Abstract
Der Stauseebau nach 1945 prägte die Alpen nachhaltig; er beeinträchtigte Ökosysteme und verdrängte ganze Dorfgemeinschaften. Sebastian De Pretto analysiert die sozioökonomischen Folgen dieses Transformationsprozesses in Frankreich, Italien und der Schweiz anhand der Fallstudien Tignes, Marmorera, Reschen und Vernagt. Er zeigt, dass technokratische Planungsexperten und Energieunternehmen im Namen des Fortschritts Dörfer umsiedelten oder die Bevölkerung durch schleichenden Ressourcenentzug entwurzelten. Widerstand blieb oft erfolglos, da Machtasymmetrien zwischen zentralstaatlichen Akteuren und kommunalen Gemeinschaften die Verhandlungsprozesse dominierten. So werden die oft übersehenen, aber schwerwiegenden gesellschaftlichen Kosten des hydroenergetischen Ausbaus der alpinen Energielandschaft greifbar.
Abstract
The construction of reservoir lakes after 1945 permanently left its mark on the Alps, impacting ecological systems and pushing out entire village communities. Sebastian De Pretto analyses the socio-economic consequences of this transformational process in France, Italy and Switzerland through the case studies of Tignes, Marmorera, Reschen and Vernagt. He shows that technocratic planning experts and energy companies resettled villages and uprooted the population by increasingly withholding resources, all in the name of progress. Resistance often proved futile as the asymmetries of power between the representatives of the central state and the local communities defined the negotiations. In this manner, the often overlooked but impactful social costs of hydroelectric expansion in the Alpine energy landscape become tangible.
I. Einführung
Die ökologische Hypothek eines Stausees wiegt schwer: Flussbetterosion, Sedimentablagerung, Versalzung, Kohlenstoffdioxid-Emissionen verrotteter Pflanzen, beeinträchtigte Wassertemperaturen und Fließgeschwindigkeiten sowie das Artensterben in seinem Einzugsgebiet schädigen das umliegende Ökosystem tiefgreifend.[1] Nicht weniger dramatisch ist die Bilanz der gesellschaftlichen Kosten des industriellen Wasserbaus. Das aufgestaute Wasser fehlt in Brunnen und Bewässerungssystemen, und ein überflutetes Tal lässt sich nicht mehr als Jagdgrund, Nutzwald, Agrarland oder Transitweg nutzen. In der globalhistorischen Rückschau auf den weltweiten Dammbau nach 1950 stellte der US-amerikanische Umweltaktivist Patrick McCully deshalb fest: „Large dams are not built and operated by all of society but by an elite with bureaucratic, political or economic power. The dams give this elite the ability to direct water for their own benefit, depriving the previous users of some or all of their access to riverine resources.“[2]
Mit den bürokratischen, politischen und wirtschaftlichen Eliten benennt McCully federführende Akteure des Staudammbaus im späten 19. und 20. Jahrhundert. Ein wesentliches Merkmal der Hochmoderne bestand allerdings auch darin, dass sich wissenschaftliche Experten[3] zu Wort meldeten und – nicht selten mit einiger Hybris – soziopolitische Streitfragen um Wasserkraftwerke beeinflussten.[4] Sie zeichneten Anschlüsse, Ausschlüsse und Knotenpunkte in angeblich objektiv-rationale Pläne ein, womit sie auf ihren Reißbrettern scheinbare Sachzwänge für den Gewinn maximaler Energie schufen. Ausgehend von der Wirkungsmacht von Planungsexperten entwickelte sich die Technokratie somit zu einer folgenschweren „Hintergrundideologie“ der Hochmoderne,[5] derer sich zahlreiche politische Regime bedienten, wenn es galt, ihre Form des Fortschritts zu erreichen.[6] Dabei arbeiteten Hydrologen und Ingenieure oft im Interesse von Regierungen, Stromunternehmen oder Kreditinstituten, die eine eigene wirtschaftliche und politische Agenda verfolgten und im Namen des Fortschritts kalkulierbare Profite aus der Nutzung von Wasserkraft einforderten. Zusammen errichteten sie seit den späten 1920er Jahren innerhalb des „langen 20. Jahrhunderts der Elektrizität“ weltweit Talsperren als invasive Großtechnologien,[7] die gemäß Paul R. Josephsons Konzept der „brute force technology“ Ökosysteme zerstörten und die dort ansässigen Menschen oft rücksichtslos vertrieben.[8] Die realen sozioökologischen Kosten großtechnischer Systeme seien im Zeitalter der Hochmoderne nirgends angemessen berücksichtigt worden:
„Neither technologies of progress nor state agencies nor financial institutions seem to care who is pushed aside. Even in pluralist systems, citizens are pushed aside, and it is difficult for them to participate fully in the decision-making process of whether to build a high-way, expand an airport, flood a valley, or permit clear-cutting of ‚private‘ lands, let alone halt projects once they have commenced.“
Einhalt gebot dieser fortschrittsgläubigen Bauwut die in den Jahrzehnten nach 1945 namentlich in Europa, den USA und Ostasien an Einfluss gewinnende Ökologiebewegung. Vereinzelte Aktivistinnen und Aktivisten hatten schon in den 1950er Jahren etwa in der Schweiz, Österreich oder Bayern auf diese Probleme aufmerksam gemacht.[9] Ein transnationaler Zusammenschluss von Umweltorganisationen außer- und innerhalb des Alpenraums, der sich öffentlichkeitswirksam für das Ökosystem und das Habitat des Hochgebirges einsetzte und mitunter Wasserkraftprojekte verhinderte, kam hingegen erst Anfang der 1970er Jahre zustande. In der Schweiz erlebte diese Bewegung ihren bisherigen Höhepunkt mit der Annahme der Alpenschutz-Initiative von 1994.[10] Das erdsystemische Umweltbewusstsein stellte das technokratische Fortschrittsparadigma fundamental in Frage, bemühte es sich doch um den nachhaltigen Schutz der bedrohten Biosphäre. Ob sich die vom Stauseebau direkt betroffenen Menschen – wie von Josephson angenommen – im Zeitalter der Hochmoderne auch in den Alpen kaum gegen den Verlust ihrer Existenzgrundlagen wehren konnten, ergründet der vorliegende Beitrag mit Blick auf Frankreich, Italien und die Schweiz. War das europäische Zentralgebirge mit seinen reichen Wasservorkommen bis in die Nachkriegszeit ebenfalls technokratischen Fortschrittsprojekten ausgesetzt? Und wo zeigten sich die sozionaturalen Folgen des Hydroenergieausbaus am stärksten?
Neben Umsiedlungen ganzer Dörfer und Talschaften führt der Bau von Speicherseen auch dort zum Untergang von Siedlungen, wo er den Zugang zu Quellen, Flüssen und Seen mitsamt dem umliegenden Land nur einschränkt oder blockiert.[11] Auch dort kann es zu lang andauernden, vermeintlich widerstandslosen – aber dennoch gewaltsamen – Verdrängungsprozesse kommen.[12] Die nordamerikanischen Sozialwissenschaftler Peter Vandergeest, Pablo Idahosa und Pablo S. Bose verwenden hierfür das Konzept des Development-induced-Displacements (DiD), um generell auf die sozialen Kehrseiten staatlicher Entwicklungsprojekte hinzuweisen.[13] Der eingeschränkte oder verhinderte Zugriff auf Ressourcen, welche für die Lebensweise, für das wirtschaftliche Handeln oder die kulturellen Praktiken bestimmter Gruppen existenziell sind, kann deren Untergang auslösen, auch ohne dass sie ihr Siedlungsland verlassen müssen. Grundlegend sind hierfür Entscheidungsfindungsprozesse, von denen ohnehin benachteiligte Randgesellschaften teilweise oder ganz ausgeschlossen bleiben. Bereits bestehende Machtasymmetrien etwa zwischen einer zentralstaatlichen Verwaltung und den verstreuten Bergbauerndörfern abgelegener Landesregionen verfestigen sich bei solchen Verhandlungen, die nicht selten zu einem vermeintlichen Konsens führen (oder zumindest so bezeichnet werden), obwohl den verdrängten Lebensgemeinschaften kaum eine Wahl – geschweige denn eine wirkmächtige Stimme – bleibt.
Der Aufsatz befasst sich, ausgehend vom DiD-Ansatz, mit den gesellschaftlichen Konsequenzen des Stauseebaus in den schweizerischen, französischen und italienischen Alpen nach 1945. Die These lautet, dass neu angelegte Speicherseen nicht nur dort schwerwiegende soziale und ökologische Folgen mit sich brachten, wo ganze Dörfer planmäßig untergingen, sondern auch dort, wo der Eingriff in den Wasserhaushalt eines Bergtals auf lange Sicht ursprünglich unbeabsichtigte Verdrängungsprozesse auslöste, die schließlich ebenfalls zu Umsiedlungen führten. Die historische Forschung hat zwar bereits einige prominente Fallbeispiele aufgelassener Dörfer in den Alpenländern untersucht,[14] vergleichende und länderübergreifende Studien fehlen aber. Bei den heute in den Alpen vorhandenen 554 Wasserkraftanlagen kam es überdies nur selten zur Aufgabe ganzer Ortschaften.[15] Der Ausbau der Hydroenergie verdrängte Menschen aus ihrer Heimat wohl viel häufiger aufgrund der vom DiD-Ansatz thematisierten schleichenden Prozesse, die mehr im Stillen verliefen und keine aufsehenerregenden Schlagzeilen lieferten.[16]
Dabei gilt es, erstens, den globalhistorischen Kontext des Stauseebaus aufzuzeigen und die Entwicklung der Wasserkrafterschließung in den Alpen ab 1918 zu skizzieren; schließlich beruhen viele der nach 1945 realisierten Speicheranlagen auf Projektskizzen der Zwischenkriegszeit. Zweitens wird es darum gehen, anhand von Fallbeispielen aus Frankreich, Italien und der Schweiz einen Überblick über alpine Umsiedlungspolitiken in der Nachkriegszeit zu gewinnen. Die synthetisch-komparativen Ausführungen zu Tignes (Frankreich), Reschen (Italien) und Marmorera (Schweiz) stützen sich auf eine breite Forschungsliteratur, was erneut belegt, dass der Fokus bislang vor allem auf einzelne umgesiedelte Dörfer gerichtet war. Drittens zeigt die Geschichte des Vernagt-Stausees im Südtiroler Schnalstal das Schicksal einer Berggemeinde auf, deren Fraktionen und landwirtschaftliche Betriebe aufgrund des eingeschränkten Zugangs zum Wasser und des fortlaufenden Verlusts von Agrar- und Siedlungsland über 16 Jahre hinweg aufgegeben wurden. Drei Talbücher erwähnen die vom Vernagt-Stausee ausgelösten Verdrängungsprozesse,[17] geschichtswissenschaftliche Studien dazu gibt es aber nicht. Dieses Unterkapitel stützt sich auf Bestände aus dem Südtiroler Landesarchiv,[18] Zeitungsartikel der konservativen deutschsprachigen Tageszeitung Dolomiten sowie auf ein Interview mit dem Sohn eines umgesiedelten Bauern aus dem Schnalstal. Das Beispiel Vernagt gibt Anlass zu der Vermutung, dass die vom DiD-Ansatz beschriebenen Verdrängungsprozesse vielerorts auftraten und untersucht werden müssten. Um die vier Fallbeispiele miteinander vergleichen zu können, gilt es, deren Vorgeschichte und den Ablauf der einzelnen Stauseeprojekte darzulegen. Dabei ist auch auf die Rolle von Experten einzugehen, die als Zwischenhändler oder Bauverantwortliche tätig waren und zu einer erfolgreichen Konzessionierung beitrugen. Insgesamt zeigen die untersuchten Aushandlungsprozesse zwischen Projektverantwortlichen und den umzusiedelnden Dörfern den beschränkten Aktionsradius auf, der marginalisierten Lebensgemeinschaften offenstand. Den Schluss bildet eine sozioökonomische Einschätzung, ob die vom Stauseebau betroffenen Talschaften von der Hydroenergie profitierten oder ob sie trotz technokratischer Fortschrittsversprechen am Ende mit leeren Händen dastanden.
II. Stauseebau und Umsiedlungen im 20. Jahrhundert
Nachdem die von der Weltbank einberufene World Commission of Dams (WCD) Staudämme und deren ökologische, ökonomische und soziokulturelle Auswirkungen weltweit untersucht hatte, eröffnete deren Vorsitzender Kader Asmal den Abschlussbericht von 1998 mit der Frage:
„I can argue that nations built large dams for sound reasons. Dams store, use and divert water from consumption, irrigation, cooling, transportation, construction, mills, power and recreation. Dams remove water from the Ganges, Amazon, Danube, Nile or Columbia to sustain cities on their banks. For parting – or imparting – waters, dams are our oldest tool. Yet are they our only tool, or our best option?“[19]
Auf diese Frage wusste auch Thayer Scudder, der als Sozialanthropologe ebenfalls der WCD angehörte und parallel zu seinem Mandat zahlreiche eigenständige kritische Studien zu Talsperren im globalen Süden verfasst hatte, keine eindeutige Antwort: Staumauern und -dämme öffneten in der Nachkriegszeit zwar vielerorts den Weg zur Modernisierung strukturschwacher Länder und Regionen, verursachten aber genauso oft schwerwiegende Umweltschäden und irreversible gesellschaftliche Verluste. Für die federführenden Akteure überwogen die mit der Hydroenergie verbundenen Entwicklungsversprechen zumeist die dabei anfallenden sozioökologischen Kosten.[20]
Industrielle Hydroenergie wurde bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mit Laufwasserkraftwerken und in der Zwischenkriegszeit vermehrt auch mit Stauseen gewonnen und gespeichert. Das globale Zeitalter der Großwasserkraftwerke erreichte aber erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Höhepunkt. Allein zwischen 1950 und 1975 entstanden im Durchschnitt pro Jahr tausend Stauwerke. Insgesamt wurden in mehr als 140 Ländern 80000 kleine und über 45000 große Dämme errichtet,[21] die rund zwei Drittel aller Flüsse der Erde in industrielle Wertschöpfungsketten eingliederten. Diese Wasserbaueuphorie endete erst in den 1990er Jahren, als mit 260 Talsperren pro Jahr vergleichsweise wenig neue Anlagen entstanden. Weltweit am meisten investierte China in den Ausbau seiner Wasserkräfte, gefolgt von den USA sowie Indien, Japan und Brasilien.[22] Allerdings bemühten sich auch die Sowjetunion, Spanien, die skandinavischen Länder, die Türkei oder Ägypten darum, ihre Wirtschaftsleistung durch eigene Hydroressourcen zu maximieren.[23]
Staaten oder privatwirtschaftliche Unternehmen stauten Fließ- und Stehgewässer nicht nur zur Stromerzeugung oder -speicherung auf, sondern auch, um Agrarflächen zu bewässern, die Industrie und Privathaushalte arider Regionen mit Wasser zu versorgen, Überschwemmungen vorzubeugen oder um mit sogenannten multipurpose dams gleich ganze Flussbecken zu modernisieren.[24]Sowohl liberale Demokratien als auch totalitäre Regime setzten im Namen eines technokratischen Fortschrittsparadigmas sowie aufgrund ökonomischer, politischer und propagandistischer Agenden auf die Industrialisierung ihrer Gewässer.[25] Talsperren symbolisierten dabei als „Pyramiden“ der Hochmoderne das Versprechen einer prosperierenden und unabhängigen Zukunft, sie dienten ebenso der Linderung ökonomischer Krisen wie als Laboratorien gesellschaftspolitischer und sozionaturaler Planungsprozesse.[26]Als Brücken zu einem gelobten Land verbanden sie darüber hinaus gemeinsam erinnerte Vergangenheiten mit verheißungsvollen Zukunftsentwürfen und avancierten so zu kollektiven Erinnerungsorten.[27] Transnational vernetzte Technokraten entwarfen und errichteten Dämme und Staumauern überdies als Instrumente (post-)kolonialer Einflussnahme oder als Mandanten internationaler Organisationen wie der Weltbank, die bis in die 1990er Jahre zahlreiche Großunternehmungen mitfinanzierte.[28] Angesichts solch bevormundender Entwicklungsprojekte nahmen manche betroffene Länder Wasserkraftwerke zuweilen als Ausdruck internationaler Machtpolitik wahr und nutzten diese als Ausgangspunkte ihres Widerstands gegen Fremdherrschaft.[29]Anderswo förderte der Bau spektakulärer Hydrokonstruktionen hingegen das Selbstbewusstsein kriegsgeschädigter Nationen, indem sie den erhofften Weg zum Wiederaufbau symbolisierten oder periphere Räume an Wirtschafts- und Industriemetropolen anzubinden versprachen.[30] Immer legten Talsperren aber auch fest, wie Wasser als wertvolle Ressource zu verteilen war; sie stellten folglich sozionaturale Machtinstrumente dar.[31] Mancherorts nahmen die in den Einzugsgebieten der industrialisierten Gewässer lebenden und arbeitenden Menschen solche existenzielle Eingriffe in ihren Lebensraum bereitwillig in Kauf, da Großunternehmen oder staatliche Entwicklungsprogramme eine Verbesserung der Infrastruktur, den Auf- und Ausbau von Versorgungseinrichtungen und Arbeitsplätze in Aussicht stellten.[32]
Die Nutzung der Wasserkraft brachte vielerorts Umsiedlungen und Verdrängungen mit sich. Es liegen allerdings keine genauen Zahlen darüber vor, wie viele Menschen im vergangenen Jahrhundert weltweit aufgrund einer Talsperre ihr Zuhause aufgeben mussten. Projektverantwortliche und staatliche Auftraggeber bemühten sich nicht immer um exakte Angaben, so dass auch ihnen keine abschließende Übersicht vorlag.[33] Die WCD schätzte jedoch, dass seit den 1930er Jahren weltweit bis zu 80 Millionen Menschen umsiedeln mussten, die nirgends angemessen entschädigt worden seien.[34] Tatsächlich stellten Regierungen, Dammbauexperten und Energieunternehmen solch sozioökonomischen Schäden, die überwiegend mittellose oder periphere Gruppen zu tragen hatten, nur selten in Rechnung, wenn sie die Konsumenten in den Städten und die Industrie mit dem Versprechen günstiger Energie- und Wasserversorgung lockten. Staudämme erweiterten deshalb die Armutsschere in den meisten Ländern und Regionen, anstatt den von Planungsexperten prognostizierten Fortschritt und Wohlstand für alle zu ermöglichen.[35]
Für die kohlearmen Alpenländer hatte sich die Wasserkraft als wertvolle Energiequelle des Wiederaufbaus bereits nach dem Ersten Weltkrieg bewährt.[36] Nachdem im ausgehenden 19. Jahrhundert die Hydroenergie zunächst Industriestandorte entlang von Flüssen versorgt hatte und anschließend Hochspannungsleitungen überregionale Stromnetze schufen, entstanden nach 1920 auf alpinen Hochebenen vermehrt künstlich aufgestaute Speicherbecken, die als leistungsstarke und transnational vernetzte Akkumulatoren Energie zurückhielten und zum gewünschten Zeitpunkt in den an das Stromnetz angeschlossenen Orten freisetzten.[37] An einigen Flussläufen entstanden außerdem Staustufen als Bestandteile talübergreifender Kraftwerksysteme. Alpine Stauseen sollten somit nicht den Wasserhaushalt umliegender Regionen sichern, sondern stattdessen bei hoher Stromnachfrage Spitzenenergie liefern. In den Alpenländern, die wie die Schweiz, Frankreich oder Italien schon relativ früh auf die Gesamtnutzung ihrer Wasserkraftreserven setzten,[38] kam es bereits in der Zwischenkriegszeit zu Umsiedlungen ganzer Dörfer: Zuerst musste die Gemeinde Innerthal im Kanton Schwyz zwischen 1921 und 1926 dem Wägitalersee weichen. Von 1928 bis 1937 verschwanden drei Weiler auf der Hochebene von Dauphin im französischen Departement Isère unter dem Lac du Chambon. 1937 überflutete schließlich in der Innerschweiz der Sihl-See Häuser und Höfe im Hochtal von Einsiedeln.[39] Ungefähr zur gleichen Zeit mussten im nördlichen Piemont die Einwohnerinnen und Einwohner von Morasco und Àgaro ihre Dörfer zwei gleichnamigen Stauseen opfern.[40] Zahlreiche der nach 1918 projektierten Stauwerke blieben in der Zwischenkriegszeit jedoch unvollendet; die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg schränkten den transnationalen Investitionsspielraum für Energiekonsortien, Banken sowie für Bau- und Ingenieurunternehmen bis 1945 ein.[41]
Nach dem Zweiten Weltkrieg wandten sich die vom Krieg gezeichneten Alpenländer rasch wieder dem Entwicklungsversprechen der Hydroenergie zu: Staatliche, gemischtwirtschaftliche und private Stromkonsortien stockten die nationalen Ressourcenspeicher auf, um der einheimischen Industrie wieder auf die Beine zu helfen und den internationalen Energiehandel profitabel weiterzuführen.[42] Da außerdem die Preise für fossile Brennstoffe aufgrund hoher Nachfrage bei gleichzeitig knappem Angebot während und nach dem Krieg anstiegen, schienen Investitionen in neue und alte Wasserkraftprojekte lohnenswerter denn je.[43] Ferner erlaubten die vom Marshall-Plan nach 1947 bereitgestellten Hilfsgelder den Ausbau kostspieliger Infrastrukturprojekte. Dazu kamen die zunehmende Mobilität und die sich ausbreitenden Verteilnetze der aufkommenden Konsumgesellschaft in den 1950er Jahren; auch sie verlangten nach immer mehr Energie, die ebenfalls zu einem Großteil aus alpinen Speicherseen fließen sollte.[44] In den Alpen wurden von 1945 bis in die 1970er Jahre immer mehr Talsperren gebaut; dann hielt mit der Kernkraft eine komplementäre Energiequelle Einzug.[45]
Wie in anderen Weltregionen, so fragte auch in den Alpen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten kaum jemand nach den ökologischen Hypotheken und gesellschaftlichen Kosten des Ausbaus der Hydroenergie.[46] Besonders in Frankreich, Italien und der Schweiz sorgte der Bau von Stauseen für einen fortschreitenden Verlust von Agrar- und Siedlungsflächen in peripheren Bergtälern. Verglichen mit anderen Großstaudammprojekten etwa in China, den USA oder der Sowjetunion musste man nur kleine Dörfer und Weiler umsiedeln, was häufig unter der Regie einer entscheidungsstarken, überregional oder gar national agierenden Bürokratie geschah. Im Zeichen der Nachkriegsdemokratie wurden in Italien oder Frankreich zentralistische Verfügungsnormen etabliert; in der Schweiz verfügt dagegen seit 1916 unter der Oberaufsicht des Bunds jeder Kanton über ein eigenes Bewilligungsverfahren für Wasserkraftwerke.[47] Anreize für die Vergabe der gemeindeeigenen Hydroressourcen schuf dabei der für Kraftwerkbetreiber alljährlich anfallende Wasserzins.[48]Angesichts drohender Umsiedlungen und anderer Verdrängungsprozesse mussten alpine Kommunen deshalb oft Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellen, nach denen sie ihre Verhandlungsstrategien ausrichteten und bei gemeindeübergreifenden Zusammenschlüssen Kraftwerksprojekte durchaus auch verhinderten.[49] Technokratische Experten, Planer, Regierungsvertreter sowie Energie- und Bauunternehmen mussten in föderal regierten Alpenregionen deshalb geschickt verhandeln, um von den örtlichen Gesellschaften den Gewässerzugang zu erhalten. Wie solche Verhandlungen bei Umsiedlungen und langjährigen Verdrängungsprozessen abliefen, zeigen die folgenden Fallbeispiele.

III. Tignes – Reschen – Marmorera 1945 bis 1955
Die ersten Umsiedlungen nach 1945 ereigneten sich beinahe zeitgleich im französischen Departement Savoie, am Reschenpass im italienischen Vinschgau sowie im bündnerischen Oberhalbstein bei Marmorera. Alle drei Stauseen gingen auf Projekte zurück, die schon seit der Zwischenkriegszeit vorlagen, sich aber wegen des europäischen Energiehungers und transnationaler Kapitalflüsse erst jetzt umsetzen ließen.
In Frankreich setzte sich nach Kriegsende eine breite politische und wirtschaftliche Koalition dafür ein, den Wiederaufbau durch einen koordinierten Ausbau der verfügbaren Energiereserven und der dazu benötigten Infrastrukturen zu forcieren. Neben der Kohle-, Erdöl- und Bergbauindustrie sowie dem landesweiten Eisenbahnnetz förderte die junge Vierte Republik hierzu auch das in ihren Alpenregionen industriell noch unerschlossene Wasserkraftpotenzial. Dafür wandte sich die 1946 aus dem Vichy-Regime hervorgegangene Électricité de France (EdF) als zentralstaatliches Energieunternehmen der Hochebene von Tignes zu, wo sie in einem glazialen Schmelzwassersee die geeigneten Voraussetzungen für ein Großspeicherwerk erkannte. Das Projekt war nicht neu: Die ersten Entwürfe lagen seit 1919 vor, und 1920 hatte das private Stromunternehmen Force Motrice du Rhône eine erste Konzession für eine Wasserkraftanlage bei Tignes erworben. Aufgrund von Kapitalmangel, des frühen Widerstands der Talbewohnerinnen und -bewohner sowie ungelöster technischer Fragen[50] scheiterte das Vorhaben in der Zwischenkriegszeit. Nachdem die Konzession 1930 nochmals gewechselt, 1941 das Comité d’organisation de l’énergie électrique weitere Pläne entworfen hatte und 1943 die ersten Versuche eines Landkaufs in Tignes gescheitert waren, besuchten 1946 EdF-Vertreter die widerspenstige Gemeinde mit deren umliegenden Fraktionen. Gemäß der vom kommunistischen Industrieminister Marcel Paul ausgegebenen Parole eines Projekts von angeblich gemeinnütziger Dringlichkeit sollten Bauingenieure und Hydrauliker die Wasserkraft von Tignes nötigenfalls ohne das herkömmliche Bewilligungsverfahren erschließen.[51]
Vor 1945 unterstützten die Presse sowie die Savoyardische Akademie der Wissenschaften und Künste Tignes in seinem Abwehrkampf gegen die Hydroenergie noch auf breiter Front, da sie in dem abgelegenen Hochtal ein völkisch-romantisches Bollwerk gegen die invasive Moderne zu erkennen glaubten. Unter dem Primat des nationalen Wiederaufbaus änderten sich die Rahmenbedingungen. Das Dorf stand nun unter starkem Druck und fand auch außerhalb der Region kaum mehr zivilgesellschaftlichen Rückhalt.[52] Tignes litt unter Abwanderung, Überalterung und Armut. Im Sommer lebten die Menschen von einer spärlichen Vieh-, Milch- und Wanderweidewirtschaft, im Winter von der Wanderarbeit.[53] Trotz dieser Voraussetzungen und der daraus resultierenden schwachen Verhandlungsposition stießen die EdF-Vertreter bei den meisten Dorfbewohnerinnen und -bewohnern weiterhin auf Widerstand, für den das Energieunternehmen teilweise selbst verantwortlich war. Für den Staat verhandelten nämlich technokratische Ingenieure sowie sozialistische, kommunistische und christdemokratische Parteipolitiker, die alle vom Bau des prestigeträchtigen Staudamms profitieren wollten. In ihren fortschrittsgläubigen Augen ergab es schlichtweg keinen Sinn, dass das strukturschwache Dorf das Kraftwerk und die Umsiedlung mehrheitlich ablehnte. Das staatliche Wachstumsparadigma stand den Sorgen der Tignards über eine ungewisse Zukunft jenseits ihres gewohnten kommunalen Zusammenlebens diametral entgegen.[54] Dementsprechend kam es auch nie zu einer transparenten Kommunikation, da sich die EdF weder auf verbindliche Entschädigungen festlegte, noch offen über die bevorstehende Umsiedlung und die laufenden Verhandlungen informierte oder individuelle Konsultationen anbot.[55] Davon abgesehen ließen sich die Höfe und Anwesen ohnehin kaum ihrem eigentlichen Wert entsprechend finanziell entschädigen oder eins zu eins durch Neubauten ersetzen, da die wirtschaftliche Dorfstruktur auf einer feinmaschigen Arbeitsteilung mit gemeinschaftlichen Gütern basierte. Löste sich diese ortsgebundene Koexistenz in Tignes auf, war es praktisch unmöglich, die komplexe sozioökonomische Struktur anderswo zu rekonstruieren.[56]
Als Marcel Paul sein Bauvorhaben 1945 öffentlich ankündigte, flammte in Tignes der Widerstand erneut auf. Auf der Baustelle kam es beinahe tagtäglich zu Sabotageakten in Form von Vandalismus und Brandstiftung. Außerdem griffen aufgebrachte Tignards im Frühjahr 1946 Bauarbeiter direkt an, sie gingen auf Funkstationen los und fällten Bäume und Telefonmasten, um Autostraßen zu blockieren. Schließlich übergossen sie Baustellenbarracken mit Benzin und warfen Werkzeuge in den See. Neben diesen gewalttätigen Ausschreitungen organisierten Widerstandsgruppen aber auch Kundgebungen im Dorf und legten ihre Anliegen im Élysée-Palast dem französischen Premierminister vor. Von der sensationshungrigen Presse wollten die Protestgruppen nichts wissen. Sie lehnten Gespräche strikt ab, da sie in den landesweiten Medien keine Verbündeten sahen. Die Ausschreitungen flauten erst ab, als staatliche Sicherheitskräfte das Dorf von zwei leerstehenden Hotels aus zu überwachen begannen.[57]
Nicht weniger gewaltsam und chaotisch verlief danach die Umsiedlung. Diejenigen aus dem Dorf, die den Verkauf schon früh zugesagt hatten, erhielten eine höhere Entschädigung als die Zögernden, die bis zur Flutung in ihren Häusern ausharrten; damit provozierte die EdF Konflikte in der Gemeinde.[58] Außerdem stand lange Zeit nicht fest, ob die neue Siedlung oberhalb des alten Tignes beim Hameau des Boisses errichtet werden sollte, wo extensive Landwirtschaft in der gewohnten Form kaum möglich war, oder ob das neue Dorf stattdessen auf höher gelegenen und weiter entfernten Alpweiden liegen sollte, die ungewisse Einkommensaussichten boten. Die Regierung entschied sich schließlich für den Weiler Boisses, wo 384 Personen in auf 284 Hektar verstreuten Häusern und Höfen eine neue Heimat fanden.[59] Die Flutung begann am 17. März 1952 vor Tagesanbruch, bei einer Schneehöhe von über zwei Metern und einer noch unvorbereiteten Dorfbevölkerung, die eine Polizeieinheit aus ihren Häusern trieb. Die letzten Einwohnerinnen und Einwohner verließen ihr Zuhause erst im April 1952, als das Wasser die ersten Gebäude bereits erreicht hatte. Damit sich der Stausee bei einer späteren Entleerung nicht zu einem schmerzvollen Erinnerungsort der Vertriebenen entwickeln konnte, sprengte die EdF nach der Zwangsumsiedlung das alte Tignes in die Luft. Dafür errichtete der Staat kurze Zeit später neue Schulen und Verwaltungsgebäude im neuen Dorfzentrum von Boisses. Die endgültigen Entschädigungssummen mussten per Gerichtsbeschluss festgelegt werden, da die Verhandlungen zwischen der EdF und den Umgesiedelten gescheitert waren.[60]
In den ersten Jahren nach der Inbetriebnahme des Lac du Chevril profitierte das neue Tignes noch kaum von der Wasserkraft. Rund ein Viertel der alten Dorfbevölkerung verließ das Tal, während sich die Mehrheit in den von der EdF in Boisses errichteten Höfen und Anwesen niederließ, dort allerdings weitere drei Jahre auf finanzielle Entschädigungen warten musste.[61] Zudem wandelten sich im neuen Dorf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fundamental. Die EdF baute für ihre Baustelle zwar das Straßennetz aus, der Staat schuf aber keinen Ersatz für die alte Bahnlinie, so dass es neue Verkehrsanschlüsse nur für den kostspieligen Automobilverkehr gab.[62] Durch die Stauseebaustelle entstanden kurzfristig neue Arbeitsplätze, auch Arbeitsmigranten kamen ins Tal. Sobald aber der See aufgestaut war und die Turbinen liefen, ging der Bedarf wieder zurück, und die EdF-Angestellten zogen weiter zum nächsten Talsperrenprojekt.[63] Die Geduld der Verbliebenen zahlte sich wirtschaftlich erst in den späten 1950er und 1960er Jahren aus, als sich das vormals kaum frequentierte Hochtal zu einem beliebten Wintersportort entwickelte. Die vormalige Präsenz der EdF war bei dieser Entwicklung hilfreich, da sich verlassene Infrastrukturen wie etwa die Bauarbeiterunterkünfte zu einer Ferienkolonie umnutzen ließen. Um diese herum entstanden zahlreiche Hotels, Chalets und Skizentren für den Wintertourismus. Zwischen 1962 und 1968 verfünffachten sich die Zweitwohnsitze parallel zur Einwohnerzahl der Gemeinde, die nun mehrheitlich vom Gastgewerbe lebte. Die Landwirtschaft verschwand dagegen beinahe völlig aus dem Tal: Arbeiteten 1946 noch 73 Prozent aller Bewohnerinnen und Bewohner im Primärsektor, ging diese Quote bis 1954 auf 24 Prozent zurück und lag 1968 schließlich bei verschwindend kleinen drei Prozent.
Im Nachbarland Italien interessierte sich der Zentralstaat ebenfalls für die Wasserressourcen seiner Alpenregionen, die den Energiehaushalt des im Krieg überstrapazierten Lands wieder stabilisieren sollten. Während aber etwa das Aostatal für 99 Jahre eine freie Konzession für die Selbstverwaltung der regionalen Wasserkräfte erhielt, bekräftigte Rom in Trentino-Südtirol mit dem Ersten Autonomiestatut von 1948 sein bisheriges Verfügungsrecht über die Hydroenergie: Konzessionen erteilte weiterhin das Ministerium für öffentliche Arbeiten in der Hauptstadt, die Provinz durfte nur als beratende Zwischeninstanz auftreten und Einspruch gegen Projekte erheben, indem sie Eigenbedarf geltend machte.[64] Daher bat niemand die Gemeinden an den Verhandlungstisch, wenn in Rom über neue Gesuche für Konzessionen in der entlegenen Grenzprovinz entschieden wurde. Die Dominanz der italienischen Regierung bei den landesweiten Wasservorkommen stellt eine folgenschwere Kontinuität zwischen den unterschiedlichen politischen Systemen Italiens im 20. Jahrhundert dar. Das Wasserrechtsgesetz von 1916 ging auf den Minister für öffentliche Arbeiten Ivanoe Bonomi zurück, Erweiterungen erfuhr es auf Geheiß Benito Mussolinis, und in Kraft blieb es in dieser Form auch unter den republikanischen Regierungen der Nachkriegszeit. Zahlreiche Stauseeprojekte, die privatwirtschaftliche Energieunternehmen unter faschistischer Herrschaft entworfen oder schon in Angriff genommen hatten, wurden erst nach 1945 vollendet. Die Ressourcenpolitik des faschistischen Regimes prägte so auch die Energiewirtschaft des demokratischen Italien.[65]
Als erstes Großstauwerk in Südtirol wurde am Reschenpass nahe der Grenze zu Österreich in den 1940er Jahren ein Projekt realisiert, für das bereits seit 1920 Entwürfe vorlagen, die aber wegen Kapitalmangels ins Stocken geraten waren. Schon auf den ersten Projektskizzen sollte der Stausee auf dem Gebiet der beiden Dörfer Reschen und Graun liegen: zwei lange Zeit bedeutende Zwischenstationen für den transalpinen Personen-, Güter- und Postverkehr mit einem blühenden Handwerks- und Gastgewerbe. Seit dem 19. Jahrhundert litten die beiden Ortschaften aufgrund von Kriegen, schnelleren Verkehrswegen, protektionistischem Handel und dem daraus folgenden Mangel an Arbeitsplätzen unter Abwanderung. Zwischen 1838 und 1921 halbierte sich die Einwohnerzahl, wobei sich mitunter auch Sieben- bis 14-Jährige, die sogenannten Schwabenkinder, in Württemberg, Baden oder Bayern als Hilfskräfte in der Landwirtschaft, in der Industrie und in Privathaushalten verdingen mussten.[66] Landwirtschaft betrieb man traditionell auf den umliegenden Alpweiden, dazu kamen Viehzucht sowie Getreide- und Gemüseanbau, während der Wald und die auf dem Gebiet der Gemeinde Reschen entspringende Etsch lebensnotwendige Ressourcen lieferten. Die Höfe in Graun und Reschen wurden nur selten von einzelnen Familien bewirtschaftet, oft waren mehrere beteiligt, die ihre Einkünfte nebenher noch im Handwerk aufbesserten.
Während des Kriegs sahen die beiden Gemeinden ihrem Untergang entgegen, als die Società Elettrica Alto Adige 1940 vom Ministerium für öffentliche Bauten eine Konzession erhielt und daraufhin die für den Stausee vorgesehenen Umsiedlungen einleitete, die allerdings nach der Besetzung Italiens durch deutsche Streitkräfte im September 1943 zum Erliegen kamen. Nach Kriegsende ging das Baurecht schließlich an das Mailänder Chemieunternehmen Montecatini, das schon seit 1925 für seine Produktionsstätten Wasserkraftwerke in Südtirol baute und betrieb. Allerdings verfügte auch der Großkonzern über zu wenig Geld für die kostspielige Anlage sowie die Umsiedlung und den Neubau der beiden Dörfer am projektierten Seeufer.[67] Erst ein Staatskredit aus Rom und eine Beteiligung der schweizerischen Energie-Holdinggesellschaft Elektrowatt in Höhe von dreißig Millionen Schweizer Franken stellte die Finanzierung schließlich 1947 sicher.[68]
Der Widerstand der betroffenen Talschaft war vehement: Hatten bereits die ersten Projektentwürfe aus der Zwischenkriegszeit für Einsprüche seitens der Fischerei, der Landwirtschaft und der vom Trinkwasser abhängigen Gemeinden gesorgt, erhob sich der Protest nach 1945 erneut.[69] Wie beim Lac du Chevril, regte sich auch in Reschen und Graun ein von der Dorfmehrheit getragener Widerstand gegen die 1946 in der Regionalpresse angekündigte Umsiedlung. Die betroffenen Dorfgemeinschaften gaben geologische Gutachten über die Standortsicherheit des geplanten Staudamms in Auftrag, platzierten Appellationen gegen die Umsiedlung, unzureichende Entschädigungen oder befürchtete Dammbrüche in deutschsprachigen Regionalzeitungen und schlossen sich in Komitees zusammen.[70] Überdies bat eine aus dem Bürgermeister von Graun, dem dortigen Dorfpfarrer sowie dem Bischof von Brixen bestehende Delegation 1947 Papst Pius XII. um Schutz für die betroffenen Gemeinden – ohne Erfolg. Die Montecatini verhandelte nie direkt mit den Einwohnerinnen und Einwohnern von Reschen und Graun, sondern mit dem noch vom faschistischen Regime eingesetzten Consorzio dei Comuni e delle Province del Trentino-Alto Adige. Bis zum Ersten Autonomiestatut von 1948 verfügte Südtirol auf Provinzebene über keine gewählte politische Repräsentanz; eine transparente Entscheidungsfindung, an der alle betroffenen Gruppen und Akteure beteiligt gewesen wären, kam nicht zustande.[71] Als die Kraftwerke am Reschensee im Sommer 1950 ans Netz ging, hatte der Bau des Stausees die Umsiedlung von rund einhundert Familien verursacht. Die wenigsten von ihnen bezogen am Seeufer eines der von der Montecatini errichteten Wohnhäuser, von denen aus sie den aus dem Wasser ragenden Turm der ehemaligen Pfarrkirche St. Katharina sehen konnten.[72]
Der erfolglose Widerstand in Graun und Reschen ging auf die mangelnde Verhandlungsbereitschaft der Montecatini zurück, welche die Betroffenen noch in den späten 1940er Jahren im Unklaren darüber ließ, ob und wann sie ihr Zuhause verlassen mussten. Fehlendes Einfühlungsvermögen seitens der Investoren provozierte demnach nicht nur im Val d’Isère Konflikte mit der lokalen Bevölkerung, sondern ebenso im oberen Vinschgau. Hinzu kam, dass die Kommunikation zwischen der deutschsprachigen Gemeinde und den italienischsprachigen Bewilligungsstellen in Rom schon in den ersten Projektjahren sehr zu wünschen übrig gelassen hatte. Offizielle Angaben zur Umsiedlung erreichten das Dorf auf Italienisch, und die vom faschistischen Regime eingesetzten Amtsbürgermeister leiteten die Einsprüche aus Graun oder Reschen nie an ihre Vorgesetzten weiter. Davon abgesehen, ging die Mehrheit der Dorfbevölkerung aufgrund ihrer Entscheidung für einen Wegzug nach der „Option“ von 1939 ohnehin davon aus, dass sie – wie von Adolf Hitler und Benito Mussolini versprochen – neues Grundeigentum jenseits der italienischen Landesgrenze erhalten würde; auch deshalb blieben 1940 Proteste gegen die angekündigte Umsiedlung aus. Als sich diese während des Zweiten Weltkriegs als Luftschloss zweier größenwahnsinniger Diktatoren erwies, war das Reschenseeprojekt bereits einigermaßen weit fortgeschritten.[73] Enttäuschung und Wut der Talschaft verstärkten sich zudem, als Montecatini die versprochenen Entschädigungen zu spät ausbezahlte und mit dem Bau der neuen Siedlung erst im Frühjahr 1950 begann, so dass einige der jetzt heimatlosen Familien vorübergehend in Barracken unterkommen mussten.[74]
Vor dem Hintergrund der im deutschsprachigen Südtirol bis weit in die Nachkriegszeit verbreiteten Abneigung gegen den italienischen Staat, befeuerte der Bau des Reschensees das Narrativ von Rom als ausbeuterischer Metropole, die der alpinen Grenzprovinz am Brenner ihre kostbaren Ressourcen stahl. Dass mit Montecatini ein als fremd wahrgenommener Großkonzern agierte und seine privatwirtschaftlichen Interessen zur Geltung brachte, die mit den Anliegen der Provinz wenig zu tun hatten, stützte diese Überzeugung.[75] Hier zeigt sich ein entscheidender Unterschied zur Umsiedlung am Lac du Chevril: In Südtirol wurde eine sprachkulturelle Minderheit Italiens aus ihren Dörfern vertrieben, worüber die landesweiten Medien kaum oder nur mit wenig Verständnis berichteten. Während in Frankreich ein ganzes Land auf ein Dorf blickte und dieses zumindest in der Zwischenkriegszeit in seinem Kampf gegen eine ausbeuterische Moderne unterstützte, beteiligten sich in Südtirol allein die deutschsprachigen Regionalzeitungen sowie einige Regionalpolitiker am Protest gegen die als invasiv wahrgenommene Hydroindustrie.[76]
Wie in Tignes zerriss der Stausee auch in Reschen und Graun das soziale Netz in seinem Einzugsgebiet. Extensive Landwirtschaft war nicht mehr möglich, und die am Seeufer untergebrachten Familien mussten sich eine neue Existenz aufbauen. Die von der Montecatini nur am damaligen Marktwert orientierten Entschädigungen konnten den Verlust einer kommunal organisierten Wirtschaftsgemeinschaft nicht ersetzen – besonders nicht für die im Handwerk und Handel tätigen Personen, die ihre Kundschaft verloren, ohne dass das Mailänder Industrieunternehmen eine Kompensation angeboten hätte.[77] Wie im Val d’Isère, schuf auch auf der Passhöhe von Reschen der Wintertourismus im Verlauf der 1950er Jahre neue Entwicklungsperspektiven. 1953 eröffnete ein Schlepplift der Firma Trojer aus Algund zwei Pisten; bis in die 1980er Jahre entstand dort das Skigebiet von Schöneben, das im Tal zahlreiche Einkommensmöglichkeiten etwa im Gastgewerbe oder beim Gondelbetrieb bot. Vereinzelte Konflikte mit der Landwirtschaft führten allerdings dazu, dass die Liftbetreiber kleinere Strecken abbauen und umleiten mussten.[78] Immerhin entstanden die Infrastrukturen von Schöneben in fortlaufender Absprache und teilweise auch zum finanziellen Vorteil der umliegenden Talschaft.
Anders als in Frankreich und Italien mussten sich Energiekonzerne in der Schweiz bei einem Konzessionsantrag nicht an die Zentralregierung, sondern je nach Kanton an unterschiedliche regionale Verwaltungsstellen wenden. In Graubünden oblag die Gewässerhoheit seit 1906 den Territorialgemeinden, wo stimmberechtigte Einwohnerräte den Zugang zu Flüssen und Seen regelten.[79] Der Wasserreichtum des Bergkantons zog rasch das Interesse regionaler Stromkonsumenten auf sich. Nach dem Bau von Hochspannungsleitungen und der Errichtung eines landesweiten Verbundnetzes nahmen bald auch überregionale Stromkonzerne Graubünden in ihre Ausbaustrategien auf.[80] In das Rennen um die Wasserkraft wurde auch das Julia-Tal im Bündnerischen Oberhalbstein einbezogen, wo Zürcher Unternehmen bereits 1913 die ersten Stauseekonzessionen von der Gemeinde Marmorera erhielten. 1947 scheiterte eine Folgekonzession, obwohl das Projekt keine Umsiedlung der beiden Fraktionen Marmorera-Dorf und Cresta mit sich gebracht hätte.[81] Erfolgreich war hingegen das 1948 vom Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) eingereichte Gesuch für einen Erddamm, hinter dem bis 1954 die gesamte Hochebene mit mehr als zwanzig Wohnhäusern, vierzig Ställen sowie einigen gewerblichen und öffentlichen Gebäuden unter dem Wasser verschwand.[82]
Walter Pfister, der 1948 als Abteilungssekretär der industriellen Betriebe der Stadt Zürich und als vom EWZ beauftragter Unterhändler zusammen mit Vertrauensmännern aus der Region nach Marmorera reiste, um mit dem Einwohnerrat die Konzession auszuhandeln, stieß dort auf eine günstige Ausgangslage.[83] Die Weiler lebten von der Land- und Forstwirtschaft, vom Straßenbau sowie vom Tourismus im benachbarten Engadin, waren jedoch von massiver Abwanderung, einer Überalterung der Bevölkerung sowie von Armut betroffen. Der Kanton musste die verschuldete Gemeinde immer wieder unter Kuratel stellen, seit sie ihre Bedeutung als gut frequentierter Durchfahrtsort aufgrund der zwischen 1888 und 1903 errichteten Albula-Bahnlinie eingebüßt hatte.[84] Nur noch wenige stattliche Häuser zeugten vom vergangenen Reichtum der Dorfbewohnerinnern und -bewohner Marmoreras, von denen manche auch als ehemalige Arbeitsmigrantinnen und -migranten wohlhabend aus dem Ausland heimgekehrt waren.[85] Die Armut des Dorfs bestätigten zudem wirtschaftsgeografische Gutachten sowie Artikel des Heimatschutzes, die überwiegend von verwahrloster Bausubstanz berichteten.[86]
Die EWZ-Delegation um Pfister verstand es überdies, geschickt zu verhandeln. Sie setzte sich mit den einzelnen Liegenschaftsbesitzern zusammen und bereitete mit ihnen den Besitzwechsel hinter verschlossener Tür vor, noch bevor die Gemeindeversammlung im Oktober 1948 über die eigentliche Konzession beraten konnte. Der Abschluss solcher Individualverträge war eine Lehre, die das EWZ aus seinem vier Jahre zuvor am Hinterrhein gescheiterten Stauseeprojekt gezogen hatte. Der damalige Fehlschlag resultierte aus einem öffentlichen Protest der drei Gemeinden Splügen, Medels und Nufenen, der für eine landesweite Medienkampagne gesorgt hatte.[87] Die Erinnerungen daran, wie Pfister mit den einzelnen Familien in Kontakt trat, unterschieden sich je nachdem, wie erfolgreich sich die Umsiedlung später für die Betroffenen erwies: In einer Filmreportage des Schweizer Fernsehens von 1997 berichteten einige ehemalige Marmorerer von einem impertinenten und arroganten Städter, der ungefragt in die Stuben hineinpolterte und die ahnungslosen Bauern unter Druck setzte, indem er sein Angebot davon abhängig machte, dass sie bei der Einwohnerversammlung dem Stausee zustimmten. Zudem habe Pfister behauptet, dem Nachbarn eine weitaus niedrigere Summe angeboten zu haben. Andere lobten hingegen den weitsichtigen, intelligenten, imposanten Unterhändler aus Zürich, da er der Familie außerhalb des Tals mit einem neuen Haus ein besseres Leben eröffnet habe.[88]
Aus internen EWZ-Unterlagen geht jedenfalls hervor, dass Pfister und seine einheimischen Vertrauensmänner nicht nur über die Einkommensverhältnisse der Dorfbewohner genau Bescheid wussten, sondern diese auch beobachteten und aktiv auf die Zusammensetzung der entscheidenden Gemeindekommission Einfluss nahmen. Als sich die Einwohner der Gemeinde 1948 im Dorfhotel Julier zur Abstimmung versammelten, hatte das EWZ nicht nur den gesamten Talboden mitsamt den darauf stehenden Anwesen gekauft, sondern auch die Stimmen der Einwohnerversammlung. Nachdem die versammelten Stimmberechtigten die Konzession mehrheitlich bewilligt hatten, mussten am Ende nur noch sieben Wohnhäuser und zwölf Ställe zwangsenteignet werden.[89] In Marmorera durften allerdings nicht alle Gemeindemitglieder über die Zukunft ihres Dorfs abstimmen: Der Kanton Graubünden kannte bis 1972 kein Frauenstimmrecht; daher waren alle Marmorererinnen und insbesondere alleinstehende oder verwitwete Hausbesitzerinnen vom Entscheid ausgeschlossen. Wohnten Liegenschaftsbesitzer außerhalb der Gemeinde, verfügten auch sie über kein Mitspracherecht.
Der Stauseebau sorgte weder in Graubünden noch in der Schweiz für Kritik. Für den Kanton war die verschuldete und strukturschwache Gemeinde vor allem eine finanzielle Bürde, bei der ein Stausee durch eine Konzessionsgebühr sowie alljährliche Wasserzinsen für Entlastung sorgen sollte.[90] Außerdem sollte Marmorera dem Parlament und der Regierung als ein landesweites Vorzeigebeispiel für den Ausbau der kantonalen Hydroenergie dienen. Ferner erinnerte sich der ehemalige christlich-soziale Bündner Regierungsrat Ettore Tenchio 1997 daran, dass ihm der sozialdemokratische Vorsteher des Eidgenössischen Finanz- und Zolldepartements Ernst Nobs nach dem Krieg nur dann finanzielle Aufbauhilfe vom Bund gewähren wollte, wenn der Kanton seine Wasserkräfte eigenständig ausgebaut habe.[91] Auch der Bundesrat übte somit Druck auf die Entscheidung über den Stausee aus.
Schließlich lehnte die Bündner Regierung einen Rekurs von elf Parteien gegen den Einwohnerentscheid von 1948 ab, und auch eine Klage vor dem Bundesgericht endete ohne Erfolg, so dass die Umsiedlung 1950 definitiv feststand.[92] Im Stadtparlament von Zürich, wo auch die Elektrowatt über ihren Hauptsitz verfügte, hatte das Debakel am Reschensee zu erhitzten Diskussionen geführt,[93] so dass das EWZ die Häuser in Mamorera mitsamt der Dorfkapelle schon vor der Seestauung niederreißen ließ. Ein aus dem Wasser ragender Kirchturm sollte hier kein Mahnmal einer für die nationale Energiewirtschaft geopferten Gemeinde bilden.[94] Nachdem die Stadt Zürich dem EWZ 1949 einen Baukredit von 85 Millionen Schweizer Franken zugesprochen hatte, konnten die Bauarbeiten des Marmorera-Stausees beginnen. Bis 1954 mussten 24 Familien mit 95 Personen dem Wasser weichen. Einige wenige zogen in das nebenan aufgebaute Neu-Marmorera um, die meisten suchten sich aber außerhalb des Tals ein neues Zuhause. Die Speicheranlage wurde 1955 eingeweiht und nahm im Folgejahr ihren Betrieb auf.[95]
Wie in Tignes und Reschen beruhte auch das Leben im alten Marmorera auf einer kollektiven Güter- und Ressourcennutzung, die nach der Flutung der Vergangenheit angehörte; die zerstrittene Dorfgemeinschaft fand nicht mehr zusammen. Einige Familien bauten sich außerhalb des Tals eine neue Existenz auf und erkannten im Umzug nachträglich einen Gewinn.[96] Andere scheiterten an den ungewohnten Lebensbedingungen und erinnerten sich bis ins hohe Alter schmerzhaft an das zwar arme und karge, dafür aber zufriedene Leben im alten Marmorera. „Wir haben unsere Gemeinde verkauft, wegen diesem verdammten Geld“, fluchte eine ehemalige Dorfbewohnerin noch rund vierzig Jahre später im Schweizer Fernsehen. Der Geldsegen aus Zürich verhinderte übrigens nicht, dass Neu-Marmorera später erneut unter Kuratel fiel.[97] Die nach wie vor in sich zerstrittene Gemeinde zog aus dem Energiehandel demnach kaum Profit; im Gegensatz zu Tignes und Reschen entwickelten sich um den Stausee auch keine touristischen Infrastrukturen. Wegen des benachbarten Engadin sowie anderer attraktiver Wintersportorte in der Region entstand hier keine ausreichende Nachfrage nach kostspieligen Ferienanlagen.
Die Geschichte der Stauseen von Tignes, Reschen und Marmorera bietet ein Pars pro Toto der politischen und energiewirtschaftlichen Strukturen, unter denen in den Alpen nach 1945 Dorfgemeinschaften mehr oder weniger freiwillig umsiedeln mussten: in Frankreich unter dem zentralstaatlichen Diktat eines verstaatlichten Energiesektors, in Italien auf Geheiß einer Regierungsbehörde zugunsten einer privatwirtschaftlichen Großindustrie und schließlich in der föderalen Schweiz nach Beschlüssen auf Kommunalebene im Interesse öffentlich-privater Stromkonsortien. Dabei betrafen Speicherseen nur selten ganze Ortschaften, obwohl ihr Bau vielerorts invasiv in den Wasserhaushalt einzelner Talschaften eingriff. Wo dies ohne sofortige Umsiedlung geschah, sahen sich Anrainer aufgrund eines beeinträchtigten oder verhinderten Ressourcenzugangs auf längere Sicht dennoch nicht selten zum Wegzug oder zur Aufgabe ihrer bisherigen Lebensweise gezwungen.
Der Hydroelektrizität mussten sich auch alpine Lebensgemeinschaften in Österreich und Deutschland fügen. Auch dort kam es gelegentlich zu Umsiedlungen von Dörfern, gegen die etwa in den 1950er und 1960er Jahren beim Bau des Speichers Roßhaupten am Lech in Bayern betroffene Landwirte zusammen mit der Landesstelle für Naturschutz protestierten.[98] Wie gestaltete sich hingegen der Verhandlungsspielraum einer Talschaft, in welcher nicht eine ganze Gemeinde, sondern nur einzelne Fraktionen während des Baus oder nach der Inbetriebnahme einer Speicheranlage ihre Existenzgrundlagen verloren?
IV. Vernagt 1947 bis 1964
„Es ist nicht wahr, dass unser Land von Anbeginn ein Paradies war. Nein, es bedurfte stets der Tüchtigkeit und des Fleißes seines Volkes, um aus den gegebenen Naturschätzen in harter Bergmannsarbeit das herauszuholen, was das Land zu einem so schönen Garten Gottes gemacht hat“,[99] hieß es in der Südtiroler Tageszeitung Dolomiten 1948. Das galt aber nicht für ganz Südtirol, denn ganze Dörfer wurden in kurzer Zeit, planmäßig koordiniert aus dem Paradies vertrieben. Mit dieser Radikallösung hatte es aber nicht sein Bewenden. Geht man vom DiD-Ansatz aus, zeigen sich entlang des Alpenbogens zahllose, vermeintlich unspektakuläre Fälle, bei denen Bauernfamilien aufgrund des extraktiven Eingriffs in ihren Wasserhaushalt erst Brunnen und Wasserleitungen, dann schließlich Haus und Hof aufgeben und außerhalb ihres Tals eine neue Existenz suchen mussten. Ein solches Exempel bietet der Vernagt-Stausee im Südtiroler Schnalstal, den nicht etwa ein überregionales Großunternehmen für den Energiebedarf einer Metropole errichtete, sondern den ein regionaler Stromproduzent für den umliegenden Absatzmarkt realisierte.
Als die italienischen Elektrizitätskonsortien nach dem Ersten Weltkrieg die Wasserkräfte der neuen Grenzprovinz Alto Adige auf der Basis zentralstaatlichen Konzessionsrechts unter sich aufzuteilen begannen,[100] waren in der Region bereits seit 1914 zwanzig Wasserkraftwerke in Betrieb. Die produktivsten davon wie etwa dasjenige auf der Töll-Talstufe zwischen dem Vinschgau und dem Burggrafenamt unterhielten die 1897 gegründeten Etschwerke – ein öffentliches Partnerunternehmen der beiden Städte Meran und Bozen für den gemeinsamen Energiehaushalt. Unter der Herrschaft Mussolinis waren die ausschließlich regional orientierten Etschwerke kein Hindernis für den Aufbau eigener Produktionsanlagen: 1926 erhielten sie den italienischen Namen Azienda Elettrica Consorziale delle Città di Bolzano e di Merano (A.E.C.)[101] und versorgten nach 1935 die von Rom aufgebaute Industriezone in Bozen,[102] deren Energiebedarf rasch nach einer Ausweitung der Wasserkraftkapazitäten in industriell noch unerschlossenen Bergtälern verlangte. 1937 erstellte der Mailänder Wasserbauingenieur Marco Semenza daher für die A.E.C. ein vom Vorbild des in Sondrio angelegten Lago di Scais inspiriertes Gutachten für einen Stausee im Pfossental, der Strom für die Magnesiumproduktion in Bozen liefern sollte. Bereits im Folgejahr gab die A.E.C. dazu Probebohrungen bei der Baufirma Lodigani in Auftrag.[103] Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sorgte jedoch für einen landesweiten Kapital- und Arbeitskräftemangel, der das Großspeicherprojekt vorerst zum Stillstand brachte.
Nach 1945 holten nicht nur italienische Industrie- und Stromunternehmen wie die Montecatini am Reschenpass die Projektakten aus der Zwischenkriegszeit wieder aus den Schubladen, sondern auch die A.E.C. im Schnalstal. Wirtschaftlich war das Hochtal damals nicht auf einen Stausee angewiesen. Als die Projektplanungen für die Flutung des fruchtbaren Spechtenhauserbodens begannen, lebten in Schnals zahlreiche Bergbauernfamilien von der Schäferei.[104] Wolle, Fleisch und Milch dienten ihnen zur Selbstversorgung; der Verkauf von Schafen für Zucht und Schlachtung, von Hammeltalg und bis in die frühe Nachkriegszeit auch von Loden im benachbarten Ötztal und im Passeiertal brachten ihnen bescheidene finanzielle Einkünfte. Außerdem durften auf den weitläufigen Bergwiesen Schafe aus dem Vinschgau weiden, was zusätzliche Einnahmen – die sogenannten Grasgelder – abwarf.[105] Bis 1880 gelangten die hungrigen Viehherden auf schmalen Pfaden ins Tal. Danach führte eine befahrbare Straße durch die steile Verbindungsschlucht, an die allerdings einige Höfe und der Weiler Katharinaberg noch in den 1970er Jahren nicht angeschlossen waren. Viele Betriebe tauschten ihre Erzeugnisse aber ohnehin untereinander, so dass sie nur begrenzt vom Markt abhängig waren und mit wenig Geld auskamen.[106] Auch mit Strom konnte sich die Talschaft teilweise selbst versorgen: Eine manuell betriebene Schleusenanlage bei Altratheis war seit 1910 am Schnalser Bach in Betrieb, und 1919 schloss sich ein Konsortium aus acht Höfen zusammen, um mit Hilfe eines Ingenieurs aus Meran an einem Wasserfall des Mastaun-Bachs ein Kleinwasserkraftwerk zu installieren, das die Gemeinde Unser Frau komplett mit Elektrizität versorgte.[107] Wenig idyllisch war hingegen das Leben auf den steilen Berghängen und entlang des unberechenbaren Schnalser Bachs: Lawinen, Murgänge und Hochwasser machten den Landwirtschaftsbetrieben immer wieder schwer zu schaffen.[108]
Gemäß dem regionalen Wasserrechtsgesetz musste die A.E.C. die Talschaft nicht von ihrem Vorhaben überzeugen, als sie am 15. Januar 1947 um eine Konzession für einen vierzig Meter hohen Erddamm beim Tiefbauamt in Bozen nachsuchte. Zuständig war das Ministerium für öffentliche Arbeiten in Rom, das am 26. November 1948 die Stauanlage bei Vernagt mit einem dazugehörigen Schalthaus in Ratheis genehmigte. Ein weiteres Projekt für einen Speicher im Pfossental ließ sich aufgrund zu hoher Kosten nicht umsetzen. Nachdem sie im Herbst 1948 mit den Bauarbeiten begonnen hatte, erkannte die A.E.C., dass sich mit einem um zwanzig Meter höheren Staudamm alle Zuflüsse des Schnalser Bachs erfassen lassen würden, weswegen sie 1952 eine zweite Konzession und eine Finanzierungshilfe in Rom beantragte. Als die erste Ausbaustufe 1957 abgeschlossen war, floss die bei Vernagt gewonnene Hydroelektrizität nicht mehr primär in die Bozener Industriezone, sondern versorgte auch die Landwirtschaft und Privathaushalte.[109] Dass dieser Stauseebau zu einer Verdrängung der in seinem Einzugsgebiet lebenden Menschen führen würde, zeichnete sich bereits in dieser frühen Projektphase ab: Weder band die A.E.C. die Talschaft in den Planungsprozess ein, noch orientierte sich der Ausbau der Hydroenergie im Schnalstal an den Interessen der dortigen Gemeinden und Fraktionen.[110]
Für die zweite Ausbaustufe benötigte die A.E.C. jedoch dringend Geld, wie ein internes Finanzgutachten 1954 feststellte.[111] Der damalige A.E.C.-Direktor und Bürgermeister von Bozen Lino Ziller suchte daher nach potenziellen Teilhabern, die sich innerhalb einer Aktiengesellschaft mit bis zu fünfzig Prozent am Kraftwerk beteiligen sollten, wofür man ihnen für die kommenden zwanzig bis dreißig Jahre einen entsprechenden Energieanteil zugestanden hätte. Anfragen versandte die A.E.C. an die Stadtwerke Verona oder an Firmen wie die Edison, die Vizzola, die Società Trentina di Elettricità sowie die Montecatini, die ebenso erfolglos blieben wie die Suche nach Investoren in der Schweiz und in den USA.[112] Die A.E.C. betonte dabei die hohe Bedeutung der A.E.C. für den Wohlstand des weltwirtschaftlich vernetzten Südtirol, seien sie doch das einzige Energieunternehmen, das Strom nicht nur für den Export produziere, sondern auch in das regionale Elektrizitätsnetz einspeise.[113] Gerade daraus ergab sich allerdings ein Dilemma für die A.E.C.: Einerseits besaß sie zu wenig Investitionskapital für den Ausbau ihrer Anlagen, andererseits nahm der Energiebedarf in Südtirol nach Kriegsende stetig zu, der allerdings mit vom Staat reguliertem, also billigem Strom unterhalb seines eigentlichen Marktwerts gedeckt wurde. Mit den geringen Einnahmen ließen sich trotz der erhöhten Nachfrage keine neuen Kraftwerksanlagen finanzieren.[114] Abhilfe schuf der Regionalrat für Trentino-Südtirol erst 1962, als er der A.E.C. eine Bürgschaft von einer Milliarde Lire für die zweite Ausbaustufe gewährte.[115] Dabei dürfte die zeitgleich durchgeführte Verstaatlichung des italienischen Energiesektors unter der Ente Nazionale per l’Energia Elettrica eine Rolle gespielt haben, von der freilich regionale Stromversorgungsunternehmen ausgeschlossen blieben.[116] Dank der Hilfe des Regionalrats konnte sich die A.E.C. dem Edikt aus Rom erfolgreich entziehen. Bis 1964 wurde der Vernagt-Staudamm um 24 Meter erhöht und die Gesamtanlage nach 16 Jahren Bauzeit fertiggestellt.[117] Dass die Arbeit am Speichersee so lange dauerte, lag nicht nur am Kapitalmangel. Hinzu kam, dass die Bauarbeiten auf der hochgelegenen Gebirgsbaustelle nur während fünf Monaten im Jahr durchgeführt werden konnten und dass sich die Verhandlungen mit den im Tal ansässigen Landwirten hinzogen, die sich zu einer Gemeindekommission zusammengeschlossen hatten und mit der A.E.C. im ständigen Kontakt standen.[118]
Nachdem der Südtiroler Publizist und Priester Michael Gamper 1949 das Schnalstal besucht hatte, nahm er in einem Artikel für die Zeitung Dolomiten Abschied von den untergehenden Bauernhöfen:
„Auf dem alten Seeboden weiden Gross- und Kleinvieh der Höfe – aber nicht mehr lange, denn das Schicksal der im Tal herunten gelegenen sechs bis sieben Höfe mit dem Kirchlein [. . .] ist ebenso besiegelt wie das der Dörfer des Obervinschgaus. Schon bald werden ihre Bewohner die Heimatstätten verlassen müssen – [. . .] ein [. . .] Umstand scheint geeignet [. . .] einigermassen versöhnend zu wirken: In der Abfindung der zum Weichen gezwungenen Bauern bewiesen die ‚Etschwerke‘ als einheimisches Unternehmen wenigstens bisher ein viel besseres Einfühlungsvermögen in die Nöte und Bedürfnisse der von Technik verdrängten Bauern, als anderwärts das fremde Grossunternehmen.“[119]
Gamper hatte als verbissener Verfechter der deutschen Sprache und Kultur Südtirols sichtlich Mühe damit, den von einem „einheimische[n]“ Energieunternehmen verursachten Untergang einer Gemeinde in sein kulturnationalistisches Weltbild einzufügen. Schließlich erwartete die Bauernfamilien des Schnalstals in etwa das gleiche Schicksal wie die Dorfbewohnerinnen und -bewohner von Reschen und Graun. Nur standen hier nicht die verfemten „fremde[n] Grossunternehmen“ der italienischen Politik- und Wirtschaftsmetropolen hinter dem Projekt. Aber hatte Gamper recht, wenn er das „Einfühlungsvermögen“ der A.E.C. lobte? Zeigte sich das regionale Stromunternehmen tatsächlich rücksichtsvoller als etwa die Montecatini bei der Zwangsumsiedlung am Reschensee?
Bereits der Baubeginn von 1948 erwies sich für die Talschaft als Fehlstart, weil die A.E.C. die anstehenden Arbeiten nicht hinreichend früh bekanntgegeben hatte und sich daraus Ernteausfälle für die Bauern ergaben, für die sie nicht entschädigt wurden.[120] Zwischen 1949 und 1964 gingen rund 127 Hektar Land an die A.E.C. über, die zuvor als Wald-, Acker- und Weidefläche gedient hatten. In den ersten beiden Baujahren mussten sieben Höfe aufgegeben werden, da sie entweder partiell oder vollständig von der Seestauung betroffen waren. Zwei weitere Höfe verloren einen Teil ihres Bodens und büßten damit beträchtliche Erträge ein.[121] Die A.E.C. entschädigte den verlorenen Boden- und Liegenschaftsbesitz zusammen mit einer einmaligen Abfindungssumme, außerdem erhielten die enteigneten Parteien das Holz, das für den Stausee gerodet wurde.[122] 1958 mussten dem Stausee nochmals drei Grundstücke und ein aus zwei Gebäuden bestehender Hof weichen. Von den Familien, die trotz der Umsiedlung im Tal blieben, konnten allerdings nicht alle ihren Lebensunterhalt weiterhin allein mit der Landwirtschaft bestreiten, sondern mussten in späteren Jahren beispielsweise Urlaubsgäste beherbergen.[123] Dabei blieb es nicht. Der Stausee kühlte das Mikroklima des Schnalstals ab, so dass sich aufgrund von niedrigeren Temperaturen im Sommer kein Getreide mehr anpflanzen ließ. Ferner verschwand die im Talboden stehende Leiterkirche unter dem Wasser, von der noch heute bei Leerstand im Frühjahr die Ruine ihres Glockenturms zu sehen ist.[124] Sowohl während des Baus als auch nach dessen Inbetriebnahme besetzte oder versperrte der Stausee demnach den Zugang zu existenziellen Ressourcen wie Wasser und nutzbarem Boden, so dass weitere Bauernfamilien, die nicht direkt von der Umsiedlung betroffen gewesen waren, ihr bisheriges Leben aufgeben oder umstellen mussten.[125]
Die betroffenen Bauernfamilien hielten gegen die Umsiedlung Gemeindeversammlungen ab, sie verfassten Resolutionen und Protestlieder und legten beim Schiedsgericht Rekurs gegen den Grundverkauf ein – alles blieb ohne Erfolg, führte aber zu viel Frust über den wirkungslosen Widerstand: „Doch von Vernagt die armen Bauern / Sein holt döchter zum Bedauern / Ohne Vieh und ohne Grund / Jagt man sie außi wia die Hund“, hielt dazu beispielsweise der Schnalser Schneider Alois Gorfer in seinem „Vernagter-Stauseelied“ fest.[126] Das regionale Stromunternehmen, das im Gegensatz zu den übrigen in Südtirol agierenden Großkonzernen Elektrizität nicht ausschließlich exportierte und deshalb von den tonangebenden Regionalzeitungen kaum Kritik erntete, ließ den Lokalprotest im Schnalstal nicht hochkommen. Als ernüchternd erwiesen sich die teils über Jahre ausgehandelten Entschädigungen, welche die A.E.C. oft verspätet auszahlte; auch versprochene Neubauten wurden erst lange nach dem vereinbarten Bezugstermin fertiggestellt.[127]
Noch 1966 wandten sich die beiden Abgeordneten der Südtiroler Volkspartei im Landtag Südtirols, Arnold Bernhart und Pepi Posch, in einem Dolomiten-Artikel an Landeshauptmann Silvius Magnago, in dem sie ihn darüber informierten, dass die A.E.C. seit dem Beginn der zweiten Ausbaustufe neun Hektar von in ihren Augen wertvollstem Kulturgut provisorisch besetzt habe. Dabei habe das Unternehmen weder die betroffenen Kleinbauern für die mittlerweile dreimal ausgefallenen Ernten entschädigt, noch verbindliche Ablösesummen genannt. Daraus entstünden nicht nur Arbeitsplatzverluste im Tal, sondern weitere wirtschaftliche Schäden für die ohnehin seit 1957 geschwächten Gutshöfe.[128] Im Jahr danach gaben der Schnalser Bürgermeister Johann Rainer und der betroffene Gutsbesitzer Karl Spechtenhauser in der Dolomiten-Zeitung bekannt, dass die A.E.C. weder auf die Vorwürfe von Bernhart und Posch eingegangen sei, noch definitive Entschädigungssummen festgelegt habe.[129] Damit nicht genug, durften die Gutsbesitzerinnen und -besitzer der A.E.C. von Verhandlungsbeginn an nur den Ertragswert und den Bodenpreis für diejenigen Grundstücke in Rechnung stellen, die der Stausee direkt beanspruchte.[130] Musste ein Hof seinen Betrieb trotz der geringen übriggebliebenen Nutzfläche einstellen, reichten die Entschädigungssummen oft nicht für den Kauf eines gleichwertigen Grundstücks außerhalb des Tals.
Schließlich fühlten sich viele Entschädigte trotz der Bemühungen einer vermittelnden Gemeindekommission übergangen, da sich die A.E.C. beim bilanzierten Nutzwasserverlust auf Angaben von 1924 bezog: Damals hatte das faschistische Regime alle Gewässer des Lands verstaatlicht und fortan den bis dahin kostenlosen Zugang zur lebensnotwendigen Ressource Wasser besteuert. Um die Abgaben möglichst klein zu halten, hatten die Schnalstaler Landwirtinnen und Landwirte die von ihnen genutzten Wassermengen zu niedrig angegeben, was sich jetzt rächte und zu einer geringen Kompensation beitrug.[131] Solche Einzelkämpfe um angemessene Entschädigungen, die den erfolgreichen Start in ein neues Leben verhindern oder hinauszögern konnten, sich aber nie in einem kollektiven Widerstand niederschlugen, lösten vielerorts entwicklungsbedingte Verdrängungsprozesse aus.[132] Asymmetrische Machtbeziehungen zwischen Staat und Verwaltung einerseits und den ihnen ausgesetzten Peripherien andererseits führten daher auch im Schnalstal zu langwierigen und frustrierenden Entschädigungsprozessen und dem entsprechenden Verdruss.
Der Sohn eines umgesiedelten Hofbetreibers erinnert sich noch heute daran, dass das Leben im Schnalstal vor dem Stausee zwar ein einfaches, dafür aber ein weitgehend sorgloses gewesen sei. An Versorgungsengpässe kann er sich selbst während des Kriegs nicht erinnern. Vielmehr bot das üppige Weideland genügend Platz für eine selbstversorgende Viehwirtschaft und den Getreideanbau mit hauseigener Mühle. Auch seine Nachbarn hätten kleinere Wasserräder an den Seitenläufen des Schnalser Bachs betrieben, mit denen sie Kleinmotoren und Materialseilbahnen antrieben. Die acht im Talboden liegenden Höfe hatten sich zudem zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen, um die höhergelegenen Wälder und Bergwiesen gemeinsam zu verwalten. Dennoch habe sich gegen den Staudamm kaum Widerstand formiert, da die A.E.C. ihr Bauprojekt ausschließlich mit dem Bürgermeister und dem Bürgerrat von Schnals aushandelte und die Ablösesummen mit den Hofbesitzern einzeln festlegte. Auch sein Vater habe den Konzessionsentscheid resigniert hingenommen, da er keine Chance für einen wirksamen Einspruch sah. Immerhin reichten die Entschädigungen in diesem Fall für den Kauf eines neuen Guts außerhalb des Tals, das eine platzintensive Viehhaltung allerdings nicht mehr zuließ. In den kommenden Jahren musste der Sohn den kleineren Betrieb auf Obstanbau umstellen und ab den 1950er Jahren Touristen beherbergen. Dem Vater fiel der Neuanfang nicht leicht.
Verbindungen zum Schnalstal bestehen vor allem über die Interessengemeinschaft, welche die eigenen Grundstücke nach wie vor verwaltet und etwa aus dem Holzhandel Gewinne erwirtschaftet. Für den Befragten war der Hofwechsel zwar geglückt, allerdings nicht ganz freiwillig und am Ende nur dank des zuversichtlichen Arbeitswillens der jüngeren Generation.[133] Generell ist vermutlich davon auszugehen, dass sich die Erinnerungen an die Umsiedlung bei Vernagt wie bei Marmorera stark danach unterscheiden, wie erfolgreich das Leben am neuen Standort letztendlich verlief.
Der Vernagt-Stausee griff in ein hochkomplexes Wassereinzugsgebiet ein und benötigte sekundäre Infrastrukturen für Bau und Betrieb. Neuerrichtete Straßen, Materialdeponien, Seilbahnen und Wasserleitungen beanspruchten neben der Seestauung ebenfalls Platz auf Kosten von Agrar- und Siedlungsland, wofür noch bis in die 1960er Jahre Bauernhöfe aufgegeben werden mussten. Aufgrund eines vom Pfossental in das Speicherbecken führenden Druckstollens versiegten außerdem die Brunnen und Quellen dreier Alpwirtschaften, die kein Trink- und Nutzwasser mehr hatten.[134] Das diffizile Bewässerungssystem der sogenannten Waale – Holzleitungen, die abgelegene Berghöfe und deren Wiesen versorgten – ließ sich dadurch nicht mehr aufrechterhalten.[135] Insgesamt beklagten sich zehn Höfe wegen des Druckstollens über knappes Wasser, von denen einige sogar schließlich ihre Sägen und Mühlen aufgeben mussten. Die A.E.C. und andere Stauseebetreiber kamen nicht überall in Südtirol für solche Folgeschäden auf, für eine materielle oder finanzielle Wiedergutmachung sahen sie sich nicht per se verantwortlich, weil sie den entstandenen Wassermangel auf natürliche hydrologische Prozesse in den Einzugsgebieten zurückführten.[136]
Zu allem Unglück brach 1962 im Vernatschtal das Fenster einer wasserspeichernden Stollenkammer, wodurch eine Mure auf den Katharinaberg niederging und Häuser, Straßen und Kleinkraftwerke verschüttete sowie das Trinkwasser verschmutzte. Die A.E.C. bohrte daraufhin immerhin eine neue, allerdings weniger ertragreiche Quelle an und zahlte den betroffenen Höfen eine einmalige Abfindung. Für andere vom Wassermangel betroffene Höfe baute die A.E.C. außerdem neue Leitungen und entschädigte sogar mitunter stillgelegte Kleinwasserkraftwerke.[137] Der DiD-Ansatz zeigt somit, dass auch sekundäre Infrastrukturen und Betriebsunfälle über längere Zeit Umsiedlungen verursachen konnten, sei dies durch Ressourcenmangel oder Schadensfälle. Dass die A.E.C dafür nur zögerlich und teilweise unzureichend aufkam, obwohl ihr Kraftwerk die Existenzgrundlagen der gesamten Talschaft bedrohte, offenbart eine weitere schmerzliche Facette entwicklungsbedingter Verdrängungsprozesse.[138]
Die Vorteile für das Schnalstal hielten sich dagegen in engen Grenzen: Es entstanden zwar temporär einige neue Arbeitsplätze. Nachdem die Anlagen fertig waren, zogen die auswärtigen Arbeiter zusammen mit den nun arbeitslosen Einheimischen weiter zur nächsten Gebirgsbaustelle. Zu leiden hatte auch die platzintensive Schäferei, der mit dem Wegfall des Spechtenhauserbodens nun der Weidegrund fehlte. Darüber hinaus mussten einige Familien bis 1969 auf ihre Entschädigungen warten, und noch bis in die 1970er Jahre verfügten mehrere Anwesen über keine eigene Stromzufuhr.[139] Die letzten hofeigenen Kleinkraftwerke standen in den 1990er Jahren nach wie vor in Betrieb.[140] Einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte das Bergtal erst mit der Ankunft des Skitourismus nach 1975. Zur selben Zeit entstand zwischen dem Pfossen- und dem Zieltal der Naturpark „Texelgruppe“, in welchem zu Beginn der 1980er Jahre aber ein weiteres Stauseeprojekt die geschützten Gewässer sowie das Agrar- und Siedlungsland einiger Bergbauernhöfe bedrohte. Diesmal wehrten sich jedoch zehn Interessensverbände, eine Bürgerinitiative und der Gemeinderat von Partschins erfolgreich gegen das geplante Kraftwerk, wobei sie bei einer gemeinsamen Kundgebung vom Spätsommer 1981 auch an die untergegangenen Schnalstaler Bauernhöfe erinnerten.[141] In ihrer Stellungnahme warnten sie vor den in der Region gemachten negativen Erfahrungen mit der Hydroenergie:
„Die Störung des hydrologischen Gleichgewichts würde nicht nur in landschaftlicher Hinsicht katastrophale Folgen nach sich ziehen [. . .,] sondern auch die ökologischen Verhältnisse im Tal nachhaltig beeinflussen und stören. Die Ableitung von wichtigen Wasseradern, welche seit Jahrtausenden die Lebensadern für Menschen und Tiere unseres Gebietes waren und sind, bringt eine lebensbedrohende Gefahr insbesondere für die vielen Bergbauernhöfe und für alle Talbewohner, welche das gesamte Trinkwasser und das Wasser zur Bewässerung sämtlicher Kulturböden ausschließlich aus dem Zielbach beziehen.“
Der DiD-Ansatz legt am Fallbeispiel des Vernagt-Stausees somit offen, dass der Ausbau der Wasserkraft in den Alpen nicht nur dort gesellschaftliche und ökologische Opfer forderte, wo ganze Dörfer in kurzer Zeit untergingen. Talsperren verdrängten Menschen aus ihrer Heimat auch auf längere Sicht. Ein erfolgreicher Widerstand der betroffenen Gemeinden ließ sich umso schwerer organisieren, als nicht allen Bewohnerinnen und Bewohnern gleichzeitig und gleichermaßen die lokalen Existenzgrundlagen entzogen wurden.
V. Fazit
In seiner wegweisenden Studie zur Kolonialgeschichte stellte Daniel R. Headrick fest, dass invasive Technologien als „Tentacles of Progress“ ihnen ausgesetzte Räume in tropischen Breitengraden zwar modernisierten, diese bis ins 20. Jahrhundert aber dennoch nicht die Wirtschafts- und Industriekraft westlicher Metropolen erreichen konnten. Einen Grund hierfür erkannte er darin, dass Technik exportierende Industriestaaten zwar in materielle Güter wie Infrastrukturen, jedoch nicht in das humane Kapital der importierenden Gesellschaft investierten. Technisches Wissen und Expertisen blieben somit in der Hand der ehemaligen Kolonialmächte, ohne die Arbeitskultur der kolonisierten Gesellschaften nachhaltig zu heben.[142] Entgegen Headricks linearem Fortschrittskonzept verweisen jüngere Studien zur modernen Infrastrukturgeschichte allerdings auf weitaus komplexere Wechselbeziehungen zwischen Zentren und Peripherien.[143] Ressourcenbasierte Verteilnetze brachten nicht nur vektorielle Hierarchien mit sich, welche übermächtige „system builders“ von Schaltzentralen aus überwachten.[144] Abhängig von verfügungsrechtlichen Kräfteverhältnissen verbanden Infrastrukturen in ihrem Einzugsgebiet auch diverse Akteure mit unterschiedlichen Handlungsspielräumen miteinander.[145] Obschon zentral gelegene Räume über Versorgungssysteme nach einer ihnen genehmen Entwicklung verlangen konnten, stand es den Akteuren peripherer Räume vielerorts offen, ob sie den Zugriff auf ihre Existenzgrundlagen verweigern, dulden oder profitabel aushandeln wollten.
Der Rückblick auf den Stauseebau in den Alpen bestätigt die von der Infrastrukturgeschichte aufgezeigten vielseitigen Beziehungsgeflechte, verweist aber auch auf eindeutige Kräfteverhältnisse. Obwohl Talsperren als großtechnische Systeme mit ihren sekundären Infrastrukturen und Entwicklungsversprechen soziale, politische und ökonomische Anschluss- und Versorgungsbedürfnisse der betroffenen örtlichen Gesellschaften bedienten, brachten sie auch Enteignungen und Vertreibungen mit sich. Die hinter Fortschrittsangeboten verborgenen Machtstrukturen zwischen perialpinen Metropolen und peripheren Einzugsgebieten zeigten sich zwar als weniger übergriffig, blieben aber dennoch präsent und wirkmächtig.[146]Im europäischen Zentralgebirge führten spätestens ab der Zwischenkriegszeit exogene Initiativen zum Ausbau der Hydroenergie dazu, dass sich abgelegene Einzugsgebiete modernisierten – oft auf Kosten der sozioökonomischen Anliegen und Bedürfnisse der Bergbevölkerung. Wollte eine Talschaft davon profitieren, musste sie ihr Leben ganz nach diesen Modernisierungserfordernissen ausrichten. Der von der Technokratie versprochene Fortschritt alpiner Lebensgemeinschaften an den „Ränder[n] der Moderne“ entpuppte sich vielerorts als ein bloßes Nebenprodukt fremdbestimmter Ressourcen- und Energiepolitik.[147]
Die Fallbeispiele von Tignes, Reschen und Marmorera zeigen vor diesem entwicklungspolitischen Hintergrund die Komplexität der Umsiedlungen des Alpenbogens sowie die vielseitigen Reaktionen betroffener Berggemeinden auf. Ausgehend von zentralstaatlichen oder föderalen Verfügungsrechten über die Wasserkraft bestimmten öffentliche sowie privatwirtschaftliche Interessen das Schicksal strukturschwacher Gebiete. Umsiedlungen ganzer Dörfer, koordiniert von einem Großunternehmen oder einer staatlichen Behörde, begannen nach dem Ersten Weltkrieg in Frankreich, Italien und der Schweiz. Aber erst nach 1945 ließen sich mit dem zweiten Stauseeboom viele der in der Zwischenkriegszeit geplanten Projekte umsetzen. Die am Wiederaufbau beteiligten Unternehmen, Experten, Geldgeber, Politiker und deren energiewirtschaftliches Klientel schufen das benötigte Momentum, um Großkraftwerke auf Kosten alpiner Siedlungsgemeinschaften zu realisieren.[148] Ob im Val d’Isère, im Vinschgau oder im Oberhalbstein: Verarmte Berggemeinden besaßen gegenüber kapitalstarken Energiekonsortien und deren Entwicklungsversprechen einen ausgesprochen begrenzten Handlungs- und Entscheidungsspielraum – vorausgesetzt, dass sie bei der Konzessionsvergabe überhaupt ein kommunales Mitspracherecht hatten. In allen drei Fällen legten sich Planungsexperten wirksame Strategien zurecht, um innerhalb zentralstaatlicher oder föderaler Rechtssysteme die Genehmigung zum Bau von Stauseen zu erhalten. Die betroffenen Gemeinden wussten sich gegen eine vorschnelle Vergabe ihrer Hydro- und Bodenressourcen zwar durchaus zu wehren und konnten in späteren Jahren teilweise auch von der Wasserkraft profitieren, die alten Lebensgemeinschaften ließen sich aber nach der Stauung nirgendwo mehr revitalisieren.
Das Beispiel des Vernagt-Stausees macht außerdem deutlich, dass die Ausbreitung der Hydroelektrizität alpine Lebensgemeinschaften auch dort auflöste, wo nicht gleich ganze Siedlungen dem Wasser weichen mussten. Eine Kraftwerksanlage konnte während ihrer Bauphase genauso wie nach ihrer Inbetriebnahme auch über längere Sicht vereinzelte Umsiedlungen verursachen. Wassermangel, Havarien und sekundäre Infrastrukturen wie Straßen, Seilbahnen oder Stollengänge zwangen Menschen mancherorts genauso zu einem Wegzug. Der von Peter Vandergeest, Pablo Idahosa und Pablo S. Bose eingeführte DiD-Ansatz bewährt sich demnach nicht nur in spät- oder postkolonialen Regionen außerhalb Europas, sondern auch im Alpenraum. Um die gesellschaftlichen Folgen der Hydroenergie für die vom Stauseebau direkt betroffenen Talschaften des zentraleuropäischen Wasserschlosses zu bilanzieren, muss der Fokus auch auf solche auf den ersten Blick wenig offensichtliche Fallbeispiele gerichtet werden.
Die oft vergessenen Schicksale untergegangener Dörfer mahnen darüber hinaus zu klimagerechten Förderstrategien von Energieressourcen in der Gegenwart. Eine nachhaltige Energiewende benötigt schließlich nicht nur erneuerbare Kraftträger, sondern ist auch auf ein sozialverträgliches Verteilsystem angewiesen, bei dem sich marginalisierte Regionen nicht der Planungswillkür zahlungskräftiger Metropolen unterwerfen müssen. Die Geschichte der von der Wasserkraft in den Alpen verursachten Umsiedlungen und Verdrängungen lehrt, dass es bei einer umweltgerechten Planung großtechnischer Systeme nicht nur um Zahlen und Kilowattstunden geht, sondern auch um Menschen, die beim Bau von Stauseen und Kraftwerken einbezogen werden müssen, um sich mit ihnen arrangieren zu können.
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