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Perspektiven zur (Neu-)Bestimmung soziodigitaler Autonomie und Privatheit

Franz X. Berger / Anne Deremetz / Martin Hennig / Alix Michell (Hrsg.), Autonomie und Verantwortung in digitalen Kulturen: Privatheit im Geflecht von Recht, Medien und Gesellschaft. Baden-Baden: Nomos Academia 2021, 323 S., kt., 69,00 € Michael Friedewald / Alexander Roßnagel / Jessica Heesen / Nicole Krämer / Jörn Lamla (Hrsg.), Künstliche Intelligenz, Demokratie und Privatheit. Baden-Baden: Nomos 2022, 409 S., kt., 89,00 € Fabian Pittroff, Die private und die verteilte Person: Studien zu Personalisierung und Privatheit in Zeiten der Digitalisierung. Bielefeld: transcript 2024, 230 S., kt., 45,00 €
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Published/Copyright: July 29, 2025
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Rezensierte Publikationen:

Franz X. Berger / Anne Deremetz / Martin Hennig / Alix Michell (Hrsg.), Autonomie und Verantwortung in digitalen Kulturen: Privatheit im Geflecht von Recht, Medien und Gesellschaft. Baden-Baden: Nomos Academia 2021, 323 S., kt., 69,00 €

Michael Friedewald / Alexander Roßnagel / Jessica Heesen / Nicole Krämer / Jörn Lamla (Hrsg.), Künstliche Intelligenz, Demokratie und Privatheit. Baden-Baden: Nomos 2022, 409 S., kt., 89,00 €

Fabian Pittroff, Die private und die verteilte Person: Studien zu Personalisierung und Privatheit in Zeiten der Digitalisierung. Bielefeld: transcript 2024, 230 S., kt., 45,00 €


Schlüsselwörter: Privatheit; Autonomie; Datafizierung

Zur soziodigitalen Transformation von Autonomie und Privatheit

Angesichts umfassender algorithmischer Datafizierung geraten normative und theoretische Konzeptionen von Autonomie und Privatheit unter Druck. Zugleich fungieren humanistische Vorstellungen von individueller Entscheidungsautonomie, die etwa unter Rekurs auf das Konzept der „digitalen Souveränität“ (etwa Pohle, 2020) mobilisiert werden, zuweilen umso stärker als normative Fluchtpunkte, je umfassender große Plattformunternehmen zahlreiche Lebensbereiche prägen. Doch wenngleich etwa auch Shoshana Zuboff (2018) in ihrem monumentalen Werk zur Analyse überwachungskapitalistischer Verhaltenssteuerung nach den kritischen Potenzialen der autonomen Selbstermächtigung fragt und dabei an besagte humanistische Vorstellungen anschließt, widmen sich verschiedene Disziplinen einer theoretischen und normativen (Neu-)Bestimmung von Autonomie und Privatheit. So fordert die breite Nutzung von KI nicht nur historisch gewachsene Konzepte der individuellen Autonomie und privaten Informationskontrolle heraus, sondern berührt auch kollektive Probleme der politischen Meinungsbildung, die beispielsweise durch personalisierte Empfehlungen oder Social Bots aufgeworfen werden. Wie auch Michael Friedewald und Alexander Roßnagel in der Einleitung des von der Plattform Privatheit veröffentlichten Tagungsbandes Künstliche Intelligenz, Demokratie und Privatheit hervorheben, ändern

[d]ie mit der KI entstehenden Formen der Datafizierung [...] nicht nur die zum Schutz von Privatheit und Selbstbestimmung erforderlichen Konzepte, sondern stellen auch das Verständnis und den Stellenwert von Privatheit und Selbstbestimmung selbst in Frage. Bislang wurde ihr Wert meist so begründet, dass Privatheit und Selbstbestimmung den Einzelnen [...] eine Grundlage für individuelle Autonomie, Selbstverwirklichung sowie freie Meinungs- und Willensbildung bieten soll. (Friedewald & Roßnagel in Friedewald et al., S. 18)

Vor diesem Hintergrund fragt auch die Soziologie nach problemangemessenen Perspektivierungen von Privatheit und Autonomie unter Bedingungen von datenabhängiger Sozialität (Stalder, 2016). So verstellen die vorschnelle Thematisierung der Datafizierung im Sinne einer umfassenden (Fremd-)Kontrolle und ein Rekurs auf Vorstellungen individueller Entscheidungsautonomie mitunter den Blick für die konkreten datenbasierten Nutzungspraktiken, die sich etwa in Social Media-Kontexten etablieren. In genau diesem Sinne plädiert Fabian Pittroff in seiner Dissertationsschrift Die private und die verteilte Person: Studien zu Personalisierung und Privatheit in Zeiten der Digitalisierung dafür, sensibel für die soziotechnische Komposition von Praktiken zu sein, die sich nicht einseitig in Richtung plattformisierter Fremdbestimmung oder individueller Autonomie auflösen lassen.

Dass entsprechend eher mit einem ambivalenten Verhältnis von Selbst- und Fremdsteuerung zu rechnen ist, konstatieren auch Berger et al. in der Einleitung des Sammelbandes Autonomie und Verantwortung in digitalen Kulturen: Privatheit im Geflecht von Recht, Medien und Gesellschaft, sofern sich

gerade auch im digitalen Raum danach fragen [lasse, M. U.], wie Privatheit und Autonomie im Zuge von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen konstituiert, rekonstruiert oder überhaupt bewahrt werden können. Datenpreis- und Datenweitergabe schaffen zwar Identitäts- und Subjektivierungsangebote, jede Identitätskonstruktion im Digitalen wird allerdings durch individuelle Selbstveräußerung erkauft. (Berger et al., S. 25)

Damit ist schon angedeutet, dass sich diese Veröffentlichungen aus verschiedenen Perspektiven dem spannungsreichen Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdbestimmung widmen. Inwiefern die dabei mobilisierten theoretischen und normativen Perspektiven neue Denkräume aus soziologischer Sicht zur Konzeptualisierung von Privatheit und Autonomie eröffnen, wird im Folgenden näher ausgeleuchtet.

Normative Fluchtpunkte zwischen der Stärkung individueller Datensouveränität und der Schaffung kollektivistischer Autonomie- und Privatheitskonzepte

Sofern aktuelle Überlegungen vor dem Hintergrund unterschiedlicher normativer und theoretischer Bezugspunkte für eine Neukonzeptualisierung oder Problematisierung von Konzepten wie Autonomie und Privatheit plädieren, stellen Prozesse der datenökonomischen Algorithmisierung den zentralen Problemfokus aktueller Veröffentlichungen dar. Dementsprechend leitet auch der erste Beitrag des von Friedewald et al. herausgegebenen Sammelbandes Künstliche Intelligenz, Demokratie und Privatheit mit Ausführungen von Rainer Mühlhoff zur prädiktiven Analytik künstlicher Intelligenz ein. Dabei wird dargelegt, wie sich auf der Grundlage von Verhaltensdaten, die in der Form von Likes, Postings oder Social Media-Gruppenmitgliedschaften meist „nebenbei“ anfallen, Vorhersagen über Kaufkraft, Alter, sexuelle Orientierung ganzer Personengruppen erstellen lassen. Bei diesen Verhaltensvorhersagen kommen vielfach anonyme und damit datenschutzrechtlich nur defizitär regulierte Datennutzungen zur Anwendung, die aber gleichwohl automatisierte Ungleichbehandlungen hinsichtlich der Verteilung und des Zugriffs auf gesellschaftliche Ressourcen wie Wissen, Arbeit oder Bildung erlauben (Mühlhoff in Friedewald et al., S. 32). Dementsprechend bieten liberale Konzeptionen von Autonomie und Privatheit keinen hinreichenden Schutz, die etwa auf verbesserte Transparenz oder die Förderung von individueller Datensouveränität bei Einwilligungen setzen. So seien „individuelle Einwilligungsentscheidungen von über-individueller, nicht auf das Datensubjekt selbst beschränkter Reichweite“ (Mühlhoff in Friedewald et al., S. 45, Hervorhebung im Original). Folgerichtig schlägt Mühlhoff vor, ein „Schutzgut prädiktiver Privatheit [...] jenseits der Perspektive individueller Rechte in einer kollektivistischen ethischen Blickweise zu konstruieren, die auf der Wertsetzung beruht, das Kollektiv gegenüber den Individuen zu priorisieren“ (Mühlhoff in Friedewald et al., S. 42, Hervorhebung im Original). Als zentrale Eckpfeiler zur Verankerung einer solchen kollektiven Selbstbestimmung argumentiert Mühlhoff unter anderem für eine Stärkung von Antidiskriminierungsrechten und die Schaffung von Interessenverbänden, die Einsichten in die Risiken prädiktiver Analytik und eine gesamtgesellschaftliche Debatte über die förderlichen bzw. schädlichen Verwendungsweisen auch anonymisierter Daten erlauben sollen (Mühlhoff in Friedewald et al., S. 46–55).

Doch wenngleich kritische Betrachtungen der Datafizierung vielfach bei der Problematisierung prädiktiver Analyseverfahren ansetzen, markieren die dabei diagnostizierten Herausforderungen nicht zwangsläufig einen Ausgangspunkt zur Suche nach neuen Quellen des kollektiven Privatheitsschutzes, wie sie etwa Mühlhoff vorschlägt. So liefert zuweilen die Vorstellung individueller Datensouveränität den normativen Fluchtpunkt der Kritik. Exemplarisch kommt dies im Beitrag von Jasmin Schreyer zur Geltung, der zwei Fälle von plattformbasierter Arbeitskoordination vergleicht, um aufzuzeigen, wie Plattformbetreiber:innen an der Akkumulation von Wissen und der Steuerung über Arbeitsabläufe beteiligt sind. Während die Analyse für die Ausgestaltung der Überwachung, Verdatung und Quantifizierung des Arbeitsalltags Unterschiede je nach kommerzieller Ausrichtung von Plattformunternehmen hervorhebt, konstatiert der Beitrag auch für weniger kommerzialisierte Unternehmen die Bedeutung von Nudges, Gamification und Daten-Behaviorismus, die sich in verschiedenen Maßnahmen der (Selbst-)Disziplinierung manifestieren. Einen Ausweg aus dieser überwachungskapitalistischen Dynamik sieht die Autorin letztlich vor allem in der „Etablierung einer digitalen Souveränität [...], die das Gegenteil der beschriebenen digitalen Vulnerabilität darstellt“ und „eine Möglichkeit an die Hand geben [soll, M.U.], der mehr oder weniger ,totalen‘ digitalen Kontrolle der Subjekte entgegen zu wirken [sic]. Digitale Souveränität rekurriert auf die Agency als Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit der Subjekte“ (Schreyer in Friedewald et al., S. 140). Als Ansatzpunkte zur Reaktivierung autonomer Handlungsfähigkeit und Privatheit im Sinne individueller Kontrolle rekurriert der Beitrag unter anderem auf „Wissen und Transparenz für die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von persönlichen Daten“, die die Subjekte befähigen sollen, „den Kampf um Privatsphäre und Datenschutz für sich zu entscheiden“ (Schreyer in Friedewald et al., S. 140).

Dass Autonomie und Privatheit aber nicht nur hinsichtlich der Verarbeitung und Verwendung von Daten herausgefordert werden, sondern algorithmische Selektionsprozesse ganz grundlegend das private Leben und Prozesse der Meinungsbildung beeinflussen, konstatieren Stephan Dreyer und Amélie Heldt. Die Autor:innen nehmen es sich zum Ziel, „die bislang kaum untersuchten Privatheitsbezüge der Aufmerksamkeitssteuerung im Internet in den Fokus zu rücken und sie in die bestehenden grundrechtlichen Schutzbereiche und neueren Konzepte von Privatheit einzuordnen“ (Dreyer & Heldt in Berger et al., S. 119). Sofern algorithmische Selektionen gar nicht erst als Selektionen sichtbar werden, erscheinen sie „als Gegenstück zur wahrnehmungsbezogenen Selbstbestimmung – eine autonome Wahrnehmung der Welt wird herausgefordert oder gar ersetzt durch Entscheidungen eines Algorithmus“ (Dreyer & Heldt in Berger et al., S. 122). Weiterhin problematisieren Dreyer und Heldt den Einfluss algorithmisierter Aufmerksamkeitssteuerung für die Entwicklungen sozialer Beziehungen, sofern beispielsweise eine Priorisierung innerhalb des eigenen Social Media-Netzwerks in intransparenter Weise vorgenommen wird. Denn „[d]ie Auswahl, ob und welche Informationen von welchen Freunden und Bekannten den Nutzenden verfügbar gemacht werden, erscheint so als externe Bekräftigung, Schwächung oder jedenfalls Steuerung von ,Freundschaft‘ und sozialen Beziehungen zwischen den Nutzenden der Plattform“ (Dreyer & Heldt, S. 123). Dabei zeigt das von den Autor:innen durchgeführte Grundrechtsmapping deutliche Defizite der gegenwärtigen Rechtslage auf, um etwa der Strukturierung und Priorisierung von Informationen durch Algorithmen zu begegnen. Aus der Sicht der Autor:innen müsse die Frage gestellt werden,

wie die Absicherung der Autonomie der Nutzenden vor autonomieeinschränkender Aufmerksamkeitssteuerung rechtsfaktisch gestaltet werden kann. Wichtige Faktoren dabei werden die Erwartbarkeit des Einsatzes von Selektionsverfahren aus der Sicht der Nutzenden bzw. deren Bewusstsein der Aufmerksamkeitssteuerung durch Dritte sein. Durch die bewusste Kenntnis und Akzeptanz der Aufmerksamkeitssteuerung würde die Wahrung der Autonomie der einzelnen Person hinreichend gewahrt erscheinen. (Dreyer & Heldt in Berger et al., S. 139)

Die Beiträge von Schreyer sowie Dreyer und Heldt sind zunächst exemplarisch für eine Perspektive, bei der die Macht großer Plattformunternehmen mit einer normativen Vorstellung von souveränen Subjekten kontrastiert wird. Es ist jedoch fraglich, inwiefern angesichts der zum Teil auch in den Beiträgen vorgenommenen analysierten Verwicklungen von Nutzungspraktiken und datenökonomischen Prozessen der Verhaltenssteuerung die Reproduktion von Subjekt-Objekt-Dichotomien, die eine Trennung algorithmischer Prozesse von einem autonomen „Außenbereich“ individueller Handlungsträgerschaft suggerieren, soziologisch plausibel ist. Denn wie etwa der Beitrag von Jörn Lamla betont, verkenne ein Humanismus, der Autonomie als feste normative Größe voraussetzt, dass die „zur Selbstbestimmung fähige Person [...] auf die soziotechnischen Infrastrukturen der Selbstexploration und die wechselseitige Anerkennung auf Social Media angewiesen [ist], die sie doch souverän in Schranken weisen soll“ (Lamla in Friedewald et al., S. 93). Entsprechend ist auch zu hinterfragen, inwiefern die bloße Transparenz über aufmerksamkeitssteuernde Verfahren, die vielfach angemahnt wird und die auch Schreyer sowie Dreyer und Heldt vorschlagen, wirkliche Autonomiepotenziale in der privaten Lebenspraxis und normativ wünschenswerte Regulierungsperspektiven eröffnet. Denn nicht nur die zunehmende datenabhängige Selbstbestimmung steht im Widerspruch zur Adressierung eines informationskontrollierenden Subjekts. Auch kann – wie auch Wulf Loh in seinem Beitrag zu digitalen Pathologien hervorhebt – die unterstellte Kenntnis der Anwendung algorithmisierter Selektionsverfahren oder informierter Einwilligungen sodann von den Konzernlenkern der Plattformökonomie als nutzendenseitige Akzeptanz der fraglichen Verfahren interpretiert werden (Loh in Berger et al., S. 162–165). Und schließlich können die normativen Vorstellungen individueller Autonomie auch insofern politisch unerfreuliche Konsequenzen zeitigen, sofern sie die zentralen Problemstellungen prädiktiver Analytik auf kollektiver Ebene gar nicht erst zu adressieren vermögen – dies legt zumindest wiederum der Beitrag von Mühlhoff nahe.

Zeitgenössische Subjektivierungspraktiken im Schatten der objektivierenden Herrschaftseffekte des Digitalen Selbst

Angesichts der verschiedenen normativen und sozialtheoretischen Fallstricke, die mit einer Dichotomisierung von überwachungskapitalistischer Kontrolle und essentialistisch perspektivierter individueller Autonomie einhergehen können, zielen die im Sammelband von Berger et al. veröffentlichten Beiträge von Julia Valeska Schröder sowie Philipp Siedenburg und Tim Raupach auf eine grundlegendere Problembeschreibung der Zusammenhänge von Privatheit, Macht und Autonomie. Während die Überlegungen von Mühlhoff individualistische Vorstellungen von Autonomie und Privatheit vor dem Hintergrund über-individueller Risiken der Datenverarbeitung aus einer stärker datenschutzrechtlichen Perspektive zum Thema machen, mobilisiert Schröder vornehmlich poststrukturalistische Theorien von Michel Foucault und Judith Butler, um die Verwendung liberaler Subjekttheorien im Digitalisierungs- und Datenschutzdiskurs zu problematisieren, die mit normativen Referenzen von Selbstbestimmtheit, Verantwortung, Entscheidungsmacht und Souveränität operieren. Aus der Perspektive des Poststrukturalismus wird Autonomie bekanntlich nicht als außergesellschaftliche Eigenschaft des Subjekts verstanden, sondern als Machteffekt gesellschaftlicher Anrufungen konzeptualisiert. Mittels gesellschaftlicher Identitäts-, Wissens- und Klassifizierungssysteme erfolgt dabei einerseits eine vorgängige Fremdbestimmung des Subjekts unter spezifischen historischen und sozialen Bedingungen, die aber zugleich konstitutiv für Prozesse des Werdens von Subjekten sind. Wie Schröder betont, sind Autonomie- bzw. Handlungsfähigkeit somit grundlegend als Machteffekte und im Sinne eines konstitutiven Ineinandergreifens von Fremd- und Selbststeuerung zu verstehen (Schröder in Berger et al., S. 59). Wenngleich die Verflechtung von Selbst- und Fremdbestimmung den subjektivierungstheoretischen Perspektiven inhärent ist, werden zuweilen etwa Social Media-Praktiken der Selbstdarstellung und Sichtbarkeit als zeitgenössische Subjektivierungsformen begriffen, die – sofern sie nicht nur eine statisch-normierte Anpassung an gesellschaftliche Anforderungen vollziehen – mitunter auch in der digitalen Subjektivierungsforschung vor dem Hintergrund emanzipatorischer Potenziale gedeutet werden. Eine solche etwa von Paulitz (2014) vorgenommene Lesart der digital vernetzten Subjektivierung sei indes Schröder zufolge mittlerweile grundlegender zu hinterfragen. Denn angesichts der Verwendung von Profiling-Technologien finde

Unterwerfung [...] nicht unter diskursive Kategorien und diffuse gesellschaftliche Normenkonstellationen statt. [...] Durch die algorithmusgesteuerte Auswertung von Daten und die Erzeugung von Profilen entsteht eine andersartige Form der Subjektivation, die das Objektivierungsmoment des Subjektivierungsprozesses intensiviert. Objektivierung findet entlang operativer Rechenlogiken statt; sprachlich-normative Wege der Klassifikation werden durch algorithmisch-faktische ergänzt. (Schröder in Berger et al., S. 67)

In genau diesem Sinne konstatieren auch Philipp Siedenburg und Tim Raupach, dass „algorithmische Klassifikationsformen zu Diskriminierungen [führen, M.U.], denen das Subjekt auch durch Anpassung nicht entgehen kann“ (Siedenburg & Raupach in Berger et al., S. 86).

Wenngleich also die poststrukturalistische Perspektive das Wechselspiel von Fremd- und Selbstbestimmung von digitalen Subjektivierungsprozessen gegen eine atomistische und humanistische Konzeption von Autonomie und Privatheit in Stellung bringt, kommen diese Überlegungen von Schröder letztlich zu einer ähnlichen Schlussfolgerung wie etwa der Beitrag von Schreyer, sofern der Schwerpunkt auf die Objektivierung des Digitalen Selbst im Sinne eines neuen Herrschafts- und Unterwerfungsmodus gerichtet wird, der mögliche Subjektivierungspotenziale unterminiert. Es fragt sich allerdings, inwiefern durch die starke Fokussierung auf neue Herrschaftseffekte am Backend von Plattformen wiederum die spannungsreichen Dynamiken von Selbst- und Fremdbestimmung aus dem Blick geraten, die eine genauere Analyse der Verschränkung von plattformgestützten Subjektivierungslogiken und datenökonomischen Praktiken zu Tage fördern könnte. Ebenso wie eine einseitige emanzipatorische Lesart zeitgenössischer Subjektivierungsformen nur wenig plausibel wäre, erweist sich eine Verlagerung der Perspektive auf die Herrschaftseffekte am Backend unter Umständen nur bedingt sensibel für konkrete Subjektivierungspraktiken. Und auch wenn die poststrukturalistische Perspektive ein hohes Maß an kritischer Reflexion der kybernetischen Machteffekte soziodigitaler Überwachungsinfrastrukturen eröffnet, lassen diese Überlegungen weitgehend offen, in welcher Art und Weise auch alternative Denkräume zur mathematisierten Subjektivierungsmacht eröffnet werden könnten. Denn so plädieren etwa Philipp Siedenburg und Tim Raupach dafür, „Verantwortung für gesellschaftliche Ordnungsbildung zuzuschreiben und negative Effekte wie algorithmische Diskriminierung zu verhindern. Als allererste Voraussetzung ist hierfür [...], dass der Quellcode von Big-Data-Modellen transparent gemacht werden muss“ (Siedenburg & Raupach in Berger et al., S. 92–93). Wenngleich die Verteilung von Verantwortlichkeiten und Transparenz eine zentrale Rolle spielen, problematisieren sie nicht die umgreifende gesellschaftliche Dominanz und Weltsicht der kybernetischen Verhaltenssteuerung als solche, sondern fragen eher nach ihrer gesellschaftlichen und regulatorischen Einhegung.

Mitbestimmung über die Spielregeln der Technikgestaltung als Grundlage zur Sicherung datenabhängiger Autonomie und Privatheit

Während die subjektivierungstheoretischen Überlegungen von Julia Valeska Schröder sowie Philipp Siedenburg und Tim Raupach die Betrachtung der Backend-Prozesse digitaler Plattformen hervorheben, fragt der Beitrag von CarstenOchs und BarbaraBüttner auf der Grundlage einer autoethnographischen Analyse der Health- und Fitnessplattform Runtastic nach den Konsequenzen für die Selbstbestimmung und Autonomie durch die Datafizierung des Alltags. Dabei zeigen Ochs und Büttner auf, wie die bei der Selbstvermessung von Laufpraktiken anfallenden Daten die eigene Leistung objektivieren, Vergleichbarkeit und Sichtbarkeit gegenüber anderen Nutzenden herstellen und damit schließlich an die Anrufungen des plattformseitigen Leistungsdiskurses anschließen. Die Autor:innen konstatieren hierbei eine infrastrukturell verankerte soziotechnische Dynamik, die dazu tendiere „einseitig all jene Dispositionen kultureller Praktiken zu befördern, die sich in Datenproduktion [...] umsetzen lassen“ (Ochs & Büttner in Berger et al., S. 311). Diese datenintensiven Praktiken der Selbst-Konstitution, die im Sinne einer Selbst-Profilierung auf Sichtbarkeit und die Hervorhebung von Besonderheit zielen und durch ein strukturelles Interesse der Datenökonomie angeheizt werden, blieben nicht ohne Konsequenzen für die Einschätzung von Autonomie- und Privatheitspraktiken (Ochs & Büttner in Berger et al., S. 311). Privatheit und Autonomie – das deuten die Autor:innen an – müssen entsprechend unter den Bedingungen der Digitalvernetzung neu konzipiert werden. Denn

[w]enn selbstbestimmte Selbst-Konstitution unter Bedingungen der Digital-Vernetzung in neuartiger Weise die Entäußerung von Daten geradezu voraussetzt, dann lässt sich auch die Praktizierung von Autonomie nur noch unter diesen Bedingungen gewährleisten. Die Frage nach der Selbstbestimmung verlagert sich damit auf die Ebene der Spielregeln, denen die Profilierungsdynamik unterworfen wird. Je größer das Mitspracherecht der Akteure bei der Bestimmung dieser Spielregeln, desto größer auch die Chance, autonom über die Bedingungen ihrer Selbst-Konstitution mitzuentscheiden. (Ochs & Büttner in Berger et al., S. 311)

Damit legen die Überlegungen von Ochs und Büttner nahe, dass ein konkreteres Verständnis der Profilierungsdynamiken unerlässlich sei, um nicht vorschnell kausale datenökonomische Strukturierungen am Werk zu sehen, sofern auch eine soziodigitale Kultur der Sichtbarkeit bedeutsam für das Verständnis überwachungskapitalistischer Dynamiken sei. Darüber hinaus zeigt der Beitrag, warum ein Verständnis der konkreten Nutzendenpraktiken wiederum essentiell ist, um Ansätze zur Neubestimmung datenabhängiger Autonomie zu entwickeln. Denn da das breite Aussenden von Informationen zum zentralen Moment der Selbstbestimmung avanciert, könne es nicht mehr um die individuelle Kontrolle von Datenpraktiken gehen, sondern vielmehr sei die Frage der Selbstbestimmung eine der kollektiven Gestaltung der infrastrukturellen Rahmenbedingungen der Datafizierung. Wenngleich der Blick auf die Nutzendenpraktiken die mathematisierten Herrschaftsformen des digitalen Selbst am Backend somit zunächst nicht in den Vordergrund stellt, können Einsichten zu den Profilierungsdynamiken von Ochs und Büttner wiederum gut an den Beitrag von Mühlhoff anschließen, der für die Weiterentwicklung des Datenschutzes angesichts kollektiver Herausforderungen der prädiktiven Analytik am Backend plädiert. So ließe sich fragen, inwiefern es der Institutionalisierung eines kollektiven Privatheitsschutzes jenseits der Fokussierung auf individueller Informationskontrolle bedarf, um die Wahrnehmung von Handlungsoptionen, die eine vernetzte und Sichtbarkeit prämierende Autonomie verspricht, gegen die Einschränkung von Handlungsoptionen durch algorithmische Prädiktivität abzusichern.

Digitalisierung des Persönlichen: Von der autonomen und privaten zur verteilten Person

Für eine Auseinandersetzung mit den konkreten Nutzendenpraktiken plädiert auch Fabian Pittroff in seiner Dissertation, die den Prozessen der (soziodigitalen) Herstellung persönlicher Erreichbarkeit nachgeht. Dabei argumentiert Pittroff, dass Konzepte individueller Autonomie, die auf subjektive Entscheidungsprozesse fokussieren, nicht in der Lage seien, den Formwandel von Autonomie im Kontext von Social-Media Praktiken differenzierter in den Blick zu nehmen. Denn vor dem Hintergrund einer solchen Perspektivierung von Autonomie erscheine etwa das breite Teilen von persönlichen Informationen von Nutzenden „entweder als autonomer Akt oder heteronome Manipulation. Unzugänglich bleiben jedoch die soziomaterielle Konstitution sowie eine potenziell polynome Verteilung von Entscheidungs- und Handlungsmacht“ (S. 57). Um also nicht vorschnell in einseitiger Weise souveräne Subjekte oder überwachungskapitalistische Manipulations-Maschinen in den Blick zu nehmen, geht die Arbeit dem konkreten Formwandel soziodigitaler Praktiken nach (S. 183). Dabei gehen die Überlegungen von Pittroff von der Prämisse aus, dass „aus sozialtheoretischer Perspektive [...] der Autonomie-Begriff [...] grundsätzlicher hinterfragt werden muss, um der postdigitalen Transformation [...] Genüge zu tun“ (S. 141). Statt Autonomie somit als feste Größe vorauszusetzen, fragt Pittroff unter Rekurs auf Niklas Luhmann, Michael Foucault und Bruno Latour zunächst danach, wie über die Verschränkung von semantischen, kommunikativen und soziomateriellen Prozessen überhaupt Personalisierung im Sinne des Entstehens und Erreichens von Personen als Wesen mit reflexiver Innenwelt möglich ist (S. 25). Es sind vor allen Dingen die Prozesshaftigkeit des Werdens von Personen sowie subjektivierungstheoretische Konzeptionen, die Pittroff für seine personalisierungstheoretischen Überlegungen mobilisiert und als Gegenentwurf zu klassischen Autonomieperspektiven vorschlägt. Denn

[w]ährend autonomie-orientierte Ansätze nach der Qualität subjektiven Entscheidens fragen, fokussiert ein personalisierungstheoretische[s] Konzept den Aufbau persönlicher Erreichbarkeit. Autonomie fragt, wie entschieden wird, Personalisierung dagegen, wie adressiert wird. Mithilfe dieser Verschiebung kann über Personalisierung erfasst werden, was für die Ansätze der Autonomie verborgen bleibt; nämlich die Ebene auf der auch Autonomie in Prozessen der kommunikativen Zuschreibung oder materiellen Ermächtigung realisiert wird. (S. 58)

Auf der Grundlage dieser Perspektive zeigt Pittroff sodann unter Zuhilfenahme einer kursorischen Darstellung der historischen und zum Teil normativ gewendeten Analysen von Jürgen Habermas, Norbert Elias, Richard Sennett und Beate Rössler auf, wie zentrale Aspekte der Praktizierung bürgerlicher Privatheitsvorstellungen erst die Grundlagen für spezifische Vorstellungen von Autonomie ermöglicht haben. Die Praktizierung bürgerlicher Privatheit habe Pittroff zufolge somit „nicht nur – aber auch – Settings der Spaltung, der Authentizität, der Intimität und der Autonomie hervor[gebracht], mit deren Hilfe menschliche Wesen rationale, freie, besondere und dezisionale Innerlichkeiten ausbilden können und sollen“ (S. 81). Ausgehend von dieser Historisierung von Zusammenhängen des Privaten und Persönlichen argumentiert Pittroff, dass sich Personalisierung unter soziodigitalen Bedingungen von der Praktizierung eines Privatheitsverständnisses gelöst habe, welches ehemals eng mit Vorstellungen individueller Autonomie verkoppelt war. Dabei veranschaulicht Pittroff exemplarisch anhand des NSA-Überwachungsskandals,

dass vor allem die Privatheit des 20. Jahrhunderts unter Druck geraten ist, die mittels Praktiken der Zugangskontrolle Situationen der Autonomie herzustellen versucht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn im Zuge der [...] Krisen der (Privatheit) der Kontrolle auch persönliche Autonomie zu einem prekären Gut wird. (S. 140)

Dass das „Private seine Zentralstellung in Sachen Personalisierung verliert“ (S. 24), plausibilisiert Pittroff aber nicht nur anhand der Krise der Informationskontrolle; ebenso werden Praktiken der digitalen Freundschaftspflege oder eine autoethnographische Studie von Selfie-Fotographien für die Untermauerung der These herangezogen, dass zeitgenössische Sozialität in digitalen Umgebungen eine „Diffusion des Persönlichen“ (S. 24) ermögliche. Denn so seien sowohl die Konstitution postdigitaler Personen „verteilt“, sofern sich das Selfie auf eine Komposition von Körpern, Smartphone, Software, Plattform und Publikum hinweise. Ebenso kann auch die durch Selfies referenzierte Person als kompositorisch oder verteilt verstanden werden, da persönliche Erreichbarkeit nicht wie das bürgerliche Privatheitsideal auf die Einheit der Person abziele, sondern eher performativ in situativen Sequenzen hervorgebracht werde (S. 82). Während ein Großteil der Überlegungen bewusst auf der Seite der Nutzer:innen ansetzt, um den Blick für die mithin kreativen Formen postdigitaler Sozialität zu öffnen, widmet sich der letzte Teil der Arbeit auch der „Ökonomie des Persönlichen“ (S. 183). Zentrale These ist hier, dass Optionalität und kreative Hervorbringung von Personalisierungsformen potenziell durch kybernetische Feedbackschleifen und Verhaltensvorhersagen von Plattformen eingeschränkt werden können. In der Folge „trägt jede Personalisierung gegenwärtig die Möglichkeit in sich, nicht auf eine Verteilung, sondern umgekehrt auf eine Rezentrierung zuzusteuern“ (S. 186).

Dabei gelingt Pittroff zumeist der Balanceakt, einerseits die datenökonomische Strukturierung des Persönlichen kritisch zu beleuchten, ohne dabei andererseits die kreativen Potenziale neuer Personalisierungsformen aus dem Blick zu verlieren. Wie allerdings die von Pittroff hervorgehobene „polynome Verteilung von Entscheidungs- und Handlungsmacht“ (S. 57) konkret strukturiert ist, bleibt in den Analysen der Arbeit zum Teil im Ungefähren. Zwar verweist Pittroff etwa auf die Ambivalenz der semi-öffentlichen und privatökonomischen Settings, in die etwa postdigitale Freundschaften eingebettet sind. Denn „[s]pätestens wenn man die Beobachtungskapazitäten der privatwirtschaftlichen Betreiber:innen dieser Settings einberechnet, hat Freundschaft an Privatem verloren“ (S. 160). Um diese eher allgemeinen Bemerkungen bezüglich der soziodigitalen Strukturierung von Freundschaftsbeziehungen zu erweitern, wäre etwa ein Anschluss an die oben angedeuteten Überlegungen von Dreyer und Heldt zur algorithmisierten Aufmerksamkeitssteuerung lohnenswert, die beispielsweise hervorheben, wie bestimmte Beziehungsformen unbemerkt durch Empfehlungsalgorithmen priorisiert oder depriorisiert werden.

Indes liegt die Stärke der Arbeit nicht nur darin, dass sie Privatheit und Autonomie personalisierungstheoretisch in den Blick nimmt, sondern auch ausgehend von der Analyse neuer Personalisierungsformen wichtige weiterführende Fragen hinsichtlich der Praktizierung von Privatheit unter postdigitalen Bedingungen eröffnet. Denn so ist offenkundig, dass die Privatheitsgrenzen zur Abschirmung der plattformseitigen Zentrierungstendenzen der verteilten Person neu geschaffen und institutionalisiert werden müssen, es also nicht darum gehen müsse, „etablierte Privatheiten um jeden Preis zu bewahren“ (S. 24). Dabei plädiert Pittroff für eine

institutionalisierte Privatheit, die Eingriffe in die Gestaltung persönlicher Erreichbarkeit grundsätzlich zu regulieren vermag. Wenn das Ziel die Dezentralität der Person ist, so müsste diese Privatheit in der Lage sein, unterschiedliche Personalisierungsanstrengungen so voneinander abzuschirmen, dass verschiedene Formen der Erreichbarkeit gelten können, ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen. (S. 195)

In diesem Sinne stützen die personalisierungstheoretischen Überlegungen von Pittroff auch das von Mühlhoff sowie Ochs und Büttner hervorgehobene Plädoyer für kollektivistische Formen des Privatheitsschutzes und können hier hilfreiche soziologisch informierte Impulse für die Datenschutzdiskussion geben.

Autonomie in hybriden Lebensformen und die Kritik der kybernetischen Expansion

Ähnlich wie Ochs und Büttner die Datafizierung des alltäglichen Lebens als zentrales Strukturprinzip der Gegenwartsgesellschaft in ihrem Beitrag zur Analyse von Fitness-Tracking-Praktiken exemplarisch hervorheben, fragt der im Sammelband von Friedewald et al. veröffentlichte Beitrag von Jörn Lamla nach der grundlegenderen Gestalt gegenwärtiger Strukturveränderungen durch KI-Anwendungen.[1] Dabei konstatiert Lamla, dass das die soziodigitale Transformation prägende Strukturprinzip nicht die Künstliche Intelligenz selbst sei:

KI, so lautet die Vermutung, ist vielmehr nur eines von vielen exemplarischen Versuchsfeldern für dessen Expansion. Sie ist mit ihren vielen lokalen Anwendungsfällen selbst nur ein Anwendungsfall einer allgemeineren Wandlungsdynamik, deren programmatischer Kern als kybernetische Kosmologie bezeichnet werden kann, die sich expansiv in unterschiedlichen sozialen Praktiken und Konstellationen ausbreitet, manifestiert und Evidenz verschafft. (Lamla in Friedewald et al., S. 79)

Dabei zeichne sich die kybernetische Weltsicht durch eine Privilegierung „der digitalen Informationsverarbeitung [...] vor allen anderen sozio-materiellen Beziehungsformen“ (Lamla in Friedewald et al., S. 82) aus. In diesem Zusammenhang macht Lamla plausibel, dass diese kybernetische Perspektive nicht nur die Anwendung von KI in zahlreichen Alltagspraktiken oder Diskurse in der Informatik und Verhaltenswissenschaften strukturiere, sondern zuweilen auch den unhinterfragten theoretischen Horizont soziologischer Digitalisierungsdiagnosen liefere. Besonders exemplarisch zeige sich dies anhand von Armin Nassehis Buch über Muster (2019). Dabei sei es Lamla zufolge kaum verwunderlich, dass die Ausgangsthese der Überlegungen von Nassehi, dass Digitalisierung und Gesellschaft in einem wechselseitigen Funktionszusammenhang stehen, von vornherein durch den systemtheoretischen Blickwinkel bestätigt werden. Denn die Systemtheorie lege es aufgrund ihrer kybernetischen Theoriesprache nahe, nach Analogien in der kybernetischen Welt des Digitalen zu suchen – wodurch letztere wiederum die theoretische Ausgansposition bekräftige (Lamla in Friedewald et al., S. 83).

Ähnlich wie die systemtheoretische Perspektive weise aber auch das Denken Michel Foucaults eine deutliche Ideenverwandtschaft zur kybernetischen Weltsicht auf, wie Lamla im Anschluss an Vincent August (2021) konstatiert. Dass etwa auch die oben besprochenen Beiträge von Schröder sowie von Siedenburg und Raupach, die im Anschluss an Foucault die datenökonomische Verhaltenssteuerung problematisieren, nur schwerlich ein Denken in wirklichen Alternativen zur kybernetischen Kosmologie eröffnen können, wird vor diesem Hintergrund nachvollziehbar. Denn sofern die kritischen Machtanalysen von Foucault selbst wiederum dem kybernetischen Denken in Feedbackschleifen verhaftet sind, lenkt „[d]er Hinweis auf die Machtwirkungen epistemologischer Wissensordnungen und Diskurse allein [...] den Blick nicht von diesen weg, sondern mutet ihnen lediglich einen höheren Grad an kritischer Selbstreflexion zu“ (Lamla in Friedewald et al., S. 87). Zwar konstatiert Lamla ebenso wie die subjektivierungstheoretischen Überlegungen im Anschluss an Foucault, dass der normative Fokus eines humanen und autonomen Subjekts nicht als problemangemessene kritische Folie zur kybernetischen Verhaltenssteuerung fungieren könne (Lamla in Friedewald et al., S. 91). Zugleich argumentiert Lamla aber auch für „dritte Denkräume zur Begrenzung der kybernetischen Expansion“ (Lamla in Friedewald et al., S. 81), die nicht nur über das unproduktive und wechselseitige Dominanzstreben von kybernetischer Verhaltenssteuerung und humanistischer Kritik, sondern auch über die poststrukturalistischen und systemtheoretischen Perspektiven hinausgehen. Erforderlich sei dafür die Anerkennung der grundlegenden Hybridität soziodigitaler Praktiken, die sich nicht nur in Prozessen der Informationsverarbeitung erschöpfen, sondern nahelegen, „die widerspenstige Materialität und Heterogenität der postdigitalen Lebensformen, beispielsweise ihre körperlichen Erschöpfungserscheinungen oder ihre ressourciellen Endlichkeiten, ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken – nicht zuletzt der soziologischen“ (Lamla in Friedewald et al., S. 97). Um den theoretischen Blick für die Hybridität und Pluralität von Lebensformen und Kosmologien scharfzustellen, plädiert Lamla insbesondere für Perspektiven der Science and Technology Studies sowie anthropologische Ansätze, wie sie etwa von Philippe Descola (2011) oder Eduardo Viveiros de Castro verfolgt werden (2019).

Dabei legt Lamla nahe, dass die Hervorhebung der soziodigitalen Hybridität von Lebensformen keineswegs in einer prinzipiellen Zurückweisung von situationsangepassten Verhaltensfeedbacks oder humanistischer Werte wie Autonomie und Selbstbestimmung münden müsse (Lamla in Friedewald et al., S. 92). Vielmehr gehe es darum, die Dominanz dieser Perspektiven zu relativieren. Dabei sei die Anerkennung und ein lebenspraktisches Verständnis der verschiedenen sozialen Welten und soziomateriellen Praktiken geradezu die Voraussetzung, „um die für individuelle Selbstbestimmung konstitutive Ausbildung kritischer Kompetenzen zu ermöglichen und zu verankern“ (Lamla in Friedewald et al., S. 94). Wie die Beiträge von Lamla und Loh gleichermaßen betonen, seien Autonomie und Privatheit mit der Ermöglichung von Lernprozessen und Kritikfähigkeit untrennbar verknüpft, die sich nur dann einstellen, wenn eingespielte Alltagsroutinen und Rechtfertigungsmuster nicht mehr greifen (Lamla in Friedewald et al., S. 95; Loh in Berger et al., S. 153). Autonomes Lernen in soziodigitalen Umgebungen setze somit keinen atomistischen Geist, sondern Krisensituationen der sozialen Lebenspraxis voraus, die gerade nicht mit kybernetischen Anpassungsprozessen von Machine-Learning-Verfahren allein korrigiert werden können. Entsprechend gelte es die Frage aufzuwerfen, wie inmitten soziodigitaler Lebenswelten die Kultivierung von Lernprozessen und kritischen Kompetenzen gefördert werden können, die auf Situationen der Unterbrechung in Alltagsroutinen angewiesen sind (Lamla in Friedewald et al., S. 95). Angesichts der auf die routinisierte Abstützung des Alltags und auf das Prinzip der „Frictionlessness“ (Kemper, 2024) aufbauenden Design- und Geschäftsmodellprinzipien von Digitaltechnologien dürfte dies eine anspruchsvolle, aber auch gleichermaßen unumgängliche Zielsetzung zur Absicherung lebenspraktischer Autonomie darstellen.

Soziologische Perspektiven zur Neubestimmung soziodigitaler Privatheit und Autonomie jenseits humanistischer Kritik und kybernetischer Expansion

Die diskutierten Veröffentlichungen zeigen in der Gesamtschau nicht nur auf, inwiefern spezifische Vorstellungen von Autonomie und Privatheit angesichts allgegenwärtiger Datafizierung und probabilistischer Verhaltensvorhersagen unter Druck geraten; auch eröffnen sie in zeitdiagnostischer, sozialtheoretischer und normativer Hinsicht hilfreiche Ansatzpunkte zur (Neu-)Bestimmung von Autonomie und Privatheit. Dabei legt insbesondere der Großteil der aufgezeigten soziologischen Perspektiven eine kritische Betrachtung humanistischer Vorstellungen von Autonomie und Privatheit nahe. So ist zeitgenössische Sozialität nicht von der allgegenwärtigen Datafizierung zu trennen, weshalb folgerichtig die Frage aufgeworfen werden muss, wie Privatheit und Autonomie trotz allgegenwärtiger Verdatung in hybriden soziotechnischen Konstellationen gewahrt werden können. In diesem Zusammenhang unterbreiten die Sammelbände von Berger et al. und Friedewald et al. sowie die Disssertationsschrift von Fabian Pittroff vielfältige Anknüpfungspunkte zur institutionellen Absicherung digital vernetzter Sozialität. Doch so hilfreich etwa die aufgezeigten machkritischen Analysen im Anschluss an Foucault oder die Problematisierung der kollektiven Nebenfolgen von Praktiken der Verhaltenssteuerung sind, um liberale Vorstellungen von Privatheit und Autonomie zu dekonstruieren und neue Perspektiven des Privatheitsschutzes freizulegen – eine grundlegendere Kritik der Dominanz der kybernetischen Weltsicht wird oftmals nicht vorgenommen. Letzteres wäre aber nicht nur geboten, um die soziotechnische Verfasstheit von digitalen Lebenswelten jenseits der Fokussierung auf kybernetischen Feedbackschleifen zu denken. Ebenso wäre insbesondere im Anschluss an den Beitrag von Jörn Lamla zu fragen, wie im Rahmen soziotechnisch vermittelter Alltagspraktiken kritische Bewertungskompetenzen und Formen der lebenspraktischen Autonomie geschult werden können. Eine solche Perspektive würde Autonomie und Privatheit mit Prozessen des Lernens und Praktiken der Kritik verknüpfen, die durch neuartige normative und lebenspraktische Probleme ausgelöst werden und insofern über kybernetische Anpassungen des maschinellen Lernens hinausgehen. Eine solchermaßen soziotechnisch vermittelte Autonomie würde durchaus einen normativen Fluchtpunkt zur Kritik der kybernetischen Verhaltenssteuerung ermöglichen, ohne dabei die Subjekt-Objekt-Dichotomien humanistischer Autonomie-Konzeptionen zu reproduzieren.

Literatur

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Online erschienen: 2025-07-29
Erschienen im Druck: 2025-08-27

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Literature Review
  5. Diagnoses of the present: Current sociological research on a controversial genre of sociology
  6. Gebietskartierung
  7. Das antidemokratische Denken der extremen Rechten heute. Eine Kartierung aktueller Veröffentlichungen
  8. Essay
  9. ‚Die Stadt‘ erforschen. Zum Vorschlag einer integrativen Betrachtung der Stadt
  10. Themenessay
  11. Perspektiven zur (Neu-)Bestimmung soziodigitaler Autonomie und Privatheit
  12. Doppelbesprechung
  13. „Alles noch in Ordnung da draußen? Alle noch bei der Stange?“ Neue Forschungen zum sozialen Zusammenhalt
  14. Einzelbesprechung Algorithmen
  15. Juliane Jarke / Bianca Prietl / Simon Egbert / Yana Boeva / Hendrik Heuer / Maike Arnold (Eds.), Algorithmic Regimes: Methods, Interactions, and Politics. Amsterdam: Amsterdam University Press 2024, 345 S., gb., 153,79 €
  16. Einzelbesprechung Digitalisierung in der Pflege
  17. Karsten Weber / Sonja Haug / Norina Lauer / Christa Mohr / Andrea Pfingsten / Georgios Raptis / Gudrun Bahr (Hrsg.), Digitale Technik für ambulante Pflege und Therapie III: Nutzung, Akzeptanz, Wirkung und Lebensqualität. Bielefeld: transcript 2024, 328 S., kt., 40,00 €
  18. Einzelbesprechung Sozialphilosophie
  19. Johannes Röß, Zwischen Freiheit und Entfremdung: Eine Sozialphilosophie des Geldes nach Georg Simmel. Frankfurt am Main: Campus 2023, 356 S., br., 40,00 €
  20. Einzelbesprechung Techniksoziologie
  21. David Seibt, The Sociomaterial Construction of Users: 3D Printing and the Digitalization of the Prosthetics Industry. London/New York: Routledge 2023, 274 S., gb., 175,50 €
  22. Einzelbesprechung Transnationalismus
  23. Emanuel Deutschmann, Mapping the Transnational World: How We Move and Communicate across Borders, and Why It Matters. Princeton/Woodstock: Princeton University Press 2021, 272 S., kt., 31,50 €
  24. Einzelbesprechung Umwelt und Arbeit
  25. Simon Schaupp, Stoffwechselpolitik: Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten. Berlin: Suhrkamp 2024, 422 S., br., 24,00 €
  26. Einzelbesprechung Wissenssoziologie
  27. Olaf Rahmstorf, Wikipedia: Die rationale Seite der Digitalisierung? Entwurf einer Theorie. Bielefeld: transcript 2023, 416 S., kt., 38,00 €
  28. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2025
  29. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 26.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2025-2021/html
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