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Monumentale Verheißungen

Die Wandbilder von Josep Renau in Halle-Neustadt
  • Sabine Meinel and Christine Pieper
Published/Copyright: May 21, 2023
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Halle-Neustadt war eines der größten und ambitioniertesten städtebaulichen Vorhaben der DDR. Mit der Errichtung der Chemiearbeiterstadt im damaligen Bezirk Halle wurde zum einen komfortabler Wohnraum für die zahlreichen Beschäftigten der Buna- und Leunawerke geschaffen, zum anderen war es auch der Versuch, eine moderne sozialistische Stadt zu errichten, die in ihrer Gesamtgestalt und in ihren individuellen Gestaltungen auch international wahrgenommen werden sollte. Als Chefarchitekt wurde Richard Paulick (1903–1979) berufen. Nach Standortuntersuchungen und einem städtebaulichen Wettbewerb zur Stadtstruktur 1964 fand im selben Jahr die Grundsteinlegung statt.[1] Neben den Wohnungen entstanden in den als Wohnkomplexen bezeichneten Vierteln alle relevanten Einrichtungen der Versorgung im weitesten Sinne, also Kinderkrippen, Kindergärten, Schulen, Kaufhallen, Ärztehäuser, Gaststätten und Dienstleistungsbetriebe. Bis circa 1971 waren von den zuletzt acht Vierteln die Wohnkomplexe 1 bis 3 und das Bildungszentrum fertiggestellt. Letzteres war ein separater, in sich geschlossener Teil des geplanten Stadtzentrums. Neben verschiedenen Sporthallen und einer Schwimmhalle gab es dort Bauten für die Ausbildung von Lehrlingen, eine Oberschule, eine Fachschule, Institute der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie eine Klubmensa und ein Internat. Neben der Architektur spielte insbesondere die baubezogene Kunst – erstmals bereits mit Beginn der Planungen dieser Stadt – eine wesentliche Rolle.[2] Kunst sollte die Stadtviertel nicht nur ästhetisch aufwerten, sondern diente zugleich der politischen Bildung und Erziehung. 1965/66 wurde dafür der Beirat für bildende Kunst und Baukunst gegründet.[3] Für jedes Stadtviertel gab es eine politisch-ideologische Konzeption; für das Stadt- und Bildungszentrum lautete sie: »Aufbau des Sozialismus«.[4] Den für die Planstadt wichtigen Auftrag für großflächige Wandbilder, die zunächst nur an den beiden Treppentürmen des elfgeschossigen Internatsgebäudes gedacht waren, erhielt Josep Renau (1907–1982). Er konnte den Beirat 1968 mit seiner Idee eines mehrteiligen Wandbildpanoramas überzeugen, das letztlich in einer reduzierten Form bis 1975 umgesetzt wurde (Abb. 1).[5] Die Ausführung erfolgte durch den Baukeramiker und Fliesenmaler Lothar Scholz (1935–2015).[6]

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Halle-Neustadt, Am Stadion 5, ehem. Lehrlingswohnheim und Klubmensa mit den Wandbildern von Josep Renau, historische Aufnahme, nach 1974
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Halle-Neustadt, Am Stadion 5, ehem. Lehrlingswohnheim und Klubmensa mit den Wandbildern von Josep Renau, historische Aufnahme, nach 1974

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Halle-Neustadt, Am Stadion 5, ehem. Lehrlingswohnheim, Gesamtaufnahme von Westen, 2023
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Halle-Neustadt, Am Stadion 5, ehem. Lehrlingswohnheim, Gesamtaufnahme von Westen, 2023

Künstler und Bildthemen

Josep Renau wurde 1907 im spanischen Valencia geboren, wo er zwischen 1919 und 1925 an der Kunsthochschule San Carlos studierte. 1931 trat er in die kommunistische Partei ein und engagierte sich als Künstler und Kulturfunktionär. 1939 emigrierte er vor dem Franco-Regime nach Mexiko. Bereits zuvor hatte er Daniel Alfaro Siqueiros (1896–1974) kennengelernt und arbeitete mit ihm im Exil an Wandbildern sowie als Werbegrafiker und Illustrator. 1958 siedelte er auf Einladung der Regierung der DDR nach Berlin über. Hier schuf er in Halle-Neustadt, Halle (Saale) und Erfurt fünf monumentale Wandbilder.[7]

Hinter dem mehrteiligen Zyklus in Halle-Neustadt, der ursprünglich fünf Wandbilder umfassen sollte, letztlich aber auf zwei Wandbilder am Internatsgebäude und ein Bild an der Mensa reduziert wurde, steckt eine komplexe Konzeption, die die öffentliche Kunst in ihrer dynamischen und in ihrer sozialen Funktion begreift. Die ersten Entwürfe waren teils deutlich abstrakter. So sah Renau am nördlichen Treppenhaus des Internats zunächst Darstellungen der »vom Menschen noch nicht eroberte[n] Natur« vor, »Sonnenstrahlung, einen Vulkan, das Feuer, sozusagen ein politisches Resumé entfesselter Naturgewalten.«[8] Dem »Auftraggeber« erschien dies nicht nur zu abstrakt, sondern auch zu wenig inhaltlich, sollten doch politische Botschaften bzw. idealisierte Bilder einer von Grund auf neu zu entwickelnden sozialistischen Gesellschaft vermittelt werden. Schließlich entstand 1974 zunächst am linken Treppenhaus des Internats das 7 Meter breite und 35 Meter hohe Bild mit dem Titel Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik, das die damals prognostizierte rasante Entwicklung von Wohnungsbau, Technik, Industrie und Weltraumforschung im Sozialismus zeigt (Abb. 2, 3). Im unteren Abschnitt steht, mit dem Rücken zum Betrachter, ein Arbeiter mit hoch erhobenen Armen und geballter rechter Faust als Symbol der Macht der Arbeiterklasse vor einer Menschengruppe über der Zahnräder zu Wolkenkratzern, Industrieanlagen und einer Rakete überleiten. Bekrönt wird das Bild von einem roten fünfzackigen Stern als Sinnbild der sozialistischen bzw. kommunistischen Weltanschauung.

Zeitgleich erhielt das rechte Treppenhaus das Bild mit dem Titel Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR (Abb. 4). Es symbolisiert durch den dargestellten Handschlag im unteren Abschnitt die Aufhebung der Spaltung der Arbeiterklasse.[9] Die demonstrierenden Menschen darüber erinnern an die Kämpfe im mitteldeutschen Raum im Kontext der Novemberrevolution. Mit Orgelpfeifen, Mikroskop und Ähre als Symbole für Kunst, Wissenschaft und Landwirtschaft wird zum monumentalen Porträt von Karl Marx im oberen Bildteil geleitet, der politischen und weltanschaulichen Leitfigur.[10] Als drittes Element entstand an der nahe gelegenen Mensa das 5,50 Meter hohe und 43 Meter lange Bild mit dem Titel Marsch der Jugend in die Zukunft (siehe Abb. 1). Dieses wurde trotz seines Denkmalstatus im Jahr 1998 bei gravierenden Umbauarbeiten für eine Neunutzung des Hauses abgebrochen.

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Josep Renau, links: Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik, rechts: Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR, beide 1971–1974, Aufnahme nach der Restaurierung 2023
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Josep Renau, links: Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik, rechts: Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR, beide 1971–1974, Aufnahme nach der Restaurierung 2023

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Josep Renau, links: Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik, rechts: Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR, beide 1971–1974, Aufnahme nach der Restaurierung 2023
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Josep Renau, links: Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik, rechts: Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR, beide 1971–1974, Aufnahme nach der Restaurierung 2023

Die Wandbilder waren sowohl auf eine Fern-, als auch auf eine Nahwirkung angelegt. Renau gelang eine Gestaltung, die aus der Ferne zunächst weitgehend abstrakt wirkt, deren inhaltliche Detailliertheit sich aber beim Näherkommen erschließt. Dem vorausgegangen war seine gründliche Analyse der städtebaulichen Situation des Bauensembles Internat und Mensa in östlicher Randlage des Bildungszentrums und dessen Raumwirkungen u. a. zum geplanten Stadtzentrum. Die Farbigkeit und der Bildaufbau sind aufwendig und raffiniert komponiert. In ihrer faszinierenden Polychromie, ihrer vom Kubismus und Futurismus inspirierten Formensprache, der Verschmelzung von grafischen und collageartigen Bereichen gehören die beiden erhaltenen Bildwerke an den Treppentürmen zu den herausragenden Werken der Kunst am Bau in der DDR.[11]

Technische Herstellung

Die Wandbilder bestehen je Treppenturm aus 232 Fliesenreihen in 47 Spalten. Es handelt sich um industriell vorgefertigte Fliesenrohlinge der VEB Fliesenwerke Boizenburg, die überwiegend als Steingut, vereinzelt und vor allem im oberen Bildbereich als Terrakotta vorliegen. Ihre Maße variieren und betragen im Mittel etwa 15 mal 15 Zentimeter. Die bildgebende Oberfläche ist als glasierte Fliesenmalerei ausgeführt. Die Einzelfliesen sind durch Farbdifferenzen, brandbedingte und bildwirksame Werkspuren gekennzeichnet und nicht selten polychrom ausgeführt. Dazu notierte Scholz rückblickend 2005: »In den siebziger Jahren war die Brenntechnologie in den Fabriken eine völlig andere als heute. So war es möglich, dass Chargen gleicher Fliesen von unterschiedlicher Dichte ihres Scherbens entstanden. Außerdem zwang uns die Vielfalt der erforderlichen Farbglasuren unterschiedlichste Grundglasuren einzufärben, um die gewünschte Farbskala zu erreichen. So waren Haarrisse teilweise vorprogrammiert.«[12]

Als konstruktiver Träger der Wandbilder dienen die gegossenen Betonfertigteile des Plattenbaus (Abb. 5). Eine Turmfläche setzt sich aus zwei Spalten á 12,5 Platten zusammen, die um eine halbe Platte versetzt angeordnet sind. Die horizontalen Dehnungsfugen verlaufen somit zumeist nur in einer Spalte äquivalent bis in die Fliesenebene. Bei der korrespondierenden Spalte wurden sie vereinheitlichend überdeckt. Scholz schrieb 2005: »Sie [die Dehnungsfugen] wurden mir seinerzeit vom Autor des Entwurfs und vom Projektanten vorgegeben, weil sich nach deren Auffassung Dehnungen ausschließlich an der Oberfläche auswirken.«[13] Die Komposition hätte bei minimalem Versatz zudem einen massiven Bruch erhalten.

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Ehemaliges Lehrlingswohnheim und Klubmensa, während der Erbauung, 1970
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Ehemaliges Lehrlingswohnheim und Klubmensa, während der Erbauung, 1970

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Detail des rechten Wandbilds, Schadensbild am Dachanschluss, Aufnahme 2022
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Detail des rechten Wandbilds, Schadensbild am Dachanschluss, Aufnahme 2022

Gemäß bauzeitlichen Befunden ist davon auszugehen, dass Fugen und Betonoberflächen ursprünglich einen einheitlichen bräunlich grauen Farbton aufwiesen. Auf den Betonoberflächen wurde dies durch einen korngefüllten Schlämmputz erzielt. Die ehemals mit dem Boden der Schalungsform übereinstimmende Plattenseite bildet heute die Montageseite der Fliesen. Sie erhielt im Vorfeld der Verlegung keinen Vorspritzmörtel, was spätere Haftungsverluste zusätzlich begünstigen sollte. Der bis zu 2,5 Zentimeter starke Verlegemörtel wurde auf die Rückseite der Fliesen aufgetragen. Der Versatz der Fliesen erfolgte von unten nach oben. Die Bildfläche stimmt teils nicht genau mit der der Betonplatten überein. Hieraus ergibt sich insbesondere in den oberen Turmflächen ein Überstand der Fliesen von bis zu zwei Zentimetern, der bauzeitlich bereits angeböscht wurde.[14]

Instandsetzung und Restaurierung

Die Sanierung der Fassade des ehemaligen Lehrlingswohnheims wurde von der Stadt Halle seit 1999 avisiert. Das 2005 vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt (LDA) ermöglichte restauratorische Gutachten zum linken Bild Die vom Menschen beherrschten Kräfte von Natur und Technik konzentrierte sich auf die Erstellung eines Restaurierungskonzepts zur Erhaltung des Wandbildes in situ. Im Ergebnis detektierten sowohl Scholz als auch die 2005 beauftragte Fachfirma für Restaurierung bereits maßgeblich alle zukünftig zu lösenden Schadensprobleme beider Wandbilder.[15] Um eine langfristige Sicherung zu gewährleisten, war es zunächst dringend erforderlich, die an beiden Türmen bauzeitlich unzureichend ausgeführten, nicht mehr intakten Dachanschlüsse zu reparieren. An diesen Stellen hatte das ungehindert eindringende Regen- und Tauwasser zu massiven Schäden an den empfindlicheren Terrakottafliesen und an der Betonkonstruktion geführt. Ein weiteres Kernproblem stellten die nicht funktionalen Dehnungsfugen dar. So führten die Stauchungen an Dehnungsfugen zu Lockerungen angrenzender Fliesen, der Bestand an Morinolfugen war auszutauschen, eindringende Witterung beeinträchtigte die Substanz. Noch im November 2005 wurde die Restaurierung des linken Wandbildes abgeschlossen.

Für das zweite Wandbild Einheit der Arbeiterklasse und Gründung der DDR gab es seither eine Absturzsicherung lockerer Bereiche und den durch das Gutachten angezeigten Handlungsbedarf (Abb. 6).[16] Aufwind bekam das Vorhaben mit der Bearbeitung des Renau-Werks Die Beziehung des Menschen zu Natur und Technik in Erfurt, dessen Erforschung, Restaurierung und Wiederaufstellung durch die als verantwortliche Projektträgerin und Bauherrin agierende Wüstenrot Stiftung ermöglicht wurden. Im Zuge der Ausweitung des Stiftungsengagements auf weitere Objekte der »Baubezogenen Kunst in der DDR« rückte auch das Hallesche Werk Renaus in den Fokus. In Vorbereitung der ins Auge gefassten Restaurierung führte das LDA 2020 eine Evaluierung der 2005 erfolgten Maßnahmen am linken Bild durch, während die Wüstenrot Stiftung den Zustand des in Rede stehenden Wandbildes im Rahmen einer von ihr beauftragten und finanzierten Zustands- und Schadensbeurteilung prüfte.[17] Die von der Wüstenrot Stiftung im Rahmen eines Kooperationsprojekts mit der Stadt Halle organisatorisch durchgeführten und maßgeblich finanzierten Maßnahmen am rechten Turm begannen im Frühjahr 2022 und konnten im Januar 2023 abgeschlossen werden.

Dabei war es im oberen Bereich der Betonkonstruktion aufgrund der sich deutlich abzeichnenden korrodierenden Armierungen und Risssysteme erforderlich in Einbeziehung eines Statikers eine Betonsanierung umzusetzen.[18] Für die Festigung von Abplatzungen und feinen Rissen wurde 2005 am linken Bild wirksam Acryaltesterpolymerisat in Ethanol/Aceton verwendet. Kittungen erfolgten mit Terrakottaergänzungsmassen, Retuschen mit Glasur-Kaltmalfarben. Die Maßnahmen wurden 2020 wegen ihrer geringen Stabilität infrage gestellt und bereits auf epoxidgebundene Materialien verwiesen.[19] Am rechten Turm kam 2022 zur Verklebung gebrochener Fliesen ein lösungsmittelfreies Zweikomponentenepoxidharz, zur Risskonsolidierung und als Bindemittel für Ergänzungen ein UV-stabiles, lebensmittelechtes, ultraklares Epoxidharz zum Einsatz. Nach Beprobung erwies sich Schriftfarbe aus dem Steinmetzbedarf auf Basis lufttrocknender, einkomponentiger Spezial-Alkydharlacke für Retuschen als Mittel der Wahl. Hinterfüllungen wurden mit einem hochsulfatbeständigen, hydraulischen Injektionsleim vorgenommen. Die Abnahme und Neuanfertigung defekter Fliesen im oberen Wandbereich war unvermeidbar. Zahlreiche Fliesen wurden in den Zonen der überdeckten Dehnungsfugen rückgebaut, in Höhe der Plattenfugen neue Dehnungsfugen ausgebildet und die Fliesen remontiert. 2005 konnten die erforderlichen Neufliesen am linken Turm noch durch Lothar Scholz († 2015) hergestellt werden.[20] Für die neuen Fliesen des rechten Turms wurde eine versierte Keramikerin und Restauratorin gewonnen. Diese Grundlage und der hergestellte Kontakt zu Loren Scholz, der Tochter von Lothar Scholz, ermöglichten auf Altbeständen Boizenburger Steingutrohfliesen erstellte Ergänzungen, die sich abschließend in gelungener Weise ins Bildganze einfügen. Eine zurückhaltende Fehlstellenintegration als Neutralton wurde aufgrund der Komplexität der Gesamtkomposition von Beginn an ausgeschlossen.

Insbesondere aufgrund des engagierten Einsatzes der Restaurator*innen vor Ort war es möglich, an beiden Renaubildern zu insgesamt einheitlichen und sehr guten Gesamtergebnissen zu gelangen.

  1. Abbildungsnachweis

    1: Stadtarchiv Halle (Saale), Sig. NF 10089, © Heinrich Renner. — 2–4: © Wüstenrot Stiftung, Thomas Wolf. — 5: Stadtarchiv Halle (Saale), Sig. NF 9017, © Heinrich Renner. — 6: LDA Sachsen-Anhalt, Sabine Meinel.

Published Online: 2023-05-21
Published in Print: 2023-05-01

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Germany

Downloaded on 21.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/DKP-2023-1011/html
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