Zusammenfassung
Dieser Beitrag präsentiert ein an der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin entwickeltes Konzept zur Etablierung einer Laborkultur für die interdisziplinäre Forschung in den digitalen Geisteswissenschaften. Dieses wurde im Rahmen des erfolgreich etablierten Ada Lovelace Center for Digital Humanities (ADA) getestet und in den vergangenen zwei Jahren exemplarisch realisiert. Der Artikel beginnt mit einer Kurzvorstellung des Zentrums, beleuchtet anschließend das Verhältnis von Forschung und Interdisziplinarität in den Digital Humanities und thematisiert schließlich die Frage nach Forschungsinfrastrukturen im digitalen und datengetriebenen Zeitalter. Anhand eines Praxisberichts aus einem der thematisch-methodischen Labore des ADA werden Möglichkeiten der interdisziplinären Begegnung von Forschenden, auch aus weit auseinanderliegenden Disziplinen, diskutiert und schematisch skizziert.
Abstract
This article presents a concept developed at the University Library of Freie Universität Berlin for establishing a laboratory culture of interdisciplinary research, which has been tested and exemplarily implemented at the successfully established Ada Lovelace Center for Digital Humanities (ADA) over the past two years. The article begins with a brief introduction of the center, highlights the relationship between research and interdisciplinarity in the Digital Humanities, and then turns to the question of research infrastructures in the age of digitality and data-driven research. Based on a practical report of one of the thematic-methodological laboratories of the ADA, the article discusses possibilities of interdisciplinary encounters of researchers even between distant disciplines.
1 Bibliotheken als Forschungsinfrastrukturen
Seit ihrem Bestehen sind Bibliotheken tragende Säulen der Wissenschaft, der akademischen Arbeit sowie von Forschung und Lehre. Sie sind fester Bestandteil des kulturellen Erbes, speichern und kuratieren Wissen, bieten Zugang zu Literatur, Informationen und Forschungsdaten, leisten Orientierung in wachsenden Wissensräumen und entwickeln gemeinsam mit Forschenden neue Services und Dienstleistungen, digitale Forschungsumgebungen, neue Werkzeuge und Methoden. Im Zuge der digitalen Transformation des Forschungs- und Publikationswesens haben sich insbesondere Bibliotheken an Universitäten, Fachhochschulen und Forschungseinrichtungen in vielseitige Zentren des Austauschs von Wissen und Know-how verwandelt. Als Antwort auf die zum Teil disruptiven Wandelprozesse der Digitalisierung wurden in den letzten Jahren bereits zahlreiche Konzepte zur Neugestaltung von Bibliotheken vorgelegt. Sei es als Lernzentren, Lern- und Bildungsorte, Maker Spaces, Coworking Spaces, Library Labs oder Forschungsdatenmanagementplattformen, Bibliotheken stellen sich als wissenschaftliche Serviceeinrichtungen nicht nur dem Medienwandel – sie ändern sich auch im Hinblick auf die Praxis wissenschaftlicher Arbeitsweisen.[1] Für das interdisziplinäre Forschungsfeld der Digital Humanities (DH) gilt das in besonderem Maße. Die DH stellen, wie keine andere methodische Neuerung in den Geisteswissenschaften, gänzlich neue und sich stetig ändernde infrastrukturelle Anforderungen an forschungsunterstützende Serviceeinrichtungen wie Bibliotheken.[2]
Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte haben sich die DH von einem experimentellen, interdisziplinären Forschungsfeld zu einer eigenständigen Disziplin an der Grenze zwischen Informatik und traditionellen geisteswissenschaftlichen Fächern entwickelt.[3] Dabei erfordert die „radikale Interdisziplinarität“[4] dieses Querschnittsgebietes völlig neue methodische Verfahren, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die oft entweder als „digital“ und „data“[5] oder sogar „Coding Literacies“[6] bezeichnet werden. Das Konzept der „Digital Literacy“ umfasst sowohl das kritische Lesen, Bewerten, Verarbeiten und Kommunizieren in digitalen Umgebungen,[7] als auch die Fähigkeit, komplexe Computerwerkzeuge und -architekturen zu verstehen und angemessen zu nutzen – auch ohne benutzerfreundliche grafische Benutzeroberflächen.[8]
Darüber hinaus erfordert die weite Interdisziplinarität der DH zwischen computationalen Disziplinen und klassischen geisteswissenschaftlichen Fächern auch reflektierende Kompetenzen im Sinne des „knowledge brokerage“.[9] Kurz gesagt, die Digitalisierung von Methoden, Objekten und Forschungspraktiken zwingt Forschende und Studierende gleichermaßen dazu, neu erworbenes digitales und computergestütztes Knowhow mit traditionellen Formen der Wissenschaft zu kombinieren. Wie können Bibliotheken diese veränderungsintensive, disziplin-, methoden- und paradigmenüberspannende, interdisziplinäre Arbeit in den digitalen Geisteswissenschaften unterstützen?
Dieser Beitrag stellt ein an der Universitätsbibliothek der Freien Universität entwickeltes Konzept zur Etablierung einer Laborkultur des interdisziplinären Forschens vor, das im Rahmen des erfolgreich etablierten Ada Lovelace Center for Digital Humanities erprobt und in den vergangenen zwei Jahren exemplarisch umgesetzt wurde. Der Beitrag beginnt zunächst mit einer Kurzvorstellung des Zentrums an der Freien Universität, beleuchtet inspiriert von der historischen Figur und Namensgeberin des Zentrums Ada Lovelace (1815–1852) zunächst das Verhältnis von Forschung und Interdisziplinarität in den DH und schlägt dann einen Bogen zur Frage von Forschungsinfrastrukturen im Zeitalter der Digitalität. In einem dritten Teil soll dann auf das Konzept von Laborkulturen eingegangen werden, um am Beispiel des am ADA etablierten DiHMa.LAB von ersten Erfahrungen und Best Practices zu berichten. Abschließend wollen wir ein vorläufiges Resümee der konzeptionellen Entwicklung von Infrastrukturen am ADA ziehen und Potentiale und Limitierungen unseres begegnungsfokussierten Ansatzes diskutieren.
2 Poesie und Rechenmaschinen: Ada Lovelace und die digitalen Geisteswissenschaften
Das 2021 an der Freien Universität etablierte ADA fungiert als zentrale Anlaufstelle für die Bündelung, Vernetzung und Förderung von Initiativen im Bereich der digitalen Geisteswissenschaften. Es wird unterstützt und getragen von den drei Fachbereichen Geschichts- und Kulturwissenschaften, Philosophie und Geisteswissenschaften sowie Mathematik und Informatik. Die Geschäfts- und Koordinationsstelle des Zentrums ist an der Universitätsbibliothek angesiedelt. Das ADA stellt ein Kompetenzzentrum für geisteswissenschaftliche, interdisziplinäre Forschungsaktivitäten in und mit IT-gestützten Verfahren, Methoden und Werkzeugen dar. Die Akteure des ADA verfolgen das langfristige Ziel, die je projektspezifischen Expertisen aus verschiedenen an der Freien Universität verorteten Forschungsprojekten in den DH gezielt zu unterstützen, wo nötig und möglich durch interdisziplinäre Verbindungen anzureichern und das in den Projekten entstandene Wissen, die Workflows und die Operationalisierung in ein dauerhaftes, interdisziplinäres Forschungsprozess- und Wissensmanagement zu überführen. Das Zentrum fokussiert sich dabei auf die Integration von geisteswissenschaftlichen Fragekomplexen, informationstechnologischen Ansätzen und mathematischen Modellierungen. In enger Zusammenarbeit und als Ergänzung zum Dahlem Humanities Center (DHC) der Freien Universität positioniert es sich als zentrale geisteswissenschaftliche Einrichtung sowohl innerhalb der Freien Universität als auch im Exzellenzverbund Berlin University Alliance (BUA) und darüber hinaus auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene.
Was ist die Verbindung zwischen DH und Ada Lovelace? Augusta Ada Byron (1815–1852), Tochter des romantischen Dichters Lord Byron und der Aristokratin Annabelle Milbanke gilt heute nicht nur als die erste Person in der Menschheitsgeschichte, die ein Computerprogramm schrieb,[10] sie wird als interdisziplinärer Geist und als Visionärin der digitalen Geisteswissenschaften verstanden und gefeiert. Ihre Geschichte stand, wie das Schicksal so vieler Frauen lange im Schatten männlicher Erfindungskraft und Dominanz.[11] Lovelace wuchs als Kind einer Zeit auf, in der sowohl Wissenschaft, Forschung und Technologie als auch Poesie und Literatur nicht als geeignete Domänen für Frauen angesehen wurden. Diesen gesellschaftlichen Beschränkungen zum Trotz ermöglichten es der Bildungsdrang und der visionäre Intellekt Lovelace, den Kontakt zu zahlreichen Gelehrten ihrer Zeit zu etablieren, und brachten sie dazu, eine tiefe Leidenschaft und Fähigkeit sowohl für die Mathematik als auch für Poesie und Literatur zu entwickeln. Ihre Begegnung mit Charles Babbage (1791–1871), der als „Vater des Computers“ ein Konzept für eine mechanische Rechenmaschine entwickelte, inspirierte Lovelace in zahlreichen Korrespondenzen eine Rechenweisung für seine „Analytical Engine“ zu schreiben, womit sie heute als erste Programmiererin gilt.
Doch Lovelace entwickelte zudem die Einsicht, dass sich Rechenmaschinen letztlich auch zur Analyse von Musik, Poesie und anderen Formen menschlichen Wissens verwenden ließen. In ihrer Vorstellungskraft sollten sich Computer nicht nur dafür verwenden lassen, Zahlenfolgen zu errechnen. Mit entsprechend konturierten Maschinen sollte sich auch Musik komponieren und künstlerischer Ausdruck produzieren lassen. Eine Vorstellungskraft, die im Zeitalter des Machine Learning sicherlich als visionär gelten kann. Das große Verdienst und die Weitsicht von Lovelace, schreibt Sybille Krämer, „bestand darin, zwischen einer Rechenmaschine, die mit Zahlen arbeitet, und einer Universalmaschine, die mit allgemeinen Symbolen arbeitet, zu unterscheiden“.[12] Dieser tiefgreifende Blick in die interdisziplinäre Verbindung zwischen Geistesarbeit und Rechenarbeit, zwischen Geisteswissenschaften und Mathematik machen Lovelace zu einer historischen Schlüsselfigur und Wegbereiterin der Digital Humanities. Ihre Kreativität und ihr Erfindungsgeist stehen beispielhaft für das, was Digital Humanities heute anstreben: die transformative Kraft der digitalen Infrastrukturwende auch aus geisteswissenschaftlicher Sicht begleiten, hinterfragen und kritisch gestalten zu können. Doch was genau sind Digital Humanities als Disziplin und wie lassen sich die Digital Humanities aus dem Bibliothekswesen heraus noch besser verstehen, begleiten und unterstützen?
3 Weite Interdisziplinarität, oder gibt es die Digital Humanities?
In einem viel beachteten Artikel mit dem provokanten Titel „Digital Humanities? Gibt’s doch gar nicht!“,[13] der im Nachklapp zur konstitutiven Konferenz des Dachverbandes für Digital Humanities in Deutschland (DHd) in Passau im Jahr 2015 entstand, schlug Patrick Sahle eine Definition der Disziplin vor, welche die Schwierigkeit, forschungsunterstützende Infrastrukturen für das neue Querschnittsfeld DH zu entwickeln, auf den Punkt bringt:
Die Digital Humanities befassen sich mit Problemen, die über die benachbarten Einzelfächer in einem doppelten Sinne hinausgehen. Zum einen betreffen sie Fragen, die für viele Fächer gleichermaßen gelten; zum anderen betreffen sie Fragen, die von den benachbarten Fächern nicht behandelt werden, weil sie aus ihrer Sicht zu speziell sind oder Kompetenzen erfordern, die in den Fächern nicht enthalten sind. Die Digital Humanities bestimmen sich weitgehend in ihrer Positionierung und ihrem Verhältnis zu anderen Fächern. Zunächst stehen sie offensichtlich zwischen den Geisteswissenschaften und der Informatik.[14]
Interessanterweise hat sich auch im zehnten Jahr des Bestehens des DHd an dieser Diagnose nur wenig verändert. Digitale Geisteswissenschaften machen es insbesondere durch die bereits erwähnte „radikale Interdisziplinarität“[15] und durch die sich stetig ändernden Verbindungen von Fächern besonders anspruchsvoll, dauerhafte forschungsunterstützende Infrastrukturen wie Bibliotheken zielführend und zeitgerecht anzupassen. Diese besondere Form der Interdisziplinarität geht dabei, wie es Ramsay und Sahle hier vorsehen, nicht nur vielschichtig und multidirektional vor (ähnliche Forschungsfragen werden in unterschiedlichen Fächern bearbeitet), die einzigartige Ausprägung der Interfachlichkeit digitaler Arbeit in und an den Geisteswissenschaften liegt mithin auch im Wissens- und Methodentransfer zwischen den in die Begegnung gebrachten Disziplinen. Treffen sich beispielsweise Computerlinguistik und Literaturwissenschaft oder Informatik und Geschichtswissenschaft, so entstehen Verbindungen, transdisziplinäre Praxeologien und fächerübergreifende Methoden, die bei erfolgreicher Zusammenarbeit bisweilen in die Gründung eigener Subdisziplinen wie den Computational Literary Studies (CLS) münden können.[16] Doch wie lassen sich diese komplexen und besonders agilen Prozesse der Wissensformation institutionell unterstützen? Welche Infrastrukturen braucht die „weite interdisziplinäre“ Forschung?
Im Folgenden soll mittels eines kleinen Ausflugs in die Welt der Critical Infrastructure Studies (CI) kurz auf die zunehmende Bedeutung von Infrastrukturen für die Forschung im digitalen Zeitalter verwiesen werden. Der Fokus soll hierbei jedoch nicht auf den konkreten Infrastrukturen interdisziplinärer Zusammenarbeit, wie virtuellen Forschungsumgebungen, Repositorien oder Entwicklungsumgebungen liegen, sondern vielmehr auf den wissenschaftskulturellen, mikrosozialen Praktiken und Methodentransfers, die digitales Arbeiten in geisteswissenschaftlichen Kontexten zu einer auf Dauer angelegten, jedoch sich dynamisch und agil entwickelnden Wissenslandschaft machen.
4 Welche Infrastruktur benötigt die interdisziplinäre Forschung?
Im Kontext der Forschung – insbesondere in den Naturwissenschaften – waren Infrastrukturen selbstverständlich schon immer besonders prägend. Denken wir an die größten modernen Forschungsinfrastrukturen der Großgeräteforschung – die so genannten core facilities – wie Teilchenbeschleuniger in der Physik oder die Weltraumteleskope Hubble oder James Webb in der Astronomie, aber auch an lokale Labore und einzelne, aber durchaus komplexe Messgeräte wie Elektronenmikroskope. Obgleich die Geisteswissenschaften selbstverständlich auch stets Infrastrukturen benötigten – eben Bibliotheken, Archive, Museen oder Verlage und verschiedene Schreibgeräte, Kopier- oder Vervielfältigungsmaschinen – hat vor allem der digitale Wandel die Infrastrukturen der Forschung in den Humanities am sichtbarsten verändert. Die Eminenz und Bedeutung von Infrastrukturen allgemein ist in der letzten Zeit wiederholt erkannt worden. Das interdisziplinäre Forschungsfeld der Critical Infrastructure Studies[17] beispielsweise verbindet die vielfältigen interdisziplinären Perspektiven auf die Bedeutung von Infrastrukturen für Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft. Infrastrukturen als Ausdruck und Ausprägung der Moderne sind dabei in einer Weise wirkungsmächtig und kulturell und politisch wichtig geworden, dass sie zunehmend selbst als Akteure in Kultur-, Wissenschafts-, Sicherheits- und Industriepolitik gesehen werden. Infrastrukturen sind geopolitisch geworden.[18] Was auf der großen weltpolitischen Bühne gilt, ist auch in der alltäglichen Arbeit von Infrastruktureinrichtungen wie Bibliotheken relevant.
Infrastrukturen – wie es der Begriff bereits nahelegt – sind strukturiere Objekte, Entitäten, Abläufe und Prozesse. Durch die Prozesswirkung von Infrastrukturen steuern und beeinflussen sie aber auch gesellschaftliches Handeln, rahmen Praktiken, determinieren Agens und erzeugen Möglichkeiten. Dies reicht vom Überqueren einer Ampel auf dem Weg in die Universität oder zum Ausleihvorgang in einer Bibliothek bis hin zum Workflow von digitalen Werkzeugen, Tools und ganzen Verkettungen von digitalen Analysewerkzeugen, sogenannten „Pipelines“. Bibliotheken sind dabei wie andere kritische Infrastrukturen auch – im Sinne der Soziologin Eva Barlösius – stets auch „soziale Ordnungsdienste“,[19] die mithin infrastrukturelle Vorleistungen für die Forschung erbringen, Forschungsarbeit zum Teil vorstrukturieren, informieren und deren alltägliche Praxis mitgestalten. Infrastrukturen in der soziologischen Sicht, die Barlösius am Beispiel der Bibliotheken durchspielt, sind immer bereits „boundary objects“, also als Entitäten zu verstehen, deren Objektcharakter nicht zwangsläufig durch ihre Materialität, sondern durch die soziale Praxis und die Zugänge zu Wissen, Informationen oder aber auch Kultur definiert werden.
In den Kulturwissenschaften und dem aufstrebenden Bereich der Critical Infrastructure Studies[20] wird Infrastruktur definiert als etwas, das „unterhalb der Struktur“ operiert, das heißt als das Innere einer Struktur, das von der Oberfläche oder der Fassade der Struktur verdeckt wird,[21] „[l]ike infrared, the below-red energy just outside of the reddish portion of the visible light section of the electromagnetic spectrum“.[22] In der Informationstechnologie wird der Begriff „Infrastruktur“ in erstaunlich ähnlicher Weise verwendet, nämlich als Rahmen, der „below the level of work“ operiert, das heißt, „without specifying exactly how work is to be done“[23] Mit anderen Worten: Infrastrukturen sind Strukturen, die Ermöglichen und im Sinne eines boundary object Potenziale schaffen, ohne notwendigerweise eine Verwendung festzuschreiben. Ein E-Mail-Provider schreibt den Nutzenden nicht vor, welche Inhalte übermittelt werden. Bibliotheken schreiben nicht vor, wie Bücher, Artikel, Dissertationen oder Forschungsdaten zu lesen, zu verstehen oder zu verarbeiten sind. Umgekehrt ist die Infrastruktur eine ausgeschlossene Mitte, ein Medium ohne Selbstzweck. Vielmehr ist sie das Produkt emergenter Prozesse, die immer von Menschen und Technik gemeinsam geschaffen werden.
Was können wir aus dieser Erkenntnis für die Bibliotheken lernen? Zunächst ist daran zu erinnern, dass Bibliotheken zentrale Infrastrukturen für die Forschung sind. Sie stehen nicht nur am Beginn des Forschungslebenszyklus (Hypothesenbildung und Wissensaufbau), sondern auch an dessen Ende (Speicherung und Verfügbarmachung von veröffentlichten Forschungsergebnissen in Form von Publikationen oder Forschungsdaten). Bibliotheken rahmen damit nicht nur den Forschungsprozess an sich, sondern stellen eben einen Teil jener Infrastruktur bereit, die unterhalb der Schwelle von Arbeit liegt („below the level of work“[24]). Auch im Zeitalter der Digitalisierung und Datafizierung sammeln und kuratieren wissenschaftliche Bibliotheken etablierte Wissensbestände, machen sie lokal wie global verfügbar, stellen Repositorien, Kataloge und Werkzeuge zur Verfügung, sind Forschungsdatenspeicher und zunehmend auch Forschungsdatenprovider. Die Bedeutung der Bibliotheken als zunehmend digitale und datenorientierte Infrastrukturen lässt sich nicht zuletzt am 2014 gegründeten Rat für Informationsinfrastrukturen (RfII) ablesen, der als beratendes Expertengremium der Bundesregierung wiederholt die Rolle der Bibliotheken in der digitalen Transformation der Wissensgesellschaft betont hat.
5 Die ADA.Labs: Infrastrukturen zur Förderung kollektiv-kreativer Arbeitsweisen in den Geisteswissenschaften
Wie können Forschungsinfrastrukturen wie Bibliotheken jene komplexen interdisziplinären Zusammenkünfte der digitalen Geisteswissenschaften unterstützen und ermöglichen? Die Bereitstellung von Medien, Büchern oder Daten unter Zuhilfenahme von Findmitteln und Katalogen ist nicht von sich aus ein Hilfsmittel der interdisziplinären Forschung. Dennoch sind Discovery-Räume immer auch potenzielle Begegnungszonen für transdisziplinäre Verbindungen. Das am ADA entwickelte Konzept setzt hier an. Als Forschungsinfrastruktur und Kompetenzzentrum für Digital Humanities mit Sitz in der Universitätsbibliothek nutzt das ADA die zentrale Einrichtung der Bibliothek gezielt als Begegnungs- und Ermöglichungsraum. Dabei werden klassische bibliothekarische Dienstleitungen wie der Bestandsaufbau im Rahmen eines Fachreferates für Digital Humanities gezielt mit den praxeologischen Neuerungen der Disziplin verbunden. Das neu eingerichtete Fachreferat für Digital Humanities arbeitet in enger Abstimmung mit der Geschäftsstelle des Zentrums, um Erwerbungen gezielt mit den entstehenden Forschungsfeldern zu verbinden und interdisziplinäre Gruppen optimal mit Daten, Informationen und Literatur zu versorgen. Um den kreativen, kollektiven und bisweilen sehr produkt- und prozessorientierten Arbeitsweisen der Digital Humanities im Sinne einer „maker-culture“ gerecht zu werden, wurde der „stille Lesesaal“ an der Zentralbibliothek der Freien Universität zu einem Coworking Space und Lernzentrum mit angrenzenden Laborräumen[25] umgestaltet und in den letzten zwei Jahren seit Bestehen des ADA sukzessive zur Etablierung und Erprobung von Laborsettings verwendet. Im Sinne einer Kultur der Offenheit (Open Research bzw. Open Science), die sowohl an der Universitätsbibliothek als auch am ADA gelebt wird, stehen sowohl der Coworking Space als auch die Labore während der regulären Öffnungszeiten der Zentralbibliothek sowohl Studierenden als auch Forschenden als Lern- und Arbeitsorte zur Verfügung. Der folgende, exemplarische Praxisbericht aus einem Laborformat des ADA soll die hier angestoßene Reflexion einer infrastrukturellen gestützten Praxeologie für digitales Arbeiten in den Geisteswissenschaften aus Bibliotheken heraus programmatisch flankieren.
6 Grundzüge einer Laborkultur für die digitalen Geisteswissenschaften
Mehr als je zuvor ist die Arbeit in den Digital Humanities von Teamwork und kollaborativer Zusammenarbeit geprägt.[26] Hier liegt sicher einer der gravierendsten Methodenumbrüche digitaler Arbeit in den Humanities: Um datengestützte Analysen digital vorliegender Manuskripte oder Korpora durchführen zu können, bedarf es einer Reihe von Fähigkeiten, die einzelne Forschende mit Sachexpertise nicht immer mitbringen (können). Von der Entwicklung von Forschungssoftware (Research Software Engineering) über Datenanalysen bis hin zum Aufbau von eigenen Forschungsinfrastrukturen oder der Nachnutzung bestehender Tools sind Digital Humanities auf ein konzertiertes Zusammenspiel mit Forschenden anderer Disziplinen und forschungsunterstützenden Einrichtungen angewiesen.[27] Diese Zusammenhänge herzustellen, ist eine komplexe und sich je nach Forschungskontext stetig ändernde Herausforderung, die sich nur in enger Abstimmung mit allen am gesamten Forschungsprozess beteiligten Akteuren bewerkstelligen lässt. Zum Aufbau einer Community of Practice in den Digital Humanities begann die Geschäftsstelle des ADA in Zusammenarbeit mit dem neu eingerichteten Fachreferat zunächst damit, einen Überblick und eine Landkarte über geeignete und prinzipiell kompatible interdisziplinäre und methodisch-thematisch kompatible Forschungsbereiche an der Freien Universität zu erstellen. Von der Namensgeberin des Zentrums, der Mathematikerin Ada Lovelace inspiriert, fiel der Blick dabei zunächst auch auf die Verbindung zwischen den Fachbereichen Mathematik und Informatik sowie Philosophie und Geisteswissenschaften. In Kooperation mit einer bereits sehr erfolgreich bestehenden Arbeitsgruppe am Zuse-Institut Berlin (ZIB) mit dem Titel „Mathematics meets Humanities“[28] gründete das ADA mit freundlicher Unterstützung der Mathematical Research Data Initiative (MARDI) das gemeinsame interdisziplinäre Labor Digital Humanities meets Mathematics (DiHMa.Lab).[29]
Die Arbeit des Labors begann damit, eine Reihe von interessierten Forschenden verschiedener Statusgruppen aus der Mathematik und der Informatik sowie der Altertumswissenschaft, Archäologie, Geschichtswissenschaft und Literaturwissenschaft in den Coworking Space der Zentralbibliothek einzuladen. Nach einer ersten hybriden Zusammenkunft des DiHMa.Lab an zwei konsekutiven Tagen stellten eingeladene Forschende Projekte an der Schnittstelle zwischen Mathematik und den Humanities vor. Nach kurzen Projektpräsentationen über bestehende Arbeiten und anschließenden Pitches für mögliche interdisziplinäre Projekte bildeten sich einzelne Arbeitsgruppen, die sich zunächst auf jeweils kompatible Forschungsfragen und Datengrundlagen konzentrierten und sich anschließend weiter in Hinblick auf die Frage nach der mathematischen Operationalisierbarkeit geisteswissenschaftlicher Fragestellungen ausdifferenzierten.
Wenngleich nicht alle der orchestrierten Begegnungen zwischen Forschenden aus diesem Format weitere Kooperationen hervorgebracht haben, so sind doch einige unerwartete und produktive Ansätze entstanden, die in der Folge eigene Formate und Kooperationsformen gefunden und etabliert haben.[30] Eine der vielversprechendsten Begegnungen, auf die sich das Labor in der Folge fokussierte, ist die Verbindung von Formaler Konzeptanalyse (FCA)[31] und digitaler Dramenanalyse, ermöglicht durch bestehende Digital Humanities Projekte wie die Plattform DraCor.org.[32] Um auch unerwarteten interdisziplinären Verbindungen einen verlässlichen, dauerhaften, aber auch flexiblen und agilen Ermöglichungsraum zu geben, hat sich DiHMa.Lab in der Folge im Modus eines „Living-Lab“[33] etabliert. Dieser Ansatz ermöglicht es, die Kommunikation und die konkrete Zusammenarbeit sowohl zentral in den Räumlichkeiten der Bibliothek als auch dezentral über digitale und hybride Kommunikationsformate zu realisieren.
7 Zusammenfassung und Ausblick
Interdisziplinäre Arbeit, insbesondere über weite Disziplinengrenzen hinweg, ist kein Selbstzweck und auch kein Selbstläufer. Sie bedarf der gezielten Anbahnung, eines vertrauensvollen Aufbaus und der nachhaltigen Pflege. Bibliotheken als Forschungsinfrastrukturen des 21. Jahrhunderts können die interdisziplinäre Wissenschaft in besonderer Weise unterstützen. Während ein Großteil der gegenwärtigen Forschung – vor allem in drittmittelfinanzierten Strukturen – zeitlich begrenzt ist und auf die unmittelbare Erledigung von geplanten Meilensteinen und Projektergebnissen fokussiert sein muss, bleibt Forschenden – zumal in frühen Karrierestufen – zunehmend weniger Zeit, experimentelle, gewagte oder gegebenenfalls erst für spätere Karrierephasen interessante Forschungsarbeit fortzuführen und zu pflegen. Prinzipiell interdisziplinär ausgerichtete Einrichtungen wie Bibliotheken und Kompetenzzentren können diese Lücke schließen und dazu beitragen, das Wissen, die Methoden, die Forschungsfragen und die Prozesse aus wertvollen interdisziplinären Begegnungen zu erhalten und das weitere Gedeihen dieser zu ermöglichen.
Dieser Beitrag stellt die Arbeit eines an der Universitätsbibliothek der Freien Universität gegründeten Kompetenzzentrums für Digital Humanities vor und fokussiert dabei auf eine mögliche neue Funktion von Forschungsinfrastrukturen in der Unterstützung weiterer interdisziplinärer Brückenschläge. Am Beispiel eines Berichts von orchestrierten Begegnungen zwischen Forschenden aus Mathematik und Informatik sowie aus den Humanities wurden die praxeologischen Aspekte von forschungsunterstützenden Infrastrukturen skizziert. Mit Blick auf die Zunahme von agilen und projektförmigen Arbeitsweisen wie Hackathons, Sprints oder Coworking, die zumeist aus der Digitalwirtschaft in die Forschung übertragen werden, richtet sich die Aufmerksamkeit auf eine oft vernachlässigte Dimension von Infrastrukturen: der so genannten human infrastructure. Ohne menschliche Akteurinnen und Akteure sowie vertrauensvolle Beziehungen sind sowohl Repositorien, virtuelle Forschungsumgebungen, Discovery-Systeme oder Publikationsplattformen, als auch agile und kurzlebige Formate wie Hackathons oder Sprints nicht denkbar. Die am ADA etablierte Praxis, thematisch-methodische Labore von den Forschenden, ihrem Wissen, ihren Arbeitsweisen und ihren Prozessen her zu denken, geht dem Aufbau von digitalen Forschungsinfrastrukturen zunächst voraus, schließt diesen aber keineswegs aus. Die digitale Transformation ist ein Infrastrukturwandel, der dem Menschen und der Forschung dienen sollte, und nicht umgekehrt.
Über den Autor / die Autorin

Dennis Mischke
© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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