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Das Stereotyp des Judäo-Kommunismus in Polen

Vom antikommunistischen Mythos zum national-kommunistischen Instrument
  • Paweł Machcewicz ORCID logo EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Juli 2025
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Abstract

In der Zwischenkriegszeit war die polnische Rechte der Ansicht, der Kommunismus sei eine Erfindung der Juden und diene ausschließlich ihren Interessen. Die Kommunistische Partei Polens wandte sich zunächst gegen jede Form des Antisemitismus und setzte sich nachdrücklich für die Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit ein. Diese Situation änderte sich in den 1960er Jahren radikal. Zu jener Zeit gewann eine nationalistisch gesinnte Gruppe um Innenminister Mieczysław Moczar zunehmend an Einfluss. Ihr gelang es, Antisemitismus als politische Waffe einzusetzen, wobei sie versuchte, sich eine breite gesellschaftliche Unterstützung zu sichern. Zu ihrer Botschaft gehörte die Behauptung, Kommunisten jüdischer Herkunft seien allein für die Verbrechen des Stalinismus verantwortlich. Moczar und seine Gefolgsleute propagierten einen nationalen Kommunismus, in dem Juden keinen Platz hatten.

Abstract

During the interwar period, the Polish right was convinced that Communism was an invention of the Jews that only served their own interests. The Communist Party of Poland initially opposed all forms of anti-Semitism and explicitly supported full equal rights for the Jewish minority. This situation changed radically during the 1960s, with a nationalist-minded group centered on the Minister of the Interior, Mieczysław Moczar, increasingly gaining influence at the time. It succeeded in using anti-Semitism as a political weapon as a means of securing broad social support. Part of its message was the assertion that communists of Jewish origin were solely responsible for the crimes of Stalinism. Moczar and his followers propagated a national form of communism in which Jews had no place.

I. Der Mythos vom Judäo-Kommunismus vor 1944

Die Überzeugung, Judentum und Kommunismus seien zwei Seiten derselben Medaille, war insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitverbreitet – und sie hatte vor allem in den 1930er und 1940er Jahren oft tödliche Konsequenzen. Nach der Revolution der Bolschewiki in Russland 1917 und nach den kurzlebigen, aber politisch bedeutsamen Räterepubliken in Ungarn und Bayern 1919 setzte sich nicht nur bei der extremen Rechten in Europa und den USA die Vorstellung durch, der Kommunismus sei nichts anderes als ein Instrument zur Übernahme der Weltherrschaft durch die Juden. Folgerichtig ging man davon aus, dass die kommunistischen Parteien in der Sowjetunion und anderswo von Funktionären jüdischer Abstammung gesteuert würden; Antisemitismus und Antikommunismus verbanden sich so zu einem toxischen Amalgam. Schon während des Bürgerkriegs im ehemaligen Zarenreich wurden Zehntausende Juden als mutmaßliche Unterstützer der Bolschewiki getötet, und auch die Nationalsozialisten rechtfertigten den blutigen Feldzug gegen die Juden in ihrem Machtbereich nicht zuletzt mit dem Stereotyp der Aktionseinheit von Judentum und Kommunismus. Die Schrecken des Holocaust trugen viel dazu bei, dass die Vorstellung, es gebe so etwas wie einen „Judeo-Bolshevism“,[1] erheblich an Bedeutung verlor, auch wenn sie nicht vollständig von der Bildfläche verschwand.

Allerdings – und das ist wenig bekannt – wechselte dieser Topos bisweilen gleichsam das Vorzeichen, und es waren Kommunisten, die ihn aufgriffen. Dazu kam es etwa in Polen, einem der zentralen Schauplätze des nationalsozialistischen Judenmords. Hier wurde das Schlagwort vom Judäo-Kommunismus zu einer Waffe in den Händen jener Kommunisten, die nach einer möglichst breiten gesellschaftlichen und nationalen Legitimation ihrer Macht strebten. Mit der antizionistischen Kampagne von 1968[2] war der Höhepunkt dieser politisch-propagandistischen Offensive erreicht, die freilich bereits deutlich früher begonnen hatte. Die nationalistische Fraktion der kommunistischen Machtelite folgte den Mustern des politischen Antisemitismus, den die polnische Rechte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in großem Umfang eingesetzt hatte. Dieses Handeln traf auf den von der gesellschaftlichen Basis ausgehenden volkstümlichen Antisemitismus. Dessen Wurzeln gingen auf den noch früheren christlichen Antijudaismus zurück. Er äußerte sich unter anderem in den Pogromen gegen Juden, die in Polen in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stattfanden.

Die Überzeugung, das Judentum gehöre zu den revolutionären Kräften, die nach radikalen und gewaltsamen sozialen Veränderungen strebten, hatte in Polen tiefe historische Wurzeln, die bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zurückreichten. Schon während der Revolution von 1905 bis 1907 brandmarkten Exponenten der politischen Rechten sozialistische Gruppen in den zum Zarenreich gehörenden polnischen Gebieten als Diener jüdischer Interessen. Das jüdische Proletariat, so hieß es, stehe hinter den Streiks und Arbeiterprotesten; solche revolutionären Unruhen seien aber schädlich für die polnische Volksgemeinschaft.[3]

Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kam es zu einem Ausbruch antijüdischer Gewalt in Polen. Die Pogrome und Judenmorde zwischen 1918 und 1920, als der Kampf um den Wiederaufbau des polnischen Staats und seine Grenzen andauerte, waren vielfach durch den Glauben motiviert, die Juden seien mit den Bolschewiki verbündet, die Polen bedrohten. Als die polnische Armee im April 1919 Vilnius, Lida und Pinsk von der Roten Armee zurückeroberte, betrachtete das Militär die jüdischen Gemeinden vor Ort als Handlanger der Bolschewiki. In jeder dieser Städte töteten Soldaten mehrere Dutzend Juden; gerechtfertigt wurden diese tödlichen Übergriffe als Vergeltung wegen der Hilfe für den Feind und als eine Art präventiver Selbstverteidigung vor einem möglichen Gegenangriff der Roten Armee.[4]

Nach dem Ende der Feindseligkeiten galten der Kommunismus und die Sowjetunion unter dem Einfluss der nationalistisch-konservativen, antisemitischen Nationalen Demokratie in weiten Teilen der Öffentlichkeit mehr oder weniger als jüdische Schöpfungen. Eine ähnliche Perspektive war in den meisten katholischen Zeitschriften weitverbreitet.[5] Dieser Verdacht schien nicht zuletzt deshalb gerechtfertigt, weil sich in den Reihen der Kommunistischen Partei Polens (KPP) zahlreiche jüdische Mitglieder befanden; man geht, je nach Zeitpunkt, von einem Anteil zwischen 20 und 35 Prozent aus. Noch höher war der Anteil von Funktionären jüdischer Herkunft in den Führungsgremien und im Propagandaapparat dieser Untergrundpartei.[6] Die jüdischen Kommunisten – in den 1930er Jahren handelte es sich um nicht mehr als etwa 10000 Personen – stellten nur einen Bruchteil der jüdischen Gemeinschaft Polens dar, die etwa drei Millionen Menschen zählte. In den Augen eines Großteils der ethnischen Polen bestätigten die jüdisch-kommunistischen Aktivisten aber das Bild einer von Juden kontrollierten kommunistischen Bewegung.

Dieser Perzeptionsmechanismus des Pars pro Toto, der dazu führte, dass sich das Stereotyp des Judäo-Kommunismus in vielen Köpfen festsetzte, lässt sich auch nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der Invasion Ostpolens durch sowjetische Truppen beobachten. Obwohl nur ein kleiner Teil der dort lebenden Juden – zumeist Angehörige radikaler Jugendmilieus – mit den Usurpatoren gemeinsame Sache machte, wurde den jüdischen Gemeinschaften von Untergrundorganisationen oder von Emigrantenkreisen immer wieder vorgeworfen, sie hätten die Rote Armee begeistert empfangen und die sowjetischen Besatzer bis zum Sommer 1941 dabei unterstützt, die eroberten Landesteile unter Zwang in die Sowjetunion einzugliedern.[7]

Als die polnischen Kommunisten 1944/45 auf Anweisung Josef Stalins und dank der Unterstützung von Roter Armee und Geheimpolizei trotz ihrer zunächst ausgesprochen schmalen sozialen Basis die Macht im Land übernahmen, sahen sie sich mit der weitverbreiteten Überzeugung konfrontiert, der Kommunismus sei nichts anderes als eine jüdische Erfindung.[8] Zu diesen Vorurteilen gesellten sich Neid und Missgunst, denn die neue Regierung musste sich auch um die Versorgung und den Schutz der zumeist mittellosen Jüdinnen und Juden kümmern, die Krieg und Holocaust überlebt hatten. Antisemitismus, Antikommunismus und Sozialneid bildeten dabei eine brandgefährliche Mischung, die sich wiederholt in gewalttätigen Ausschreitungen Bahn brach.[9]

II. Die kommunistische Machtübernahme und die Stalinisierung Polens

In den 1940er Jahren traten die polnischen Kommunisten als Feinde des Antisemitismus auf, den sie mit reaktionären Kräften identifizierten. Sie kündigten an, eine Welt zu schaffen, in der für Diskriminierung aus Gründen der Religion oder der ethnischen Zugehörigkeit kein Platz sei. Die Juden waren die einzige Minderheit, die im Manifest des Polnischen Komitees für Nationale Befreiung vom Juli 1944 Erwähnung fand. In dieser Erklärung des kommunistisch dominierten Lubliner Komitees, aus dem im Januar 1945 die provisorische Regierung der Volksrepublik Polen hervorgehen sollte, hieß es: „Den bestialisch vom Okkupanten verfolgten Juden werden der Wiederaufbau ihrer Existenz sowie rechtliche und tatsächliche Gleichberechtigung zugesichert.“[10] Tatsächlich genossen die Juden in den ersten Nachkriegsjahren als einzige Minderheit eine weitgehende Autonomie, die sich in zahlreichen jüdischen Parteien, Selbsthilfe-, Kultur- und Bildungsorganisationen sowie in der Presse manifestierte. Vertreter fast aller jüdischen Organisationen waren im Zentralkomitee der Juden in Polen vertreten, das die Polnische Arbeiterpartei (Polska Partia Robotniczna, PPR) bei vielen Gelegenheiten politisch-propagandistisch unterstützte, deren Gegner angriff und sie als Antisemiten brandmarkte.[11] Unabhängig von der politischen Ausrichtung verschiedener jüdischer Kreise teilten sie alle die Überzeugung, dass sie ihr Überleben der Sowjetunion verdankten, die das Dritte Reich besiegt und der Judenvernichtung ein Ende gesetzt habe. Diese Überzeugung brachte eine gewisse Nähe zum kommunistischen Lager mit sich, von dem man sich auch Schutz und Hilfe vor dem in der polnischen Gesellschaft verbreiteten Antisemitismus erhoffte.

Angesichts der politischen, sozialen und ökonomischen Situation, in der sich Polen befand, liegen die Konsequenzen auf der Hand: Die Teile der Bevölkerung, die den Kommunisten ablehnend gegenüberstanden – dazu gehörte insbesondere der bewaffnete Untergrund –, gingen davon aus, dass die neue Regierung von Juden kontrolliert werde und deren Interessen diene. Die Historiografie hat das Stereotyp des Judäo-Kommunismus, das in den Reihen des Untergrunds grassierte, gründlich analysiert;[12] aus den zahlreichen einschlägigen Dokumenten sei ein Beispiel herausgegriffen: Die wichtigste Untergrundorganisation, die Vereinigung für Freiheit und Unabhängigkeit (Zrzeszenie Wolność i Niezawisłość, WiN), sandte 1946 ein Memorandum an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in dem sie die Lage in Polen darlegte und Maßnahmen zur Wiederherstellung von Unabhängigkeit und Demokratie einforderte. Dort hieß es unter anderem:

„Jüdische Kommunisten in Polen besetzen alle herausragenden Positionen in der Regierung, der Staatsverwaltung, der Industrie und dem Handel und insbesondere in der polnischen Politischen Polizei und der Polnischen Arbeiterpartei und tragen dabei überall polnische Nachnamen. In diesen Positionen erwiesen sich die jüdischen Kommunisten von Anfang an als eine sehr schädliche und der polnischen Nation gegenüber feindlich eingestellte Kraft [. . .]. Die jüdischen Kommunisten, die das politische und wirtschaftliche Leben Polens von oben her kontrollieren, dienen den gegenwärtigen sowjetkommunistischen Faktoren in Polen am treuesten bei der Zerstörung der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit Polens.“[13]

Aufgrund der Überzeugung, dass die Juden die Kommunisten unterstützten oder dass sie es sogar selbst waren, die noch vor allen anderen den neu geschaffenen Staat regierten, ließen sich die Gegner der neuen Regierung zu zahlreichen Gewalttaten hinreißen. Über eintausend Juden wurden in den ersten Nachkriegsjahren ermordet, ein Großteil von ihnen von antikommunistischen Partisaneneinheiten.[14] Dies wiederum nutzten die Kommunisten aus, die ihre Gegner als Antisemiten und Judenmörder brandmarkten und den sogenannten reaktionären Kräften auch Verbrechen zur Last legten, mit denen der Untergrund gar nichts zu tun hatte, wie etwa im Fall der Pogrome in Krakau im August 1945 und in Kielce im Juli 1946.[15] Das kommunistische Regime sollte den Polen und der Welt als die einzige Kraft erscheinen, die in der Lage war, die antijüdische Gewalt zu stoppen. Dies war eines der Hauptthemen in der Propaganda der PPR, obwohl sich ihre Führer durchaus bewusst waren, dass sich das tatsächliche Bild komplexer darstellte und dass der Antisemitismus nicht nur eine Domäne der als reaktionär stigmatisierten Kräfte war. Nach dem Pogrom in Krakau erklärte Roman Zambrowski[16] während einer Sitzung des Sekretariats des Zentralkomitees der PPR, dass „selbst im führenden Teil der Arbeiterklasse antisemitische Stimmungen existieren“.[17] Diese Einschätzung wurde durch die Streiks in Łódź bestätigt, die nach dem Pogrom in Kielce stattfanden. Die Streikenden protestierten gegen die Todesstrafe für die Mörder und forderten sogar ihre Entlassung aus der Haft. In einem Bericht der Partei über die Reaktionen der Arbeiter hieß es: „Warum arbeiten die Juden nicht in den Werkstätten von Fabriken? Polen wird von den Juden regiert.“[18]

Entgegen der Überzeugung der Arbeiter aus Łódź gab es nie so etwas wie eine jüdische Mehrheit in der kommunistischen Führung. Funktionäre jüdischer Herkunft besetzten jedoch wichtige Positionen in (Militär-)Justiz, Sicherheitsapparat und Zensurbehörden; diese Tatsache befeuerte antisemitische Vorurteile. Die meisten jüdischen Kommunisten hatten den Krieg in der Sowjetunion verbracht. Als sie zusammen mit der Roten Armee nach Polen zurückkehrten, galten sie als vertrauenswürdige Genossen mit langjähriger Parteierfahrung. Den Recherchen von Mirosław Szumiło zufolge stellten Kommunisten jüdischer Herkunft in den ersten Nachkriegsjahren etwa ein Drittel der Parteielite, auf der zentralen Ebene sogar fast die Hälfte.[19] Etwas niedriger fallen die Angaben von Łukasz Bertram aus, der die Biografien von über 200 Kommunisten untersuchte, die er zwischen 1948 und 1956 zur zentralen Partei- und Staatselite zählte; Männer und Frauen jüdischer Herkunft machten 34 Prozent dieser Gruppe aus.[20]

Besonders kritisch wurden Juden betrachtet, die Führungspositionen im Sicherheitsapparat einnahmen. Dem Bericht des obersten sowjetischen Beraters des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit (Ministerstwo Bezpieczeństwa Publicznego, MBP) zufolge sollen sie im Oktober 1945 die Hälfte der entsprechenden Positionen bekleidet haben.[21] Historiker, die die gesamte stalinistische Zeit untersuchten, gaben etwas niedrigere, aber immer noch vergleichsweise hohe Zahlen an: Andrzej Paczkowski schrieb, etwa 30 Prozent der Führungspositionen seien von Funktionären jüdischer Herkunft besetzt gewesen, Krzysztof Szwagrzyk sprach von rund 37 Prozent.[22] Die Parteiführung war sich der negativen Reaktionen bewusst und versuchte, auf verschiedene Weise Abhilfe zu schaffen. Dazu schrieb Andrzej Werblan, Historiker und Parteiaktivist, der auch auf sein eigenes Gedächtnis zurückgreifen konnte:

„Verfahren zur Beschleunigung der formalen Assimilation wurden unterstützt (z. B. polnische Nachnamen), es wurde versucht, die Übertragung der öffentlich exponiertesten Funktionen, z. B. der Ersten Sekretäre der Woiwodschaftskomitees, an die sogenannten jüdischen Genossen zu vermeiden, sie wurden eher bereitwillig in den Positionen der Zweiten Sekretäre, als Leiter von Kaderabteilungen usw. eingesetzt.“[23]

Derartige Maßnahmen halfen jedoch nur wenig, und die Partei hatte mit Antisemitismus in ihren eigenen Reihen zu kämpfen – insbesondere dann, als ihr massenhaft neue Mitglieder beitraten. Während der Sitzungen des Leitungsausschusses des Woiwodschaftskomitees der PPR im Juli 1945 in Krakau, wo kurz danach ein Judenpogrom stattfinden sollte, wurden warnende Stimmen laut, dass „es in der Partei gegen die Juden gärt“. Es müsse „beachtet werden, dass die Besetzung von Führungspositionen durch jüdische Genossen Widerstand unter den Polen auslöst“.[24]

Dieses Thema war auch während des Konflikts zwischen Władysław Gomułka[25] und jenem Teil der Führung der PPR präsent, der dem Ersten Sekretär 1948 eine sogenannte rechtsnationalistische Abweichung vorwarf und ihn entmachtete, um die Sowjetisierung Polens zu beschleunigen. In einem Brief an Stalin schrieb Gomułka im Dezember 1948:

„Allen Mitgliedern des Politbüros ist meine Einstellung zur Personalpolitik der Partei gegenüber den jüdischen Genossen bekannt. [. . .] Die personelle Besetzung der oberen Glieder des Staats- und Parteiapparats unter dem Gesichtspunkt der Nationalität stellt meiner Meinung nach eine ernsthafte Barriere dar, die die Verbreiterung unserer Basis behindert, und zwar insbesondere unter der Intelligenz und auf dem Land, aber teilweise ebenso in der Arbeiterklasse. Zwar kann man auch mich für den hohen Anteil des jüdischen Elements im führenden Staats- und Parteiapparat verantwortlich machen, aber die Hauptschuld an dem geschaffenen Zustand liegt in erster Linie bei den jüdischen Genossen. [. . .] Es ist nicht wahr, dass die Alternativlosigkeit der gegenwärtigen Personalpolitik ausschließlich in einem gravierenden Mangel an polnischen Parteikadern begründet liegt [. . .]. Auf der Grundlage einer Reihe von Beobachtungen kann ich mit voller Verantwortung feststellen, dass sich einige der jüdischen Genossen in keiner Weise mit der polnischen Nation und damit auch der polnischen Arbeiterklasse verbunden fühlen und dass sie mehr oder weniger eine Position einnehmen, die man als nationalen Nihilismus bezeichnen könnte.“[26]

Während des Vereinigungskongresses der PPR und der Polnischen Sozialistischen Partei im Dezember 1948, auf dem die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PVAP) gegründet wurde, erklärte Gomułka, dass die Partei „nicht nur gegen den Nationalismus, sondern auch gegen den Kosmopolitismus und den nationalen Nihilismus kämpfen sollte. Wir verachten diejenigen, die unsere Nation nicht respektieren, ihre Größe und Fähigkeiten unterschätzen, die unseren Beitrag zum internationalen Kulturschatz in der tausendjährigen Geschichte der Nation schmälern“.[27] Obwohl er nicht offen auf die Genossen jüdischer Herkunft Bezug nahm, war die Stoßrichtung seiner Philippika klar erkennbar. Aus Sicht von Jakub Berman,[28] einem der Parteiführer, war die Rede antisemitisch.[29]

Die „Judenfrage“ war in der Auseinandersetzung zwischen Gomułka und seinen Gegnern sicherlich von geringerer Bedeutung als die Haltung gegenüber der Kollektivierung der Landwirtschaft oder dem eskalierenden Streit zwischen Stalin und Tito. Umstritten war auch die Vorstellung, wie sich das Verhältnis der polnischen Arbeiterpartei zu den Genossen in Moskau gestalten sollte. Die „Judenfrage“ gehörte allerdings zum Hintergrund dieses Konflikts, und für Gomułkas Wahrnehmung war es auch in den folgenden Jahrzehnten nicht ohne Bedeutung, dass 1948 auch Kommunisten jüdischer Herkunft wie Jakub Berman, Hilary Minc[30] und Roman Zambrowski zu seinen Hauptgegnern in der Parteiführung gehörten. Unter Gomułkas Unterstützern wiederum gab es keinen einzigen Aktivisten jüdischer Herkunft.[31]

Möglicherweise erwähnte Gomułka die „jüdischen Genossen“ in seinem Brief an Stalin auch deswegen, weil er versuchen wollte, die sich in der Sowjetunion abzeichnende antijüdische Wende in einem innerpolnischen Konflikt zu instrumentalisieren. Im November 1948 war dort das Jüdische Antifaschistische Komitee aufgelöst worden; seinen Vorsitzenden, den berühmten Schauspieler und Theaterregisseur Solomon Michoels, hatte die Geheimpolizei bereits zuvor auf Befehl Stalins heimtückisch ermordet. Und dies war erst der Anfang der spätstalinistischen Kampagnen, die sich gegen den Zionismus richteten und deutlich antisemitische Züge trugen.[32]

In Polen wurde dieser Kampf in den frühen 1950er Jahren weniger hart geführt als in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei oder der Deutschen Demokratischen Republik, obwohl Vertreter der Sowjetunion wiederholt ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen, dass der Einfluss der „jüdischen Genossen“ auf die Führung der PVAP zu stark sei. So schrieb der sowjetische Botschafter in Warschau, Viktor Lebedew, im Juli 1949 an Außenminister Andrej Wyschinskij nach Moskau, in der engeren Führungsgruppe besitze nur der Erste Sekretär Bolesław Bierut[33] „die polnische Staatsangehörigkeit“. In der PVAP tobe „ein versteckter, aber erbitterter Machtkampf, in dem Bierut vorerst durch eine Gruppe von Aktivisten, die eindeutig an jüdischem Nationalismus leiden, von anderen polnischen Genossen ‚isoliert‘ wird“.[34]

Vieles deutet darauf hin, dass Stalin Jakub Berman gleichsam zu einem polnischen Rudolf Slánský stilisieren wollte, der im November 1952 in einem Schauprozess in Prag zum Tode verurteilt wurde. In der Führung der PVAP war Berman für Ideologie, Propaganda und teilweise für die Überwachung des Sicherheitsapparats zuständig. Seine Sekretärin Anna Duracz,[35] die mit dem bereits zuvor inhaftierten amerikanischen Kommunisten Noel Field in Kontakt gestanden hatte, wurde festgenommen. Field war eine Schlüsselfigur bei der Konstruktion von Spionagevorwürfen im Schauprozess gegen Laszlo Rajk, einen führenden ungarischen Kommunisten, der 1949 in Budapest zum Tode verurteilt wurde. Das Phantom eines Spionagenetzwerks, das angeblich den ganzen Ostblock durchdrungen hatte, diente in der Folge als Rechtfertigung für zahlreiche Schauprozesse. Dass Berman das Schicksal von Slánský und Rajk nicht teilte, hatte er wohl Bolesław Bierut zu verdanken, dem es als Erstem Sekretär der PVAP gelang, seinen engsten Mitarbeiter wirksam zu schützen.[36]

In Polen kam es weder zu einem Schauprozess, in dem (anti-)jüdische Motive eine tragende Rolle gespielt hätten, noch zu umfangreichen Säuberungen, die ein ethnisches Muster aufwiesen. Im Außenministerium und bei den Streitkräften wurde jedoch – so sagte man – eine „nationalitätsbezogene Regulierung“ durchgeführt. Dabei kam es zu einer Überprüfung des Personals hinsichtlich der Herkunft, denn es sollte nicht zuletzt die Zahl der Juden in Führungspositionen begrenzt werden.[37] Eine gewisse Zahl von Offizieren jüdischer Herkunft wurde entlassen, darunter der berühmte Soziologe Zygmunt Bauman.[38] Auch aus dem Propagandaapparat und aus den Zeitungsredaktionen wurden jüdische Journalisten entlassen.[39] Überdies verloren mehrere Funktionäre jüdischer Abstammung ihre Ämter als Abteilungsleiter im Zentralkomitee der PVAP.[40]

Es ist schwer zu sagen, ob das geringere Ausmaß der antizionistischen Kampagne in Polen auf den Widerstand von Bierut und anderen Mitgliedern der PVAP-Führung zurückzuführen war oder ob der Druck aus Moskau weniger stark war als anderswo. Der russische Historiker Genadij Kostyrczenko vermutete jedenfalls, Stalin sei pragmatisch vorgegangen. Da er sich der schwachen Verwurzelung der kommunistischen Bewegung in der polnischen Gesellschaft bewusst gewesen sei, habe er eine Destabilisierung der PVAP durch radikale Schritte vermeiden wollen.[41] Wie dem auch sei, in der ersten Hälfte der 1950er Jahre spielte Antisemitismus als Mittel der politischen Auseinandersetzung unter den polnischen Kommunisten allenfalls eine nachgeordnete Rolle. Dies sollte sich jedoch bald grundlegend ändern.

III. Entstalinisierung und Antisemitismus

Die Krise des kommunistischen Systems führte 1956 zu verstärkten antisemitischen Ressentiments, Verhaltensweisen und Äußerungen. Einerseits kam es zu heftigen Konflikten in der PVAP, in denen gegen Juden gerichtete Parolen als politische Waffe eingesetzt wurden und die, soweit sich das anhand der verfügbaren Quellen beurteilen lässt, im Parteiapparat weite Verbreitung fanden. Die Partei agierte andererseits weniger repressiv, so dass sich wieder mehr soziale Räume boten, um antisemitischen Einstellungen Ausdruck zu verleihen.

Als Nikita Chruschtschow im März 1956 in seiner Eigenschaft als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion an der Beerdigung von Bolesław Bierut teilnahm, führte er am Rande der Zeremonie Gespräche mit vielen Aktivisten der PVAP. Chruschtschow soll dabei angeregt haben, Berman, Zambrowski und Minc aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus dem Politbüro zu entfernen; dieser Schritt könne die Popularität der Parteiführung in einem Moment des Umbruchs steigern.[42] Der sowjetische Anführer reiste im Sommer 1953 auch zum VI. Plenum des Zentralkomitees der PVAP; hier sprach sich der Vorsitzende des Zentralrats der Gewerkschaften, Wiktor Kłosiewicz,[43] dagegen aus, dass Zambrowski das Amt des Sekretärs des Zentralkomitees übernahm, und zwar mit dem Hinweis, das Land würde dies „nicht gut“ aufnehmen.[44] Diese als antisemitisch empfundene Äußerung löste eine heftige Diskussion aus. Kłosiewicz wurde freilich indirekt von Chruschtschow selbst unterstützt, der sich zu Wort meldete und vor einer übermäßigen Stärkung des Sekretariats des Zentralkomitees warnte – eine Anspielung, die man als Ablehnung von Zambrowskis Kandidatur verstehen konnte.

Kłosiewicz galt als einer der Hauptvertreter der sogenannten Natolin-Fraktion – benannt nach dem Palast in Natolin bei Warschau, wo angeblich ihre Treffen stattfanden –, die sich einer weitreichenden Entstalinisierung widersetzte und sich bereitwillig einer gegen die Intelligenz gerichteten und stellenweise antisemitischen Rhetorik bediente. Der Rückgriff darauf sollte die Verantwortung für den Stalinismus und insbesondere für die Machenschaften des Sicherheitsapparats auf Kommunisten jüdischer Herkunft abwälzen. Einerseits wollte man auf diese Weise die soziale Unzufriedenheit kanalisieren, andererseits gegen die reformfreundliche Puławska-Fraktion der PVAP – benannt nach der Puławska-Straße in Warschau, wo einige ihrer Vertreter lebten – vorgehen. In ihren Reihen befanden sich viele Aktivisten mit jüdischen Wurzeln; Zambrowski galt als ihr Anführer.[45] Überdies lässt sich vermuten, dass Kłosiewicz um die Gunst Chruschtschows werben wollte, der jüdischen Kadern ablehnend gegenüberstand. Es dürfte nicht ohne Bedeutung gewesen sein, dass die Angehörigen der Natolin-Fraktion aus Arbeiter- und Bauernfamilien stammten und bis auf wenige Ausnahmen keine höhere Bildung besaßen.[46] Ihre negative Einstellung gegenüber Juden in herausgehobenen Positionen hatte daher vermutlich nicht nur taktische Gründe, sondern war auch Ausdruck eines plebejischen Antisemitismus.

Eine deutlich offenere antijüdische Rhetorik brach sich bei der Sitzung des Politbüros im Mai 1956 Bahn, als Berman seinen Rücktritt einreichte. „Ich muss meinen Genossen gestehen“, sagte der damalige Staatsratsvorsitzende Aleksander Zawadzki,[47] „dass ich über Jahre hinweg blutenden Herzens zur Kenntnis nehmen musste, was vor sich ging. Berman hat alle Leitungspositionen mit jüdischen Weggefährten besetzt.“ Im Einzelnen nannte er mit Józef Światło,[48] Roman Romkowski,[49] Anatol Fejgin,[50] Julia Brystiger[51] und Józef Czaplicki[52] hochrangige Funktionäre des MBP.[53] Den breitesten Widerhall fand Zenon Nowak,[54] Mitglied des Politbüros und stellvertretender Ministerpräsident, der während des VII. Plenums des Zentralkomitees der PVAP im Juli 1956 erklärte:

„Fast die gesamte Politische Hauptverwaltung der Armee, beinahe die gesamte Militärstaatsanwaltschaft war mit Genossen jüdischer Abstammung besetzt. [. . .] Ich frage mich, ob eine Situation als normal gelten kann, in der die Parteiführung in der Armee nur von jüdischen Genossen vertreten wird. [. . .] Und was die Situation im Sicherheitsapparat betrifft, [. . .] dort war es so, dass alle Abteilungsleiter, stellvertretenden Direktoren usw. Genossen jüdischer Herkunft waren. [. . .] Nun, und wie sah die Lage, Genossen, sagen wir einmal, im Außenministerium und in der Staatlichen Kommission für Wirtschaftsplanung aus? [. . .] Es stellt sich also heraus, dass man einem Polen nicht trauen und ihn nicht im Sicherheitsapparat einsetzen kann, und selbstverständlich auch nicht im Außenministerium“.[55]

Auf den unteren Ebenen des Parteiapparats war die antisemitische Rhetorik ebenfalls virulent, insbesondere in den letzten Monaten des Jahrs 1956. Nachdem Gomułka an die Macht zurückgekehrt war, beschleunigte sich der Austausch von Kadern, und nicht wenige Funktionäre und Aktivisten fürchteten um ihre Karriere. Als Beispiel kann die Stimmung im PVAP-Kreiskomitee in Sokołów Podlaski dienen. „Aus Gesprächen mit Mitarbeitern des Kreiskomitees“, schrieb eine Abgesandte des Warschauer Woiwodschaftskomitees,

„erfuhr ich von starken antisemitischen Stimmungen im Kreis. Die Genossen führten zum Beispiel die Tatsache an, dass sie bei der Arbeit in der Gegend sehr oft mit der Aussage konfrontiert werden, dass es im jetzigen Politbüro außer zwei Polen ausschließlich Juden gebe. Ähnliche Stimmungen sind im Übrigen unter den Mitarbeitern des Kreiskomitees zu beobachten. Auch sie stimmen dieser Ansicht zu und fügen hinzu, dass die Juden die Presse und das Radio übernommen haben. [...] Da es Gerechtigkeit geben muss, muss jetzt mit den Juden abgerechnet werden. Die Grundorganisation der Partei beim Kreiskomitee in Sokołów Podlaski hat eine Resolution verabschiedet, in der gefordert wird, dass Schlussfolgerungen in Bezug auf Berman, Minc und Zambrowski gezogen werden.“[56]

Der seit dem Frühjahr 1956 zunehmende Kontrollverlust der Partei und des Sicherheitsapparats öffnete den Weg für einen Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft, der kein Derivat parteiinterner Konflikte war, sondern den Nährboden für den Einsatz antijüdischer Rhetorik im Kampf der Fraktionen schuf. Berichten lokaler Sicherheitsbehörden zufolge wurden im April und Mai 1956 vermehrt antisemitische Kommentare registriert, in denen Juden für den Stalinismus und alle Missetaten der vergangenen Jahre verantwortlich gemacht wurden. An verschiedenen Orten kam es zu antijüdischen Vorfällen.[57] In Łódź wurde eine Synagoge zerstört, in Wrocław, dem ehemaligen Breslau, wurden Flugblätter mit der Aufschrift „Nieder mit den Juden“ verteilt, und in Bytom verprügelten Bergleute zwei Männer, „die sich auf dem Hof auf Jiddisch unterhielten“. Der Antisemitismus steigerte sich im Herbst 1956, als der Kontrollverlust der Partei den Höhepunkt erreicht hatte und Gomułka auf der Welle der antistalinistischen Bewegung an die Macht zurückkehrte. In Łódź wurde während einer Betriebsversammlung der Bakelit-Werke die Forderung laut, dass „alle Juden aus ihren Stellungen zu entfernen, nach Israel auszuweisen und an ihrer Stelle Polen einzustellen sind. Es wurde die Frage aufgeworfen, warum es Juden in Polen besser ergeht als Polen, wovon nicht arbeitende jüdische Frauen leben, die sich sogar Dienstmädchen halten.“ Auf einer Kundgebung in Lublin, an der Tausende Menschen teilnahmen, wurde gefordert, „Bürger jüdischer Nationalität von ihren Posten zu entfernen“. Im Danziger Hafen waren Parolen zu hören wie: „Weg mit den Juden aus allen Ämtern, der schlechteste Pole ist besser auf einem Posten als ein Jude.“

Zu verbaler, manchmal auch körperlicher Gewalt gegen Juden kam es besonders häufig in Niederschlesien. In einem Brief aus Wrocław an die Tageszeitung Trybuna Ludu hieß es, dass „die Juden nach 19 Uhr nicht mehr auf die Straße gehen“.[58] Im November wurde dort ein jüdischer Bürger aus rassistischen Motiven ermordet, wie die Ermittlungen ergaben.[59] Dramatisch war die Situation in Dzierżoniów und Wałbrzych, wo es große jüdische Gemeinden gab. Anfang Oktober besuchte eine Sonderkommission des Innenministeriums diese beiden Städte und zeichnete in ihrem Bericht ein alarmierendes Bild:

„Im Zeitraum ab Juli dieses Jahrs haben die Fälle von Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung systematisch zugenommen. Dies äußert sich in alltäglichen Belästigungen der jüdischen Bevölkerung in Form von Beleidigungen von Kindern auf den Höfen, auf der Straße und in der Schule. Von Frauen in Geschäften, beim Schlangestehen, auf Basaren, in Straßenbahnen usw. Außerdem kommt es häufig vor, dass Juden von Rowdys verprügelt werden. Allein in Dzierżoniów leitete die Staatsanwaltschaft im September 30 Ermittlungsverfahren wegen tätlicher Angriffe auf und vulgärer öffentlicher Beleidigung von Juden ein.“[60]

Am 11. September brach in Wałbrzych ein antisemitischer Aufruhr los, ausgelöst durch einen Streit in einer Metzgerei, deren Geschäftsführer jüdischer Herkunft war. Eine tausendköpfige Menge versammelte sich vor dem Laden und schrie judenfeindliche Parolen; sie konnte von der Miliz, die Schlagstöcke einsetzte, erst nach mehreren Stunden zerstreut werden.[61]

In der zweiten Hälfte des Jahrs 1957 verschwand der Antisemitismus allmählich aus dem öffentlichen Leben, was insbesondere auf die Wiederherstellung der Parteidisziplin sowie die Festigung der Macht Gomułkas zurückzuführen war. Das Machtzentrum erlangte die Kontrolle über den Apparat und das Parteiaktiv zurück. Damit erhöhte sich aber auch die Kapazität, die Gesellschaft zu beeinflussen und zu steuern, die der Partei 1956 weitgehend entglitten war. Es mag auch eine Rolle gespielt haben, dass die jüdische Gemeinschaft in Polen schrumpfte. Zwischen 1955 und 1961 wanderten über 50000 Jüdinnen und Juden aus; nur etwa 30000 blieben im Land.[62]

Allerdings hatte die Erfahrung, dass Antisemitismus auch in parteiinternen Flügelkämpfen ein erhebliches Mobilisierungspotenzial bot und einen Schulterschluss mit breiteren Bevölkerungsschichten außerhalb der PVAP ermöglichte, ihre Spuren hinterlassen. Mit der Rückkehr Gomułkas, der rasch an Popularität gewann und von dem man sich eine Entstalinisierung, einen Abbau staatlicher Repression und nicht zuletzt eine größere Unabhängigkeit von Moskau versprach,[63] verlor der Antisemitismus als soziopolitisches Kampfinstrument zwar zunächst an Bedeutung. Aber einigen Parteiaktivisten blieb er doch als Werkzeug in Erinnerung, das sich zu gegebener Zeit sowohl bei Auseinandersetzungen in der PVAP als auch zur gesellschaftlichen Mobilisierung einsetzen ließ.

IV. Der Sicherheitsapparat und die „Partisanen“ von Mieczysław Moczar

Es war der Sicherheitsapparat, der nach 1956 am konsequentesten gegen Juden im kommunistischen Herrschaftssystem vorging. Das erscheint paradox, gab es doch in den 1950er Jahren insbesondere im MBP in Warschau zahlreiche Funktionäre jüdischer Herkunft – ein Faktum, das all denen recht zu geben schien, die vor dem Judäo-Kommunismus warnten. Tatsächlich kam die antijüdische Wende im Sicherheitsapparat nicht überraschend, und das hatte nicht zuletzt mit dem Kontrollverlust des Jahrs 1956 zu tun. In diesen Wochen sah sich der Sicherheitsapparat mit Hass und Kritik konfrontiert – Hass wegen der Repressionen der vergangenen Jahre, Kritik hingegen aus den eigenen Reihen im Zuge der Entstalinisierung. Dass Karrieren auf dem Spiel standen, zeigte sich schon im Dezember 1954, als das MBP aufgelöst wurde, und noch mehr mit der Einrichtung des Komitees für Fragen der Öffentlichen Sicherheit (Komitet do Spraw Bezpieczeństwa Publicznego, KBP) im November 1956. Entsprechend groß war die Verunsicherung. Eine Diskussion im Parteiaktiv des KBP sagt viel über die Stimmung dieser Tage aus. Auf der Agenda stand die Frage, wie sich verbrecherische Elemente von gutwilligen und zukunftsfähigen Kadern trennen ließen. Die Frage nach Funktionären jüdischer Herkunft war dabei unübersehbar: „Unsere Partei, die Partei der Arbeiterklasse, die Partei, die die Arbeitermassen unseres Lands führen sollte und auch führte, trug sehr tief verwurzelte nationalistische Tendenzen des jüdischen Nationalismus in sich, aber nicht nur Nationalismus, sondern auch Chauvinismus.“ Es sei eine „Tatsache, dass es in den ehemaligen Sicherheitsorganen keinen einzigen Abteilungsleiter“ gegeben habe, „der nicht jüdischer Herkunft“ gewesen sei; „das Ministerium für Außenhandel“ sei „zu 90 Prozent von Personen jüdischer Abstammung dominiert“ worden. „Im Außenministerium“ seien „diplomatische Vertretungen und andere hochprofitable Vertretungen, Posten, eben von diesen Leuten besetzt“ worden.[64]

Ein anderer Funktionär, Mieczysław Kolenda, sprach von „Verrätern“, die das Ansehen des Sicherheitsapparats beschmutzt hätten, und nannte dabei ausschließlich die Namen von Personen jüdischer Herkunft. Er appellierte: „Es ist höchste Zeit, dass sich unsere Parteigenossen, die waschechte Kommunisten ohne jegliche fremde Spuren sind und sein wollen und die sich als Bürger polnischer Nationalität ausgeben, auch als polnische Staatsbürger und nicht als polnische Staatsbürger jüdischer Herkunft fühlen.“ Hier zeigt sich, wie groß die antijüdische Schnittmenge zwischen Teilen der kommunistischen Partei und Teilen der Gesellschaft war. Die Überzeugung, dass jüdische Funktionäre für die schwersten Verbrechen des Stalinismus verantwortlich waren, wurde auch durch einen Prozess bestätigt, in dem im November 1957 der ehemalige stellvertretende Minister für Öffentliche Sicherheit, Roman Romkowski, der Leiter der Ermittlungsabteilung des MBP, Józef Różański,[65] und der Leiter der 10. Abteilung des MBP, Anatol Fejgin, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Sie waren alle jüdischer Herkunft.[66]

General Mieczysław Moczar[67] besaß in den folgenden Jahren großen Einfluss auf das Vorgehen des Sicherheitsapparats gegen Juden. Im Krieg hatte er kommunistische Partisaneneinheiten kommandiert, und sein enges Vertrauensverhältnis mit Gomułka stammte aus dieser Zeit. Nach 1945 war Moczar Chef des Woiwodschaftsamts für Öffentliche Sicherheit in Łódź und anschließend stellvertretender Minister für Öffentliche Sicherheit. 1948 wurde er dazu gezwungen, sich von Gomułka zu distanzieren. Er kehrte erst im Dezember 1956 in den Sicherheitsapparat zurück, als er in die Position eines stellvertretenden Ministers im Innenministerium (Ministerstwo Spraw Wewnętrznych, MSW) aufrückte, das die Kader des aufgelösten KBP übernahm. Moczar konzentrierte nach und nach immer mehr Macht in seinen Händen, bis er schließlich 1964 selbst zum Innenminister avancierte und an die Spitze der Vereinigung der Kämpfer für Freiheit und Demokratie trat – die einzige offizielle Veteranenorganisation mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern. Moczar öffnete ihre Reihen für Veteranen nichtkommunistischer Formationen, die gegen Deutschland gekämpft hatten, insbesondere für Angehörige der Heimatarmee und der Bauernbataillone sowie für Soldaten der polnischen Streitkräfte in den Reihen der westlichen Alliierten. Dieser Schritt bedeutete nicht zuletzt deshalb eine Zäsur, weil viele von ihnen zuvor verfolgt worden waren.[68]

Parteiaktivisten, Journalisten und Intellektuelle begannen, sich um den Innenminister zu scharen. Diese Gruppierung wurde mit Blick auf die Vergangenheit einiger ihrer Vertreter die „Partisanen“ genannt.[69] In den Medien traten sie als Verteidiger der nationalen Tradition auf, einschließlich jener Facetten, die während der Stalinzeit verschwiegen oder von der offiziellen Propaganda angegriffen worden waren. Sie stellten den Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland, aber auch den Unabhängigkeitskampf im 19. Jahrhundert heraus.[70] Eine wichtige Rolle, insbesondere in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, spielte dabei ein immer offener zur Schau gestellter Antisemitismus. All dies sollte Moczar und seinen Leuten, die versuchten, ihren Einfluss in Partei und Staat systematisch auszubauen, gesellschaftliche Unterstützung sichern, spiegelte aber wahrscheinlich auch die tatsächliche Haltung vieler „Partisanen“ wider. Ihnen schlossen sich auch nichtkommunistische Aktivisten an, die in Moczars Politikansatz eine Chance sahen, dem polnischen Kommunismus nationale Züge zu verleihen.

Als Moczar die Kontrolle über den Sicherheitsapparat übernahm, kam es zu einer Intensivierung der Aktivitäten gegen jüdische Kreise. Es wurden Listen von Juden angefertigt, die in verschiedenen Institutionen beschäftigt waren, ganz gleich, ob sie politische Bedeutung hatten oder nicht. Im Juli 1963 erstellte der Sicherheitsdienst (Służba Bezpieczeństwa, SB) eine Liste von 16 Ärzten jüdischer Herkunft, die an der Medizinischen Akademie in Danzig tätig waren.[71] Es ist nicht bekannt, ob die Danziger SB-Funktionäre von der Verhaftung von Kreml-Ärzten zehn Jahre zuvor gehört hatten, denen vorgeworfen worden war, Stalin und andere Mitglieder der sowjetischen Führung ermorden zu wollen, aber entsprechende Assoziationen sind nicht von der Hand zu weisen. In den 1960er Jahren waren polnische wie ausländische Juden in den Augen des Innenministeriums Teil einer globalen Verschwörung. Hier verfasste Ausarbeitungen verwiesen auf Äußerungen zionistischer Politiker, die angeblich von Plänen zeugten, den Einfluss der Zionisten auf alle Juden der Welt und die Länder, in denen sie lebten, auszudehnen. Und es dürfte kein Zufall sein, dass sich in den Materialien des Sicherheitsdiensts Fragmente der „Protokolle der Weisen von Zion“ finden, die der polnischen Ausgabe von 1937 entnommen sind.[72]

V. Ein antikommunistischer Mythos als national-kommunistisches Instrument

Eine ganz ähnliche Diktion weist eine offensichtlich gefälschte Quelle auf, die ebenfalls bei den Akten des Sicherheitsdiensts liegt. Unter den Unterlagen, welche die Überwachung des inzwischen aus der PVAP ausgeschlossenen Jakub Berman dokumentieren, findet sich eine angebliche Rede vom April 1945. Darin habe Berman argumentiert, sowohl die Sowjetunion als auch die Vereinigten Staaten würden von Juden regiert, und ihre Macht werde sich in dem Maße ausdehnen, in dem sich der Kommunismus ausbreite. Dem Text der Rede zufolge habe Berman auch einen Plan zur Beherrschung Polens entworfen:

„Die Juden haben die Möglichkeit, das gesamte Staatsleben in Polen in Besitz zu nehmen und zu kontrollieren. Nicht etwa durch die Übernahme repräsentativer Positionen. In den Ministerien und Behörden ist eine sogenannte zweite Reihe zu bilden. Nehmen Sie polnische Namen an. Verbergen Sie Ihre jüdische Abstammung. In der polnischen Gesellschaft ist die Meinung hervorzurufen und zu verbreiten und sie ist davon zu überzeugen, dass jene Polen, die an der Spitze stehen, regieren, die Juden hingegen keine Rolle im Staate spielen. Um die Meinung und Weltanschauung des polnischen Volks in die von uns gewünschte Richtung zu lenken, muss die Propaganda mit ihren wichtigsten Ressorts: der Presse, dem Film und dem Rundfunk, in unseren Händen liegen. In der Armee sollten politische, wirtschaftliche und nachrichtendienstliche Funktionen besetzt werden. [...] In den Ministerien sind bei ihrer Besetzung mit Juden die folgenden Fragen in den Vordergrund zu stellen: Auswärtige Angelegenheiten, Schatzamt, Industrie, Außenhandel, Justiz. [...] Eine ähnliche Methode sollte in der Partei angewendet werden, also hinter dem Rücken der Polen sitzen, aber alles steuern.“[73]

Auf dem Höhepunkt der antizionistischen Kampagne im Jahr 1968 erreichte dieses angebliche Referat Bermans per Post zahlreiche Adressaten, darunter auch die Propagandasekretäre der Kreiskomitees der PVAP. Auch wenn einiges darauf hindeutet, dass der SB hinter dieser Aktion steckte,[74] ging die Fälschung auf ein anderes Konto und stammte höchstwahrscheinlich aus dem Umfeld der antikommunistischen Untergrundorganisation Vereinigung für Freiheit und Unabhängigkeit. Jedenfalls war das Schriftstück dem bereits erwähnten Memorandum beigefügt, das die Vereinten Nationen 1946 erhalten hatten.[75]

Der Verdacht, es gebe ein jüdisches Netzwerk in Staat und Partei, ging mit dem Bemühen Hand in Hand, seine Mitglieder zu enttarnen. Das illustriert beispielsweise eine ausführliche Notiz über das Führungspersonal des Außenministeriums (Ministerstwo Spraw Zagranicznych, MSZ), die im Januar 1966 von der Hauptinspektion des Innenministeriums erstellt wurde.[76] Darin stand zu lesen, es handele sich bei den wichtigsten Funktionsträgern zu einem erheblichen Teil um „Menschen von zweifelhaftem ideellem Wert, die politisch und moralisch kompromittiert sind sowie enge Familienangehörige oder persönliche Beziehungen zu feindlichen Personen im Ausland haben und sich in der Vergangenheit wiederholt über viele Jahre hinweg auf prominenten diplomatischen Positionen befanden“. Die meisten seien „Personen jüdischer Herkunft“. Eine von ihnen „hasst die Polen. In diesem Sinne erzieht sie ihre Kinder.“ Eine andere zeichne sich durch „ungenügende Kenntnisse der polnischen Sprache“ aus. Eine dritte „befreite durch eigenen Beschluss Menschen jüdischer Nationalität von Gebühren für konsularische Dienstleistungen“. Überdies gebe es Verbindungen zum weltweiten zionistischen Netzwerk, denn einer der Abteilungsleiter „unterhält private Kontakte“ zu Nahum Goldmann, der als Präsident des World Jewish Congress eine Schlüsselfigur des internationalen Zionismus sei. Nicht ohne Erwähnung blieben zudem Eigenschaften, die man Juden im antisemitischen Diskurs traditionell zuschrieb: Neben einer biografischen Notiz stand beispielsweise der Vermerk „geldgierig“. Jüdische Namen wurden in Klammern neben polnischen Namen angegeben, eine Praxis, die im März 1968 zu einem Markenzeichen der Propaganda werden sollte und bereits in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren von der sowjetischen Presse bei Angriffen auf sogenannte Kosmopoliten und Zionisten gängig gewesen war. Das angebliche jüdische Netzwerk schien aber weit über das MSZ hinauszureichen. Das Innenministerium stellte fest, dass der Ehemann einer Mitarbeiterin des Außenministeriums Abteilungsleiter im Ministerium für Hochschulbildung war; eine weitere Mitarbeiterin war mit einem Mann verheiratet, der in der Auslandsabteilung des Zentralkomitees der PVAP arbeitete.

Bei Innenminister Moczar wurde die Abneigung gegen Juden durch persönlichen Groll verstärkt; schließlich hatte ihn Roman Zambrowski 1948 zur öffentlichen Selbstkritik gezwungen.[77] Moczar war im Zuge der Auseinandersetzungen im kommunistischen Lager zwar nicht wie andere in Haft genommen worden, man hatte ihn aber degradiert, politisch ausgegrenzt und geheimpolizeilich überwacht. Er betrachtete sich als Opfer jener Kräfte, die patriotische Parteiaktivisten unterdrückten. Sein Nachlass enthält viele einschlägige Dokumente, die davon zeugen, dass ihn diese Lebensphase intensiv beschäftigt hat.[78] Berman war Moczar besonders verhasst, und er griff ihn während des VII. Plenums des Zentralkomitees der PVAP im Juli 1956 scharf an: „Wenn es der Genosse Berman so wollte, dann ließ er jeden Kommunisten verhaften, wenn es ihm so passte, dann ließ er ihn mit einem Netzwerk von Agenten umgeben und sein Leben blockieren. Generell könnte man es kurz so zusammenfassen, dass der Genosse Berman ein Mensch ist, der Spaß daran hat, andere zu quälen.“[79]

Der Angriff auf Berman war auch das Hauptthema seiner Rede, die Moczar für das VIII. Plenum des Zentralkomitees der PVAP im Oktober 1956 vorbereitete, aber dann nicht halten konnte, weil ihm Zenon Kliszko,[80] der engste Mitarbeiter des an die Macht zurückkehrenden Gomułka, in die Parade fuhr. Laut Redemanuskript machte Moczar seinen Widersacher sowohl für die Verbrechen des Sicherheitsapparats („Knochen brechen, Misshandlung von Menschen während der Ermittlungen“) als auch für die Auswüchse kultureller Repression verantwortlich. Die Folgen seines Wirkens seien nachhaltig, denn

„er hinterließ uns das Vermächtnis eines ‚Aktivistenkaders‘ [. . .]. Und heute sehen wir, wie diese bestimmten Leute die Macht in bestimmten Teilen unserer Kultur monopolisierten und rücksichtslos jeden zerstörten (und dies auch weiterhin tun), der es wagte, sich ihnen zu widersetzen, sie beraubten kreative Köpfe, Künstler und Wissenschaftler, die sich nicht ihren Ideen unterwarfen, ihrer gesellschaftlichen Bedeutung.“[81]

Dieselbe Sprache und dieselben Anschuldigungen prägten 1968 die antizionistische Kampagne, befeuert durch den Sechstagekrieg zwischen Israel, Ägypten, Jordanien und Syrien im Juni 1967.[82] In den 1960er Jahren muss die vom Innenministerium durchgeführte Überwachung von Kommunisten jüdischer Herkunft, die in der stalinistischen Zeit herausgehobene Positionen bekleidet hatten, mit Billigung und wahrscheinlich sogar auf Geheiß Moczars erfolgt sein. Der SB hatte damals nicht nur Berman und Zambrowski oder Julia Brystiger observiert.[83] Man nahm sich auch Stefan Staszewski[84] vor, der in der stalinistischen Zeit in der Partei für Propaganda und die Kollektivierung der Landwirtschaft verantwortlich gewesen war und 1956 zu den führenden Persönlichkeiten der Puławska-Fraktion gezählt hatte. Aus Sicht des Sicherheitsdiensts inspirierte Staszewski in den 1960er Jahren Proteste oppositioneller Intellektueller gegen die Beschränkung schöpferischer Freiheiten und die Verschärfung der Zensur.[85] Die vom SB beschafften Materialien wurden in internen politischen Kämpfen und persönlichen Fehden verwendet und wahrscheinlich auch dazu benutzt, um Gomułka zu manipulieren. Sein persönlicher Sekretär, Walery Namiotkiewicz, der den größten Einfluss darauf hatte, welche Dokumente zu welchem Zeitpunkt auf dem Schreibtisch des Ersten Sekretärs landeten, unterhielt enge Beziehungen zu Moczar.[86]

Dass Moczar nichts für jüdische Kommunisten übrighatte, steht außer Zweifel. Schwieriger ist hingegen die Frage zu beantworten, wie er allgemein zum Judentum stand und ob er die von seinem Ministerium propagierte Sichtweise teilte, es gebe so etwas wie krakenhafte jüdische Netzwerke. Man kann jedoch davon ausgehen, dass Moczar Antisemitismus bewusst als politische Waffe einsetzte, um den personellen Umbau des kommunistischen Herrschaftsapparats voranzutreiben und Schaltstellen der Macht mit eigenen Anhängern zu besetzen, nachdem Funktionsträger jüdischer Herkunft verdrängt worden waren. Überdies dürfte es Moczar, der die antisemitischen Ausbrüche im Krisenjahr 1956 nicht vergessen hatte, darum gegangen sein, die soziale Basis des Regimes zu verbreitern, konnte er doch damit rechnen, dass eine Kampagne gegen den Judäo-Kommunismus in bestimmten antikommunistischen Kreisen auf fruchtbaren Boden fallen würde. Dahinter stand wohl die Überlegung, die eigene Hausmacht in Staat und Partei so auszubauen, dass an ihm kein Weg vorbeiführte, sollte der alternde Gomułka als Erster Sekretär abtreten.

Eine Gelegenheit zum Handeln ergab sich im März 1968, als es in vielen polnischen Städten zu Studentenprotesten kam, die sich gegen die Zensur richteten und auf demokratische Reformen zielten.[87] Die Machthaber ließen die Proteste brutal niederschlagen und eröffneten eine Propagandaoffensive, welche die Proteste als eine von Juden kontrollierte Verschwörung darstellte.[88] Der Öffentlichkeit präsentierte man diese Sicht der Dinge erstmals in der Zeitung Słowo Powszechne. Die Hintermänner der Protestaktionen, die Jugendliche und Intellektuelle in einen Konflikt mit der Partei treiben wollten, seien von Israel und der Bundesrepublik Deutschland kontrollierte Zionisten. Zugleich waren Namen studentischer Rädelsführer zu lesen, die jüdisch anmuteten, und deren Eltern – einst Mitglieder der kommunistischen Machtelite – ebenfalls eine willkommene Zielscheibe waren. Sie seien „bankrotte“ Politiker mit stalinistischer Vergangenheit, die „eine Position des zionistischen Nationalismus“ eingenommen hätten und nun ihren verlorenen Einfluss zurückgewinnen wollten, indem sie eine politische Krise auslösten.[89] Zionismus und stalinistischer Judäo-Kommunismus erschienen so als zwei Seiten derselben Medaille.

Die Reichweite dieses Artikels war nicht auf die Leserschaft von Słowo Powszechne beschränkt. In vielen Unternehmen wurde er über das Betriebsradio verlesen, Kopien fanden sich als Aushang an Wänden und Informationstafeln. Auch andere aggressive Texte wurden so unter die Leute gebracht. Dieses Vorgehen lässt auf die Breitenwirksamkeit propagandistischer Inhalte schließen und verdeutlicht, dass sich nicht nur auf der oberen und mittleren Ebene des Parteiapparats, sondern auch weiter unten, in den Betrieben, Aktivisten fanden, die für eine Abrechnung mit den Juden eintraten.[90]

Słowo Powszechne war ein Organ des katholischen Vereins PAX, dessen Wurzeln auf die Falanga, eine extrem antisemitische, faschistische Gruppierung des national-radikalen Lagers der 1930er Jahre, zurückgingen. Es ist davon auszugehen, dass der Wortlaut des Artikels die Haltung dieses Milieus zu Israel, dem Zionismus und generell Juden gegenüber widerspiegelte.[91] Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass der Entschluss zur Veröffentlichung des Artikels, der die antisemitische Kampagne auslöste, nicht von ehemaligen polnischen Faschisten ausging. Diese Entscheidung wurde von der Pressestelle des Zentralkomitees getroffen, die von Stefan Olszowski[92] geleitet wurde, einem Mann, der als Unterstützer Moczars galt.[93]

Die Propaganda bezog sich insbesondere auf Stefan Staszewski, der als das ideale Feindbild gelten konnte. Er war nicht nur jüdischer Herkunft, sondern während der stalinistischen Zeit auch für die Parteipropaganda und die Kollektivierung der Landwirtschaft verantwortlich gewesen. Seit 1956 war er mit reformistischen und prodemokratischen Kreisen verbunden. Die wichtigste Tageszeitung der Partei, Trybuna Ludu, veröffentlichte einen Artikel, der an Staszewskis stalinistische Vergangenheit erinnerte, insbesondere an sein brutales Vorgehen gegen Bauern, die sich der Kollektivierung widersetzt hatten. Zitiert wurden Aussagen aus den frühen 1950er Jahren, in denen er angekündigt hatte, den Widerstand der „Kulaken“ rücksichtslos zu brechen. Staszewski versuche, an die Macht zurückzukehren, indem er die Proteste der Studierenden steuere. Aufgrund seiner stalinistischen Vergangenheit, die er verheimlicht habe, „handelt er jetzt aus der Deckung heraus, im Verborgenen, in dem Versuch, sich hinter dem Rücken anderer zu verstecken“.[94] Solche Botschaften fanden durchaus Anklang, wie ein Brief an das Zentralkomitee der PVAP zeigt. Die Verfasserin bezog sich auf Presseartikel über Staszewski und behauptete, sich an seine Brutalität gegenüber den Bauern zu erinnern, die noch schlimmer gewesen sei als die Gewalt der deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs. Es reiche bei Weitem nicht aus, Staszewski und seinesgleichen an den Pranger zu stellen: „Jeder Mensch, der ein Gewissen hat, wird für ein solches Subjekt eine harte Bestrafung verlangen.“[95]

Es fanden sich zudem Artikel aus der Feder von Funktionären des Innenministeriums, die sich in der Regel jedoch eines Pseudonyms bedienten. In einigen Fällen konnte das Inkognito allerdings gelüftet werden – wie im Fall von Major Mieczysław Rysiński. Sein Beitrag in Żołnierz Wolności, einem Organ des Verteidigungsministeriums, begann mit einer Rechtfertigung der Veränderungen in Polen seit Oktober 1956.[96] Sie wurden als Triumph jenes Teils der polnischen Kommunisten dargestellt, der die Interessen der Nation verteidigt und das Diktat der jüdischen Kommunisten mit ihrer kosmopolitischen Orientierung abgelehnt habe. Rysiński betonte die Öffnung gegenüber nichtkommunistischen Veteranen und ihren Erfahrungen im Kampf für ein freies Polen, die sich nach 1956 vollzogen habe. „In unserem Land entstand damals eine breite Front der nationalen Einheit, und ihr Programm zum Aufbau des Sozialismus vereinte alle Polen“, argumentierte der Offizier. Weiter schrieb er:

„Ein herausragendes Zeichen dafür war es, dass man nun der großen Schar jener Veteranen, die einst aus dem gesellschaftspolitischen Leben des Lands verstoßen worden waren und sich während des letzten Kriegs an allen Fronten ausgezeichnet hatten, die freundschaftliche Hand hinstreckte [. . .]. Diese heilende Strömung in der polnischen kommunistischen Bewegung stellte sich entschieden in der Breite, systematisch und mit bewundernswerter Konsequenz jenen über Jahre hinweg angewendeten Praktiken entgegen, die dem Geist und dem Herzen unserer Gesellschaft das Gift des nationalen Nihilismus einzuträufeln trachteten [. . .]. Erst nach 1956 wurde es möglich, unserer Gesellschaft und insbesondere der jungen Generation das volle Ausmaß des Kampfs der polnischen Nation gegen den Nazi-Aggressor darzustellen.“

Dieses nationale Gesicht des polnischen Kommunismus, das man 1956 erkämpft habe, sei im März 1968 zum Ziel eines Frontalangriffs der „Zambrowskis, Staszewskis, Schaffs, Werfels, Bermans und anderer“ geworden, also von Parteiaktivisten jüdischer Herkunft. Sie hätten die Studierenden manipuliert, um ihren verlorenen Einfluss zurückzugewinnen. Major Rysiński listete auch die MBP-Funktionäre mit ihren jüdischen Nachnamen auf, die sie benutzt hatten, bevor sie auf Anordnung der Partei neue, polnisch klingende Namen annahmen. Sie hätten außergewöhnliche Brutalität, jüdischen Nationalismus und eine antipolnische Einstellung gezeigt. Einer von ihnen „äußerte sich mit besonderer Verachtung über Polen, weil er sie für Menschen hielt, die angeblich recht unbegabt waren“.

Die Verteidigung der Errungenschaften des Oktober 1956 gegen die Intrigen des Judäo-Kommunismus, der für die Verbrechen des Stalinismus verantwortlich gewesen sei, zählte zu den Schlüsselelementen des Narrativs der „Partisanen“; Rysińskis Artikel ist geradezu ein Musterbeispiel dafür. Allerdings hatte der Autor Pech, denn die Personen, die er angegriffen hatte, beschwerten sich empört bei Gomułka, der die Zentrale Parteikontrollkommission damit beauftragte, die Angelegenheit zu klären.[97] Im Zuge dieser Ermittlungen musste Rysiński seine wahre Identität preisgeben und Stellung beziehen.[98] Der Major hielt jedoch im Wesentlichen an seiner Darstellung fest und erklärte, er habe lediglich Gomułka verteidigen wollen, der sich im März 1968 in tödlicher Gefahr befunden habe, die von den jüdischen Stalinisten ausgegangen sei. Für ihn seien die Ereignisse im Herbst 1956 prägend gewesen, insbesondere die Diskussionen im Parteiaktiv des KBP, von denen bereits die Rede war:

„Die Fakten über die damalige Leitung des MBP sind mir aufgrund meiner langjährigen Tätigkeit in den Sicherheitsorganen bekannt. Von vielen Tatsachen habe ich im Jahr 1956 erfahren, als ich an einer mehrtägigen Versammlung teilnahm, die von niederen Funktionären des ehemaligen MBP organisiert wurde. Damals forderten wir die Entfernung jener kompromittierten Leiter dieses Ministeriums aus den Sicherheitsorganen, die in meinem Artikel erwähnt wurden.“

Den „Partisanen“, die vor allem auf die Ressourcen des Innenministeriums zurückgriffen und Medienvertreter für ihre Ziele einspannten, gelang es, in kurzer Zeit ein Narrativ zu schaffen, das die Proteste der Studierenden und Intellektuellen sowie die politische Krise in ihrer Gesamtheit als Konflikt erscheinen ließ, in dem der patriotische, von der großen Mehrheit der Nation unterstützte Teil des herrschenden Lagers gegen antipolnische Kräfte stand, die im Kern aus Zionisten (und de facto einfach: Juden) und sogenannten Kosmopoliten ohne Verbindung zum Polentum bestanden. Dieselben Leute, die sich in den 1940er und 1950er Jahren der schlimmsten Verbrechen schuldig gemacht hätten, versuchten jetzt, die Naivität der Studierenden auszunutzen, um erneut die Macht zu ergreifen, die Errungenschaften vom Oktober 1956 rückgängig zu machen und zum System der Unterdrückung der Nation durch eine entfremdete Minderheit zurückzukehren. Dieser von den „Partisanen“ geprägte Diskurs, der verschiedene Schattierungen und Abstufungen von Radikalität aufwies, dominierte den öffentlichen Raum, wurde landesweit von Teilen des Parteiapparats und den Medien aufgegriffen und, wie es scheint, auch von einem Teil der Gesellschaft wohlwollend aufgenommen.

Charakteristisch war die Erzeugung eines Bedrohungsgefühls, das sich aus einem angeblich von Stalinisten unternommenen Putschversuch ergab. Józef Kępa,[99] Erster Sekretär des Warschauer Komitees der PVAP, verwies auf einer Versammlung des Parteiaktivs auf Staszewski und Zambrowski als diejenigen, die hinter den Kulissen die Fäden zögen. Angeblich hätten die Studierenden in den Straßen von Warschau die Parole skandiert: Zambrowski ins Politbüro.[100] Die Medien transportierten dieses Motiv – allem Anschein nach unter dem Einfluss des Innenministeriums – kontinuierlich. Tatsächlich gibt es keinerlei Beweis dafür, dass solche Parolen ausgegeben wurden, und es erscheint nur schwer vorstellbar, dass ein 1963 aus der Parteiführung entfernter Aktivist Jahre später noch zahlreiche Studierende hätte auf die Straßen bringen können.

Bei einem Treffen mit dem Parteiaktiv eines Hüttenwerks in Warschau Anfang Juni war erneut von „einer großen Gruppe von Menschen jüdischer Abstammung“ als Organisatoren der Märzereignisse die Rede, von einer sorgfältig vorbereiteten Verschwörung und einem Umsturzplan: „Sie wussten, was sie wollten, sogar ein Plan für die Zusammensetzung der Parteiführung wurde erstellt“.[101] Diesmal ergänzte Józef Kępa seine Argumente jedoch um einen historischen Abriss, der bis in die Zeit der KPP vor 1939 zurückreichte. Kępa sprach nicht nur davon, dass Juden in den eigenen Reihen überrepräsentiert seien, sondern auch davon, dass sie die polnische Unabhängigkeit und die nationale Frage im Allgemeinen geringschätzten; dies sei dem „kosmopolitischen Verständnis des Internationalismus“ geschuldet. Er sprach auch über die Position der KPP, welche die Ansicht vertreten habe, Schlesien und Pommern seien nach dem Ersten Weltkrieg „vom polnischen Imperialismus annektiert“ worden, obwohl sie nicht zu Polen gehörten, und daher an Deutschland zurückgegeben werden sollten. Er ging sogar noch weiter und behauptete, dass für die KPP die „staatlichen Interessen der Sowjetunion [. . .] zu Lasten der polnischen Interessen“ an erster Stelle gestanden hätten. Dies ist ein sehr seltenes Beispiel für eine offene und daher politisch riskante Bezugnahme auf antirussische Ressentiments im Narrativ der „Partisanen“. Kępa behauptete, die jüdischen Kommunisten hätten ihre Haltung aus den alten Tagen der KPP auf die PPR und schließlich auf die PVAP übertragen. Sie seien für die Verfolgung Gomułkas und seiner Anhänger sowie der Angehörigen der Heimatarmee und der Bauernbataillone verantwortlich gewesen.

Ein wichtiges Element im Diskurs der „Partisanen“ war die Verteidigung des historischen Bilds der Polen als Helden und Opfer, das durch eine Verleumdungskampagne bedroht sei, hinter der Feinde – hauptsächlich Juden – stünden. Zu diesem Zweck beschuldige man die Polen der Komplizenschaft bei der Ermordung von Juden und marginalisiere zugleich das polnische Märtyrertum während des Zweiten Weltkriegs. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die „Große Universalenzyklopädie“ (Wielka Encyklopedia Powszechna, WEP). Man warf den verantwortlichen Redakteuren vor, den Heldenmut und das Leiden der Polen während des Kriegs geschmälert zu haben. Dies sei, so der Autor des heftigsten Angriffs auf die WEP, kein Zufall, denn „die Bearbeitung der Einträge aus der jüngsten Geschichte wurde einigen kompromittierten Politikern überlassen“. Tadeusz Kur erwähnte Staszewski und andere Autoren jüdischer Herkunft. „Die Geschichte hat uns gelehrt, nicht an Zufälle zu glauben. Nichts ist von selbst passiert, nichts passiert und nichts wird von selbst passieren“, warnte er seine Leserschaft.[102]

Die Empörung gegenüber den Redakteuren der Enzyklopädie in der Presse wurde an der Parteibasis aufgegriffen. In seiner Resolution forderte das Parteiaktiv der Fabrik für Personenkraftwagen in Warschau „die sofortige Rücknahme von Exemplaren der WEP mit falschen antipolnischen Informationen aus dem Verlagsmarkt und den Bibliotheken; eine inhaltliche Korrektur in den nächsten Ausgaben; die strenge Bestrafung und moralische Verurteilung derjenigen, die die Veröffentlichung der WEP in dieser Version zugelassen haben“.[103] Den Angaben des Sicherheitsdiensts zufolge wurde in Posen

„der Artikel der ‚Enzyklopädisten‘ unter der technischen Intelligenz der Industriellen Vereinigung für Schienenfahrzeuge ‚Tasko‘ lebhaft kommentiert. Es wird festgestellt, dass die meisten Redakteure den Kreisen ehemaliger Partei- und Staatsfunktionäre entstammen. Die Arbeiter sprechen sich dafür aus, Konsequenzen gegenüber denjenigen zu ziehen, die die Geschichte der polnischen Nation falsch beleuchten.“[104]

Mehr als einen Monat nach Ausbruch der Studentenproteste meldete sich Moczar öffentlich zu Wort. Der Innenminister gab der Polnischen Presseagentur ein Interview, das größtenteils einem Angriff auf die ehemaligen Stalinisten gleichkam, die er als größte Bedrohung für die polnische Nation darstellte.[105] Unter anderem führte er aus:

„Dabei kann unmöglich auch ein weiteres Problem ausgelassen werden, das bis vor Kurzem verschwiegen wurde. Ich meine die Tatsache, dass zusammen mit den heldenhaften Soldaten einige Politiker in Offiziersmänteln zu uns kamen, die später glaubten, dass eben deswegen nur sie – die Zambrowskis, die Radkiewiczs, die Bermans – das Recht hätten, zu bestimmen, was für die polnische Nation richtig sei. Diese Tatsache war damals ein Ausdruck des fehlenden Glaubens an uns. Damit begann das Übel, das bis 1956 andauerte.“

Dabei nahm Moczar auf den Mythos vom Oktober 1956 als patriotischer Erneuerungsbewegung Bezug und trat so als Repräsentant der polnischen Nation auf, der sich der vermeintlich drohenden Unterdrückung durch jüdische Kommunisten entgegenstellte. Der Verweis darauf, sie seien 1944 zusammen mit der Sowjetarmee nach Polen gekommen, adressierte – wenn auch genau dosiert – die in der polnischen Gesellschaft nach wie vor lebendigen antirussischen Ressentiments. Weiter konnte der Innenminister in einer offiziellen Stellungnahme kaum gehen, und schon diese Aussage war einigermaßen riskant, wenn man bedenkt, dass Moczar damit rechnen musste, dass sein Interview von den Statthaltern Moskaus in Polen sorgfältig gelesen und an den Kreml weitergeleitet wurde. Vielleicht trugen gerade derartige Äußerungen dazu bei, dass dem Innenminister in entscheidenden Momenten die Unterstützung seitens der sowjetischen Führung versagt blieb. Empört äußerte sich Moczar auch mit Blick auf die Enzyklopädie und die in der Redaktion tätigen jüdischen Redakteure, in denen er Stalinisten sah: „Angelegenheiten, die den Stolz der polnischen Nation darstellen, kümmerten sie wenig.“ Er erklärte, mit den polnischen Kriegserfahrungen müssten sich „solche Menschen beschäftigen [. . .], die sie verstehen, die den Atem unserer Nation spüren“. Abschließend betonte Moczar, dass es ebenjene Gegner des polnischen Heldentums und Märtyrertums seien, die hinter den Studentenprotesten stünden. Damit verwob er – unter antisemitischen Vorzeichen – historische Fäden mit aktuellen Entwicklungen und erinnerte zugleich daran, wo der Feind stehe.

Auch der Parteivorsitzende sprach über die jüdischen Stalinisten. Ende März 1968 machte Gomułka in einer Rede, die für einen geschlossenen und vertrauten Kreis von Parteigenossen bestimmt war, die offenste seiner Äußerungen zur „Judenfrage“.[106] Viel Raum widmete er der Überrepräsentation von Kommunisten jüdischer Herkunft in den Machtstrukturen der 1940er und 1950er Jahre, insbesondere im Sicherheitsapparat. Er betonte, er sei in der Parteiführung der einzige gewesen, der dagegen protestiert und diesen Zustand habe ändern wollen: „Nun, dort waren doch nur Genossen jüdischer Herkunft. Ich stellte die Sache klar dar, im Politbüro, Genossen, so kann es schließlich nicht weitergehen [...], dass alle Verhafteten, Polen, eben durch ihre Hände gehen.“ Es war deutlich spürbar, dass dieses Thema Gomułka immer noch stark emotional beschäftigte. Er wiederholte mehrmals, die Genossen hätten ihm „Nazi-Methoden“ vorgeworfen, weil er versucht habe, diesen Zustand zu ändern. Er sprach über den Einfluss von Kommunisten jüdischer Herkunft in der stalinistischen Zeit, als er selbst inhaftiert gewesen war: „Sie haben alles entschieden. [. . .] Ich hielt das für falsch, schädlich für die Partei, schädlich für die Nation, der ich angehöre und als deren Patriot ich mich fühle.“ Gomułka nahm auch 1968 einen übermäßigen Einfluss und die angeblich schädlichen Aktivitäten von Menschen jüdischer Herkunft wahr, allerdings sprach er darüber im Vergleich zur Vergangenheit in einem gelasseneren Ton. Mit Blick auf den Beginn der Studentenproteste an der Universität Warschau behauptete er, dass „sich unter den elf Personen, die diesen 8. März vorbereiteten, ein Pole und zehn Menschen, zehn Studenten jüdischer Herkunft befanden“. Gomułkas Ausführungen basierten jedoch nicht nur auf Vorurteilen, taktischem Kalkül und negativen Erfahrungen, sondern wurden auch durch handfeste Falschinformationen beeinflusst, die ihm das Innenministerium übermittelt hatte.

Unabhängig davon kann man sich jedoch nicht des Eindrucks erwehren, dass der Erste Sekretär für viele Vorwürfe der Anhänger Moczars ein offenes Ohr hatte. Vermutlich verfolgte Gomułka aber noch eine weitere Absicht, als er die antisemitische Kampagne zunächst tolerierte: nämlich einen Schulterschluss zwischen protestierenden Studierenden und unzufriedenen Arbeitern zu vermeiden.[107] Hier sah Gomułka eine große Gefahr, zumal in der benachbarten Tschechoslowakei zur gleichen Zeit eine Reformbewegung in Partei und Gesellschaft – der Prager Frühling – immer weitere Kreise zog.[108] Wenn man die Studierenden als zionistische Aufrührer mit Verbindungen zu ehemals stalinistischen Funktionären jüdischer Herkunft brandmarkte, konnte man sie politisch wie gesellschaftlich isolieren und die Proteste möglichst im Keim ersticken. Dass durch diese Instrumentalisierung der verbreiteten Judenfeindschaft der Antisemitismus in der Bevölkerung geschürt wurde, nahm der Erste Sekretär offensichtlich in Kauf.

Dieses Kalkül ging nicht auf, und das hatte viel mit der Radikalität der antisemitischen Kampagne zu tun, die im März 1968 losgetreten wurde. Gomułka muss ziemlich schnell gemerkt haben, dass er die Kontrolle über das Geschehen zu verlieren drohte, dass die mit der Kampagne verbundenen personellen Säuberungen zu weitreichend waren und dass sie die Herrschaft der PVAP sogar destabilisieren konnten. Allein in Warschau wurden etwa 500 Männer und Frauen aus Positionen entfernt, die unter die Nomenklatur des Zentralkomitees fielen, also die höchste Ebene und die wichtigsten Institutionen betrafen.[109] Rechnet man das Revirement auf den unteren Ebenen und außerhalb Warschaus hinzu, wird diese Zahl sicherlich noch erheblich höher gelegen haben, auch wenn sie sich nicht präzise bestimmen lässt. Die Entfernung von als Zionisten stigmatisierten Personen erfolgte in den meisten Fällen im Rahmen von Versammlungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer bestimmten Institution, die von einer Parteiorganisation abgehalten wurden. Nicht selten gerieten sie zu einem Hassspektakel, bei denen die jüdische Herkunft der Angegriffenen im Mittelpunkt stand.[110]

Es ist anzunehmen, dass Gomułka recht schnell verstand, dass Moczar sein eigenes Spiel spielte. „Diese Welle überschwemmt uns, wir haben keine Kontrolle darüber, auch ich werde auf Versammlungen ausgebuht und angeschrien“, bemerkte Zenon Kliszko im April 1968 alarmiert. Gomułkas rechte Hand dürfte damit die aufgeheizte Stimmung angemessen beschrieben haben, und vielleicht lässt sich auch die wachsende Beunruhigung des Ersten Sekretärs in seinen Worten erkennen,[111] der zunehmend von Moczars Kampagne abrückte. Politische Überlegungen waren dafür sicher zentral, aber es ist nicht auszuschließen, dass Gomułka der offene Antisemitismus zuwider war, der sich gegen Menschen richtete, die lediglich wegen ihrer Herkunft zur Zielscheibe geworden waren.[112] So kann man jedenfalls eine Bemerkung verstehen, die Ende Mai 1968 bei einem Treffen mit den Sekretären der Warschauer Bezirkskomitees der PVAP fiel. Gomułka sprach davon, dass „eine Judenjagd“ stattfinde und eine „Atmosphäre des moralischen Terrors“ herrsche.[113]

Nachdem es zunächst kein Problem dargestellt hatte, antisemitische Inhalte oder Aufrufe zu einem harten Vorgehen gegen die angeblich in den eigenen Reihen verborgenen Feinde zu veröffentlichen, begann die Zensur schon bald damit, als zu radikal erachtete Texte zurückzuhalten. Es gibt keine Dokumente, die es erlauben würden, den Entscheidungsprozess nachzuvollziehen. Sicherlich dürften die Weisungen – gemäß der Arbeitsweise des Hauptamts für die Presse-, Veröffentlichungs- und Verlagskontrolle – aber aus dem Presseamt des Zentralkomitees gekommen sein, das wiederum nach Maßgabe der Anweisungen Gomułkas und seines Umfelds agierte. Es dauerte nicht lange, bis Bilder oder Stellungnahmen, in denen Säuberungen und personelle Wechsel in Partei und Regierung gefordert wurden, von der Zensur aus dem Verkehr gezogen wurden. In den Unterlagen der Zensurbehörde findet sich etwa ein nicht zum Druck freigegebenes Foto einer Belegschaftsversammlung der Warschauer Elektromaschinenwerke, das eine über dem Tisch des Präsidiums angebrachte Tafel mit dem Text „Wir wollen keine Zionisten in der Regierung“ zeigte.[114]

Ende Juni 1968 beschloss der Erste Sekretär, der Kampagne ein Ende zu setzen. Das Presseamt gab eine Direktive heraus, die „eine Übertreibung [...] des Problems des Zionismus und der zionistischen Aktivitäten in Polen“ unterbinden sollte. „Bei der Erörterung der Hintergründe der Märzereignisse“ sei „die jüdische Herkunft ihrer Inspiratoren nicht zu betonen“, und „bei der Erörterung personeller Veränderungen sollten Formulierungen vermieden werden, die direkt oder indirekt die jüdische Herkunft der von diesen Veränderungen betroffenen Personen hervorheben würden“.[115]

Gleichzeitig begann Gomułka damit, Moczars Position zu schwächen und die Kontrolle über das Innenministerium wiederherzustellen. Auf dem im Juli 1968 abgehaltenen Plenum des Zentralkomitees wurde Moczar zum stellvertretenden Mitglied des Politbüros und zum Sekretär des Zentralkomitees gewählt, allerdings verlor er zugleich das Amt des Innenministers. Moczar stieg damit zwar in der Parteihierarchie auf, büßte aber seine politische Machtbasis in der inneren Verwaltung und im Sicherheitsapparat ein. De facto war dies der Anfang vom Ende der „Partisanen“, deren Einfluss während der antizionistischen Kampagne von 1968 seinen Höhepunkt erreicht hatte, als ihre Propagandabotschaften in Partei und Gesellschaft auf fruchtbaren Boden fielen. Nachdem Gomułka der Kampagne seine Billigung entzogen hatte und Moczar aus dem Innenministerium ausgeschieden war, begann diese Fraktion allmählich zu zerfallen.

1970 unterlag der Anführer der „Partisanen“ im Kampf um Gomułkas Nachfolge. Dieser war im Dezember 1970 zum Rücktritt gezwungen worden, als in mehreren polnischen Städten Arbeiterproteste ausbrachen, die von Miliz und Armee brutal niedergeschlagen wurden. Der Kreml gab klar zu verstehen, dass er Moczar nicht an der Spitze der PVAP sehen wollte. Stattdessen sprach er sich für Edward Gierek[116] aus, den bisherigen Ersten Sekretär des Woiwodschaftskomitees in Kattowitz. Gierek war ein Repräsentant der technokratischen Kräfte in der Partei, die für eine weitere wirtschaftliche Entwicklung und eine Anhebung des Lebensstandards standen.[117] Bereits zuvor hatten einige sowjetische Parteifunktionäre ihren polnischen Kollegen mitgeteilt, Moczar mache ihnen Sorgen. Seine Rhetorik erinnere zu sehr an die von Nicolae Ceauşescu, der 1965 in Rumänien die Macht übernommen hatte und dem Kreml mit seinen nationalistischen Positionen nicht wenige Probleme bereitete.[118] Giereks Herrschaft basierte auf einem ganz anderen ideologischen Konstrukt, das man als sozialistischen Konsumismus bezeichnen kann. In diesem Kontext spielten Nationalismus, Geschichte oder die angebliche Verantwortung jüdischer Kommunisten für den Stalinismus keine große Rolle.[119] Nichtsdestotrotz waren Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft nun viel weniger im öffentlichen Leben sichtbar als dies noch 1968 der Fall gewesen war. Die antizionistische Kampagne führte dazu, dass zahlreiche Bürgerinnen und Bürger jüdischer Herkunft Polen verließen; zwischen 1968 und 1971 emigrierten fast 13000 von ihnen.[120]

VI. Fazit und Ausblick

Obwohl es ihnen nicht gelungen war, die Macht zu übernehmen und ihr ideologisches Projekt dauerhaft in Staat und Gesellschaft zu verankern, erwies sich der Einfluss der „Partisanen“ als langfristig bedeutsam. Ihr Angebot, das sich sowohl an Mitglieder der kommunistischen Partei als auch an breite gesellschaftliche Kreise richtete, überdauerte Moczars Machtverlust und den Zerfall seiner Gruppierung. So blieben judenfeindliche Einstellungen ebenso lebendig wie die stereotype Sichtweise der stalinistischen Verbrechen und ihrer Verantwortlichen. In den 1980er Jahren war der Patriotische Verein Grunwald aktiv, der die Rhetorik der „Partisanen“ imitierte und die Frage der jüdischen Verantwortung für den Stalinismus in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten stellte. Dieser Verein wurde aus dem Parteiapparat und dem Sicherheitsdienst heraus unterstützt.[121] Auch nach dem Ende der sogenannten Volksdemokratie blieben alte Narrative präsent. 1992 gaben bei einer Umfrage 14 Prozent der Interviewten als Grund für ihre Abneigung gegenüber Juden an, dies liege an ihrer Verantwortung für die Einführung des Kommunismus in Polen.[122]

An der Schnittstelle von Politik, Geschichte und Kultur mag die bereits mehrfach erwähnte Figur der Julia Brystiger als charakteristisches Beispiel dienen, die während des Stalinismus zentrale Abteilungen des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit geleitet hatte. Brystiger, so könnte man auch sagen, war so etwas wie die Inkarnation des Stereotyps vom Judäo-Kommunismus. Schon 1956 gehörte sie zu den – jüdischen – Sündenböcken, denen national gesinnte Genossen die Verantwortung für die Verbrechen des Stalinismus in die Schuhe schieben wollten. Aber auch nach dem Sturz des Regimes geriet sie nicht in Vergessenheit. In den letzten zwei Jahrzehnten sind zahlreiche Publikationen aus der Feder von Vertreterinnen und Vertretern rechter und antikommunistischer Kreise erschienen, die sich mit ihr auseinandergesetzt haben. Diese Veröffentlichungen enthalten Beschreibungen persönlicher Grausamkeit, einschließlich der Folterung von Soldaten des antikommunistischen Untergrunds, obwohl gesicherte historische Tatsachen dieser Darstellung widersprechen. Als Figur tauchte die 1975 verstorbene Brystiger in Spielfilmen auf, sogar in solchen, deren Drehbuchautoren sich nicht mit dem rechten Narrativ identifizieren. In der beliebten TV-Serie „Zeit der Ehre“ gab es eine Rolle, die eindeutig auf sie zurückging. In dem oscarprämierten Film „Ida“ von Paweł Pawlikowski ist eine der beiden Hauptfiguren eine stalinistische Staatsanwältin jüdischer Herkunft. Der Regisseur gab zu, dass ihn unter anderem Julia Brystiger dazu inspiriert habe.[123] Dieses Beispiel zeigt die Vitalität von Mythen, die trotz des Wandels politischer Systeme Bestand haben.

Katherine Verdery hat die These aufgestellt, dass sich die Herrschenden in den meisten kommunistischen Ländern früher oder später auf nationalistische Ideologien berufen mussten, wenn sie nach Legitimität und gesellschaftlicher Unterstützung für ihre Herrschaft suchten. Je weniger die kommunistischen Parteien in der Gesellschaft verwurzelt waren, desto intensiver musste diese Bezugnahme ausfallen. Die Anthropologin widmete sich insbesondere Rumänien, denn ihrer Auffassung nach ging die Verwertung nationalistischer Inhalte in Geschichte und Kultur hier am weitesten.[124] Die von den „Partisanen“ in Polen unternommenen Versuche folgten demselben politischen und ideologischen Muster, auch wenn Moczar nicht an die Macht gelangte und seine Ideen nicht so konsequent durchzusetzen vermochte wie Ceauşescu. Moczar und seine Gefolgsleute instrumentalisierten erfolgreich Motive aus der polnischen Geschichte und Kultur, die zuvor an den Rand gedrängt worden waren. So vermochten sie es, die angestammte soziale Basis der polnischen Kommunisten zu verbreitern und auch Menschen anzusprechen, die sich bisher von der PVAP ferngehalten hatten. Für dieses Projekt war der Bezug zum Antisemitismus und insbesondere das Narrativ des Judäo-Kommunismus von zentraler Bedeutung, das zuvor zum Repertoire der Rechten gehört hatte, aber seit 1956 zunehmend Eingang in den Sprachgebrauch kommunistischer Funktionäre fand. Dieses Vorgehen ermöglichte zeitweise eine Mobilisierung breiter Kreise und nahm keine Rücksicht darauf, dass damit antisemitische Haltungen geschürt und verfestigt wurden. Die Auswirkungen sind bis in die Gegenwart spürbar.

Aus dem Polnischen übersetzt von Gert Röhrborn.

Online erschienen: 2025-07-01
Erschienen im Druck: 2025-05-28

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 18.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2025-0026/html
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