Startseite „Harte Zeiten für die Guten“
Artikel Öffentlich zugänglich

„Harte Zeiten für die Guten“

Kurt Huber und Mirok Li – Widerstandsrezeption in der Bundesrepublik Deutschland und in Südkorea
  • Kristina Milz EMAIL logo und Benedikt Sepp
Veröffentlicht/Copyright: 1. Juli 2025
Veröffentlichen auch Sie bei De Gruyter Brill

Abstract

Bis zu seiner Hinrichtung im Jahr 1943 pflegte das Weiße-Rose-Mitglied Kurt Huber eine enge Freundschaft mit dem koreanischen Gelehrten Mirok Li. Li war wegen seines Widerstands gegen die japanische Kolonialmacht aus Korea geflohen und lebte seit 1925 in München, wo er sich als Schriftsteller einen Namen machte. 1946 erlangte er mit seinem Roman „Der Yalu fließt“ Berühmtheit, 1947 veröffentlichte er Erinnerungen an seinen hingerichteten Freund. In Korea gilt die Verbindung der beiden Männer heute in Filmen und Comics als Beleg für die Analogie von japanischem Imperialismus und Nationalsozialismus. Li und Huber erscheinen so als Figuren eines gemeinsamen Widerstandsgeists; in diesem Sinne lassen sich Deutschland und Korea als durch eine Parallelgeschichte gleichsam schicksalhaft miteinander verbunden deuten.

Abstract

Until his execution in 1943 as a member of the White Rose resistance group, Kurt Huber cultivated a close friendship with the Korean scholar Mirok Li. Li had fled from Korea due to his resistance to the Japanese colonial occupation and had been living in Munich since 1925, where he made a name for himself as a writer. In 1946 he became famous for his novel “The Yalu Flows” and in 1947 published an account of his memories of his executed friend. In Korea, the relationship between the two men is now portrayed in films and comics as a reflection of the parallels between Japanese imperialism and National Socialism. Li and Huber appear as figures sharing the same spirit of resistance; in this sense Germany and Korea can be interpreted as being fatefully connected by an analogous historical path.

I. Eine unerwartete Freundschaft

Ein Philosophieprofessor, der im Herbst 1938 am Bahnhof von Gräfelfing auf einen Zug nach München wartete, erkannte unter den Mitreisenden einen seiner ehemaligen Studenten. Mehr als zehn Jahre zuvor hatte er nach seinen Lehrveranstaltungen häufig mit ihm diskutiert; neben der ruhigen Art war dem Dozenten vor allem die „eigentümlich anschauliche Denkart“ des jungen Manns im Gedächtnis geblieben, die er als fremd und vertraut zugleich wahrgenommen hatte.[1] Einen nicht ganz gewöhnlichen Hintergrund hatte sein Gegenüber in der Tat: Mirok Li[2] hatte im heutigen Nordkorea das Licht der Welt erblickt. Die beiden kamen ins Gespräch und stellten erfreut fest, dass sie inzwischen nur einige Straßen voneinander entfernt wohnten; sie beschlossen, sich von nun an öfter zu sehen. Die Freundschaft, die daraus entstand, währte allerdings nur wenige Jahre. Kurt Huber, der Professor aus dieser Szene, wurde 1943 wegen seiner Mitgliedschaft in der Widerstandsgruppe Weiße Rose hingerichtet. Mirok Li, der einst wegen seines Widerstands gegen die japanische Besetzung Koreas nach Deutschland geflohen war und nun als Schriftsteller in Gräfelfing wohnte, überlebte den Freund nicht lange; er starb kurz nach Kriegsende an einer schweren Krankheit. Heute erinnern zwei Bronzetafeln in einer nach Huber benannten Straße an die Freundschaft der beiden Gelehrten – ein Gedenkort, der bereits eine starke Interpretation ihrer Beziehung enthält: Mirok Lis Kopf ist auf der Tafel von Rosen umrankt, und diese Darstellung legt eine enge Beziehung des Koreaners zur Weißen Rose zumindest nahe.

Obwohl die Münchner Widerstandsgruppe zu den bekanntesten antinationalsozialistischen Akteuren zählt, ist die Freundschaft zwischen Huber und Li zumindest im deutschen Sprachraum kaum bekannt[3] – anders als in Südkorea, wo die Weiße Rose über die Erinnerung an Mirok Li eine überraschende Präsenz im öffentlichen Gedächtnis hat. Eine genauere Analyse der Beziehung zwischen den beiden Gelehrten erlaubt einen aufschlussreichen Einblick in die wechselseitige Perzeption von Ost und West; sie verleiht der schon oft erzählten Geschichte der Weißen Rose damit eine gleichsam globale Dimension.[4]

II. Kurt Huber

Angesichts der übermächtigen Präsenz der Geschwister Scholl treten die anderen Mitglieder der Weißen Rose in der öffentlichen Wahrnehmung oft in den Hintergrund – das gilt für Willi Graf, Christoph Probst und Alexander Schmorell, vor allem aber für Kurt Huber, den einzigen Professor in der berühmten Münchner Widerstandsgruppe. Huber nahm aber nicht nur wegen seiner beruflichen Stellung und seines Alters eine Sonderstellung in der Weißen Rose ein – aufgrund seiner politischen Ansichten und philosophischen Interessen stellte er die wohl ambivalenteste,[5] aber auch eine besonders interessante Figur in diesem Kreis dar. Der Widerstandsaktivist wird denn auch von den einen als Held, von anderen als bekennender Antisemit überzeichnet.[6]

Schwer zu greifen war der vielseitig, aber vor allem musikalisch begabte Huber schon während seines Studiums, in dem er zwischen Musikwissenschaft, Philosophie und Physik changierte. Nach einer Promotion im Fach Musikwissenschaft und einer Habilitation in Psychologie wurde er 1926 außerordentlicher Professor an der Philosophischen Fakultät der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, wo er, abgesehen von einem erfolglosen Zwischenspiel in Berlin, bis zu seiner Hinrichtung lehren sollte. Durch seine Vielzahl an akademischen Interessen und Methoden und die nicht eindeutige disziplinäre Zuordnung seiner Forschungen verkörperte er den zwar aussterbenden, als Zeiterscheinung aber nicht ungewöhnlichen[7] Typus des Universalgelehrten:[8] Huber fand seine Themen in der Musikgeschichte und der Rechtspsychologie, arbeitete – empirisch wie auch theoretisch – über Ästhetik, Logik und Erkenntnistheorie, Wahrnehmung und Vokaltheorie, Physik und Experimentalpsychologie. An dieser Stelle soll nicht detailliert auf Hubers Leben, Werk und sein Engagement in der Weißen Rose eingegangen werden; stattdessen gilt es, das Forschungsgebiet näher in den Blick zu nehmen, das Huber am längsten beschäftigt hat: seine Volksliedforschung.[9] Sie, so die These, erlaubt den schärfsten Blick auf sein Denken, und zwar nicht nur im Hinblick auf seine politische Einstellung und seinen Weg in den Widerstand gegen den Nationalsozialismus,[10] sondern auch auf die wechselseitige Anziehungskraft zwischen ihm und Mirok Li.

Schon 1916 veröffentlichte der 1893 geborene Huber einen ersten Aufsatz über das Volkslied, in dem er „unsere innerste völkische Eigenart“ erkennen wollte,[11] und regte die Sammlung und Herausgabe solcher Lieder durch Jugendwandergruppen an. Nach seiner Promotion befasste er sich schließlich aus musikwissenschaftlicher Perspektive weiter mit dieser Musikform, in Zusammenarbeit mit Völkerkundlern oder Orientalisten auch mit nichtdeutschem Liedgut: So analysierte er für eine Arbeit über Frauen im heutigen Myanmar deren Gesänge[12] oder wertete Aufnahmen von Koranrezitationen aus Kairo[13] aus. Später ging Hubers wissenschaftliches Interesse am Volkslied dann auch über die Forschung am Schreibtisch hinaus: Teilweise begleitet von dem bayerischen Volkssänger Paul Kiem, unternahm Huber in den 1920er Jahren im Auftrag der Deutschen Akademie[14] Expeditionen in die bayerischen Alpen, wo er Wachswalzenaufnahmen vom Gesang der Einheimischen anfertigte. Später führten ihn Forschungsreisen unter anderem nach Sarajevo, wo er serbische und bosnische Lieder und Tänze untersuchte.[15] Ab 1930 veranstaltete er sogenannte Preissingen mit, die der Pflege der traditionellen Singpraxis, aber auch als Quelle für weitere Liedsammlungen dienen sollten.[16] Dieser Sammeltätigkeit entsprangen auch mehrere Liederbücher.[17]

Huber unterschied scharf zwischen „echten“ und sozusagen unechten Volksliedern beziehungsweise deren Darbietung. Schon 1926 hatte er sich gegen das „unwahre Salontirolertum“ gewandt,[18] das eine Gefahr für die Authentizität der „echten“ Volkslieder darstelle; mit dem Herausgeber des ersten Liederbuchs,[19] John Meier, überwarf er sich, weil dieser bestimmte Liedsorten, die er von einem deutschen Liederbuch erwartete, in Hubers Sammlung vermisste und zudem nicht glauben wollte, dass in Bayern ausschließlich Lieder im Dialekt gesungen würden. Huber hingegen bestand darauf, dass es die eingeforderten Liedsorten im bayerischen Kulturraum schlicht nicht gebe, und betonte die Authentizität und Notwendigkeit der dialektalen Überlieferung.[20] Versuche, ein verbindliches Einordnungsraster für alle deutschen Volkslieder zu entwickeln, lehnte er entschieden ab: Alle Lieder über denselben Kamm zu scheren, könne das „seelische Ganze eines Volkslieds“ nicht erfassen.[21] Das urbane und bürgerliche, in Teilen vielleicht auch das wissenschaftliche Interesse am Volkslied erschien Huber offenbar vor allem wegen der ihm innewohnenden Tendenz zur Vereinheitlichung und Typisierung gefährlich für dessen urtümlichen Charakter; auch das „Massensingen“ alter Weisen entsprach für ihn nicht dem Geist der eigentlichen Volksmusik.[22]

Die Vermutung liegt also nahe, dass Hubers Faszination für das Volkslied vor allem in der Aura des Originären, des Nicht-Einheitlichen, vielleicht auch des Sperrigen, sich einem messbaren Nutzen Entziehenden begründet lag, das er darin zu erkennen glaubte. Natürlich produzierte die Suche nach dem authentisch echten Volkslied eine Aporie, die als Echtheitskriterium nur nehmen konnte, dass das Echte eben das Echte war,[23] aber gerade dies illustriert die Zerrissenheit zwischen Forschung und Aktivismus, zwischen Analyse und Leidenschaft, die Hubers Volksliedarbeit charakterisierte – und macht die Frage, inwieweit Hubers politische Ansichten mit denen der Nationalsozialisten kompatibel waren, umso komplexer. Zwar hatte er sich schon lange vor 1933 mit der Volksliedforschung beschäftigt, doch muss er in der nationalsozialistischen Machtübernahme zunächst eine Chance nicht nur für sein Forschungsfeld, sondern auch für sich persönlich gesehen haben. Für eine klassische Karriere im nationalsozialistischen System war er aber wohl der Falsche, wie ein kurzes Intermezzo in Berlin zeigte: Dorthin war Huber 1937 gezogen, um – zunächst kommissarisch – die Leitung der Abteilung Volksmusik im neu gegründeten Staatlichen Institut für deutsche Musikforschung zu übernehmen. Eine Bestätigung in diesem Amt blieb jedoch aus, und das dürfte vor allem daran gelegen haben, dass er in den Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden kulturpolitischen Institutionen wie dem Reichsministerium für Erziehung, Volksbildung und Wissenschaft und dem Amt von Alfred Rosenberg als „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Erziehung der NSDAP“ zwischen die Fronten geriet. Vor allem der linientreue Musikwissenschaftler Herbert Gerigk, Mitherausgeber des im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP zusammengestellten „Lexikon[s] der Juden in der Musik“,[24] wollte Hubers Berufung nach Berlin verhindern und fand in dessen offenkundiger Bindung an den Katholizismus und einer angeblich „ausgesprochen parteifeindliche[n] Haltung“ seinen Grund dafür.[25]

In diesen Tagen – und das ist für die hier verfolgte Argumentation von besonderem Interesse – war Huber dem nationalsozialistischen System so nah wie zu keinem anderen Zeitpunkt. Ein Büchlein aus dieser Zeit mit dem schlichten Titel „Zur Tonalität des deutschen Volksliedes“ ist ein gutes Indiz dafür, wie ernsthaft er versuchte, den Erwartungen seiner Zeit und seines Umfelds nachzukommen, aber auch dafür, dass er sich bei diesen Bemühungen selbst im Weg stand. In diesem Sammelwerk dachten mehrere Musikwissenschaftler über die Zuordnung von Tongeschlechtern zu Rassencharakteren nach. Insbesondere setzten sie sich mit der These auseinander, „daß das ursprünglich ‚germanische‘ musikalische Empfinden ein Dur-Empfinden sei“,[26] andere „Rassen“ jedoch eher in Moll sängen. Huber fiel nun die Aufgabe eines Resümees zu, und sein Konflikt zwischen politischer Anpassung und wissenschaftlichem Anspruch war unübersehbar: „Die entscheidende Frage, die hier nur gestellt, nicht gelöst werden kann, ist, ob eine solch einfache Rassenzuordnung von Tonalitätsmerkmalen den historisch nachweisbaren Tatsachen gerecht wird. Dies scheint mir vorerst nicht der Fall zu sein“,[27] formulierte er vorsichtig, um dann fortzufahren:

„Es ist der immer wiederkehrende Fehler einer vorwiegend biologischen Betrachtung der Zusammenhänge des Geistes, daß Stufen geistiger Entwicklung für Merkmale einer im Grunde körperlichen Struktur genommen werden. Nur auf diesem Boden ist es möglich, mit Pentatonik, Stufenmelodik, Dreiklangharmonik als biologischen Merkmalen wie mit Kurz- und Langschädeln zu operieren und Korrelationen zwischen beiden Merkmalsgebieten feststellen zu wollen.“

Ein solcher Versuch, zwischen wissenschaftlichen Standards und den ideologischen Anforderungen zu vermitteln, musste scheitern. Hubers Biografin Rosemarie Schumann deutet an, dass er die politischen Erwartungen, die an seine Volksliedarbeit gerichtet wurden, im Grunde auch gar nicht verstand.[28] Hubers Scheitern in Berlin jedenfalls war durch seine oszillierende Haltung schnell besiegelt; sein Widersacher Gerigk schickte ihm in der Zeitschrift Die Musik noch einen gehässigen Kommentar hinterher, der im Rückblick fast prophetisch wirkt.[29] Nach München zurückgekehrt, musste sich Huber seine Existenz als Hochschullehrer neu aufbauen. Darin war ihm einiger Erfolg beschieden – zumindest brachte ihm die Art und Weise seiner Vorlesungen so viel Vertrauen unter den Studierenden ein, dass Hans Scholl und Alexander Schmorell ausgerechnet ihn kontaktierten, als sie mit ihren Flugblattaktionen begannen.

Ob Hubers Scheitern im nationalsozialistischen Staat und sein Weg in den Widerstand auf einer Serie mehr oder weniger kontingenter Entscheidungen beruhten oder doch in seinem Charakter und seiner politischen Einstellung angelegt waren, ist kaum zu entscheiden. Hubers Volksliedforschung erlaubt aber einige Überlegungen zu seinem politischen Weltbild, die auch die spätere Freundschaft zu Mirok Li erhellen. In Hubers Betonung der Authentizität der sich in den Liedern offenbarenden „Volksseele“, der Inkommensurabilität der Denk- und Gefühlswelten verschiedener Völker – aber auch verschiedener deutscher „Stämme“ – und auch in seiner elitären Abneigung gegenüber der Vermassung und Konfektion alter Kulturgüter lag sicher viel Anschlusspotenzial für die nationalsozialistische Semantik von der „Volksgemeinschaft“, ohne dass seine Gedankenwelt vollends darin aufgehen konnte:[30] Huber dachte – dies legen die seiner Volksliedforschung zugrundeliegenden Prämissen nahe – völkisch, aber nicht unbedingt rassisch, von Unterschieden und Essenzen her, ohne diese werten zu wollen, eher elitär als massenorientiert, eher bayerisch als deutsch, eher föderal als zentralistisch, eher Untergegangenes betrauernd als die Zukunft gestaltend.

Daran lässt sich eine Tendenz erkennen, die auch Hubers Weg in den Widerstand nachvollziehbar macht: Im Volkslied, so scheint es, hoffte Huber noch eine Ahnung einer verloren gegangenen Einheit von Landschaft, Bevölkerung, Denken, Handeln, Fühlen und Sein erhaschen zu können, einer Einheit, die vom Einbruch der Moderne (und letztlich auch von der Wissenschaft, der er sich selbst verschrieben hatte) zerfetzt worden war. Doch anders als die nationalsozialistischen Vertreter des „Reactionary Modernism“[31] hegte er offenbar keinerlei Hoffnungen darauf, dass sich diese Einheit je wieder würde herstellen lassen. Allenfalls ließe sich Widerstand gegen Vermassung, Konfektion und Zentralismus leisten. Zugespitzt: Als Wissenschaftler dachte Huber vielleicht modern, er fühlte aber eher vormodern[32] – ein Konflikt, den er in seiner Arbeit nie auflösen konnte und der ihn mit seinem koreanischen Bekannten verband.

III. Mirok Li

Hubers einstigen Studenten, den er 1938 auf dem Gräfelfinger Bahnhof wiedersah, bewegten ähnliche Themen – nur hatte dieser die Erfahrungen, die dazu führten, am anderen Ende der Welt gemacht. 1899 war Mirok Li in einem Dorf im heutigen Nordkorea in eine erodierende alte Ordnung hineingeboren worden.[33] Die koreanische Halbinsel war in dieser Zeit so etwas wie ein Spielball der großen Nachbarn China, Russland und Japan sowie diverser europäischer Staaten. Die Machtlosigkeit der koreanischen Königsfamilie war so evident, dass der erste japanisch-chinesische Krieg 1894 auf koreanischem Boden ausgetragen wurde. Die territorialen Bestrebungen Japans im ostasiatischen Raum führten schließlich dazu, dass das Kaiserreich die koreanische Halbinsel 1910 annektierte. Das koreanische Militär wurde aufgelöst, die bisherige Führungsschicht unterdrückt, eine sich formierende Widerstandsbewegung brutal niedergeschlagen.

In den ersten Lebensjahren des jungen Mirok war von diesen Umbrüchen noch wenig zu spüren. Als Sohn eines vermögenden Großgrundbesitzers wurde er zunächst konfuzianisch erzogen; die Bildung, die er genoss, umfasste klassische chinesische und koreanische Literatur, Geschichte und Kalligrafie. In seinen Jugenderinnerungen „Der Yalu fließt“ zeichnete Li seine Kindheit später als vormoderne Traumwelt, als Leben in einem von Traditionen, Mythen und Hierarchien beherrschten, abgeschlossenen Kosmos, der vom Einbruch der westlichen Moderne in seinen Grundfesten erschüttert wurde. Die japanische Annexion bedeutete nicht nur den Einfall fremder, gewalttätiger Soldaten in die Lebenswelt eines behüteten Zehnjährigen, sondern ließ auch die Armut wachsen, so dass zahllose Obdachlose und Bettler hilfesuchend an die Tür seines Vaterhauses klopften. Dazu kamen der Versuch, die koreanische kulturelle Identität und Geschichte auszulöschen, sowie die Begegnung mit dem Westen. Die öffentliche Schule, die Mirok im Alter von etwa elf Jahren zu besuchen begann, lehrte neben der japanischen Sprache „ganz neuartige Wissenschaften, die man von einem neuen Erdteil eingeführt habe, den man [. . .] ‚Europa‘ nannte. Wo dieser Erdteil wirklich lag und was seine Wissenschaften waren, wusste man nicht genau“.[34] Mathematik, Physik, Biologie und Chemie traten dem jungen Mirok hier nicht nur als moderne, sondern auch als genuin westliche Inhalte entgegen. Obwohl der Verlust alter Gewissheiten und der koreanischen Tradition Wehmut auslöste, erschienen ihm die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und die – angeblichen – sozialen Verhältnisse Europas als wundersame Vorboten einer neuen Welt: „Die Europäer sind eben wahre Menschen“, kommentierte auch Lis Vater, als sein Sohn ihm erzählte, dass es in Europa „keinen Herrn und keinen Diener“ gebe.

In Seoul (das während der japanischen Okkupation den Namen Keijō trug), wo der junge Mirok 1916 ein Studium der Medizin begonnen hatte, trat ihm die moderne Welt deutlich janusköpfiger entgegen: In den Alltag der Hauptstadt hatten die japanischen Besatzer in seinen Augen nicht nur westliches Wissen, sondern auch moderne Kontrollmechanismen, Überwachungstechniken und spirituelle Leere mitgebracht. Das Studium an der nur kurz zuvor gegründeten und japanisch kontrollierten medizinischen Kyungsung-Hochschule hatte Lis Erinnerung nach „etwas Schulmäßiges, ja fast Militärisches, wie alle Anstalten, die dem japanischen Generalgouvernement unterstellt waren“.[35] Insbesondere die dort gelehrte westliche Medizin beeindruckte ihn tief – im positiven Sinne, weil sie der traditionellen chinesischen Heilkunde gnadenlos überlegen war, aber auch negativ, weil sie keinen Respekt vor der Würde und Ganzheitlichkeit des Menschen zu haben schien. In der traditionellen koreanischen und chinesischen Heilkunde, so erinnerte Li sich später, habe die genauere Erforschung des menschlichen Körpers aus Respekt vor der Würde der Toten stets zurückstehen müssen; die nun geforderten Sezierübungen im Rahmen seines Medizinstudiums hätten ihn und seine Kommilitonen wegen der Respektlosigkeit gegenüber den Verstorbenen beinahe dazu gebracht, ihr Studium abzubrechen. Als rational, aber gnadenlos, als effizient, aber unerträglich laut erschien Li die moderne Zeit; in seiner Charakterisierung Shanghais, wo er sich später einige Monate aufhielt, um seine Emigration nach Europa vorzubereiten, beschrieb Li auch die Reizüberflutung durch den neuen europäischen Lebensstil, der die alte chinesische Welt schlicht überrannte:

„Schanghai! Dies ist die chinesische Stadt mit den meisten Europäern. Der neue Stadtteil ist sauber und modern gebaut. Sechsstöckige Häuser reihen sich um die breiten, regelmäßigen Straßen, auf denen die Autos unaufhörlich dahinsausen. Große Kaufläden, Bankhäuser, Vergnügungsstätten, Paläste der Dollarkönige stehen und glänzen nebeneinander, nachts so hell wie am Tage! [. . .] Hier sehen die Chinesen Europa in hellstem Licht und in Glanz und Macht. Hier sehen sie, in welcher Geschwindigkeit die Europäer arbeiten. Autos sausen, Motorräder knattern, Züge pfeifen, Flugzeuge surren und am Quai von Hoangpotan schießen die Boote wie Pfeile dahin.“[36]

Die Moderne war also, neben vielen anderen Dingen, zunächst einmal expansiv und laut;[37] das verleiht einer später oft beschriebenen Eigenschaft von Mirok Li, seinem charakteristischen Schweigen, besondere Bedeutung.

Trotz seiner erkennbaren Skepsis spricht aus Lis Werken zu keiner Sekunde eine direkte Ablehnung der westlichen Moderne, sondern vielmehr der melancholische Schmerz eines unabwendbaren Abschieds von einer Welt, die nicht mehr zu erhalten war, verbunden vielleicht mit dem Bedürfnis, diese Welt zumindest im Herzen zu bewahren. In einer Hinsicht aber nahm der junge Mann sehr wohl eine offene Abwehrhaltung ein: Gegen die japanischen Kolonisatoren ging er früh in den Widerstand. Als sich 1919 vor allem unter Studierenden eine Bewegung zu formieren begann, die eine Unabhängigkeitserklärung Koreas auf den Straßen verteilte,[38] nahm der Zwanzigjährige an Demonstrationen teil und half beim Drucken antijapanischer Flugblätter.[39] Als die Widerstandsbewegung nach wenigen Monaten niedergeschlagen wurde, floh Mirok Li, der inzwischen verheiratet und Vater war, auf Anraten seiner Mutter zunächst nach Shanghai, wo sich eine provisorische koreanische Regierung gebildet hatte. Wegen der Briefzensur war es ihm kaum möglich, mit seiner Familie Kontakt zu halten. Seine Vorsicht war begründet: Im Juni 1920 wurde er in Abwesenheit zu zwei Jahren Haft verurteilt.[40] Doch der Arm der Japaner reichte nicht weit genug: Schon einen Monat zuvor hatte Li Frau und Kinder endgültig in Korea zurückgelassen und war nach Deutschland weitergeflohen.[41]

Nachdem er sich einige Zeit mit der deutschen Sprache beschäftigt hatte, setzte Li sein Studium in Würzburg fort. An Gesellschaft von Landsleuten fehlte es ihm nicht, da dort mehrere Koreaner wohnten, die wegen der Entwertung der deutschen Währung streckenweise auf großem Fuß leben konnten.[42] Dennoch wechselte er nach Heidelberg, brach dort nach einer schweren Krankheit sein Medizinstudium ab und zog 1925 nach München, wo er an der LMU ein Studium der Biologie (mit Nebenfach Rassenkunde) begann.[43] In diesem Fach entschloss er sich nun auch zu einem Doktorat, und interessanterweise wurden ihm die Promotionsgebühren erlassen: Sein Doktorvater Wilhelm Goetsch argumentierte, Li habe aufgrund seiner „nationalen Einstellung Verfolgungen erleiden“ müssen und sei deshalb mittellos – eine Argumentation, die zeittypisch überzeugte.[44] In seiner Studie beschäftigte Li sich mit den Regenerationsfähigkeiten von Planarien, Plattwürmern, die, einmal auseinandergeschnitten, als zwei Exemplare weiterleben können. Das Thema forderte ihn auch abseits der Naturwissenschaft: Wie war es möglich, angesichts dieses Phänomens den Begriff Individuum zu definieren? Mirok Li beschloss, sich die nötige philosophische Begrifflichkeit anzueignen. Im Wintersemester 1927 schrieb er sich in die Vorlesung eines jungen Philosophiedozenten ein: Kurt Huber.[45]

In die Zeit seiner Promotion fiel auch Lis einzig bekannter Versuch, sich noch einmal direkt politisch zu betätigen: Im Februar 1927 war er in Brüssel Mitglied der koreanischen Delegation beim Gründungskongress der vom kommunistischen Reichstagsabgeordneten Willi Münzenberg initiierten Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit,[46] an dem Vertreter aus imperialistischen, aber auch aus kolonisierten Ländern (wie etwa Jawaharlal Nehru aus Indien) teilnahmen. Die dreiköpfige koreanische Delegation, der Mirok angehörte, verfasste für die Konferenz auf Englisch, Französisch und Deutsch die Broschüre „Das koreanische Problem“, in der die Härte der japanischen Besatzung mit Statistiken und Grafiken veranschaulicht wurde.[47] Überdies brachte sie einen Resolutionsentwurf zur Anerkennung der koreanischen Exilregierung ein, der jedoch nicht einmal diskutiert wurde[48] – eine Erfahrung, die Lis politischen Elan offenbar einschlafen ließ; zumindest ist von weiteren politischen Aktivitäten nichts mehr bekannt.

Nach der Promotion war für den jungen Biologen an eine Anstellung nicht zu denken. Mehrere Jahre lebte Li mehr schlecht als recht als Privatgelehrter von Kalligrafie- und Sprachunterricht. In diese Zeit fallen auch seine ersten Gehversuche als Schriftsteller in deutscher Sprache: 1931 erschien in der Frauenzeitschrift Die Dame seine erste Erzählung „Nachts in einer koreanischen Gasse“.[49] Als Li Anfang der 1930er Jahre schließlich von der Familie des Kunsthistorikers Alfred Seyler aufgenommen wurde, in deren Gräfelfinger Haushalt er bis an sein Lebensende wohnen sollte, verbesserte sich seine finanzielle Situation deutlich, und er begann nun offenbar, auch im gehobenen Bürgertum Münchens zu verkehren. Als Privatgelehrter und Schriftsteller, der die Weisheit des Ostens mit dem Wissen des Westens zu versöhnen schien, machte er schon damals auf viele Zeitgenossen Eindruck. Wiederholt geschildert wurde etwa sein Arbeitszimmer im Haus der Seylers: an den Wänden chinesische Kalligrafien, in den Regalen Standardwerke westlicher Forschung, um das Fenster seines Zimmers gerankter Efeu, den Li – so wurde kolportiert – aus einem am Goethe-Haus in Weimar gepflückten Blatt gezogen hatte.[50]

In den folgenden Jahren veröffentlichte er mehrere kurze Artikel vor allem in Tageszeitungen und einige wenige längere Aufsätze über koreanische Kultur. Diese Texte aus den 1920er und frühen 1930er Jahren erlauben seltene Einblicke in das Leben eines Menschen, der nach der Machtübernahme Adolf Hitlers schon aufgrund seines Äußeren als Fremder markiert und doch geduldet wurde. Rassismuserfahrungen und exotisierendes Interesse gingen hier Hand in Hand; in den veröffentlichten Texten und auch in Lis Nachlass finden sich amüsiert geschilderte Alltagsbeobachtungen zur Wirkung, welche die von ihm ausstrahlende Fremdheit auf die Deutschen hatte – die eines Fremden allerdings, der bald tadellos Deutsch mit bayerischem Einschlag sprach und über ein profundes Wissen über deutsche Kultur verfügte.[51] Wie stark Lis Lebenssituation durch den Nationalsozialismus beeinflusst oder eingeschränkt wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Zwar nahm die Zahl japanischer und koreanischer Studenten in Deutschland in den 1930er Jahren drastisch ab,[52] aber grundsätzlich war ihre Situation wohl eingermaßen stabil. Manche der in Deutschland lebenden Koreaner arrangierten sich mit dem NS-Regime, andere waren sogar überzeugte Faschisten, die später in Korea entsprechende Positionen vertraten.

Für Mirok Li lässt sich eine Nähe zum Nationalsozialismus an keiner Stelle belegen. In den 1930er Jahren veröffentlichte er verschiedene Erzählungen, die als Basis seines späteren Romans „Der Yalu fließt“ gelten dürfen; besonders erwähnt sei an dieser Stelle ein Textentwurf, der sich mit den „Religionen in Korea“ auseinandersetzt. Li beschrieb darin die Koexistenz mehrerer Glaubensrichtungen im vorkolonialen Korea, die im Bewusstsein der Koreaner weder den Status einer Religion hatten noch sich gegenseitig Konkurrenz machten. Konfuzianismus und Buddhismus, Schamanismus, Animismus und Dämonismus seien im Alltagsleben Hand in Hand gegangen, hätten jedoch mit der Zeit dem Christentum weichen müssen. Dieses sei nun mit dem Anspruch auf die einzige Wahrheit aufgetreten, und das habe bei den anderen Glaubensrichtungen entsprechende Reaktionen ausgelöst:

„Aber dieser neue Begriff ‚Religion‘! Mit diesem Begriff entstanden mehrere andere. Die buddhistischen Mönche nannten sich nun ‚Buddhisten‘, die konfuzianistisch Gelehrten ‚Konfuzianisten‘. Auch sie bauten Missionsschulen, auch sie erlaubten nun nicht mehr die Kompromisse der Religionen. Das Volk lernte zu begreifen, dass es nicht nur eine, sondern mehrere Religionen gibt, von denen man eine heraussuchen musste.“[53]

Es ist wohl nicht zu viel der Interpretation, in dieser Ende 1933 geäußerten Sorge vor der großen Vereindeutigung der Welt auch einen Kommentar auf die politische Situation in Lis Umfeld zu sehen.

IV. Eine Gelehrtenfreundschaft unter dem Hakenkreuz

Als sich Kurt Huber und Mirok Li wenige Wochen vor dem Novemberpogrom 1938 zufällig wiedersahen, war dies der Beginn einer Freundschaft zwischen zwei auf ihre ganz eigene Art unkonventionellen Gelehrten, deren Gedanken um ähnliche Themen kreisten. Leider sind keine direkten Quellen über ihre Gespräche erhalten, und, da sie nur wenige Minuten voneinander entfernt wohnten, auch keine Briefe. In einem liebevollen Gedenktext an seinen hingerichteten Freund beschrieb Li später seine oft bis in die Nacht hinein dauernden Besuche bei Huber als von wechselseitiger Anziehung der Traditionen des anderen geprägt, als miteinander unternommene Suche nach Gemeinsamkeiten von Ost und West. Huber habe ergriffen Lis Erläuterungen über asiatische Geschichte gelauscht und immer wieder Verbindungen zur klassischen Antike und zum europäischen Mittelalter geknüpft, ja er habe sich sogar an chinesischer Kalligrafie versucht.[54] Im Gegenzug, so berichtete Li, sei er erst im Gespräch mit Huber auf die tiefwurzelnde Eigentümlichkeit seines eigenen Denkens gestoßen: Die Begegnung mit dem westlichen Gelehrten habe den Anstoß gegeben, über seine koreanische und asiatische Identität, Wahrnehmung und Denkweise zu reflektieren und die Seele des koreanischen Volks ergründen zu wollen. Er versuchte sich alsbald an einer Systematisierung der koreanischen Grammatik und dachte bezeichnenderweise auch über koreanische Volkslieder nach.[55]

Man kann nur annehmen, dass für beide Freunde die Faszination an der alten Welt des jeweils anderen eine Form war, den Verlust einer in die Vergangenheit projizierten Einheit und Harmonie zu akzeptieren und zu betrauern. Gleichzeitig schienen sie durch das Beschwören bekannter Elemente in der fremden Welt des anderen die Ahnung eines authentischen Ur-Menschlichen zu erkennen, das sie in den Wirren der Modernisierung verloren gegangen glaubten. Blickt man auf die Biografien, Interessen und Texte dieser Geistesmenschen, kann man sich ihre Gespräche bei Kerzenschein vermutlich als weltabgewandte Beschwörung einer Vergangenheit vorstellen, die nicht mehr wiederkehren sollte: Hubers Suche nach der authentischen Volksseele in einsamen bayerischen Bergdörfern oder rumänischen Hafenstädtchen und Lis melancholischer Blick auf das untergegangene ländliche Korea zeugten von dem Gefühl eines Schmerzes der Unwiederbringlichkeit einer verlorengegangenen ländlichen Einheit, die von den Zentrifugalkräften einer sich beschleunigenden Industrialisierung und Rationalisierung überrollt worden war.

Doch auch wenn sich die Freunde gedanklich hauptsächlich in fernen Ländern und Zeiten aufhielten, konnten sie ihre Umwelt im nationalsozialistischen Deutschland nicht lange ignorieren. Auf Mirok Li muss der Nationalsozialismus im Laufe der Zeit immer bedrohlicher gewirkt haben, vor allem, nachdem der Flirt des nationalsozialistischen Regimes mit den ihm so verhassten Japanern 1940 im Dreimächtepakt mündete,[56] der die „Achse“ Berlin–Rom–Tokio endgültig besiegelte. Öffentlich hielt Li sich zurück: Er hatte seine Erfahrungen mit dem Widerstand vor langer Zeit gemacht. Bei seinem deutschen Freund aber meinte er eine zunehmend bedrückte Stimmung zu bemerken; Hubers immer entschiedenere Ablehnung des Nationalsozialismus war ihm sicher bekannt. Dennoch ist zweifelhaft, dass Li vom Engagement seines Freunds in der Weißen Rose wusste.

Wie er dieses rückblickend deutete, zeigt sich in seinem Nachruf auf Huber: Dessen Weg in den Widerstand betrachtete er als schicksalhafte Konsequenz aus Herkunft und Charakter, der er, Li, nur ohnmächtig habe zusehen können – für eine entschiedene Warnung sei der kulturelle Graben zwischen ihnen zu tief gewesen: „Die Gefahr wurde immer größer für Menschen seiner Art. Ich hoffte inständig, daß er doch noch schweigen und in Stille warten möchte, bis die ungeistige Flut vorüber war und der reine Fluß wieder ans Tageslicht trat. Das war wohl zu östlich gedacht. Kurt Huber mußte einen anderen Weg gehen“, stellte er mit einer Spur Resignation fest.[57] An Mut allerdings mangelte es dem Koreaner nicht: Mirok Li bewies nach der Verhaftung und späteren Hinrichtung Hubers Courage. Als einer von wenigen hielt ausgerechnet der vulnerable Ausländer den Kontakt mit Hubers Familie und sparte sich sogar Essen vom Mund ab, um die Witwe Clara und ihre beiden Kinder zu unterstützen[58] – anders als etwa der mit Huber gut befreundete Komponist Carl Orff, der sich schnellstmöglich auf unrühmliche Weise abgesetzt hatte,[59] und anders auch als Karl Alexander von Müller, der sich nach 1945 als Hubers bester Freund in Szene setzte.[60]

V. „Der Yalu fließt“: Lis letzte Jahre und sein Nachwirken in Deutschland

Den Bombenkrieg und schließlich das Kriegsende erlebte Mirok Li unbeschadet in München. Schon im Juli 1944 hatte er für seinen ersten Roman „Der Yalu fließt“ einen Vertrag mit Piper abschließen können; das Buch erschien jedoch erst im Mai 1946. In der westdeutschen Literaturszene wurde es sehr positiv aufgenommen – von freundlich bis hymnisch fielen die zahlreichen Rezensionen aus, die vor allem „die makellose, ruhig fließende Prosa, die menschliche Wärme [und] die Noblesse der Erzählhaltung“ lobten.[61] Die gefühlte Zeitlosigkeit des Themas kontrastierte offenbar mit der Situation der Leserinnen und Leser im zerstörten Deutschland: Gegenüber dem „anhebende[n] Zeitalter der Mechanik, das sich über die ganze Erde verbreitet“, sei das „Buch eine Wohltat. Legt man es aus der Hand, breitet sich in einem die tiefe Ruhe aus, die dem chinesischen Wesen eigen ist“,[62] schrieb ein Rezensent, ein anderer bezeichnete das Werk als „von edler Menschlichkeit erfüllt“,[63] und ein dritter erkannte darin ein „stilles und eben darum beredtes Buch“.[64] Die Schilderung des koreanischen Landlebens, vor allem aber die Darstellung der Hoffnungen, die der junge Mirok in die Versprechungen Europas gesetzt hatte, lasen nicht wenige Rezensenten als stumme Anklage einer moralischen Instanz: In den Jahren, in denen der Deutsche nur noch Deutscher war, hatte er in den Augen des Fremden offenbar als Europäer versagt.

„Wir lesen heute tief beschämt, mit welch naiver Ehrfurcht und unschuldiger Bewunderung das jahrtausende alte Asien zum himmelstürmenden Europa aufsah [. . .]. Aber Asien glaubte nicht nur an die Errungenschaften der Technik, an den Fortschritt, es glaubte viel mehr noch an das hohe europäische Ethos: [. . .] ‚In Europa gibt es keinen Herrn und keinen Diener wie in den barbarischen Ländern.‘ Klingt es uns nicht wie entsetzlicher Hohn in den Ohren? Ahnen wir, wie tief wir gefallen sind? [. . .] Kann sich ein Europäer von 1946 diese Sätze überhaupt noch in gelebter Wirklichkeit vorstellen?“[65]

Ein anderer begeisterter Leser, der bekannte Schriftsteller Stefan Andres, forderte von Li eine Fortsetzung seines Buchs – inklusive eines Urteils über die Verfehlungen seiner Wahlheimat. Zugleich bat er um Nachsicht:

„Ich bin sehr gespannt, wie Ihre Erzählerkraft nun mit jenen Motiven verfahren wird, die Ihnen nicht Ihre schöne Heimat [. . .] biete[t], sondern der Mitteleuropäer, auch Deutscher genannt. Hat sich dieser Mensch Ihnen doch in den letzten zehn Jahren von seiner übelsten Seite gezeigt! Aber Sie werden milde und gerecht zugleich in Ihrem Urteil sein, das weiß ich, und Sie werden die Erscheinungen mit den Ursachen zu verbinden wissen. Das ist sehr viel.“[66]

Der Ruhm, den Li mit seinem Erstlingswerk erwarb, verhalf ihm zu einer geachteten Position als Schriftsteller[67] und 1947 schließlich sogar zu einer Stelle als Dozent für Koreanisch und Chinesische Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität.[68] Als Hochschullehrer schien er nun seine Berufung gefunden zu haben: Über den Kreis seiner Schülerinnen und Schüler hinaus wirkte er in München und Gräfelfing als geachteter Autor, Kalligrafie- und Sprachenlehrer, der als „Botschafter des reinen Geistes“ und als Nicht-Deutscher, der das nationalsozialistische Deutsche Reich überdauert hatte, offenbar moralische Autorität ausstrahlte.[69] Als der Schutzverband Deutscher Schriftsteller 1948 seine Mitglieder um ein Statement zum politischen Standort der zukünftigen deutschen Literatur bat, plädierte Li für ein entschiedenes Heraushalten aus den politischen Niederungen und für einen ästhetischen Elitismus, der sich selbstbewusst gegen die Besatzungsmächte wandte:

„In der Unparteilichkeit und in der Tendenzlosigkeit spüren wir den Atem des Allgeistes, dessen Rhythmus und Schwingung in die irdische Form zu gestalten, die reinste Pflicht aller Schriftsteller sein müßte [. . .]. Die irdische Freiheit ist die Voraussetzung der Tendenzlosigkeit, deshalb muß ich alle Maßnahmen für die kulturellen Arbeiten i[m] allgemeinen und für die schriftstellerische im besonderen von Seiten der Besatzungsmächte prinzipiell ablehnen.“[70]

In den späten 1940er Jahren verschlechterte sich Lis Gesundheitszustand zusehends; das Amt eines Botschafters, das ihm offenbar angeboten wurde, lehnte er ab.[71] Als er 1950 im Alter von nur 51 Jahren an Magenkrebs verstarb, folgten seinem Sarg offenbar mehr als 300 Trauernde.[72] Blättert man durch die zahlreichen Nachrufe, gewinnt man den Eindruck, ihm sei eine herausgehobene Stellung als Weiser aus dem fernen Orient zuteilgeworden: „Er [. . .] kam nicht als Fremder, sondern als Freund, dessen Gegenwart allein eine von uns Abendländern nur zu selten erlangte Ruhe und ein allgütiges Verständnis ausströmte“,[73] exotisierte ein Zeitungsartikel; als „Geist, in dessen Banne man das Schweigen lernt“,[74] charakterisierte Kurt Brem den Verstorbenen. Mirok Lis Verbindung zu Deutschland wurde in diesem Zusammenhang als eine Art nostalgische Erinnerung an eine Gelehrtennation interpretiert, die von den Nationalsozialisten untergepflügt worden war: „Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken, / Das nicht die Vorwelt schon gedacht?“ – Brem wusste zu berichten, dass Li kurz vor seinem Tod „Faust 2“ als angemessene Lektüre für sein Lebensende bezeichnet habe. Im Exil seines Bekannten sah der Publizist auch eine Suche nach dem Ort des deutschen Geistes:

„Zu sagen, aus welchen Quellen sich dieser bedeutende Geist nährte, erforderte einen Aufriß der Geistesgeschichte der ganzen Welt. Daß er nun gerade Deutschland, die Mitte Europas, wählte, ist nicht ohne tieferen Sinn; er suchte im Lande Goethes gleichsam einen archimedischen Punkt zu finden, von wo aus die im Geist sich verfremdende Welt noch einmal ins rechte Maß zu rücken wäre. Nicht, als sei damit dem deutschen Geist ein Vorrecht zugestanden, weit mehr des Sinnes, daß sich hier das günstigste Forum böte, dem universalen Geist der Menschheit zu dienen.“[75]

Lis Hausarzt Peter Beckmann sah im Leben und Sterben seines Patienten ebenfalls eine weltgeschichtliche Ironie:

„Mirok Li kam aus einem Lande, in dem besser als bei uns bekannt ist, wie weit wir alle untereinander und mit jeglicher Kreatur zu einem unendlichen und unsterblichen Ganzen verwoben sind. Als er aus diesem Land Abschied nahm, konnte er nicht wissen, wie weit durch mißverstandenes Bewußtsein und wissenschaftliche Verzerrungen des Weltganzen in einem anderen Lande – nämlich bei uns – Menschen schon Flüchtlinge und Verstoßene aus diesem Weltganzen waren, die noch glaubten, in einer sicheren Ordnung zu leben. Wie lange Mirok Li [wohl] gebraucht hat, um zu erkennen, daß er aus einem Lande geflohen war an der Peripherie einer großen Explosion, um in den Kern der Explosion zu gelangen?“[76]

Und in einem veröffentlichten Vortrag des Kulturreferenten der deutschen Botschaft in Seoul, Walter Leifer, zitierte dieser Mirok Lis eigene Parallelisierung des deutschen und koreanischen Volks als von der Weltpolitik zerrissene und auf ihre Eigenständigkeit bestehende Kulturnationen:

„Mirok Li sprach vom Einbruch westlich moderner Zivilisation in das uralte Kulturland Korea, wies auf Parallelen hin und brachte seine Vermutungen zum Ausdruck. ‚Wir müssen‘ – ich erinnere mich fast noch seiner Stimme – ‚für all das Neue, das auf uns einbricht, neue Begriffe und Worte formen: Demokratie – Mindsu-dsui, Diktatur – Dsöndse-dsui. . . Und heute ist in Korea die Frage: Mindsu-dsui na Dsöndse-dsui? Demokratie oder Diktatur? [. . .] Ich glaube an die Demokratie. . . Ja, ich glaube an die Demokratie! Und man soll uns nichts aufdrängen. . . Man lasse uns selbst entscheiden. Das ist das Wichtigste. . . Wir wollen in Korea nur eines: Dsayu – Freiheit. Dies war immer das von uns heiß ersehnte politische Ziel. Und darin ähneln wir uns vielleicht sehr, wir, das Volk vom sinoasischen Korea, und Ihr, das Volk des abendländischen Deutschlands. Wir sind Ostasiens Deutschland und ihr Europas Korea. . .‘“[77]

Ohne Zweifel diente der Gelehrte Mirok Li über seinen Tod hinaus als Projektionsfläche für ein anderes, besseres Deutschland, das weder durch Nationalsozialismus noch vermeintlichen Vaterlandsverrat und selbst von der Moderne kaum befleckt war. Die Stille, Besonnenheit und menschliche Wärme, die Li offenbar ausstrahlte, wirkte wie ein Kontrapunkt zum Exzess der kalten Rationalität der Vernichtungsmaschinerie und der nationalsozialistischen Massenhysterie: In der Ruhe des Ostasiaten, so scheint es, sahen die Deutschen in der Nachkriegszeit sich selbst, wie sie hätten sein können, es tragischerweise nicht gewesen waren und nach dem Krieg nun gerne sein wollten.

Ganz vergessen ist Mirok Li in Deutschland bis heute nicht: Ein Verein widmet sich seinem Andenken[78] und brachte 2019 – nahe der seinem Freund gewidmeten Stele in der Kurt-Huber-Straße – eine bronzene Erinnerungstafel in Gräfelfing an.[79] Bereits seit 1999 verleihen die deutsch-koreanische und die koreanisch-deutsche Gesellschaft alternierend den Mirok-Li-Preis an Personen, die sich – wie etwa die Preisträger Theo Sommer oder Notker Wolf – um den deutsch-koreanischen Austausch verdient gemacht haben.[80] Dennoch: Nach und nach verblasste die Figur Mirok Li in Deutschlands dominanten Narrativen zur eigenen Geschichte. Betrachtet man die nächste größere Spur, die der Koreaner in der populären Erinnerungskultur hierzulande hinterlassen hat, könnte man den Eindruck gewinnen, es habe die Jahrzehnte der oft so selbstbewusst ins Feld geführten sogenannten Vergangenheitsbewältigung nicht gegeben.

Die Darstellung des nationalsozialistischen Deutschland in der 2008 erstmals ausgestrahlten Filmbiografie „Der Yalu fließt“, an der der Bayerische Rundfunk beteiligt war, ist geradezu grotesk geschichtsvergessen: Mit Ausnahme weniger Nebenrollen haben die Deutschen in dieser Filmbiografie allesamt nichts mit den Nationalsozialisten zu schaffen. Während die Braunhemden als tumbmilitaristische Einheitsfiguren erscheinen, sind Mirok Lis deutsche Freunde durchweg kultivierte Individuen. Beinahe erscheint es so, als ob Deutschland vom Nationalsozialismus eher besetzt als davon überzeugt gewesen sei – eine Lesart, die auf eigentümliche Weise an die Befindlichkeiten in der Bundesrepublik der 1950er Jahre erinnert. Fast schon unwirklich ist die Reminiszenz an die frühen Rezensionen der Romanvorlage, wenn im Abspann die Isar scheinbar nahtlos in den Yalu übergeht und die am Ufer trauernden Hinterbliebenen in Ost und West eine buchstäblich natürliche Verbindung eingehen. Der Bayerische Rundfunk trat für diesen Historienkitsch allerdings nur als Koproduzent auf: Federführend für das Projekt war der koreanische Sender Seoul Broadcasting System (SBS) – denn der aneignende Blick auf Mirok Li und seine Freundschaft zu Kurt Huber spielt eine wichtige Rolle in der südkoreanischen Geschichtspolitik.

VI. Die Rezeption von Mirok Li und der Weißen Rose in Südkorea heute

Die Beschäftigung mit dem Exil-Schriftsteller in seiner geteilten Heimat begann mit der Übersetzung von „Der Yalu fließt“ ins Koreanische. Die Übersetzerin war Haerin Jeon, die 1955 selbst aus politischen Gründen aus Südkorea nach Deutschland geflohen war und Assistentin von Andre Eckardt wurde, dem Nachfolger Mirok Lis an der LMU. Ihre Übersetzung machte Li in Korea „schlagartig [. . .] bekannt“.[81] 1963 erhielt er vom südkoreanischen Staatspräsidenten posthum einen Preis für die Teilnahme an der Unabhängigkeitsbewegung, 1990 wurde er mit dem Patriotenpreis für Vaterlandsliebe ausgezeichnet. Ausschnitte aus „Der Yalu fließt“ sind dort noch heute in Schulbüchern zu finden.

Den größten Bekanntheitsgrad erreichte Li vermutlich aber 2008 mit der Verfilmung von „Der Yalu fließt“,[82] die sich, anders als die Buchvorlage, mit dem ganzen Leben des Protagonisten beschäftigte. Die Verbindungen zwischen Deutschland und Korea wurden schon über Besetzung und Produktion betont: Der Darsteller des älteren Mirok, Byok Song-Woo, lebte in München und war bereits aus Nebenrollen in verschiedenen deutschen Krimi-Produktionen wie „Tatort“, „Polizeiruf 110“ oder „Alarm für Cobra 11“ bekannt, die Rolle von Lis väterlichem Freund Alfred Seyler, der ihn in sein Haus aufgenommen hatte, wurde von dem in Südkorea sehr bekannten gebürtigen Deutschen Lee Charm (vormals: Bernhard Quandt) übernommen.[83] Die von den Regisseuren Jonghan Lee und Nikolaus von Uthmann erarbeitete Filmbiografie wurde zweisprachig gedreht und untertitelt, in Deutschland spielte sie größtenteils an den originalen Schauplätzen in München.

Zwar geht es um Mirok Lis ganzes Leben, seine Freundschaft zu Kurt Huber bildet aber das Leitmotiv – die Eröffnungsszene zeigt das (fiktive) Kennenlernen der beiden bei der Bücherverbrennung am Münchner Königsplatz. Dieser freihändige Umgang mit historischen Details setzt sich zumindest in den Teilen fort, die in Deutschland spielen und in der Romanvorlage gar nicht mehr vorkommen. Ein Zufall ist das nicht, denn Li wird sehr bestimmt in die Geschichte der Weißen Rose hineingeschrieben. So suggeriert die Filmbiografie etwa, er habe mit Huber über Laotse gesprochen, und Huber habe den chinesischen Philosophen daraufhin in den Flugblättern zitiert, woran Li schließlich die Urheberschaft seines Freundes erkennt. Dies ist schon deshalb äußerst unwahrscheinlich, weil sich Laotse lediglich ein einziges Mal, und zwar im zweiten Flugblatt der Weißen Rose zitiert findet, das Hans Scholl und Alexander Schmorell alleine verfassten. Weiterhin behaupten die Filmemacher, Lis Schülerin Eva Kraft, eine Figur mit realem Vorbild, habe bei der Verteilung der Flugblätter eine wichtige Rolle gespielt, wofür sich keinerlei Belege finden lassen. Auch beschützt sie ihren Lehrer auf dem Bildschirm einmal vor rassistischen Gestapo-Beamten, indem sie, als überzeugtes Mitglied des Bunds Deutscher Mädel auftretend, seine koreanischen Bücher als ihre Lehrmaterialien ausgibt.

Am bedeutendsten in diesem Zusammenhang aber ist sicher die Szene, in der Huber und Li sich ein letztes Mal sehen – eine Schlüsselszene der Filmbiografie. Kurz vor seiner bevorstehenden Verhaftung sucht Huber den Freund auf, um sich zu verabschieden und ihm einen letzten Auftrag zu erteilen: dem deutschen Volk die Achtung vor sich selbst und vor anderen zurückzugeben. Als Li an seinen Möglichkeiten zweifelt, diesem Wunsch seines berühmten Freunds nachzukommen, formuliert seine Schülerin die ihm aufgetragene Mission sogar noch schärfer: Die Deutschen hätten „durch den Krieg so vieles verloren, den Stolz, Deutsche zu sein, unsere schönen Städte, viele unserer Lieben. Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir jemanden brauchen, der unsere Herzen tröstet, der unsere Seele hält. Jemanden wie Sie.“ Li könne dies mit seinen Schriften tun: „Jedes Mal, wenn ich eine ihrer Geschichten lese, finde ich so viel Frieden darin. Es spricht so viel Menschlichkeit heraus.“ Erst auf den Impuls seines hingerichteten Freunds und seiner treuen deutschen Schülerin hin, so suggeriert die Filmbiografie, habe Li mit der Arbeit an „Der Yalu fließt“ begonnen.

Die Widerstandsbiografie, die in Mirok Lis Aufbegehren gegen die Japaner wurzelt, wird in diesem Film quasi nahtlos fortgeschrieben: Der heroische Widerstand gegen die Nationalsozialisten entspringt so scheinbar derselben Vorstellungswelt wie die Selbstbehauptung der Koreaner im Angesicht der Kolonisatoren. Es überrascht wenig, dass diese Sichtweise mit einer filmischen Parallelisierung der nationalsozialistischen Diktatur mit der japanischen Kolonialherrschaft einhergeht. Die Ikonografie des Marschierens, Brüllens und Terrorisierens unschuldiger Zivilisten stellt die Kamera in Korea und Deutschland nahezu identisch dar: In Ost und West stemmen sich couragierte Individuen gegen die uniformierten Massen; selbst die Verfolgungsjagden ähneln sich, in denen Li in Seoul und Gräfelfing den Schergen des japanischen beziehungsweise nationalsozialistischen Regimes entkommt.

Ein ähnliches Narrativ, wenn auch deutlich komplexer und ausführlicher, verfolgt der achtzehnteilige biografische Webcomic „Ein Wanderer zwischen zwei Welten“ des Künstlers Dohun, der 2021 auf der populären südkoreanischen Webcomic-Seite kakaopage veröffentlicht und von der Kulturstiftung der Stadt Seongnam gefördert wurde.[84] Das Leben Mirok Lis in Deutschland wird vielschichtiger gezeichnet, seine Rassismuserfahrungen werden ebenso thematisiert wie eine (wohl fiktive) Verfolgung Lis durch japanische Behörden in Deutschland, zudem spielen sein politisches Engagement für die koreanische Unabhängigkeit auf dem Brüsseler Kongress sowie seine Beziehungen zu anderen Exilkoreanern eine ungleich größere Rolle als in der Filmbiografie von 2008.

Li selbst nimmt in dem Comic darüber hinaus eine deutlich aktivere Rolle ein als im Film „Der Yalu fließt“: So rettet er einen jüdischen Jungen vor einem antisemitischen Schlägertrupp und schärft ihm anschließend ein, auf seine Identität stolz zu sein, denn schließlich seien auch Maria und Jesus jüdisch gewesen. Auch prügelt er sich mit Trupps der Sturmabteilung – zu einem der Männer sagt er todesmutig: „Ihr behandelt uns wie Barbaren, aber für die Römer, denen die Europäer ihre Geschichte verdanken, waren die Germanen auch Barbaren“. Krankenhausreif geschlagen, halluziniert Li von seinem einstigen Widerstand gegen die Japaner, als die demonstrierende Menge ruft: „Es lebe die koreanische Unabhängigkeit.“

Einige Motive des Spielfilms finden sich also auch im Comic wieder: Die Parallelen zwischen japanischem und nationalsozialistischem Regime werden direkt und an manchen Stellen hochproblematisch herausgestellt, etwa wenn Mirok Li und Kurt Huber Nationalsozialisten aufmarschieren hören, die eine Deportation der deutschen Juden fordern, und Li daraufhin zu Huber sagt: „Es ist derselbe Wahnsinn, der mir mein Land weggenommen hat.“ An anderer Stelle wird ein (historisch realer) Freund Lis, An Pong-gun, als von den Japanern aus Korea und den Nationalsozialisten aus Deutschland vertrieben gezeichnet – der Arm Japans reicht dem Comic zufolge weit, da die Nationalsozialisten japanische Aktionen gegen Exilkoreaner in Deutschland unterstützen. Als Li und ein Bekannter brutal von Nazis zusammengeschlagen werden, fragen sie sich, wer in Wahrheit dahintersteckt: „vielleicht. . . Japan?“, so Mirok Li – „wahrscheinlich, weil wir das Massaker an den Koreanern während des großen Kantō-Erdbebens aufgedeckt haben“, antwortet sein Freund.[85] Der Umgang mit den Koreanern in Deutschland sei „zumindest besser als das, was mit den Juden passiert ist“, fährt dieser später fort; vielleicht sei es klug, Deutschland früh zu verlassen, man wisse ja nie, „wann es auch uns erwischt“.

 
          Mirok Li überrascht Kurt Huber im Büro, der sich gerade mit Hans Scholl über eine Flugblattaktion austauscht aus: Dohun, Wanderer; https://page.kakao.com/content/57652497

Mirok Li überrascht Kurt Huber im Büro, der sich gerade mit Hans Scholl über eine Flugblattaktion austauscht aus: Dohun, Wanderer; https://page.kakao.com/content/57652497

Auch die Mentorenrolle Kurt Hubers und sein anschließender Auftrag an Li klingen im Comic an: Huber trägt Li auf, „wie ein Deutscher denken und sprechen zu lernen“, um die Deutschen wirklich berühren zu können – eine geistige Verbindung, der im Comic schon bald Taten folgen: In den Widerstand der Weißen Rose, der hier ganz ahistorisch bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem Verteilen von Flugblättern einsetzt, war Li angeblich schon bald eingeweiht. Nachdem er Hans Scholl in Hubers Büro angetroffen hat, vertraut der Professor ihm bei einer Tasse Tee an, dass er mithilfe eines „Geheimbunds“ „auf die Gefahren durch die Nazis und Hitler aufmerksam“ machen wolle; er könne „nicht zulassen, dass die Nazis Deutschland gefährlich machen“. Auch hier folgt wieder der Bezug zu Japan: „Ich habe das selbst erlebt“, sagt Li seinem Bekannten, „ich habe mich an der antijapanischen Bewegung beteiligt“. In mancherlei Hinsicht erscheint in diesem Austausch Li als Vorbild Hubers. Auf Lis Frage, ob sein Vorgehen nicht zu riskant sei, antwortet Huber: „Ich habe einen Doktor in Philosophie, ich kann mit meinen Studenten nicht über Philosophie und Geschichte sprechen, wenn ich nur auf mein eigenes Wohlbefinden bedacht bin.“ Als Li ihn daraufhin warnt, dass er „die Schuldgefühle nicht los[werde], dass ich meine Familie nicht beschützen konnte und allein losgezogen bin“, und er sich „Sorgen“ mache, „dass Sie am Ende die gleiche schwere Last tragen wie ich“, antwortet Huber schicksalsergeben: „Bald werde ich so sein wie Sie.“ Hubers Verhaftung und Hinrichtung wird schließlich weitgehend kommentarlos anhand bildgewaltiger Szenen dargestellt, die Mirok Lis Bestürzung illustrieren. Die Flugblätter der Weißen Rose studierend und seinen ermordeten Freund betrauernd, sitzt er in seinem Zimmer: „Professor Huber, es sind harte Zeiten für die Guten.“

Als sich das Kriegsende abzeichnet und Mirok Li die Unabhängigkeit Koreas herbeisehnt, macht er sich sehr bestimmt an die Arbeit an seinem Roman, der dann von den Deutschen – buchstäblich – auf den Trümmern ihres Reichs sitzend gelesen wird. Auch hier tritt Li als Kämpfer gegen den Faschismus in zwei Welten auf, nachgerade als Erbe Hubers und der Weißen Rose – was er selbst für Korea nicht und was Huber in Deutschland nicht mehr sein kann, repräsentiert Li für den Neuanfang in Westdeutschland: eine Erinnerung an Freiheit und Würde. Die deutschen Studierenden, die ihm nach dem Ende des NS-Regimes in seinen Vorlesungen die Türen einrennen, lehrt der stolz in koreanischer Tracht gekleidete Li mit Verweisen auf Konfuzius denn auch die basalen Grundlagen der Toleranz: „Wenn ein Mann [. . .] höflich mit den Menschen umgeht, sind alle Menschen seine Brüder in dieser Welt. [. . .] Meiner Meinung nach rühren Konflikte zwischen Menschen [. . .] von der Vorstellung her, dass man besser ist als der andere“ – eine Lektion, welche die Studierenden in Beifallsstürme ausbrechen lässt.

Auch wenn es müßig ist, genretypische dramaturgische Anpassungen auf Kosten der historischen Realität zu kritisieren, fällt doch die Leichtfertigkeit auf, mit der in diesen Helden-Erzählungen die japanische Kolonialherrschaft mit dem nationalsozialistischen Regime gleichgesetzt wird. Dass das Narrativ eines von den Nationalsozialisten besetzten Deutschland von koreanischen Filmemachern und Comicautoren aufrechterhalten wird, hat dabei sicher tiefere Hintergründe als lediglich fehlende Geschichtskenntnisse – und weist auf einen deutlich größeren Echoraum koreanisch-deutscher Geschichtspolitik hin, als man zunächst erwarten würde.

VII. Die deutsche Geschichte im koreanischen Blick

Tatsächlich stellt die deutsche Geschichte für das Selbstverständnis des heutigen Südkorea in mehrfacher Hinsicht einen Projektionsraum dar – und das nicht nur wegen der gemeinsamen Teilungserfahrung. Auch die deutsche Erinnerungskultur steht im Fokus koreanischer Aufmerksamkeit: Deutschland gilt als Land, das sich seiner Vergangenheit erfolgreich gestellt und die Opfer seiner Geschichte um Verzeihung gebeten habe; der Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970, die Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985, Intellektuelle wie Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas oder Margarethe und Alexander Mitscherlich sind in Südkorea weithin bekannt.[86] Insbesondere die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft fasziniert viele Koreaner, die diese als Ausdruck des Willens lesen, gesamtgesellschaftlich Verantwortung für die im deutschen Namen begangenen Verbrechen zu übernehmen. Die Wertschätzung des deutschen Umgangs mit der Geschichte ist dabei auch eine indirekte Anklage der einstigen Kolonialmacht Japan, deren Aufarbeitung der Vergangenheit aus Sicht der Koreaner zu wünschen übrig lasse.[87]

Die Perzeption Deutschlands als Land, das nach einem vollen Eingeständnis der eigenen Schuld ehrenvoll in den Kreis der Nationen zurückkehren durfte, untermauert zwar die südkoreanische Anspruchshaltung gegenüber Japan, begleitet jedoch auch eine Geschichtspolitik, die unter mehreren Hypotheken zu leiden hat (wozu die Teilung des Lands noch nicht einmal unbedingt gehört), darunter die komplexe Geschichte koreanischer Zusammenarbeit mit der japanischen Besatzungs- und Kolonialmacht. Denn selbstverständlich waren nicht alle Koreaner im Widerstand, manche arrangierten sich mit den Machthabern, und das ist geschichtspolitisch vor allem deshalb ein Problem, da gerade diese Gruppe später die Militärdiktatur Park Chung-hees zwischen 1960 und 1979 tragen sollte.[88] Park, der seine Karriere in der japanischen Armee begonnen hatte und 1965 (auch auf Druck der USA hin) ein Übereinkommen mit Japan unterzeichnete, in dem mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen gleichsam ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen werden sollte, pflegte eine Japan tendenziell zugeneigte Erinnerungskultur und hob, auch durch den Verweis auf den unter seiner Herrschaft offenkundigen industriellen Aufstieg Südkoreas, insbesondere die Modernisierungsleistungen der Kolonialzeit hervor.[89] Damit war deren Aufarbeitung aber so gut wie unmöglich. Nach der Ermordung Parks 1979 wurden Besatzung und Kolonialherrschaft zwar auf breiterer Basis kritisch beleuchtet,[90] jedoch stand nun umgekehrt der koreanische Widerstand im Vordergrund, der retrospektiv auf die gesamte koreanische Bevölkerung ausgeweitet wurde.[91] Die Komplexität des kolonialen Alltags im Spannungsfeld von Widerstand, Resistenz, Anpassung und Kollaboration ließ sich vor dem Hintergrund dieses Geschichtsbilds nur schwer erfassen.

In dieser konfliktreichen Gemengelage, die Südkoreas Selbstverständnis als moderne Nation und als Opfer der Geschichte berührt, ist ein Held wie Mirok Li offensichtlich hochwillkommen – und die Erzählung, er habe nur Deutsche getroffen, die Opfer der Nationalsozialisten gewesen seien, ist ein Aspekt, der das koreanische Selbstverständnis als Opfer einer fremden Macht sozusagen über Bande gespielt nur noch stärker herausstellt. Die Parallelführung der realen Besatzung Koreas durch Japan und der imaginierten Besetzung Deutschlands durch die Nationalsozialisten sowie der heldenhafte Kampf Mirok Lis gegen beide dunkle Mächte spielt einer „Externalisierung der Vergangenheitsbewältigung“ Koreas an Japan in die Hände.

Während dieses Narrativ als Hintergrund für die Darstellung Lis in der 2008 ausgestrahlten Filmbiografie „Der Yalu fließt“ plausibel erscheint, liegen die Dinge für den 2021 erschienenen Comic „Ein Wanderer zwischen zwei Welten“ ein wenig anders. Denn mit der zunehmenden Demokratisierung Südkoreas veränderte sich auch der Diskurs über historische Schuld und Verantwortung; 2013 wurde etwa ein gemeinsames koreanisch-japanisches Geschichtslehrbuch vorgestellt, das Pädagogen beider Nationen erarbeitet hatten.[92] Dieser Prozess erscheint angesichts von nach wie vor bestehenden geschichtspolitischen Spannungen zwischen Südkorea und Japan, die bis zu Boykottkampagnen reichen,[93] alles andere als unumkehrbar.[94] Das liegt nicht zuletzt daran, dass die südkoreanische Gesellschaft mit ihrer noch vergleichsweise jungen demokratischen Tradition unter einer starken politischen Polarisierung leidet, die auch mit der Interpretation der Vergangenheit zusammenhängt. Während die Rechte geschichtspolitisch eher für einen pragmatischen Umgang mit Japan und den USA eintritt und sich mit einer vorbehaltlosen Verurteilung der Militärdiktatur schwer tut, beruft sich die Linke auf die revolutionär-patriotischen Traditionslinien der koreanischen Geschichte.[95]

Wie umkämpft Geschichte und die Erinnerung in Südkorea bis heute sind, zeigt das Gedenken an den sogenannten Gwangju-Aufstand, das sich erst in jüngster Zeit herausgebildet hat. Im Mai 1980 schlugen südkoreanische Soldaten in der Stadt Gwangju eine Demonstration gegen das Militärregime brutal nieder. In den folgenden Tagen demonstrierten tausende Bürgerinnen und Bürger gegen die Streitkräfte, teilweise bildeten sich bewaffnete Bürgereinheiten, gegen die südkoreanische Fallschirmjäger vorgingen und dabei zahlreiche Demonstrierende erschossen oder erschlugen. Die genaue Zahl an Opfern ist bis heute unbekannt und war Objekt heftiger politischer Kontroversen: Während die Regierung 2006 von etwa 230 Getöteten sprach und die Verbreitung anderer Angaben unter Strafe stellte, gehen andere Schätzungen, die sich zum Beispiel an den Sterbestatistiken der Stadt orientieren, von mehr als 2000 Opfern aus.[96] Nachrichten aus der abgeriegelten Stadt drangen kaum nach außen, das Regime sprach von einem nordkoreanischen Angriff – eine Lüge, die inzwischen sogar strafbewehrt ist, von einschlägig interessierten Kreisen aber immer noch verbreitet wird.[97]

Insbesondere seit der Amtsenthebung der konservativen Präsidentin Park Geun-hye, der Tochter des ehemaligen Diktators Park Chung-hee, 2017 wird der Aufstand von Gwangju – vor allem im Kontext seines 40. Jahrestags – zunehmend als Beginn der Demokratisierung Südkoreas interpretiert.[98] 2015 wurden bereits Archive geöffnet;[99] Parks Nachfolger, der sozialliberale Präsident Moon Jae-In, ordnete kurz nach seinem Amtsantritt neue Ermittlungen zu Verlauf und Kontext des Massakers an.[100] 2017 erschien schließlich unter der Regie von Jong Hun der Kinofilm „A Taxi Driver“ des Regisseurs Jang Hun, der die gefährliche Reise des einzigen Reporters schildert, der die Ereignisse filmen konnte: der ARD-Korrespondent Jürgen Hinzpeter.[101] Das im südkoreanischen Kontext links codierte Erinnern an Gwangju erscheint hier als der Versuch der Begründung eines rebellischen Widerstandspatriotismus – Korea erhält dabei eine Geschichte der selbstbewussten Gegenwehr.

In diesem Kontext wird auch die Förderung des Webtoons „Ein Wanderer zwischen zwei Welten“ durch die Kulturstiftung der Stadt Seongnam, die nahe Gwangju liegt, verständlich. Diese initiierte zum 100. Jahrestag der 1. März-Bewegung aus dem Jahr 1919 – also der Bewegung, die Mirok Li unterstützt hatte und deretwegen er das Land verlassen musste – ein Projekt, das die Lebensgeschichten von einhundert koreanischen Unabhängigkeitskämpfern in populärer Form darstellte.[102] Angeregt worden war das Projekt vom sozialliberalen Bürgermeister Lee Jae Myeong; sein konservativer Nachfolger stellte es bezeichnenderweise ein.[103]

Besonders interessant ist auch, dass die Geschichte der zeitgenössischen Dokumentation des Aufstands und der Gewalttaten des Militärs ein zentrales Element des Gedenkens an den Gwangju-Aufstand darstellt. Cho Bong-hun, seinerzeit Mitglied des Stadtrats von Gwangju, begann schon 1980, Augenzeugenberichte zu sammeln. Andere produzierten tausende Flugblätter mit dem Titel „Die Wahrheit über den Gwangju-Aufstand“, bei deren Verteilung sie die Verhaftung riskierten.[104] Es sind wohl vor allem diese Ähnlichkeiten gewesen – junge Menschen, Flugblätter, Verhaftungen –, die lokale Gedenkakteure Parallelen zwischen dem Gwangju-Aufstand und dem Widerstand der Weißen Rose erkennen ließen. Dieser Rückgriff kam sogar ohne explizite Erwähnung von Mirok Li aus, man kann aber davon ausgehen, dass das Wissen um seine Geschichte die Aufnahme des Themas bereits vorbereitet hatte. Auf jeden Fall sollte die Weiße Rose Korea das Erinnern an Gwangju lehren: 2022 reiste die Kulturjournalistin Mieun Kim von der Gwangju-Zeitung nach München, um die dortigen Gedenkorte zu besuchen und über die neue Weiße-Rose-Ausstellung im Justizpalast zu berichten.[105] Für einen weiteren Artikel besuchte sie Kurt Hubers Sohn Wolfgang, um sich das Gedenken an seinen Vater in Deutschland erläutern zu lassen.[106]

Kurt Hubers Freund Mirok Li, dessen Leben sich zwischen Korea und Deutschland abspielte, diente in beiden Ländern hauptsächlich als Projektionsfläche oder als Spiegel, in dem sich nahezu alle beteiligten Akteure zuallererst selbst wahrnahmen – die Deutschen sahen sich durch Mirok Li an eine wahrhaft deutsche Geschichte erinnert, die sie im Dritten Reich schmählich vergessen hatten, die Koreaner machten ihn, der das Dritte Reich überlebt hatte, erst zum Symbol des antijapanischen Kampfs, dann des allen Diktaturen widerstehenden Charakters des koreanischen Volks. Kurt Huber hingegen, der im deutschen Gedenken eher in der zweiten Reihe der Weißen Rose steht, ist in Südkorea weitaus prominenter als die anderen Mitglieder der Widerstandsgruppe, wenn auch über den Umweg seiner Freundschaft mit Mirok Li: Huber ist hier zu einem Symbol des mutigen Kampfs gegen ein verbrecherisches Regime geworden. Noch immer brodeln in Südkorea die Auseinandersetzungen um die eigene Geschichte, und nach wie vor braucht es dabei offenbar Inspiration, was den Rückgriff auf die deutsche Geschichte erklärt. Und so leuchtet auf dem Grab Kurt Hubers auf dem Münchner Waldfriedhof bis heute eine vom Mirok-Li-Gedenkverein gestiftete Laterne, die an die Freundschaft der beiden Gelehrten erinnert.

Als wir diesen Text zu schreiben begannen, konnten wir nicht ahnen, wie aktuell die Frage der Rezeption Mirok Lis in Südkorea noch werden sollte. In Vorbereitung auf den 80. Jahrestag des Endes der japanischen Besatzung, der in diesem Jahr feierlich begangen wird, wurden die Gebeine von fast 150 als Nationalhelden und Freiheitskämpfer verehrten Koreanern nach Südkorea überführt und auf dem Nationalfriedhof bei Seoul bestattet. Im Herbst 2024 kehrten daher auch Mirok Lis sterbliche Überreste im Rahmen einer Zeremonie mit dem südkoreanischen Generalkonsul sowie einer Großnichte Lis in das Land zurück, das er lebend nicht mehr wiedergesehen hatte.[107]

Online erschienen: 2025-07-01
Erschienen im Druck: 2025-05-28

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 18.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2025-0023/html
Button zum nach oben scrollen