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Österreich zählt

Anmerkungen zur Debatte um den Anteil der österreichischen NS-Täter
  • Christian Fleck EMAIL logo and Andreas Kranebitter
Published/Copyright: July 1, 2025

Abstract

In seinem im Oktoberheft 2024 der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte erschienenen Aufsatz „Waren Österreicher unter nationalsozialistischen Tätern überrepräsentiert? Versuch einer Synthese“ behauptete Kurt Bauer, dass keine Überrepräsentation der von ihm als Österreicher Erfassten unter nationalsozialistischen Tätern feststellbar sei. Deshalb sei die Täterthese zurückzuweisen, die nach Jahrzehnten der Dominanz der Opferthese, also des Mythos von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus, hegemonial geworden sei. Christian Fleck und Andreas Kranebitter weisen Bauers Argumentation und Methode zurück. Sie zeigen die methodischen Unzulänglichkeiten von Bauers Darstellung auf und betonen, seine Befunde lieferten keine neuen Einsichten für ein besseres Verständnis des NS-Regimes in Österreich.

Abstract

In his article “Were Austrians Overrepresented among National Socialist Perpetrators? An Attempt at Synthesis” in the October 2024 issue of Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Kurt Bauer claimed that those he identified as Austrians were not overrepresented among the National Socialist perpetrators. He thus asserted that the “perpetrator thesis” is to be rejected, which, after decades of the predominance of the “victim thesis”, i.e. the myth of Austria as the first victim of National Socialism, had gained dominance. Christian Fleck and Andreas Kranebitter refute Bauer’s arguments and methods. They demonstrate the methodological deficiencies of Bauer’s account and emphasise that his findings did not provide any new insights into the National Socialist regime in Austria.

I. Über Sinn und Methoden des Vergleichs

Kurt Bauer beschäftigte sich in dieser Zeitschrift unter dem Titel „Waren Österreicher unter na­tio­nal­so­zialistischen Tätern überrepräsentiert? Versuch einer Synthese“ mit dem Zählen der Öster­rei­cher unter den Tätern. Bauer entnahm aus publizierten Studien numerische Angaben über Personen, die am nationalsozialistischen Massenmord beteiligt waren, und zählte jene zu­sam­men, die er für Österreicher hielt. Beim Vergleich dieser Österreicher mit den „Reichs­deut­schen“ kam Bauer zum Ergebnis, dass jedenfalls keine Überrepräsentation der von ihm identifizierten Österreicher unter den Tätern feststellbar sei. Deshalb sei seines Erachtens die Täterthese, die nach Jahrzehnten der Vorherrschaft der Opferthese (Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus) spätestens seit den 1990er Jahren hegemonial gewesen sei, nun­mehr zurückzuweisen.[1] Bauers methodische Vorgangsweise ist dabei, wie wir im folgenden Beitrag darlegen werden, fragwürdig; seine Befunde liefern keine neuen Einsichten für ein bes­se­res Verständnis des NS-Regimes. Unseres Erachtens wird mit dem falschen Dualismus von Täter- und Opferthese eine Strohpuppe aufgebaut und zur Strecke gebracht. Eine öster­rei­chi­sche Täterforschung, die diesen Namen verdient, sollte sich von solch oberflächlichen An­teils­bestimmungen emanzipieren.

Der historische Vergleich gehört zum Standardrepertoire des historiografischen Metho­den­ka­nons; er überschreitet vermeintlich natürliche Grenzen, macht Interdependenzen sichtbar, schärft den Blick für Unterschiede oder Gemeinsamkeiten und kann neue Forschungsperspektiven eröffnen.[2] Von den verschiedenen Möglichkeiten des historischen Vergleichs wählte Bauer je­nen, den man als Wettbewerb bezeichnen kann. Dabei geht es darum, unterschiedliche Kan­di­daten in eine eindimensionale Rangordnung zu bringen. Sieht man von Sportwettbewerben ein­mal ab, die auf diesem Prinzip aufbauen, sind vornehmlich Länderrankings eine weit­ver­breitete Form des Wettbewerbsmodus. Der World Development Index ist ein bekanntes Bei­spiel, das sich von anderen, weniger ausgefeilten, durch seine regelmäßige methodische An­passung und die Zuspitzung der Indikatoren unterscheidet. Rankings von Uni­versitäten wären ein anderes Beispiel; sie sind in der Regel methodisch fragwürdiger, aber dennoch erfolgreich. In beiden Fällen sind aber die miteinander verglichenen Einheiten hin­rei­chend klar definiert: Nationalstaaten hier, Universitäten dort.

Die von Bauer verwendete Zähleinheit sind Bewohner zweier Regionen mit instabilen Gren­zen:[3] Österreicher (und wohl auch Österreicherinnen) versus Deutsche, das heißt Staatsbürger des Deutschen Reichs – dazu gleich mehr. Während die eben genannten Wettbewerbe jeweils einen klaren Zeitraum haben, für den der Vergleich durchgeführt wird, verzichtet Bauer auf Angaben, auf welche Zeiträume sein Vergleich abzielt. Die Alternativen, zwischen denen man nicht unbedingt wählen muss, die man aber zumindest auseinanderhalten sollte, sind un­ter­schiedlich lange Zeiträume vor der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands be­ziehungsweise vor dem Zeitpunkt des Verbots der Nationalsozialistischen Deutschen Ar­bei­ter­par­tei (NSDAP) und ihrer Vorfeldorganisationen 1945. Es gäbe aber auch gute Gründe, jeweils zu definierende Perioden nach 1945, in denen NS-Täter ausgeforscht, angeklagt oder verurteilt wur­den, im Ländervergleich zu studieren. An keiner Stelle äußert sich Bauer dazu, warum er zwar Täter zählen will, die Institutionen, die solches definitionsgemäß durchzuführen be­auf­tragt sind – nämlich Polizei und Justizbehörden der postfaschistischen Nachfolgestaaten –, aber weit­gehend ignoriert. Bei anderen Tä­ter­grup­pen greifen die historische und die sozial­wis­sen­schaft­liche Forschung üblicherweise auf die Erfolgsausweise von Polizei und Gerichten zurück, die in Form der Kriminalstatistik vorliegen; auch für die Verfolgung von NS-Tätern existieren ein­schlägige Zählungen.

Bauer nahm dagegen den Faden einer sich wiederholenden, geradezu repetitiven Debatte auf und versuchte, die Frage der österreichischen (Mit-)Täterschaft in Anteilen zu messen. Diese Kontroverse ist nicht Folge neu erschlossener Quellen oder kühner neuer Fragestellungen, sondern präsentierte sich als „eine politisch geführte Debatte, die anhand der Frage eines be­stimm­baren Anteils an NS-Tätern das Verhältnis Österreichs bzw. der öster­rei­chi­schen Gesellschaft zum Nationalsozialismus verhandelt“.[4]

Im Folgenden formulieren wir methodische Kritik an Bauers Analyse und kommen zu dem Schluss, dass er seinen Anspruch, eine „Synthese“ vorgelegt zu haben, nicht eingelöst hat. Be­reits das Wor­ding des Beitrags weckt Zweifel, da Begriffe und statistische Analysetechniken äußerst un­scharf verwendet werden. Zurecht betonte Bauer, dass sich his­to­riografisch kein Sample österreichischer Täter (nach-)bilden lasse, doch wenig später machte er auf ei­ne „fiktive Ge­­­samtpopulation von NS-Tätern“ aufmerksam, über die er einen Über­blick zu liefern ge­dach­te.[5] In diesem Zusammenhang ist auch die Behauptung des Autors, das Instrumentarium der Se­k­undäranalyse zu verwenden, methodologisch anmaßend, zumal es sein Ziel war, die Daten von Kolleginnen und Kollegen zu „verbessern“.[6] Tatsächlich hat Bauer – durchaus ver­dienst­voll – verstreute Literatur zusammengetragen, aber selten selbst auf Basis eigener Samp­les Be­rechnungen angestellt. Wo es aber keine eigene Stichprobenziehung gibt, kann von „Aus­wertungen“ und „Schwankungsbreite[n]“ keine Rede sein. Die Methode des Sekundärzitats (anstelle der Sekundärdatenanalyse) wirft vielmehr die allzu oft nicht nachgeprüfte und daher nicht nachprüfbare Frage auf, welche Autoren welches Sample gezogen haben.

II. Über Repräsentationen: Die NSDAP-Mitglieder in Österreich

Die methodischen Mängel des Vergleichs wollen wir zunächst am Beispiel der NSDAP-Mit­glieder diskutieren. Die Partei hatte über die gesamte Dauer ihres Bestehens jüngsten Schät­zun­gen zufolge etwa zehn Millionen Mitglieder, von denen zumindest 700000 aus Österreich stammten – konkret gehen diese Schätzungen sogar von insgesamt 760000 bis 820000 öster­rei­chischen Parteimitgliedern aus.[7] Wie Bauer mit Bezug auf den Netto-Mitgliedsstand bei Kriegsende (was für das Verhältnis kaum einen Unterschied macht) festhielt, entspricht das in etwa dem Anteil der österreichischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs von 8,8 Prozent; daher konstatierte er einen „ungefähr[en] Gleichstand“.[8]

Das Problem beginnt allerdings bei der Definition derer, die als Österreicher zu bezeichnen sind. Bauer entschied sich nach einigem Hin und Her dafür, Geburtsorte, die innerhalb der Gren­zen Österreichs von 1937 lagen, als Kriterium heranzuziehen. Die damit zusammenhängende Problematik dürfte er erahnt haben, beschäftigte er sich doch ausführlich mit jener Viertelmillion Bewohner in ehemals tschechoslowakischen Gebieten, die den Gauen Ober- und Niederdonau zu­ge­schlagen worden waren. Andere Territorien, die von der Republik Österreich abgetreten wer­den mussten oder dieser 1923 zugeschlagen wurden, ließ Bauer außen vor: die Untersteiermark, Krain, Küstenland (Triest) und Westungarn-Burgenland. Der Anteil der dort Deutsch Sprechenden variierte, war aber jedenfalls größer als jener der südmährischen und süd­böhmischen Gebiete. Insbesondere in den dann an Jugoslawien abgetretenen Gebieten tum­mel­ten sich ungezählte Deutschnationale, von denen einige in der NS-Diktatur Karriere machen sollten wie Armin Dadieu, geboren in Marburg an der Drau, oder Odilo Globocnik, geboren in Triest.

Letzterem, gemäß seiner Definition kein Österreicher, schenkte Bauer einige Beachtung, er­ste­ren ignorierte er vollständig. Wer von den beiden und ihren Konsorten nach Bauer nun nicht zu den Österreichern zu zählen sei, deren vermeintliche Überrepräsentanz er ja widerlegen will, bleibt unklar, weil seine Ausführungen zwischen seinem Geburtsort-Kriterium und einem zweiten oszillieren: „Lagen keine zusätzlichen lebensgeschichtlichen Angaben zu einer Person vor, so wurde der in Personendokumenten genannte Geburtsort herangezogen. Wenn darüber hin­ausgehende Informationen vorhanden waren, durch die sich auf eine andere nationale Zu­ge­hö­rigkeit oder Sozialisation schließen ließ, so wurden diese Informationen zur Auswertung he­ran­gezogen.“[9] Diese Vermischung einer korrekten mit einer anekdotischen Stichprobe ruiniert die Aussagekraft der Auswertung nachhaltig, da Bauer nicht erläuterte, ob es um anekdotische Aus­schmückung oder um Vermischung zweier unterschiedlich definierter Populationen geht. Nach seinen wiederholten Hinweisen auf Routinen der empirischen Sozialforschung wäre zu er­warten gewesen, dass er eine solche Populationskontamination vermieden hätte.

Bedenkt man, dass die überwiegende Zahl der Mitglieder der NSDAP und ihrer Wehrverbände vor 1918 geboren wurde, könnte man die Sinnhaftigkeit einer Suche nach Österreichern (ver­stan­den als Personen, die zur Wir-Gruppe der Republik Österreich gehören) generell be­zweifeln. Die Grundgesamtheit müssten diejenigen sein, die sich bei der Umgangs­spra­chen­zählung 1910 als Deutsch sprechende Bewohner der im Reichsrat vertretenen Gebiete de­kla­rierten; das waren 9,9 Millionen oder 34,83 Prozent der ortsanwesenden Bevölkerung.[10] Wegen der relativ starken Binnenwanderung innerhalb der österreichischen Reichshälfte (Ab­wan­de­rung aus Böhmen, Mähren, Galizien und Krain in die Alpenländer, insbesondere nach Wien) spielen Geburtsorte für die nationale Zuordnung im Fall Österreich-Ungarns eine unter­ge­ord­ne­te Rolle.

Statt nun auch noch Hitlers Geburtsort ins Treffen zu führen, wollen wir auf zwei andere Unschärfen hinweisen, die beim Vergleich entlang von Bevölkerungszahlen im Fall der NSDAP-Mitgliederzahlen relevant sind und die Bauer ignoriert hat, nämlich zum einen die wechselnden Gebietsgrößen, zum anderen die jüdische Bevölkerung, die man wohl nicht in die Grund­gesamtheit potenzieller NSDAP-Mitglieder einbeziehen kann. Bauer stützt sich bei seiner Berechnung des Anteils der Österreicher an der NSDAP auf die Volkszählung, die im Mai 1939 im gesamten damaligen Deutschen Reich durchgeführt wurde. Es ist keine Klei­nig­keit, dass zu diesem Zeitpunkt das Gebiet und damit die Bevölkerung des Deutschen Reichs bereits expansionsbedingt größer waren als 1933 oder 1937 und nur deswegen „79375281 Personen“ umfasste.[11] Dieser Zahl stellt Bauer die in der Volkszählung 1939 ausgewiesenen Bewohner der Gaue der Ostmark gegenüber, von denen er die Bewohner der südmährischen und südböhmischen Kleinregionen (274913) abzieht, um einen österreichischen Bevölkerungsanteil von „8,44 Prozent“ zu konstatieren. Zudem stellt er – merkwürdigerweise – noch „beträchtliche Wan­derungsverluste aus der Ostmark ins Altreich nach dem [. . .] März 1938“ in Rechnung, um auf jene „ungefähr 8,8 Prozent“ zu kommen, die seinen weiteren Ausführungen zugrunde liegen.[12] Dieser Mixtur von Berechnung und Rundung kann man die Zahl gegenüberstellen, die das Statistische Jahrbuch für das Deutsche Reich für das Jahr 1937 mit Blick auf die Be­völ­ke­rung ausweist (67,8 Millionen),[13] und sie mit der vergleichen, die für dasselbe Jahr aus der parallelen Quelle für Österreich stammt (6,7 Millionen).[14] Österreichs Bevölkerung entsprach 1937 also ziemlich genau einem Zehntel der Bevölkerung des Deutschen Reichs.

Dass Bauer die jüdische Bevölkerung in seine Berechnungen einbezogen hat, ist zumindest irritierend. Einem Autor, der Bevölkerungszahlen bis zur Einerstelle genau referiert, wird man wohl entgegenhalten dürfen, dass es nicht nur moralisch, sondern auch sachlich falsch ist, die jüdische Bevölkerung in die Grundgesamtheit jener, die der NSDAP beitreten hätten können, hin­einzurechnen. Die Subtraktion der jüdischen beziehungsweise der rassistisch verfolgten Be­völkerung[15] von den potenziellen NSDAP-Mitgliedern verändert die Relation zwischen Deutschen und Österreichern nicht gravierend, die Nichtbeachtung der Bevölkerungszunahme des Deutschen Reichs zwischen 1937 und Frühjahr 1939 verändert die Berechnung des Anteils der Österreicher an der NSDAP dagegen um eine relevante Größe.

Neben der Definition geografischer Entitäten und der dort geborenen Bevölkerung ist auch der Beobachtungszeitraum bei Vergleichen nicht zu vernachlässigen. Der Zeitraum, den Bauer anscheinend im Blick hat – grob gesprochen von der Gründung der NSDAP und ihrer Glie­de­run­gen bis zu deren Verbot, also von 1921 bis 1945 –, ist für die zu vergleichenden Einheiten Österreicher versus Reichsdeutsche kein gleich homogener Zeitraum. In Österreich war die NSDAP zwischen 1933 und 1938 verboten. Im Deutschen Reich hatte sie sich bis 1933 der Kon­kur­renz anderer Parteien zu stellen, bevor ihr das „Gesetz gegen die Neubildung von Parteien“ vom 14. Juli 1933 eine Monopolstellung zugestand. Grundsätzlich verstand sich die NSDAP als elitärer Zirkel,[16] in den nicht jede und jeder aufgenommen werden sollte. War die Aufnahme in Deutschland bis kurz nach der Machtübergabe, also bis April 1933, für fast all jene möglich, die Angehörige „des deutschen Volkes, arischer Abkunft und ‚unbescholten‘“ sowie – nicht zu ver­gessen – zahlend waren, so wurde der Mitgliederzustrom in der Folgezeit durch ein Wech­sel­spiel von Mitgliedersperren und Parteiöffnungen stark reguliert.

Bis 1937 war die Aufnahme nur einem äußert kleinen Kreis von insbesondere jungen Menschen und Funktionären anderer NS-Verbände vorbehalten, mit dem „Führergeburtstag“ 1937 und angesichts leerer Parteikassen kam es dann zu einer weitgehenden Öffnung. In diese Phase fiel der „Anschluss“ Österreichs, der Hunderttausende Neumitglieder in die NSDAP spülte, bis 1942, als der Andrang ohnehin nicht mehr so groß war, erneut eine weitgehende Auf­nah­mesperre beschlossen wurde. Ab 1937 galt die Faustregel eines Anteils von zehn Prozent NSDAP-Mitgliedern an der Bevölkerung. Diese Quote versuchte man auch regional ein­zu­hal­ten, wie sich 1937 zeigte, als etwa eine halbe Million Mitglieder aus diesen „Makro­über­le­gun­gen“ aufgenommen wurde, „um in den einzelnen Gauen das von Hitler angeordnete Verhältnis von Parteigenossen und Volksgenossen von 10 Prozent zu realisieren“.[17] Gerhard Botz wies darauf hin, dass die große Zahl von beitrittswilligen Österreichern zur Einführung der Kategorie Parteianwärter führte; dennoch war die Bearbeitung der Anträge der ehemaligen Österreicher noch 1944 nicht abgeschlossen, so dass Reichskommissar Josef Bürckel und einige Gauleiter schon 1939 dafür kritisiert wurden, zu viele aufgenommen zu haben.[18]

Mitgliedschaft in einer Organisation mit uneinheitlichen, aber regulierten Aufnahmekriterien, eignet sich schlecht als Indikator für die regionale Verteilung von Überzeugungen. Ein Anteil von so-und-so-vielen Prozent sagt uns wenig über die NS-Affinität einer bestimmten Region. In Bezug auf die komplexe Abfolge von Aufnahmestopps und nachträglichen Aufnahmen in die Partei muss man aber vor allem in Erinnerung rufen, dass es für den Zeitraum, sagen wir 1930 bis 1945, in Österreich und dem Deutschen Reich vollkommen unterschiedliche Hürden be­ziehungsweise Anreize für den Parteieintritt gab, die zu berücksichtigen wären, wenn man Un­terschiede zwischen den beiden Populationen herausfinden will. Nach dem Januar 1933 gab es für Deutsche ausschließlich positive Anreize, während in Österreich nach dem Verbot der NSDAP 1933 ein Parteieintritt einem Straftatbestand gleichkam. Nach dem 13. März 1938 gab es für Reichsdeutsche keine neuen positiven Anreize, sich um eine Parteimitgliedschaft zu be­mühen, während die „Märzveilchen“ in der bald Ostmark genannten Region allerhand Gründe hatten, ihre frühere klandestine Mitgliedschaft offizialisieren zu lassen oder sich als Op­por­tu­nisten erst recht um die Aufnahme in die NSDAP zu bemühen. Oder um im Jargon der em­pirischen Sozialforschung zu sprechen, auf die sich Bauer wiederholt, wenn auch nicht im­mer souverän bezieht: Die Chancen zum Parteieintritt waren ungleich und die Zeiträume, in denen man beitreten konnte, unterschiedlich lang, ergo muss ein Vergleich diese Differenzen berücksichtigen – was Bauer freilich unterlassen hat.

Die Berechnung eines Bevölkerungsanteils suggeriert in allen Fällen, nicht nur dem der NSDAP-Parteimitgliedschaft, dass alle stets die gleiche Chance gehabt hätten, aufgenommen zu werden. Das ist aber auch für die SA, die SS oder sonstige NS-Verbände nicht der Fall. Mit einigem Recht könnte man argumentieren, dass ein ähnlicher Bevölkerungsanteil in der NSDAP keinen „Gleichstand“ mit dem Deutschen Reich oder ein geringfügig nach unten abweichender Anteil gar eine „Unterrepräsentation von Österreichern unter den NSDAP-Mit­glie­dern“ nahelegen,[19] sondern vielleicht sogar eine höhere Bereitschaft, in eine der NS-Or­ga­ni­sationen aufgenommen zu werden und damit in kürzerer Zeit aufzuholen. Beide Aussagen sind unseres Erachtens tendenziös bis sinnlos, weil die Vergleichsbasis für den angesprochenen Wettbewerbsvergleich schlicht nicht gegeben ist. Die erkennbare Absicht des Autors, den end­gültigen Nachweis zu erbringen, Österreicher seien hier und dort „erkennbar un­ter­re­prä­sen­tiert“,[20] zieht sich zwar als roter Faden durch den obsessiv nach Österreichern suchenden Text, ist aber nur eine Abfolge von Variationen des Grundthemas, die Täterschaft der Österreicher durch ihren Anteil in einzelnen staatlichen oder parteilichen Instanzen des NS-Staats zu bestim­men.

 Nachbau einer Hollerith-Zählmaschine zur Verarbeitung von Daten durch Lochkarten, eingesetzt bei der Volkszählung 1939 © picture-alliance / akg-images | akg-images

Nachbau einer Hollerith-Zählmaschine zur Verarbeitung von Daten durch Lochkarten, eingesetzt bei der Volkszählung 1939 © picture-alliance / akg-images | akg-images

III. Täterschaft und ihre Folgen

Täterschaft spielt in Bauers Beitrag eine zentrale Rolle – oder sollte vielmehr eine zentrale Rol­le spielen. Die von ihm aufgebaute Täterthese, nach der Österreich – überspitzt formuliert – nicht das erste Opfer, sondern der größere Täter gewesen sei, scheint uns aber übertrieben. Mit den wenigen Beispielen einer zahlenmäßigen Übertreibung des österreichischen Anteils unter Tätern hat sich Bertrand Perz bereits 2006 differenziert(er) auseinandergesetzt.[21] Bei die­sen Übertreibungen ist im Blick zu behalten, dass Zahlen so gut wie immer übertrieben werden; das liegt in ihrer geradezu fetischisierenden Aufladung mit Faktizität begründet.[22] Grund­le­gen­der ist aber, dass Bauers Identifikation des Ursprungs der Täterthese mit dem berühmten Me­morandum Simon Wiesenthals[23] schon insofern ins Leere geht, als Wiesenthal damit keine quantitative Forschungsarbeit vorlegen wollte, sondern die österreichische Justiz zum Handeln aufforderte.

Die von Bauer zitierten Beispiele sind also weder repräsentativ für die öster­rei­chi­sche Ge­schichts­wissenschaft, geschweige denn ihren Zweig der sogenannten Täterforschung, noch weisen deren Thesen überhaupt in die eindeutige Richtung einer Täterthese. Wis­sen­schaft­liche De­batten leben von zugespitzten Thesen, etwa der Opposition Opferthese versus Täter­the­se, all­mächtige Gestapo versus Mythos Gestapo, Intentionalismus versus Funktionalismus. Die Po­le sind dabei aber analytische Idealtypen, kaum jemand vertritt eine Position in Rein­form. Und es mag sein, dass manche Historiker und Historikerinnen in der überfälligen Zu­rück­weisung der definitiv staatstragenden österreichischen Opferthese in mancher Formulierung zu weit ge­gan­gen sind, daraus aber suggestiv zu schließen, dass in Österreich die umgekehrte Tä­ter­these he­gemonial wäre, scheint uns lediglich einen falschen Feind aufzubauen bezie­hungs­weise fal­sche Oppositionen von Thesen und Antithesen zu generieren, um dann in die bequeme Rol­le des Verkünders einer „Synthese“ zu schlüpfen.

Die Definition der Österreicher, die als Täter wäh­rend der NS-Zeit gezählt werden sollen, wäre für jede Diskussion der Täterschaft also zentral; sie ist bei Bauer aber so unbefriedigend, dass sie für allfällige quantitative Vergleiche nicht herangezogen werden kann. Einige wenige Hin­weise sollen genügen, um das zu belegen: Etwa 10000 Deutsch Sprechende in Triest, 70000 in der Untersteiermark, 30000 in Krain[24] standen einer Rekrutierung durch die NSDAP ver­mutlich deutlich aufgeschlossener gegenüber als die Bevölkerung in anderen Teilen Ös­ter­reichs.[25] Zwischen der Auflösung der Doppelmonarchie 1918 und der Gründung der NSDAP lie­gen nur drei Jahre, bis zum Ende der NS-Diktatur dürfte die Mehrheit der vor 1918 irgendwo in Österreich-Ungarn Geborenen immer noch beachtlich gewesen sein. Wie viele von ihnen zwischen 1910 und 1938 aus ihren Geburtsorten in das Gebiet der Republik Österreich wan­derten, lässt sich exakt nicht feststellen. Die letzte Volkszählung der Doppelmonarchie stammt aus dem Jahr 1910, die erste der Republik Österreich von 1934; über die Binnenmigration zwi­schen diesen beiden Erhebungen fehlen Statistiken.[26] Die Größenordnung der Binnenmigration als Folge der Kriegsereignisse lässt sich erahnen, wenn man bedenkt, dass im Oktober 1916 et­wa eine halbe Million Flüchtlinge allein in Wien nachgewiesen wurden, von denen übrigens, an­ders als der zeitgenössische Antisemitismus weismachen wollte, weniger als ein Fünftel Ju­den waren.[27] Die außerordentliche Volkszählung von 1920 ergab, dass die Heimatgemeinden von rund 275000 öster­rei­chi­schen Staatsbürgern (nahezu fünf Prozent) außerhalb der neuen Staats­grenzen lagen, wobei es auch hier starke regionale Unterschiede gab.[28]

Es scheint fraglich, ob Bauer tatsächlich „in Personendokumenten genannte Geburtsort[e]“ ko­diert hat oder sich doch mit der meist zusätzlichen Angabe des Staats, zu dem die jeweilige Gemeinde zählte, begnügte.[29] Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass Ortsnamen mehrdeutig und Register derselben unvollständig sind. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ein Mann, der 1912 in Nádkút im Komitat Vas geboren wurde, sollte als Nicht-Österreicher „ge­le­sen“ werden; erst wenn man weiß, dass sein Name Alois Brunner war und seine Ge­burts­ge­mei­nde auch den deutschen Namen Rohrbrunn trug, wird gemäß der anekdotischen Stich­pro­ben­zie­hung Bauers aus ihm ein Österreicher. Doch was tun mit all den anderen, deren Namen keinen Verdacht wecken? Welche Erfahrungen Bauer gemacht hat, um zu behaupten, dass „eher geringe[. . .] Schwankungsbreite[n]“ vorliegen dürften,[30] bleibt allein schon deswegen unklar, weil wir nicht glauben, dass Bauer tatsächlich die Geburtsorte aller 451156 Individuen seiner Grundgesamtheit rekodiert hat.[31]

Das bringt uns zum zweiten Element des Vergleichs von Bauer, den Tätern (und wohl auch den Tä­terinnen). Auch hier wechselt Bauer im Laufe seiner Präsentation mehrfach die Definition. Je­mand, der die Mitgliedschaft in der NSDAP im Rahmen seines Tätervergleichs heranzieht, in­sinuiert, dass es sich bei allen 8,65 Millionen um Täter gehandelt habe. Nun kann man diese The­se durchaus vertreten, allerdings fehlt bei Bauer eine diese Perspektive stützende Ar­gu­men­ta­­tion; dafür finden sich mehrere Sätze über die strafrechtliche Verantwortung. Letztlich scheint Bauer jedoch eine Definition mittlerer Reichweite zu bevorzugen. Zugleich verengt sich seine Per­spektive drastisch, da er letztlich nur die Mitglieder der SS als Täterpopulation heranzieht. Die 21 Samples, die er berücksichtigt hat, gehen über das Universum der SS nicht hinaus. Me­tho­disch gesprochen präsentiert Bauers Aufsatz 21 Messungen, die hochgradig miteinander kor­relieren, wobei der Autor den Anschein erweckt, als habe er 21 distinkte Messungen vor­ge­nom­men.

Nun könnte man selbstverständlich mit unterschiedlichen Täterdefinitionen arbeiten, nur müsste man das sagen und dann auch tun. Unschwer lässt sich zeigen, dass es seit der Kapi­tu­la­tion der Wehrmacht zu einer schrittweisen Verbreiterung des Täterbegriffs gekommen ist, und es wäre durchaus sinnvoll, diese gewandelte historische Semantik daraufhin zu prüfen, ob sie in den drei Nachfolgestaaten des Deutschen Reichs synchron erfolgte, was offenkundig nicht der Fall war. Doch dazu findet sich bei Bauer kein Wort. So bleibt unklar, warum er beispielsweise darauf verzichtet hat, die Angeklagten der Nürnberger Prozesse daraufhin zu untersuchen, wie viele davon – nach seiner Definition – Österreicher waren. Analog könnte man bei der Reichsregierung, den Reichstagsabgeordneten, der Wehrmachtgeneralität, dem diplomatischen Korps und anderen Gruppen verfahren, die mittlerweile alle eher zu den Tätern als den Mitläufern gezählt werden – oder, um Hilbergs präzisere Terminologie zu zitieren, zu den Perpetrators und nicht den Bystanders.[32]

Hätte Bauer daran gedacht, dass die Population der Täter über die SS hinausgeht, hätte er viel­leicht mit dem Phänomen der Warteschlange Bekanntschaft gemacht. Den Personen, die im Uni­versum der Nationalsozialisten Karriere machen oder sich an der „nationalen Anstrengung“ be­­teiligen wollten, standen nicht alle Positionen gleichermaßen offen. Nachzügler, zu denen die Mehr­zahl der Ostmärker gehörte, standen vor einigen verschlossenen Türen und fanden sich dann in Positionen wieder, die ihnen davor bestenfalls zweitrangig erschienen sein werden. Die Zi­vilverwaltung der besetzten Niederlande sind das augenscheinlichste Beispiel, aber mög­li­cher­weise gehören hierher auch die Gettokommandanten und Vernich­tungs­la­ger­mann­schaf­ten. Wählt man einen sehr breiten Täterbegriff, sind derartige Differenzierungen vernachlässigbar, wer, wie Bauer, auf die Vernichtungslager und ihr Umfeld fokussiert und dabei eine ver­meint­lich hegemoniale Täterthese angreifen will, sollte sich Fragen wie jener nach der War­te­­schlan­genproblematik stellen. In der Tat sind die interessantesten Hinweise jene auf die lo­ka­len Re­krutierungsmuster der SS-Wachmannschaften rund um die jeweiligen Stammlager der Kon­zen­trationslager (KZ) des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamts, die andere rekonstruiert ha­ben.[33]

Ein der Anteilsmessung zugrunde liegendes Kernproblem besteht in der Individualisierung von Täterschaft, anders gesagt im Unvermögen, Struktur und Ideologie jenseits ihrer einzelnen Trä­ger zu denken und zu untersuchen. Das kommt im folgenden Zitat deutlich zum Aus­druck:

„Hinter dieser Diskussion verbirgt sich letztlich die Frage, ob in Österreich eine über dem ohnehin traurigen (mittel-)europäischen Normalmaß liegende, auffällig starke Anfälligkeit für Antisemitismus, Rassismus und sonstige NS-Ideologeme verbreitet war und die Bewohner dieses Lands damit für natio­nal­sozialistisches Gedankengut in einem besonderen Ausmaß prädestiniert gewesen seien.“[34]

Abgesehen davon, dass es kein „Normalmaß“ an Antisemitismus oder Ähnlichem gibt, bemisst sich Täterschaft doch nicht in Überzeugtheit oder Anfälligkeit für Ideologie, wenn es, folgt man der gesamten Debatte im Anschluss an Christopher Browning,[35] auch nicht überzeugte Täter gab, die nicht unbedingt dafür prädestiniert gewesen sein müssen, zu Tätern zu werden. Das heißt aber wiederum nur, dass die Suche nach Überzeugungen jenseits faktischer Tätigkeit einer Grund­entscheidung folgt, welche die Ursachen des Nationalsozialismus und der NS-Täter­schaft nur in Individuen zu verorten vermag. Viele Stränge der neueren Täterforschung be­zie­hungs­weise perpetrator studies haben sich sowohl von einem auf die individuelle Ver­ant­wor­tung fokussierenden juristischen Täterbegriff als auch von einem lediglich Überzeugungen und Ideo­logien thematisierenden, sozusagen philosophischen Täterbegriff emanzipiert und sich statt­dessen mit verschiedensten Graden der individuellen Beteiligung in arbeitsteiligen Gewalt­ak­ten beschäftigt, die von Organisationen durchgeführt werden. Die gesamte Debatte vermisst man in Bauers oberflächlichen Zählübungen.

IV. Fazit: Quod non erat demonstrandum

Hinter Bauers Aufsatz stehen generelle Trends der Geschichtswissenschaft, auf die hin­zu­wei­sen uns wichtig scheint: Zum einen gibt es methodisch besser oder schlechter ausgeführte Pro­jek­te, deren weitreichende Thesen die grundlegende Relevanzfrage außer Acht lassen. Lassen sich Langzeit-Effekte von Konzentrationslagern auf das Wahlverhalten der Bevölkerung ihrer Um­gebung feststellen, fragten kürzlich etwa Autoren der London School of Economics, um letzt­lich die aus unserer Sicht absurde These aufzustellen, die Umgebung der Gedenkstätten wähle aus Gründen der „memory satiation“ rechter als andere Gebiete.[36] Sind also, polemisch ge­fragt, gar KZ-Gedenkstätten und ihre pädagogischen Programme Schuld am Aufstieg rechts­ex­tremer Parteien in Deutschland und Österreich? Unseres Erachtens ist generell eine kritische Aus­einandersetzung mit manchen quantitativen Studien der jüngeren Zeit geboten, die sich ei­ner­seits in Bezug auf ihre Quellenbasis und ihre methodologischen Möglichkeiten im digitalen Zeit­alter, andererseits aber auch in Bezug auf ihre moralischen Implikationen, ihren politischen Im­petus und ihre generelle gesellschaftliche Relevanz weit von ihren sozialgeschichtlichen Wur­zeln in den 1970er Jahren entfernt haben. Quantifizierung ohne Moral und Ge­schichts­kennt­nis mag, anders gesagt, en vogue sein, sie bringt aber wenig Erkenntnisgewinn mit sich.

Zum anderen steht hinter Bauers Thesen die österreichische Obsession, den Grad der Ver­ant­wor­tung in Anteilen zu messen. Die vermeintliche „Synthese“ ist keine solche, sondern die Rück­kehr der Opferthese durch die Hintertür. Bauers Beitrag wird zumindest so rezipiert werden. Denn wenn keine vermeintlich übertriebene Täterthese vorliegt – waren die Öster­reicher dann nicht doch mehr/auch/vielleicht/irgendwie Opfer des Nationalsozialismus? Die Täterschaft der Österreicher und der Anteil an den nationalsozialistischen Verbrechen, den sie zu verantworten haben, sind aber nicht durch Anteilsberechnungen in Zahlen zu bannen – das muss man aushalten. Wie Bertrand Perz bereits vor 20 Jahren schrieb, sagen Anteile nichts über in­dividuelle Motive und Dynamiken. Sein Plädoyer von 2006, dass eine echte Täterforschung über das Köpfezählen hinauskommen solle, bleibt angesichts obsessiver Zahlenspiele weiterhin aktuell.[37] Anders gesagt: Österreich möge in Bezug auf seine historische Verantwortung end­lich aufhören zu zählen. Denn Österreich zählt.

Online erschienen: 2025-07-01
Erschienen im Druck: 2025-05-28

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 18.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2025-0027/html
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