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Olaf Rahmstorf, Wikipedia: Die rationale Seite der Digitalisierung? Entwurf einer Theorie. Bielefeld: transcript 2023, 416 S., kt., 38,00 €

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Published/Copyright: August 27, 2025
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Olaf Rahmstorf, Wikipedia: Die rationale Seite der Digitalisierung? Entwurf einer Theorie. Bielefeld: transcript 2023, 416 S., kt., 38,00 €


Das 2023 in der transcript-Reihe Digitale Gesellschaft erschienene Buch Wikipedia: Die rationale Seite der Digitalisierung? Entwurf einer Theorie erweist sich angesichts der aktuellen Entwicklungen zur Regulierung des digitalen Raums sowie der Debatten über Partizipation, Manipulation, gezielte Meinungsbeeinflussung und den Kampf um die Wahrheit als besonders relevant und zeitgemäß. Vor dem Hintergrund derzeitiger Angriffe konservativer US-Akteure auf Wikipedia, denen zufolge es der Plattform an politischer Neutralität mangele, gewinnt die angebotene grundlegende Betrachtung des Neutralitätsbegriffs besondere Relevanz. Sie stellt eine Wohltat soziologischer Reflexion dar und liefert genau die benötigten Klärungen hinsichtlich der zugrunde liegenden Argumentationspraktiken.

Das Buch beginnt mit einem Überblick und einer kleinen Leseanleitung. Es sollen Fragen in den Mittelpunkt gestellt werden, wie: Was bedeutet Neutralität? Ist ein neutraler Standpunkt überhaupt möglich? Sind Wissenschaft und Aufklärung übergeordnete Ordnungsprinzipien, oder stellen sie selbst Standpunkte dar, zu denen sich Wikipedianer:innen neutral verhalten sollten? Zudem wird eine Theorie der Wikipedia in Aussicht gestellt, die das auf digitaler Kooperation basierende Konzept der Enzyklopädie „auf den Begriff bringen“ möchte (S. 16).

Um es vorwegzunehmen: Dieses Vorhaben gelingt ausgezeichnet. Das Buch überzeugt nicht nur durch die sorgfältige Analyse besonders aufschlussreicher Diskussionen unter Wikipedia-Autor:innen, sondern vor allem durch seine fundierte, tiefgehende und dennoch äußerst lesbare Theoriearbeit.

Drei Hauptteile – Praxis, Kodex und Wahrheit – gliedern das Buch. Der erste Teil zur Praxis bietet eine Analyse der Organisation der Redaktionsarbeit auf Wikipedia unter den Bedingungen digitaler Möglichkeiten. Der zweite Teil vertieft diese Betrachtung durch einen genaueren Blick auf die Neutralitätsrichtlinien. Der dritte und längste Teil schließt mit einem ausführlichen theoretischen Exkurs in die Argumentationstheorie ab und eruiert, ob es sich bei Wikipedia tatsächlich um ‚die rationale Seite der Digitalisierung‘ handelt.

Rahmstorf schreibt, dass, wer sich im Kontext von Wissensgesellschaften, Demokratietheorie und Digitalisierung mit der Wikipedia beschäftigt, sich schnell in der Auseinandersetzung über die Gefahren von Social Media wiederfindet. Vor diesem Hintergrund erscheint Wikipedia als „Hort der Vernunft inmitten einer immer irrationaler werdenden digitalen Welt“ und als ein Projekt, das viele Hoffnungen der Pionierphase der Digitalisierung in sich zu vereinen scheint (S. 21). Im derzeit stattfindenden Schub der Digitalisierung steht die Umstrukturierung der Märkte im Vordergrund, auf denen die Quelle des Profits die Marktkontrolle der Meta-Plattformen ist. Ausgangslage des Buches ist also eine Situation, in der Menschen in sozialen Netzwerken ihre eigenen Zugehörigkeiten organisieren, sich ihre eigenen Welten basteln aber eben auch großflächig von finanzstarken Akteuren manipuliert werden. Angesichts von Filterblasen, Fake News, Microtargeting und Clickbaiting stellt Rahmstorf fest: „Die Wikipedia ist nicht gemeint. Die Online-Enzyklopädie stellt aus dieser Sicht vielmehr die andere, die seriöse Seite des Internets dar“ (S. 33). Sie bildet einen Gegenpol zu den Untergangsszenarien, die sich aus den Analysen des kommerzialisierten oder politisch instrumentalisierten Netzes ergeben.

Die Aufgabe, der sich Rahmstorf angenommen hat, ist die Analyse der ganz eigenen Instrumente der Qualitätssicherung, die sich vom klassischen Journalismus unterscheiden.

Teil 1 zu ‚Die Praxis – Soziale Organisation und digitale Technik im Wechselspiel‘ beginnt mit einem Kapitel über die Wikipedia als politische Praxis. Hier wird die Vorgeschichte der Wikipedia als eine Geschichte der Enzyklopädie erzählt. Besonders fokussiert wird dabei auf die ‚Encyclopédie de Diderot et d’Alembert‘. Rahmstorf sieht in dieser besondere Parallelen zur Wikipedia. Beide sind an ein spezifisches Medium gekoppelt, nämlich Buchdruck beziehungsweise Internet, und an eine politische Bewegung: Aufklärung bzw. Free Software-Bewegung. Der Vergleich zwischen den beiden Enzyklopädien bezieht sich auf drei Aspekte: zum einen auf die unterschiedliche Gesprächskultur, die für sowohl die historische Enzyklopädie als auch für Wikipedia von Bedeutung ist; zum zweiten auf die soziale Bewegung, die zur Motivation der Freiwilligen beiträgt; und drittens auf den Gegner der sozialen Bewegung (S. 41).

Unter Bezug auf Habermas und seine Analyse zum Strukturwandel der Öffentlichkeit wird der Diskurs in den Salons der Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts als Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit interpretiert, und deren Aufeinander-bezogen-sein stellt ein zentrales Moment bürgerlicher Öffentlichkeit dar. Wikipedia weist im Vergleich zu den bürgerlichen Salons ein ähnliches Geschlechterverhältnis auf (80 % männlich dominiert), und der Begriff der Community ist ebenfalls zwischen privater und öffentlicher Sphäre angesiedelt. Die Trennlinien verschwimmen jedoch mit der Digitalisierung. Ein wichtiger Unterschied liegt darin, dass die Wikipedia sich entschieden hat, auf Moderation zu verzichten.

Die Enzyklopädisten verstanden sich als eine intellektuelle Bewegung, die die Macht von König und Klerus infrage stellte, indem sie versuchte, die Welt neu zu beschreiben und diese Beschreibungen zu legitimieren. Die Wikipedia hingegen ging aus der Free-Software-Bewegung hervor. Diese schuf für die Wikipedia den Rahmen für ein Arbeitsorganisationsmodell vernetzter Online-Kooperation und auf Lizenzen beruhender Eigentumsverhältnisse, unter denen diese Kooperation stattfindet. Die Zusammenarbeit unter einer freien Lizenz bedeutet die Produktion von Inhalten, aus denen kein Konzern Profit schlagen kann. Somit ist die Wikipedia dem eigentlichen politischen Anliegen der Free-Software-Bewegung verpflichtet. Dennoch versteht sich die Wikipedia als unpolitisch und hat sich dem neutralen Standpunkt verpflichtet: „Nur weil sie politisch neutral ist, kann sie als allgemeines Werk der Aufklärung weltweit Anerkennung finden. Den fortgeschrittenen Demokratien erscheint sie als ausgewogen, in Diktaturen als subversiv“ (S. 53).

Der dritte Vergleichspunkt bezieht sich auf die Gegner. Die Enzyklopädie bot der Aufklärung folgend Herrschaftskritik durch Wissen; oft war diese Kritik versteckt, mit Raffinesse und Humor, um offene Kritik an der Herrschaft zu vermeiden.

Die Praxis des Editierens wird anschließend untersucht, wobei das Prinzip „First Edit – Then Argue“ im Mittelpunkt steht. Rahmstorf interessiert sich besonders dafür, wie die Wikipedia-Community die sich selbst gestellte Aufgabe, nämlich das Erstellen einer Online-Enzyklopädie, mit den ihr eigenen Praktiken des Editierens bewältigt. Die klassischen Enzyklopädien bieten hier Vorbilder, operierten allerdings unter grundlegend anderen technischen und organisatorischen Bedingungen. Wikipedia verfolgte von Beginn an ein neues Prinzip: Sie ermutigt Menschen dazu, auch unvollständige Texte zu veröffentlichen, in der Erwartung, dass Andere diese weiterentwickeln und gegebenenfalls korrigieren. Dadurch wird es auch Laien ermöglicht, sich aktiv an Wikipedia zu beteiligen, während die redaktionelle Arbeit im Laufe der Zeit durch die Community geleistet wird.

Einige der Innovationen, die der Wikipedia zugeschrieben werden, finden sich bereits im spezifischen Arrangement einer Lexikonredaktion oder wurden dort vorbereitet: die Abgabe der Autorenrechte an den Verlag, das damit verbundene ungefragte Bearbeiten von Artikeln, die Anonymisierung der Autor:innen und die Koordination einer großen Zahl von Mitarbeitenden (S. 62–63). An Stelle vorausschauender oder leitender Redaktionstätigkeit treten Richtlinien und Regeln, die jedoch durch die Community einer näheren Ausformulierung bedürfen und in der Alltagspraxis fallspezifisch ausgelegt werden. Die ‚Five Pillars‘ der Wikipedia postulieren nämlich nur recht generell: Wikipedia ist eine Enzyklopädie; Wikipedia wird aus einem neutralen Blickwinkel geschrieben; Wikipedia ist freier Inhalt und jeder kann ihn verwenden, bearbeiten und verteilen; Wikipedias Redakteure sollen einander mit Respekt und Höflichkeit behandeln; Wikipedia hat keine festen Regeln.

Die Redaktionsarbeit auf Wikipedia kann besonders gut beim Umgang mit den Listen ungesichteter Versionen und geschützter Seiten beobachtet werden. Diese Listen dienen auch als Orte, an denen Neuankömmlinge in die Gemeinschaft eingeführt und hartnäckige innere Konflikte ausgetragen werden. Listen stellen somit auf Wikipedia eine Art Architektur des digitalen Raums dar, die vorzeichnet, welche Wege einzuschlagen sind; sie dienen dazu, aufzuzeigen, wo Bearbeitungsbedarf besteht. Rahmstorfs Untersuchung der Listen zeigte, dass Edits eher gelöscht werden, wenn Text geändert, als wenn er nur ergänzt wird. Zudem konnte der Wert von Belegen für die Dauerhaftigkeit von Einträgen beobachtet werden; sogar stark wertende, persönliche Einschätzungen können nämlich untergebracht werden, sofern es eine Möglichkeit gibt, ein Zitat hierzu anzugeben. Demzufolge ist in der Wikipedia die Frage, was eine reputable Quelle ist und was nicht, stark umkämpft.

Drei Debatten, die im Zusammenhang mit sogenannten „Edit Wars“ auf Diskussionsseiten der Wikipedia geführt wurden, werden näher untersucht. Alle drei drehten sich um die korrekte Bezeichnung für einen Sachverhalt, für den es keine offizielle Bezeichnung gab, wie z. B. die Übersetzung des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften als „Wirtschaftsnobelpreis“. Eine eigene Übersetzung würde zur Theoriefindung beitragen und damit den Zielen der Wikipedia widersprechen. Im Verlauf dieser Debatten verschoben sich die Diskussionen von inhaltlichen Auseinandersetzungen hin zur Auseinandersetzung über formale Fragen darüber, welche Version den Wikipedia-Richtlinien entspricht. Es findet also quasi eine Verschiebung von der Sachebene auf eine formale Ebene statt. Die Analyse zeigt, dass solche Debatten oft mit einer Lösung enden, die typisch für eine Online-Enzyklopädie ohne Platzmangel ist: Wenn verschiedene Positionen bestehen, werden im Zweifel alle Fakten aufgenommen. Rahmstorf interpretiert dies als eine Umkehr der Redaktionslogik unter dem Motto „first edit – then argue“. Dies entspricht den Founding Principles der Wikipedia, die den Wikiprozess als letzte Autorität über den Artikelinhalt betrachten und die Idee, dass jeder editieren kann, als wichtigstes Prinzip hervorheben. Der neutrale Blickwinkel (neutral point of view) wird dabei als zentrale Orientierungshilfe beim Editieren von Artikeln angesehen.

Im zweiten Teil des Buches „Der Codex – Die Neutralitätsrichtlinien und ihre wissenschaftliche Erforschung“ wird zunächst der Konflikt zwischen den Wikipedia-Mitbegründern Jimmy Wales und Larry Sanger beleuchtet. Dieser Konflikt drehte sich um das Thema Bias und führte zur Entwicklung der Prinzipien, dass ein neutraler Blickwinkel einzunehmen sei und divergierende Positionen dargestellt werden sollen, ohne eine davon zu bevorzugen (S. 104). Sanger strebte dabei nicht die Integration verschiedener Perspektiven in eine einzige neutrale Sichtweise an, sondern das Nebeneinanderstellen dieser Perspektiven (S. 108).

Was unterscheidet aber die Konzepte „lack of bias“ und neutraler Gesichtspunkt? Der Unterschied liegt darin, dass Neutralität mehrere Parteien voraussetzt, die sich erkennbar zu einem Standpunkt äußern. In diesem Fall ist Neutralität vergleichsweise einfach umzusetzen. Schwieriger gestaltet sich jedoch der Umgang mit weniger offensichtlichen Bias innerhalb der Community, wie etwa einem Gender-Bias. Der Autor stellt fest: „Insgesamt zeigt sich, dass Wikipedia größere Probleme hat, einen solchen Bias in den Griff zu bekommen als mit klar definierten, konträren politischen Positionen umzugehen“ (S. 113). Wikipedia hat merklich mehr männliche Autoren, und es ist unklar, wie dies den neutralen Standpunkt und seine Umsetzung im alltäglichen Arbeiten beeinflusst. Eventuell ist es gerade die Mühe des Prozesses, die ein Durchsetzen der Richtlinien verhindert und damit die angemessene Repräsentation von Frauen behindert.

Im ersten Teil des Buches wird gezeigt, wie das Zusammenspiel von technischen Einrichtungen, sozialem Engagement und formalen Richtlinien eine bestimmte Art des Diskurses hervorbringt. Im zweiten Teil werden dann die Regeln näher untersucht. Der dritte Teil „Die Wahrheit – Die Argumentationstheorie als Mittler zwischen Produkt und Prozess“ soll nun die Interaktion zwischen den Akteuren begreifen, wenn diese sich auf die Logik des Wikipedia-Diskurses einlassen. Rahmstorf möchte innere Inkonsistenzen und immanente Widersprüche, die von den Wikipedianern als kognitive Dissonanz erlebt werden und als Konflikte ausgetragen werden, aufspüren (S. 211).

Zuerst werden formale Logik, Dialektik und Rhetorik als Quellen der aktuellen Argumentationstheorie ausführlich behandelt. An diesem Punkt im Buch wäre es für die Leserin, die sich konkret für die gegenwärtigen Probleme von Social Media interessiert und hofft, zu verstehen, warum es mit Wikipedia gelungen scheint, die Aufklärungsideale des Internets zu verwirklichen, etwas langwierig – wäre nicht Rahmstorfs klare und unterhaltsame Art des Schreibens. Es folgt eine ausführliche Darstellung der Argumentationstheorien im 20. Jahrhundert unter besonderer Beachtung der Werke von Toulmin, Perelman, Austin und Searle, um dann Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns ausführlich darzustellen und kommunikatives Handeln als zu erreichendes Paradigma einzuführen. Es folgt eine Darstellung der praktischen Argumentationstheorie von Lumer und ein Exkurs zu Alvin Goldmans sozialer Epistemologie sowie Robert Alexys Theorie der juristischen Argumentation. Wer sich für Argumentationstheorie interessiert, findet hier eine außerordentlich gute und kritische Zusammenfassung.

Was ist jedoch die Bedeutung der Argumentationstheorie für Wikipedia? Zusammenfassend wird in der Literatur der Argumentationstheorie gegenüber dem erkennenden (einsamen) Individuum ein sozialer Zusammenhang für die Erkenntnisproduktion verantwortlich gemacht und soll auch für diese genutzt werden. In diesem Sinne setzt Wikipedia das in Szene, was vorher undenkbar schien, aber doch in irgendeinem Sinne vorgedacht wurde: „Wahrheiten werden in einem offenen, kollektiven, im Wesentlichen nur über diskursive Aushandlungsverfahren organisierten, handlungsentlasteten, anonymen und globalen Prozess produziert“ (S. 303). Dabei gibt es Zugangsbeschränkungen ad argumentum, nicht ad personam.

Ziel des Buches ist es nicht, die Wikipedia nachträglich mit diesen Theorien zu unterkellern, sondern vielmehr einen Diskussionsbeitrag zur kontroversen Wikipedia-Debatte beizutragen, der versucht, die verschiedenen Positionen in der Wikipedia-Forschung zu ordnen und zwar unter Rückbezug auf erkenntnistheoretische Debatten. Es geht also nicht um eine vage Analogie, sondern um vergleichbare Argumentationsmuster aufgrund vergleichbarer Problemlagen. Sie finden sich etwa in den Diskussionen der beiden Wikipedia-Gründer Sanger und Wales, die unterschiedliche Schwerpunkte zum Projekt vertraten. Sanger stellte das Produkt in den Vordergrund, Wales eher das Entwickeln einer Community. In der Argumentationstheorie findet sich dieses Motiv wieder, wenn es darum geht, ob entweder das aushandelnde Kollektiv im Vordergrund steht oder die Rationalität des Verfahrens.

Findet auf Wikipedia nun ein herrschaftsfreier Diskurs im Sinne von Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns statt? Wie auch andere schrieben, kommt er dem recht nahe:

Die vorliegenden Reflexionen belegen hinreichend, dass kommunikatives Handeln, wenn man es im Gegensatz zu strategischem Handeln sieht, das wesentliche Strukturmerkmal der Wikipedia ist. Strategisches Handeln in der Online-Enzyklopädie ist demgegenüber parasitär, was sich einerseits an den internen Abwehrmechanismen ablesen lässt, andererseits auch an den Reaktionen in der Öffentlichkeit, wenn solch parasitäres Verhalten durchbricht. (S. 323)

Der Vergleich des idealen Diskurses mit den formalen Strukturen der Wikipedia lässt jedoch, so das hier vorgelegte Argument, die Praxis außer Acht: Eine ganze Schar sich widersprechender Diskursteilnehmer:innen und große Sorgfalt sind schließlich notwendig, um die Spielbedingungen des aufgespannten Diskursraums zu praktizieren (S. 322). Rahmstorfs Theorie beachtet demzufolge Geschichte, Richtlinien und Praxis der Wikipedia.

Forschung zu Wikipedia hat den Diskursraum auf den Diskussionsseiten häufig in das Zentrum ihrer Untersuchung gestellt. Auch bei Rahmstorf sind die Diskussionsseiten ein zentraler Ort für die Bildungsprozesse der Community, der jedoch von dieser selbst nicht unbedingt so betrachtet wird (S. 324). Schließlich gibt es neben der Fülle an Richtlinien zum Verfassen von Artikeln kaum Richtlinien zur Konsensfindung und zum angemessenen Verhalten im Diskurs, insbesondere in der deutschen Sprachversion.

Rahmstorf geht nun der Frage nach, ob das Wikipedia-Diskursfeld spezifischen Kriterien gehorcht oder diese einem Diskurstyp im Sinne von Habermas' Rationalitätstheorie zugeordnet werden können (S. 325). Er kommt zu dem Schluss, dass es zwei Ebenen gibt: Auf der ersten Ebene, der inneren Wahrheit der Wikipedia, findet sich eine feldspezifische Argumentationslogik, die alle Argumente auf die Richtlinien, wie etwa das Gebot eines neutralen Standpunkts bezieht (S. 326). Diese realen Debatten in der Wikipedia greifen jedoch zwangsläufig immer wieder auf die Welt da draußen durch und auch die ehrenamtlichen Autor:innen sind in dieser verortet und brauchen diesen Sinnbezug, um Identitätsgewinne aus der Freiwilligentätigkeit zu schöpfen. Hier kommt Rahmstorfs genauer Blick auf die Praxis einer Theorie zugute, die es tatsächlich schafft, Geschichte, Richtlinien und Praxis allesamt zu beachten und das eigentliche Potential der Wikipedia in den geführten Auseinandersetzungen zu verorten, die die Inhalte bestimmen – Prozess und Produkt zugleich. Rahmstorf schreibt: „Der hoffnungsvolle Teil der Wikipedia liegt genau in jenen Debatten, kontroversen Diskussionen, ja Edit Wars, die über die mechanische Anwendung der Richtlinie hinausweisen und den Akteuren ermöglichen, (...) die scholastischen Diskurse in echte Debatten zu verwandeln“ (S. 326). Dies ist der Fall, da hierbei Wille und Fähigkeit vorhanden sind, sich überzeugen zu lassen.

Wie gelang es nun auf der Wikipedia genau, diese Utopie der Auseinandersetzung zu verwirklichen? Im Fazit stellt Rahmstorf fest, dass die Wikipedia nicht nur die Prinzipien der Free-Software-Bewegung übernommen hat; sie hat sich in einem auf Monopole ausgerichteten Markt auch erfolgreich gegen proprietäre Modelle globaler digitaler Wissensproduktion durchgesetzt. Sie hat mit der Öffentlichmachung der Produktion und Diskussion des auf der Plattform dargebotenen Wissens ein Zeichen gegen die Einbeziehung digitaler Peer-Production in die wirtschaftliche Profitlogik gesetzt. Damit hat sie auch ein Gegenmodell zur marktförmig organisierten Plattformökonomie etabliert, also verhindert, dass Wissen zu einer Ware wird, aus der sich Profit schlagen lässt (S. 360). Und so gibt das Buch auch die Antwort darauf, warum auf Wikipedia gelingt, was auf anderen Plattformen undenkbar wäre, nämlich rationale Diskurse und der Wahrheit verpflichtete Inhalte.

Der Politikbegriff der Wikipedia ist damit zwar herrschaftskritisch, bewegt sich aber jenseits eines parteipolitischen Politikbegriffs. Dieser metapolitische Standpunkt bildet sich im Neutral Point of View ab: Standpunkte sind darzustellen, aber nicht einzunehmen. Rahmstorf hat dabei, dies einschränkend, gezeigt, dass auch das scheinbar neutrale Nebeneinanderstellen Interessen abbilden kann.

Rahmstorfs Theorie über Wikipedia besticht durch ihre umfassende Detailtiefe. Sie taucht tief in die Argumentationstheorie ein und zieht Vergleiche zwischen der Praxis von Wikipedia und jener der frühen Enzyklopädisten. Durch diese Herangehensweise trägt er maßgeblich zur soziologischen Theoriebildung bei, indem er die Wikipedia selbst verständlich macht und ihren gesellschaftlichen Wert aufzeigt. Das Buch schließt mit dem Satz:

Sieht man die Wikipedia in diesem Sinne als wichtigen Pfeiler dessen, was im digitalen Zeitalter Öffentlichkeit bedeuten kann, dann lässt sich die Frage: Ist die Wikipedia politisch? mit dem Satz beantworten: Die Wikipedia hat keine politische Mission, aber sie ist eine. (S. 374)

Online erschienen: 2025-08-27
Erschienen im Druck: 2025-08-27

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 11.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2025-2029/html
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