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„Alles noch in Ordnung da draußen? Alle noch bei der Stange?“ Neue Forschungen zum sozialen Zusammenhalt

Reinhold Sackmann / Peter Dirksmeier / Jonas Rees / Berthold Vogel (Hrsg.), Sozialer Zusammenhalt vor Ort: Analysen regionaler Mechanismen. Frankfurt am Main: Campus 2024, 233 S., br., 38,00 € Maike Simmank / Berthold Vogel (Hrsg.), Zusammenhalt als lokale Frage: Vor Ort in Saalfeld-Rudolstadt. Baden-Baden: Nomos 2022, 187 S., kt., 39,00 €
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Published/Copyright: July 29, 2025
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Rezensierte Publikationen:

Reinhold Sackmann / Peter Dirksmeier / Jonas Rees / Berthold Vogel (Hrsg.), Sozialer Zusammenhalt vor Ort: Analysen regionaler Mechanismen. Frankfurt am Main: Campus 2024, 233 S., br., 38,00 €

Maike Simmank / Berthold Vogel (Hrsg.), Zusammenhalt als lokale Frage: Vor Ort in Saalfeld-Rudolstadt. Baden- Baden: Nomos 2022, 187 S., kt., 39,00 €


Im Zeichen gesellschaftlicher Spaltungstendenzen und eines als unbefriedigend wahrgenommenen wissenschaftlichen Beitrags zum politischen Zusammenhaltsdiskurs gründete sich im Jahr 2020 das „Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ). Über elf Standorte verteilt, verschreibt sich das mit BMBF-Mitteln geförderte Institut der Grundlagenforschung, aber auch angewandten Fragestellungen zu diesem „obskure[n] Objekt der Begierde“ (Lessenich, 2022, S. 24). Nach dem vielbeachteten programmatischen Auftaktband „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (Deitelhoff et al., 2020) veröffentlichen die mehr als zweihundert am Institut beteiligten Wissenschaftler:innen[1] mittlerweile im Wochentakt neue Publikationen zum Thema. Eine der jüngeren Veröffentlichungen ist der von Reinhold Sackmann, Peter Dirksmeier, Jonas Rees und Berthold Vogel herausgegebene Sammelband „Sozialer Zusammenhalt vor Ort“, in dem für verschiedene lokalräumliche Kontexte eine sozialwissenschaftlich-empirische Bestandsaufnahme vorgenommen wird. Sie löst damit die im Auftaktband gestellte Aufgabe ein, wonach sich sozialer Zusammenhalt empirisch bestimmen müsse und nicht als normativer Begriff gesetzt werden solle (Sackmann et al. in Sackmann et al., S. 22). Dieser Intention folgend, orientiert sich die vorliegende Rezension an dem empirischen Vorhaben und wird Fragen der Begriffsneutralität und der Rolle des FGZ im öffentlichen Zusammenhaltsdiskurs, die Stephan Lessenich (2022) in seiner Besprechung des Auftaktbandes vorgenommen hat, nur am Rande streifen.

Damit zurück zum Anliegen des Bandes, gesellschaftlichem Zusammenhalt auf der lokalen Ebene – und damit gewissermaßen von der gesellschaftlichen zur sozialen Nomenklatur wechselnd – empirisch nachzugehen. In dieser Intention trifft es sich mit einem zweiten, von Maike Simmank und Berthold Vogel im Nomos Verlag herausgegebenen Sammelband. Auch in „Zusammenhalt als lokale Frage“ geht es um die Erscheinungsformen, Gefährdungen und Bemühungen des sozialen Zusammenhalts aus lokaler und regionaler Perspektive. Zugrunde liegt diesem Band jedoch ein Forschungsprojekt zum Konzept der „Sozialen Orte“, das sich im Band als konstitutiv für Fragen des Zusammenhalts erweisen wird. Beide Bände versprechen Einblicke, wie sich die Diagnose des gefährdeten gesellschaftlichen Zusammenhalts lokal übersetzt. Inwiefern wird das soziale Miteinander in Städten und Gemeinden tatsächlich brüchig? Was sind die Ursachen und Wirkungen und welche Bemühungen zur Stärkung des Zusammenhalts gibt es? Lassen sich Unterschiede zwischen Groß- und Kleinstädten, zwischen Kommunen im Osten, Westen, Norden oder Süden der Republik feststellen und wodurch ergeben sich diese?

Beide Bände und die zugrundliegenden Forschungen gehen das Thema sehr unterschiedlich an. Der Band von Sackmann und Kollegen basiert auf einem großangelegten Regionalpanel, in dem mehrere tausend Bewohner:innen mittels standardisiertem Fragebogen befragt wurden. Acht empirische Beiträge ergründen, inwiefern der soziale Zusammenhalt systematisch zwischen unterschiedlichen Kontextbedingungen variiert, darunter der Größe und geografischen Lage des jeweiligen Ortes, der Milieuzugehörigkeit, des Wahlverhaltens, der Infrastrukturausstattung, des Medienkonsums und der Erinnerungskultur. Methodisch reichen die Analysen von multivariater Statistik bis zur objektiven Hermeneutik und erschließen sich auch in den jeweiligen Methoden ungeübten Leser:innen. Einleitende Theorie- und Methodenartikel führen in Thema und Vorgehensweise ein, der abschließende Kommentar beleuchtet die Erkenntnisse aus Sicht der Stadtsoziologie und dient als kritisches Korrektiv. Als leserfreundlich erweisen sich die jedem Beitrag vorangestellten Abstracts.

Während im ersten Sammelband die zwölf Fallorte eher Datenlieferanten als eigenständige Untersuchungsobjekte sind, stellt der Band von Simmank und Vogel eine konkrete Fallregion in den Mittelpunkt. Der thüringische Landkreis Saalfeld-Rudolstadt ist nicht nur Hintergrundfolie für die Frage sozialen Zusammenhalts, sondern selbst Forschungsgegenstand. Auch hier widmen sich die Beiträge einzelnen Aspekten sozialer Kohäsion, in der Erwartung, dass sich die Teile zu einem Gesamtbild des Zusammenhalts in der Region fügen. Die Relevanz des Forschungsgegenstandes begründet sich dabei weniger über den wissenschaftlichen Diskurs als vielmehr über die Herausforderung, gleichwertige Lebensverhältnisse und Legitimität in einem Landkreis zu sichern, der von Transformationserfahrungen und Peripherisierung (Kühn, 2015) geprägt ist (S. 21–32). Die vierzehn Beiträge stammen von Wissenschaftler:innen des „Soziale Orte“-Projektes, aber auch von externen Forscher:innen und Praktiker:innen, die zu Saalfeld-Rudolstadt forschen oder dort arbeiten. Der Band zielt nicht nur auf ein akademisches Publikum, sondern auch auf Engagierte und Entscheidungsträger:innen.

Was haben die Bände inhaltlich zu bieten? Der Blick richtet sich zunächst auf den einleitenden Beitrag im ersten Sammelband (Dirksmeier et al. in Sackmann et al.), der die Relevanz des Lokalen für die Frage des Zusammenhalts zu plausibilieren sucht. Gemäß des ersten Gesetzes der Geographie (Tobler, 1970) sei soziale und räumliche Nähe, wie sie in lokalen, dicht besiedelten Umfeldern besteht, ein erster Bestimmungsgrund. Entscheidend sei hier aber nicht die Beziehungsqualität des Einzelnen zum lokalen Umfeld als Ganzes, sondern die Kohäsion zwischen sozialen Gruppen, die sich in diesem Kontext begegnen (S. 9). Dieser Zusammenhang werde um Qualitäten des räumlichen Kontextes ergänzt, namentlich, ob es sich um eine Stadt, eine Region oder einen ländlichen Raum handelt (S. 15). Interessant ist, dass erste Befunde für ländliche Räume auf einen ausgeprägteren Zusammenhalt schließen lassen als städtische (S. 15–18), was in einem Spannungsverhältnis zum ersten Postulat steht, aber eben auch simplifizierenden, normativen Sichtweisen vorbeugt. Gleichsam als zweiter Teil der Einleitung folgt eine methodische Einführung zum Regionalpanel (Sackmann et al. in Sackmann et al.). Bei den im Band genutzten Daten handelt es sich demnach um die erste Erhebungswelle des als Längsschnittbefragung konzipierten Panels. Die realisierte Stichprobe ist mit 12.493 Fällen und einer Rücklaufquote von 29 Prozent beachtlich. Erhoben wurde in zwölf Klein-, Mittel- und Großstädten in den vier Himmelsrichtungen des Landes, was neben den naheliegenden Ost-West-Kontrasten weitere geografische Vergleichsmöglichkeiten eröffnet. Der fehlende Einblick in den verwendeten Fragebogen (und sei es über einen Link) ist angesichts der sonst waltenden methodischen Sorgfalt jedoch bedauerlich, denn er beeinträchtigt die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse.

Derart gerüstet, wüsste man nun gern mehr über unterschiedliche Ausprägungen des Zusammenhalts und ihre Ursachen. Bevor es dazu kommt, folgt die Operationalisierung des „sozialen Zusammenhalts lokaler Gesellschaften“ (Sackmann und Mayer in Sackmann et al., S. 42), die sich, kurz gesagt, aus den drei Komponenten raumbezogene Identifikation, Vertrauen und kollektive Wirksamkeit ergibt und als latente Variable gemessen wird. Dass hier weder die im Eingangsartikel hergeleitete „Kohäsion zwischen Gruppen“ noch die für das Forschungsinstitut konstitutive Begriffsbestimmung von Forst (2020) operationalisiert wird, überrascht dann doch und wäre einer Erläuterung wert gewesen. Sieht man über diese Ungereimtheiten hinweg, erschließen sich interessante Befunde. So zeigt sich für die ostdeutschen Untersuchungsorte ein geringeres Maß an Zusammenhalt, während innerhalb der altbundesrepublikanischen Erhebungsorte keine signifikanten Unterschiede beim Zusammenhalt zutage treten. Die vergleichsweiße hohen Zusammenhaltswerte in den untersuchten Kleinstädten und Dörfern und die im Vergleich abfallenden Werte in Mittel -und Großstädten stützen die bereits oben erwähnte Beobachtung eines stärkeren Zusammenhalts im ländlichen Raum.

Die folgenden Empiriebeiträge widmen sich jeweils spezifischen Ursachen und Folgen sozialen Zusammenhalts. Die herausgearbeiteten Forschungsstände und theoretischen Einordnungen sind auf hohem Niveau, die empirischen Analysen und die Prägnanz der Befunde nehmen im Verlauf des Bandes jedoch tendenziell ab. Einen sehr lesenswerten Beitrag liefern Dirksmeier und Gröb über urbane Nachbarschaften als „Zentren des Zusammenhalts“ (Dirksmeier und Gröb in Sackmann et al.). Die Autor:innen machen anhand von Mixed-Methods-Analysen deutlich, dass der „minimalsympthatische Austausch“ (S. 73) im urbanen Umfeld einen großen Einfluss auf das Empfinden sozialen Zusammenhalts besitzt. Wo sich Menschen mit ihren Nachbarn verbunden fühlen und Kontakte pflegen, wird auch ein ausgeprägterer überörtlicher gesellschaftlicher Zusammenhalt wahrgenommen. Die Autor:innen sprechen bei urbanen Nachbarschaften mit Häußermann (1998) gar von einer „Integrationsmaschine“ (S. 75), was angesichts der insgesamt geringeren Zusammenhaltswerte in Großstädten etwas überinterpretiert erscheint. Weitere Befunde besagen, dass die Nutzung klassischer Medienangebote und vielfältiger Informationsquellen dem sozialen Zusammenhalt zugutekommen, geringe Mediennutzung und die Dominanz sozialer Medien diese aber eher abschwächt. Geteilte Erinnerungen an lokal bedeutsame und gemeinsam gemeisterte Ereignisse wie Flutkatastrophen korrespondieren mit ausgeprägterem Zusammenhalt. Andere Ergebnisse sind weniger prägnant oder widersprechen den Erwartungen. So kann die Annahme, dass ein starker Zusammenhalt die Wahrscheinlichkeit für die Wahl der AfD senkt, nicht eindeutig bestätigt werden. Während die Begriffskomponenten „Vertrauen“ und „kollektive Wirksamkeit“ die Wahrscheinlichkeit für die Wahl der AfD verringern, erhöhen eine starke raumbezogene Identifikation mit der Bundesrepublik, dem Bundesland und dem Wohnort die Wahrscheinlichkeit für ein Kreuz bei der Rechtsaußenpartei. Das könnte ein Hinweis auf die Ambivalenz des Zusammenhalts-Konstrukts sein, das eben nicht nur Inklusion, sondern auch den Ausschluss von nicht als zugehörig definierten Gruppen bedeuten kann. Die Autor:innen präferieren jedoch eine andere Interpretation, indem sie den Konnex von raumbezogener Identifikation und rechter Wahlpräferenz als eine spezifisch ostdeutsche Form der Identifikation deuten (die Analyse beruht allein auf der Stichprobe aus Magdeburg). Hier, wie an anderer Stelle, an der ein Zusammenhang zwischen „Ruralisierung“ und Rechtslastigkeit nahegelegt wird (S. 138), neigen die Autor:innen zu unangenehmen Pauschalisierungen. Gleichfalls nicht überzeugen kann der Beitrag zur Zufriedenheit mit Wohninfrastrukturen in Mittelstädten (Hesse et al. in Sackmann et al.). Aus einer zunehmenden Attraktivität von Mittelstädten und damit einhergehenden Mietsteigerungen auf den Verlust ihrer sozialräumlichen Kohäsionskraft zwischen Land und Großstadt zu schließen, ist kaum nachvollziehbar und empirisch nicht gedeckt. Hier hätte man sich eine strengere Qualitätskontrolle gewünscht.

Die mangelnde Integration der Beiträge ist auch ein Kritikpunkt in der abschließenden Einordnung von Dieter Rink und Annegret Haase. Vermisst werden Konfliktperspektiven und politische Einordnungen sowie das Berücksichtigen von Debatten und Wissen zu Region, Stadt und Land. So besitze die Stadtsoziologie mit der Segregationsforschung ein etabliertes Instrumentarium für das Erfassen von Polarisierungstendenzen. Potentiale sehen Rink und Haase im Regionalpanel als primäre, raumsensible Datenquelle (S. 228), die, so möchte man ergänzen, durch ihr Längsschnittdesign zukünftig neben den vorliegenden Querschnittsuntersuchungen auch die Analyse von Veränderungsprozessen ermöglicht.

Wo es dem ersten Band an einer Rückbindung an Polarisierungserfahrungen und -debatten fehlt, könnte der zweite Band durch seinen Fokus auf eine ostdeutsche, ländliche und von Peripherisierung geprägte Untersuchungsregion Erkenntnislücken schließen. Die einführende Argumentationslinie über soziale Verlusterfahrungen und demografische Abwärtsspiralen weisen zunächst in diese Richtung. Um es aber vorwegzunehmen: Auch „Zusammenhalt als lokale Frage“ kann diese Erwartungen nicht einlösen. Das angekündigt „geschärfte Bewusstsein davon, was vor Ort besteht“ entpuppt sich als ein unkritisches Indienststellen für zivilgesellschaftliche Initiativen und regionale Demokratieprojekte, den – wie an einer Stelle apostrophiert wird – „Virtuosen des Wandels“ (S. 10). „Zusammenhalt“ wird nicht hinterfragt und als „gesellschaftliche Leitvokabel“ (Deitelhoff et al., 2020, S. 9) umstandslos übernommen. Dabei hätte die peripher gelegene Fallregion das Potenzial gehabt, den Umgang der Menschen mit dem Zusammenhaltsimperativ der eher großstädtisch verorteten gesellschaftlichen Mitte zu erkunden, den Stephan Lessenich treffend auf den Punkt bringt: „Alles noch in Ordnung da draußen? Alle noch bei der Stange?“ (Lessenich, 2022, S. 31)

Das Anliegen des Bandes besteht darin, die Rolle von sozialen Orten und bürgerschaftlichem Engagement für sozialen Zusammenhalt zu ergründen. Begriffe und vermutete Zusammenhänge bleiben aber entweder im Dunkeln (Zusammenhalt, Engagement) oder erschließen sich erst im weiteren Verlauf (soziale Orte). Dabei ist die Intention, sich auf das Geschehen vor Ort einzulassen und sich über lokale empirische Tiefenbohrungen Fragen des Zusammenhalts zu erschließen, prinzipiell zu begrüßen. Aufschlussreich ist beispielsweise der Beitrag von Sarah Herbst über den kleinen Ort Katzhütte, in dem sich Verlusterfahrungen und ein Konflikt um eine Gebietsreform exemplarisch zu einem Fall gestörten Zusammenhalts verdichten. Leider wird der Konflikt aber lediglich in Hinblick auf Infrastrukturen der Daseinsvorsorge als Auslöser des Streits interpretiert, nicht jedoch der Intergruppenkonflikt als solcher. Dabei scheint genau in der Fähigkeit oder Unfähigkeit, Gruppenkonflikte zu vermeiden oder zwischen den unterschiedlichen Positionen kommunikativ zu vermitteln, Erklärungspotenzial für sozialen Zusammenhalt zu bestehen.

Im Weiteren nähert sich der Band den zentralen Topoi über die drei Domänen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Kommune. Beim Thema Zivilgesellschaft geht es um die Rolle des bürgerschaftlichen Engagements, für das es in Saalfeld-Rudolstadt trotz Anerkennungsdefiziten ermutigende Beispiele zu geben scheint. Rüdiger Mautz stellt in seinem Beitrag drei dieser Initiativen vor und erkennt in ihnen soziale Orte, die Möglichkeitsräume eröffnen und zu sozialem Zusammenhalt beitragen. Wichtig sei für die Initiativen jedoch die Unterstützung der öffentlichen Hand und dass diese als zusätzliche Angebote verstanden werden und nicht als „Lückenbüßer“ für Aufgaben der Daseinsvorsorge (S. 63). Leider nur bleiben die Analysen von begrenzter empirischer Evidenz. Zwar arbeitet der Autor mit zahlreichen Zitaten, lässt diese aber ohne Interpretation und Einordnung für sich stehen. Der selbstbehauptete Anspruch der Engagierten, „die Region zusammenzubringen“, „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ zu stärken (S. 57) und „neue Infrastrukturen des Gemeinsinns“ zu schaffen (S. 59), bleiben ungeprüft und verdichten sich am Ende zu Tatsachen. Wie diese Initiativen von den Entscheidungsträger:innen in den Kommunen und von den Menschen in den Gemeinden erlebt werden, bleibt weitgehend außerhalb der Betrachtung. Ähnlich unbelegt ist die Rolle eines traditionsreichen Porzellanbetriebs als Beispiel für die Bedeutung wirtschaftlicher Akteure für den sozialen Zusammenhalt (Simmank in Simmank & Vogel, S. 67–76). So plausibel die Rolle solcher Unternehmen für die soziale Kohäsion vor Ort sein mag, die verwendeten Zitate belegen die Interpretationen nicht. Dem dritten Beispiel zur Rolle der Kommunen bei der Förderung bürgerschaftlichen Engagements (Görmar et al. in Simmank & Vogel) gelingt das besser. Hier unterstützen die angeführten Zitate die Befunde und Überinterpretationen werden vermieden.

Einen gut zu lesenden Beitrag steuert Claudia Neu bei, die im „Soziale Orte“-Verbund ein zweites Teilprojekt bearbeitet hat und die Befunde aus Saalfeld-Rudolstadt durch Erkenntnisse aus ihrer langjährigen Landforschung kontextualisiert. Neu hat den zu einiger Prominenz gelangten Begriff der „Sozialen Orte“ maßgeblich mitentwickelt und macht in ihrem Beitrag deutlich, dass sie darunter nicht nur konkrete Orte wie Vereinsräume versteht, sondern auch Netzwerke, die Möglichkeitsräume für Austausch und Engagement schaffen (S. 136). Zwar gebe es kein Patentrezept für ein gelingendes Engagement in ländlichen Regionen, aber das Vorhandensein von finanziellen und zeitlichen Ressourcen, gute Beziehungen zur Verwaltung und das Vorhandensein von Sozialen Orten hätte sich fallübergreifend als begünstigend herausgestellt (S. 127). Damit gibt sie Stichworte, die auch im resümierenden Beitrag von Simmank und Vogel noch einmal aufgegriffen werden. Es brauche Ressourcen und Infrastrukturen, „an denen bürgerschaftliches Engagement und Gestaltungswille andocken kann“ (S. 180). Von anderen Erkenntnissen wie der Bedeutung von Schlüsselakteuren („local heros“, S. 182) und den „zusammenhaltsfördernden Effekten“ von „Konflikten und Zerwürfnissen“ (S. 181) liest man dagegen zum ersten Mal und hätte sich eine nähere Behandlung dieser Themen auf den 170 Seiten zuvor gewünscht. So bleibt das eher durchwachsene Fazit, dass das lobenswerte Anliegen, „Zusammenhalt als lokale Frage“ erfahrbar zu machen, durch die schwache konzeptionelle Klammer, methodische Unzulänglichkeiten und die geringe Distanz zum Forschungsgegenstand nur in Teilen eingelöst werden kann.

Wer ein akademisches Interesse am Thema des sozialen Zusammenhalts hat, ist mit dem Sammelband von Sackmann und Kollegen daher besser beraten. Die Leser:innen erwartet hier ein anspruchsvolles, aber sich dennoch gut erschließendes Beispiel empirischer Sozialforschung. Die unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und methodischen Herangehensweisen machen den Band zu einer abwechslungsreichen Lektüre. Die abschließende kritische Reflexion zeugt von der Bereitschaft, sich auch kritischen Fragen der Fachkolleg:innen zu stellen. In „Sozialer Zusammenhalt vor Ort“ geht es um verallgemeinerbare Erkenntnisse zu den Mechanismen sozialen Zusammenhalts. Der universalistische Anspruch geht aber zuweilen auf Kosten der Anschaulichkeit. Hier hätte der zweite Band mit seinem Fokus auf eine konkrete Untersuchungsregion die manchmal abstrakt bleibenden Erkenntnisse alltagsweltlich untersetzen können. Wie gezeigt gelingt das aber nur in Teilen. Zu einseitig und erratisch bleibt der Blick auf die Region, zu hemdsärmelig sind theoretische Einbettung und methodische Umsetzung. Was beiden Bänden kaum gelingt ist die Rückbindung an einen kritischen Zusammenhaltsdiskurs und das Beleuchten von Konflikten und Aushandlungsprozessen. Vielleicht haben die Herausgeber des ersten Bandes dazu aber künftig noch Gelegenheit, wenn die Daten weiterer Erhebungswellen des Regionalpanels vorliegen und damit stärker auch Veränderungen und Prozesse in den Blick genommen werden können.

Literatur

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Online erschienen: 2025-07-29
Erschienen im Druck: 2025-08-27

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 27.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2025-2022/html
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