8(2) beschriebene Konversion von Bibliotheken zu sogenannten „Dritten Orten“. Ein dermaßen beschriebenes Fördern-Können hat ja neben dem faktischen Beschreiben eine fordernde Komponente – also eine Richtungsentscheidung für Öffentliche Bibliotheken. Resümieren wir diese Ausführungen, so wird das Instrument der Landesförderung, das einen Umfang von 10 Mio. Euro erhalten soll,[94] zu einem umfassenden bibliothekspolitischen Steuerungsinstrument, das spezifische inhaltliche Schwerpunkte setzt. Pragmatisch stellt sich die Frage, ob der sich in diesen Thematiken ausdrückende Gestaltungswille, der durchaus aktuelle Themen der Bibliotheken berührt, die Strukturebene verlässt und sich zu eng auf die Inhaltsebene einlässt. Denn veränderte Förderschwerpunkte sind dann erst wieder nach oder mit einer Gesetzesnovellierung möglich.

8.2.5 Öffentliche Bibliotheken

Der Anspruch der Autoren des Gesetzes, die Stellung und die Bedeutung der Öffentlichen Bibliotheken zu stärken, wird in den §§ 1 und 2 ausformuliert. In § 1 werden die freie Zugänglichkeit betont sowie Unabhängigkeit der bibliothekarischen Informationsauswahl. In § 2 werden in einer als Wertung zu verstehenden Reihenfolge „die Bibliotheken“ als Bildungseinrichtungen, Gedächtnisinstitutionen und Kultureinrichtungen genannt. Dies sind sicherlich hilfreiche Formulierungen, die aber ernsthaft aktuell niemand in Frage stellen dürfte. Sie geben den Öffentlichen kommunalen Bibliotheken jedoch zumindest eine Argumentationshilfe an die Hand. Zugleich sind diese Definitionen aktuell genug, um Aufgabenprofile und Schwerpunktsetzungen zu begründen. Eine besondere Note ist die indirekte Aufgabenzuweisung an die Öffentlichen Bibliotheken, in den Schulen Informations- und Medienkompetenz zu vermitteln und im vorschulischen Bereich an der Leseförderung mitzuwirken[95] .

8.2.6 Wissenschaftliche Bibliotheken

Abgesehen von den sich im KFG und dem Begleitinstrument KFP spiegelnden Aussagen und Mittelansetzungen zu den landesbibliothekarischen Ausgaben und den einschlägigen Regelungen des Pflichtexemplargesetzes erfahren die Hochschulbibliotheken des Landes, außerhalb des Hochschulgesetzes Nordrhein-Westfalen,[96] keine weitere rechtliche Behandlung. Der vorliegende Entwurf berücksichtigt sie in § 4, in dem Definitionen von „Bibliotheken“ und „Öffentlichen Bibliotheken“ fixiert werden. In § 8 „Landesförderung“ wird zudem in § 8(1) die Förderung der Öffentlichen Bibliotheken nach § 10 KFG getrennt behandelt von der in § 8(3) allgemein gehaltenen Aussage zur Förderungswürdigkeit von Digitalisierungsprojekten und anderen Vorhaben im Digitalbereich. Den Autoren des Entwurfs lag daran, diese für die Informationsversorgung in Nordrhein-Westfalen so wichtigen Einrichtungen auch kulturpolitisch vorzusehen und einzubinden.[97]

9 Fazit

Wir haben zunächst in historischer Perspektive nach den Generalthemen einer Landesbibliothekspolitik gefragt. Wir haben dann gefragt, inwieweit nach Verabschiedung der Novelle zum Pflichtexemplargesetz 2013 und nach der Verabschiedung des Kulturfördergesetzes 2014 der Bibliothekspolitik in Nordrhein-Westfalen im Allgemeinen und der Bibliotheksgesetzgebung im Speziellen die Themen und regelungswürdigen Tatbestände abhandengekommen sind.

Das Kulturfördergesetz verfolgt den Anspruch, die Kulturförderung des Landes zu systematisieren und mit Hilfe der Instrumente Kulturförderplan (KFP) und Kulturbericht parlamentarische Relevanz zu verschaffen. Die Öffentlichen Bibliotheken werden im KFG in einem eigenen Absatz behandelt (§ 10 KFG); sie gelten zudem nach § 6 KFG als förderungswürdig unter dem Rubrum „Förderung der kulturellen Infrastruktur“. Landesbibliothekarische Thematiken werden im § 8 KFG „Erhalt des kulturellen Erbes“ ohne Nennung der Universitätsbibliotheken in Bonn, Düsseldorf und Münster behandelt, die genannten Institute schließlich in § 19 KFG als im Auftrag und nach Weisung handelnde Einrichtungen aufgeführt, die die landesbibliothekarischen Aufgaben insbesondere nach dem Pflichtexemplargesetz wahrnehmen.

Die Belange der Öffentlichen Bibliotheken, wenn sie denn in den Bibliotheksgesetzen der Länder nicht als pflichtige Einrichtungen der Gemeinden ausgewiesen können, werden in der Regel nur mit einem gewissen deklaratorischen Anspruch und im Zuge der Förderung durch das Land abgehandelt werden können. Solange keine grundständige Förderung oder eine verlässliche Regelförderung besteht oder ein Bibliotheksentwicklungsplan mit Ausbauplänen und Standards arbeitet, was nach Lage der Dinge nicht zu erwarten ist, bleibt es hinsichtlich des Ausbaus der kommunalen Bibliotheken beim „freien Spiel der Kräfte.“ Auch die oben beschriebene Mitwirkung der kommunalen Bibliotheken in der Medienerziehung ist zunächst nur eine Willenserklärung. Sie muss sich erst noch aus dem Sollen zum Wollen emanzipieren.

Der Entwurf der CDU, und das glauben wir gezeigt zu haben, verfolgt stringent das Ziel, spezifische no-go-areas einer Landesbibliothekspolitik zu betreten, in denen dem Land eine genuine kulturpolitische Verantwortung zukommt. Der Fokus liegt auf den Landesaufgaben und somit im Bereich einer Selbstverpflichtung des Gesetzgebers, nicht auf der Verpflichtung Dritter, wenn eine Landesspeicherbibliothek und ein Landesbibliothekszentrum eingerichtet werden sollen. Damit könnten, die Formulierung ist bewusst vorsichtig, deutliche und dringend notwendige Schritte bei der Sicherung des kulturellen Erbes und beim Ausbau von Serviceleistungen für öffentliche Bibliotheken im Digitalsektor unternommen werden. In gewissem Sinne sammelt – um eine Formulierung aus der Politik zu benutzen – der Entwurf das ein, was seit Jahren liegen- und unbearbeitet geblieben ist. Durchaus mit ungewissem Ausgang oder zumindest mit dem gewissen Ausgang, dass in der gegenwärtigen Legislaturperiode davon nichts mehr angefasst wird. Insofern bleiben zunächst nur der Mythos vergangener Schlachten und die Utopie kommenden Heils. Vielleicht im Jahre 2033 – dann wird die eingangs erwähnte Schrift Erwin Ackerknechts 100 Jahre alt.

About the author

Harald Pilzer

Harald Pilzer M.A.

Stadtbibliothek, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, Neumarkt 1, 33602 Bielefeld

Anmerkung: Dieser Aufsatz ist nicht als Meinungsbeitrag des Vorstandes des vbnw zur aktuellen Diskussion um ein Bibliotheksgesetz für Nordrhein-Westfalen zu lesen.

Published Online: 2016-12-01
Published in Print: 2017-01-01

© 2017 by De Gruyter

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