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Artur Boss

Der Aufstieg eines ukrainischen „Volksdeutschen“ im deutschen Besatzungsapparat
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Published/Copyright: July 1, 2025

Abstract

Artur Boss durchlief im Zweiten Weltkrieg eine bemerkenswerte Karriere in der von Deutschland besetzten Ukraine. Trotz der Begrenzungen, denen er als „Volksdeutscher„ unterworfen war, gewann er das Vertrauen eines hochrangigen SS-Offiziers und spielte eine Schlüsselrolle in der Kyjiwer Stadtverwaltung. Seine Geschichte bestätigt die These, dass „Volksdeutsche“ mittels Gewaltbereitschaft und Opportunismus ihre Loyalität zum nationalsozialistischen Deutschland bezeugen konnten. Zudem lässt sich am Beispiel von Artur Boss zeigen, dass die Zivilbevölkerung vor Ort ihren Informationsvorsprung gegenüber den Besatzern ausnutzen konnte, um die eigene Lage zu verbessern. Tobias Wals setzt sich eingehend mit Boss’ Biografie auseinander, einschließlich seiner Verfolgung durch den sowjetischen Geheimdienst in den 1930er Jahren und seiner Verwicklung in die NS-Prozesse, die seit Ende der 1950er Jahre in der Bundesrepublik stattfanden.

Abstract

During the Second World War, Artur Boss had a remarkable career in German-occupied Ukraine. Despite limitations due to his status as a Volksdeutscher or local ethnic German, he succeeded in gaining the trust of a high-ranking SS officer and played a key role in the city administration of Kyiv. His story confirms the thesis that Volksdeutsche could prove their loyalty to Nazi Germany through opportunism and their willingness to use violence. Additionally, the example of Artur Boss shows that the local civilian population was able to make use of their advantage over the occupiers regarding local information as a means of improving their own situation. Tobias Wals thoroughly investigates Boss’ biography, including his persecution by the Soviet intelligence service during the 1930s and his involvement in the trials for Nazi crimes that were conducted in West Germany beginning in the late 1950s.

I. Die Vernehmung des Dr. med. Artur Boss

Am 8. Januar 1963 standen Kriminalkommissar Karl Beihl und Polizeihauptwachtmeister Werner Roebner vor der Tür eines imposanten Hauses in der Münchner Maria-Theresia-Straße, in einer begrünten Gegend jenseits der Isar. Sie hatten den Hausherrn, einen gewissen Dr. med. Artur Boss, vorgeladen, doch er war zum gegebenen Zeitpunkt nicht erschienen. Daraufhin riefen die Ermittler Boss an, der erklärte, er könne sie nur in seiner Wohnung empfangen, weil er Fieber habe. Diesen Eindruck hatten Beihl und Roebner allerdings nicht, als sie Boss gegenübertraten.[1]

Anlass der Vernehmung waren Geschehnisse, die sich im Sommer und Herbst 1941 in der Ukraine zugetragen hatten. Beihl untersuchte als Mitglied einer Sonderkommission des Landeskriminalamts Baden-Württemberg das Vorgehen des Sonderkommandos (SK) 4a nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und sammelte Material für den sogenannten Callsen-Prozess, benannt nach dem SS-Offizier Kuno Callsen. Boss’ Name war in einer Ereignismeldung des Chefs der Sicherheitspolizei (SiPo) und des Sicherheitsdiensts (SD) aufgetaucht, in der berichtet wurde, das SK 4a habe am 19. September 1941 das „Judenviertel“ in der Stadt Žytomyr „geräumt“ und dabei alle Jüdinnen und Juden erschossen. Im letzten Absatz der Meldung hieß es: „Dem Beauftragten der NSV[2] in Shitomir, Boss, konnten ca. 25–30 to an Wäsche, Bekleidung, Schuhwerk, Geschirr usw., welche bei der Aktion beschlagnahmt worden waren, zur Verwertung zugeführt [werden]. Beschlagnahmte Wertgegenstände und Geld wurden dem Sonderkommando 4a zugeführt.“[3]

Im Rahmen der Vernehmungen hatten mehrere ehemalige Mitglieder des SK und Akteure aus dessen Umfeld den Namen Boss genannt sowie sein Foto erkannt. Aus den Aussagen ging eindeutig hervor, dass es sich um einen einheimischen deutschen Arzt handelte, der in Žytomyr als Dolmetscher für das SK 4a tätig geworden war und diese Rolle später auch in Kyjiv erfüllt hatte. Allerdings bestand keine Übereinstimmung darüber, welche Rolle er genau für das Kommando gespielt hatte. Boss hatte dem Führer des SK 4a, SS-Standartenführer Paul Blobel, ziemlich nahegestanden, aber nie Uniform getragen. Keiner der Vernommenen konnte mit Sicherheit sagen, ob Boss selbst geschossen hatte, aber einer von ihnen konnte sich eindeutig daran erinnern, dass Boss dem SK im Vorfeld einer Erschießung „die nötigen Unterlagen über in Shitomir wohnhafte Juden verschafft“ hatte.[4] Ein anderer Zeuge meinte, Boss habe nicht nur in Žytomyr, sondern ebenfalls in Kyjiv beschlagnahmte jüdische „Stoffe und Wäsche“ verwaltet.[5]

Weitere Einzelheiten über Boss’ Tätigkeiten in der ukrainischen Hauptstadt erfuhren die Ermittler aus einer früheren Vernehmung. Denn auch bei Untersuchungen im Fall des SS-Offiziers Erich Ehrlinger, Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Kyjiv, war der Name Boss aufgetaucht. Ukrainische Emigranten warfen ihm vor, als Leiter des Personalamts der Kyjiver Stadtverwaltung den deutschen Besatzern die Namen ukrainischer Nationalisten übergeben zu haben, die dann verhaftet worden waren und fürchten mussten, ermordet zu werden.[6] Bei einer Vernehmung am 22. Juni 1960 hatte Boss eingeräumt, im Winter 1941/42 das Personalamt geleitet zu haben; seine Aufgabe sei es gewesen, Ortskräfte auf eine kommunistische Vergangenheit hin zu überprüfen. Er verneinte jedoch, nach ukrainischen Nationalisten gefahndet zu haben.[7] Da die Anschuldigungen von anderen Zeugen nicht bestätigt werden konnten, stellte man die Ermittlungen gegen Boss ein.[8]

Anfang 1963 suchte ihn die Justiz erneut auf. Kriminalkommissar Beihl und Polizeihauptwachtmeister Roebner saßen Boss in seinem Arbeitszimmer gegenüber, wo er sonst seiner Tätigkeit als Psychiater nachging. Wie bei derartigen Verhören üblich, wurde er zuerst gebeten, seinen Lebenslauf zu skizzieren. Boss gab an, er sei in einer baptistischen Familie in Odesa aufgewachsen und habe dort Medizin studiert. Anfang der 1930er Jahre sei er mit seinen Eltern nach Žytomyr gezogen. Die Sowjetbehörden hätten ihn dreimal wegen antikommunistischer Aktivitäten verfolgt und letztendlich in ein kasachisches Lager abgeschoben. 1937 sei er geflohen und habe sich bis zum deutschen Einmarsch im elterlichen Haus versteckt. Diese Geschichte war den Ermittlern aus anderen Aussagen bekannt; Boss hatte sie schon während des Kriegs vielfach erzählt. Zum Schluss erklärte er, 1943 mit seiner Frau vor der Roten Armee geflohen zu sein und nach Kriegsende in der französischen Besatzungszone, nahe des Bodensees, Zuflucht gefunden zu haben.[9]

Dann kamen die Ermittler zur Sache: Gefragt nach seiner Tätigkeit für das SK 4a, beschrieb Boss seine Rolle als passiv: Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Žytomyr sei er aufgrund seiner Deutschkenntnisse vom SK 4a als Übersetzer „herangezogen“ und bei Vernehmungen „eingesetzt“ worden. In Kyjiv sei er zufällig erneut mit dem SK in Berührung gekommen; eigentlich sei er auf eigene Faust dorthin gefahren, um seinen von den Sowjetbehörden festgenommenen Vater zu suchen. Mit der Ereignismeldung konfrontiert, räumte Boss ein, in Žytomyr wie Kyjiv jüdischen Besitz verwaltet zu haben, den er „armen ukrainischen Personen zukommen ließ“. Jedwede Mitwirkung bei Erschießungen dementierte er vehement. In Žytomyr sei er niemals bei einer Erschießung anwesend gewesen; in Kyjiv habe er „in der Nähe des Erschießungsortes“ Babyn Jar dolmetschen „müssen“. Die Vernehmung dauerte bis nach 22:00 Uhr und wurde am folgenden Morgen fortgesetzt. Am Ende erhielt Boss die Möglichkeit, das von Kriminalkommissar Beihl verfasste Protokoll zu lesen, das die drei Männer anschließend unterzeichneten.

Später sollte sich Boss beklagen, Beihl habe sich unangemessen verhalten und die Stimme erhoben – was der Beamte bestritt.[10] Im Callsen-Prozess vor dem Landgericht Darmstadt wurde Boss nur als Zeuge geladen, obwohl es Hinweise gab, dass er belastende Fakten verschwiegen hatte. Die Ermittler glaubten offensichtlich nicht, seine Beteiligung am Mordgeschehen nachweisen zu können. Seine Tätigkeit als Dolmetscher und Verwalter jüdischen Besitzes reichten für eine Anklage nicht aus; damit war Boss vom Haken.[11]

II. Werdegang eines „Volksdeutschen“

Die Rolle, die Artur Boss in der besetzten Sowjetukraine spielte, wurde in den Verfahren gegen Ehrlinger und Callsen nur undeutlich sichtbar, und es blieb zu viel im Unklaren, um Anklage gegen ihn zu erheben. Gleichwohl lassen es die Akten dieser Verfahren – ergänzt durch neu erschlossenes Archivmaterial – zu, seine bemerkenswerte Karriere im deutschen Besatzungsapparat nachzuzeichnen, bemerkenswert deshalb, weil Boss als „Volksdeutscher“ eine grundsätzlich untergeordnete Position einnahm.[12] Der vorliegende Aufsatz verfolgt das Ziel zu rekonstruieren, wie der Aufstieg von Artur Boss nach der deutschen Invasion verlief und welche Voraussetzungen dafür nötig waren. In einem weiteren Sinn geht es darum, seine Biografie über die Systemumbrüche des 20. Jahrhunderts hinweg zu verfolgen.

In der Forschung zur Besatzungsherrschaft in der Sowjetukraine ist die Rolle der einheimischen Deutschen noch immer unterbelichtet. Das gilt insbesondere für die deutschstämmige Bevölkerung im nordwestlichen Oblast Žytomyr, die sich dort erst spät, nämlich nach einer Einladung des Zaren Ende des 19. Jahrhunderts, gebildet hatte.[13] Unter der Sowjetherrschaft waren die Deutschen schon früh Unterdrückungen ausgesetzt, zunächst als Klassenfeinde, dann nach Hitlers Machtübernahme zunehmend auch als vermeintlich unzuverlässige Fremdkörper. Dabei geriet die Bevölkerung im Oblast Žytomyr besonders in den Fokus, weil sie nahe der Grenze lebte.[14] Nach Beginn des Unternehmens „Barbarossa“ sollten die etwa 44000 Deutschen abgeschoben werden, doch bevor es so weit kam, rückte die Wehrmacht in Žytomyr ein.[15]

Nach den Planungen des NS-Regimes war für die „Volksdeutschen“ in der Ukraine eine Sonderrolle vorgesehen. Einerseits hatten sie mit ihren Orts- und Sprachkenntnissen den Besatzungsapparat zu unterstützen; andererseits sollten sie gemäß der Lebensraumideologie dazu beitragen, das eroberte Land zu kolonisieren. Daher nahmen sie in der Rassenordnung der Besatzungsgesellschaft eine privilegierte Position ein, die erhebliche materielle Vorteile mit sich brachte. Zugleich galten die „Volksdeutschen“ im Vergleich zu den Reichsdeutschen als minderwertig, weil sie im Verdacht standen, sich mit der „nichtarischen“ Bevölkerung vermischt zu haben.[16]

Was die Einstellung der ethnischen Deutschen betrifft, ist sich die Forschung einig, dass unter ihnen wegen der erlittenen Verfolgungen schon lange vor dem Überfall der Wehrmacht antisowjetische Stimmungen weitverbreitet waren.[17] Durch Propaganda, Privilegien und Gruppenzwang wussten die Besatzer diese Stimmungslage auszunutzen, um die „Volksdeutschen“ für ihre Vorhaben zu mobilisieren – bis hin zur Ermordung ihrer jüdischen Nachbarn. Vor allem in Transnistrien, das unter rumänischer Verwaltung stand, beteiligten sich deutsche „Selbstschutzeinheiten“ unter der Regie des Sonderkommandos R in großem Stil am Massenmord.[18]

Weitgehend ungeklärt bleibt die Frage, inwiefern „Volksdeutsche“ imstande waren, unter den Bedingungen des Besatzungsregimes ihr eigenes Schicksal mitzugestalten. In der Regel spricht man ihnen beschränkten Handlungsspielraum zu: Sie seien zwar an der Durchsetzung der Besatzungsherrschaft beteiligt gewesen, die Initiative sei aber vor allem von den reichsdeutschen Führungskräften ausgegangen. Dieser Deutung hat Eric C. Steinhart widersprochen und am Beispiel Transnistriens überzeugend dargelegt, dass Gewalt oder zumindest ostentative Gewaltbereitschaft für die ethnischen Deutschen ein Mittel war, ihre Loyalität zu beweisen und ihre Position in der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ zu festigen. In einem Aufsatz über Jakob (Jack) Reimer – ein „Volksdeutscher“ aus der südostukrainischen Steppe, der in der Roten Armee gedient hatte und es nach seiner Gefangennahme als Hilfswilliger der SS immerhin bis zum SS-Oberzugwachmann brachte – hat Steinhart auf dessen außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit hingewiesen. Reimers Fähigkeit, sich gleichsam neu zu erfinden, habe es ihm erlaubt, in der neuen ideologischen Ordnung nicht nur zu überleben, sondern sogar eine bescheidene Karriere zu machen.[19]

Der vorliegende Aufsatz bestätigt Steinharts These, dass ethnische Deutsche über erheblichen Handlungsspielraum verfügen konnten, der auf Gewaltbereitschaft und Anpassungsfähigkeit basierte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang überdies, dass die „Volksdeutschen“ in den besetzten sowjetischen Gebieten erhebliche Vorteile aus ihrem Informationsvorsprung ziehen konnten. Informationsasymmetrie, ein Konzept aus den Sozialwissenschaften, setzt voraus, dass unterlegene Akteure ihre eigenen Interessen durchsetzen können, indem sie sich die Unkenntnis der dominanten Kräfte zunutze machen. Der Fall Boss zeigt deutlich, wie ethnische Deutsche diesen Vorteil mit dem nötigen Geschick ausnutzen konnten, um ihre eigene Lage zu verbessern.

Im Vergleich zu anderen Deutschstämmigen aus der Ukraine hinterließ Boss zahlreiche Quellen, die im Rahmen dieses Aufsatzes ausgewertet werden konnten. Außer in den Verfahren gegen Ehrlinger und Callsen taucht sein Name in Untersuchungsakten der sowjetischen Geheimdienste aus den 1930er Jahren sowie in denen der deutschen Besatzer auf. Außerdem wird Boss mehrmals erwähnt in Erinnerungen von ukrainischen Emigranten aus der Nachkriegszeit, in Akten der französischen Besatzungsbehörden, der Internationalen Flüchtlingsorganisation und denen des Roten Kreuzes. Ferner wurden im Bundesarchiv die Anträge eingesehen, die Boss auf Einbürgerung ins Deutsche Reich oder auf Entschädigung durch die Bundesrepublik gestellt hatte.

In den Quellen fällt auf, dass Boss immer wieder verdächtigt wurde, Tatsachen verzerrt zu haben. Viele seiner Weggefährten im Sommer und Herbst 1941 stellten den Wahrheitsgehalt seiner Erzählungen über die Verfolgung durch die Sowjetbehörden infrage – zu Unrecht, wie die Akten zeigen.[20] Berechtigt waren freilich die Zweifel, ob Boss, der als „undurchsichtige Figur“ oder gar als „Windbeutel“ galt,[21] einen Doktortitel erworben hatte.[22] Manche vermuteten, es handele sich um einen „Agenten“, der entweder für das Sonderkommando oder für die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) arbeitete.[23] Ein Zeitgenosse meinte sogar: „Er machte auf mich einen zwielichtigen Eindruck, und ich befürchtete damals, daß es sich bei dieser Person um einen Spitzel der Russen handelte.“[24] Diese Auffassung vertraten ebenfalls verschiedene Mitglieder der ukrainischen Nationalbewegung, denen Boss begegnete.[25] Obwohl man anhand der Aktenlage ausschließen kann, dass Boss ein sowjetischer Geheimagent war, steht fest, dass viele andere Vermutungen zutrafen. Boss log und fälschte – auch seine Diplome. Für die Forschung ist dieser, sagen wir, kreative Umgang mit der Wahrheit relevant, weil er zeigt, wie eng unter den Bedingungen der Besatzungsherrschaft Informationslücken und Selbstdarstellung zusammenhingen.

Die Historikerin Olga Radchenko ist in einem Aufsatz der These nachgegangen, Boss sei ein sowjetischer Agent gewesen. Diese Annahme ermögliche es, zwei ansonsten schwer nachvollziehbare biografische Tatsachen zu erklären: die frühzeitige Rückkehr aus einem Lager Ende der 1930er Jahre und die Fälschung seiner Promotionsurkunde. Außerdem ließe sich eine Rekrutierung von Boss mit den Bestrebungen des Narodnyj kommissariat vnutrennich del (NKVD) vereinbaren, in Erwartung eines Kriegs mit Deutschland in den einheimischen deutschen Gemeinschaften ein Agentennetzwerk aufzubauen.[26] Radchenkos These ist anregend, letztendlich jedoch nicht überzeugend. Die Lücken in Boss’ Lebensgeschichte lassen sich auch auf andere Weise füllen, und der Aufbau eines Agentennetzwerks durch den NKVD kann höchstens als Indiz angeführt werden. Darüber hinaus liegen Sachverhalte vor, die in eine andere Richtung weisen. Dazu gehörten etwa die Tatsache, dass Boss nach seiner Rückkehr aus dem Lager bis zum deutschen Einmarsch untergetaucht war, und seine Verfolgung durch den sowjetischen Geheimdienst nach 1945.

III. Verfolgung, Verschleppung, Versteck

Boss erzählte nach dem Krieg immer wieder dieselbe Geschichte, um sein Verhalten zu rechtfertigen: die Geschichte von der dreifachen Verfolgung durch die sowjetischen Geheimdienste in den 1930er Jahren. „Es ist verständlich, daß ich meine Freude seinerzeit bei dem Einmarsch der deutschen Truppen nicht verbergen konnte“, erklärte er während der Vernehmung im Januar 1963. „Letzten Endes waren es ja meine Befreier.“[27] Diese Erzählung stimmt, jedenfalls in groben Zügen, wie noch zu zeigen sein wird. Die Verfahren gegen Boss drehten sich um vermeintliche Unterstützung des nationalsozialistischen Deutschland. Das war aber vermutlich nur ein Vorwand, denn konkrete Hinweise darauf fehlen. Nichtsdestotrotz ergaben die Ermittlungen, dass sich Boss bereits vor seiner Deportation vom Sowjetsystem abgewandt und den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland mit Interesse verfolgt hatte.

Aus den Akten lässt sich ersehen, dass Boss’ Eltern aus einer baptistischen Gemeinschaft im wolhynischen Hinterland stammten.[28] Wie die meisten Deutschstämmigen in der Region hatten sie einen rezenten Migrationshintergrund (der Vater Albert wurde sogar noch in der Gegend von Königsberg geboren) und die deutsche Sprache behalten. Später siedelten sie sich in der bessarabischen Steppe an, wo Artur 1908 geboren wurde.[29] 1914 zog die Familie nach Odesa um, wo Albert Boss Seife herstellte.[30] Artur hatte wenigstens vier Geschwister, von denen zwei frühzeitig an Tuberkulose starben.[31] Er selbst litt als junger Mann ebenfalls unter geschlossener Tuberkulose.[32]

Im Odesa der 1920er Jahre konnte Boss gemäß der Nationalitätenpolitik in der frühen Sowjetunion eine deutschsprachige Schule besuchen.[33] Er absolvierte eine zehnjährige Schulausbildung, was in dieser Zeit die Ausnahme war und auf beträchtliche geistige Fähigkeiten hinweist.[34] Dennoch nahm Boss kein Studium auf und fing stattdessen an, als „Krankenpfleger und Rechnungsführer“ in einer psychiatrischen Anstalt zu arbeiten.[35] Es gibt in den sowjetischen Akten nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Boss – wie er später behaupten sollte – eine höhere medizinische Ausbildung absolvierte, woraus sich nur schlussfolgern lässt, dass er den Doktortitel später zu Unrecht trug.[36] In den Jahren, in denen Boss erwachsen wurde, stieg Stalin zum Alleinherrscher auf, gefolgt von einer stetigen Einschränkung der Minderheitenrechte und immer blutigeren Terrorwellen. Anfangs wurden viele Deutsche zu Opfern, weil sie aufgrund ihres sozialen Status als schädlich oder unzuverlässig galten; betroffen waren Großbauern, Religionsgemeinschaften wie die Baptisten, aber auch Bürger mit Kontakten ins Ausland. Nach Hitlers Machtübernahme gerieten die ethnischen Deutschen als potenzielle Landesverräter noch stärker ins Visier.

Am 22. Mai 1934 unterzeichnete Vsevolod Balickij, Chef der ukrainischen Abteilung des sowjetischen Geheimdiensts Ob’edinënnoe Gosudarstvennoe političeskoe upravlenie (OGPU), ein „streng geheimes“ Memorandum über die Stimmung unter der deutschen Bevölkerung der Ukrainischen Sowjetrepublik. „Seit der Machtübernahme Hitlers,“ hieß es hier, „nimmt die faschistische Aktivität deutscher nationalistischer Organisationen und Konsulate in der Ukraine erheblich zu“. Die „Hitlerische Regierung“ versuche, mithilfe materieller Unterstützung die ethnischen Deutschen gegen die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) aufzuhetzen. Viel mehr noch: Das „faschistische Netzwerk“ verbreite Gerüchte über eine „bevorstehende Intervention in der Ukraine durch deutsche Truppen“.[37] Das Memorandum entsprach wohl eher den Befürchtungen des Regimes als den Tatsachen, und es ließ sich vor allem als Richtlinie zur Orientierung der Ermittler lesen, die wissen sollten, warum und mit welcher Begründung sie Deutsche zu verfolgen hatten.

Zu diesem Zeitpunkt waren Boss und seine Familie bereits vom Terror betroffen. Etwa 1930 war der Ehemann seiner Schwester Adel’gejda (Adelheid), ein baptistischer Prediger in Žytomyr, ins sowjetische Hinterland abgeschoben worden. Die Notlage von Adelheid, die ohne Lebensgrundlage mit kleinen Kindern zurückblieb, war der Grund, weshalb Boss und seine Eltern 1931 nach Žytomyr umzogen. Eine große Hilfe war Boss seiner Schwester allerdings nicht: Nach kurzen Anstellungen beim Kraftwerk und in einer Möbelfabrik habe er im Sommer 1932, wie er in seinen Vernehmungen darlegte, um seiner Gesundheit willen aufhören müssen zu arbeiten.[38]

Im folgenden Jahr wurde Boss erstmals für kurze Zeit wegen konterrevolutionärer Aktivitäten festgenommen und verhört; die entsprechende Akte ist in den Archiven jedoch nicht aufzufinden. Im Februar 1934 geriet er erneut ins Visier des Sicherheitsapparats, als die OGPU einem 21-jährigen „Volksdeutschen“ aus Žytomyr namens Aser Cech (vermutlich: Asser Zech) vorwarf, auf Anweisung des deutschen Konsulats in Kyjiv eine konterrevolutionäre „Zelle“ zu leiten, deren Ziel es sei, „aus den Reihen der Deutschen faschistische Kader“ zu rekrutieren.[39] Unter Zwang nannte Zech vier Namen – darunter den von Artur Boss. Daraufhin durchsuchten die Ermittler dessen Wohnung und stellten fest, dass er seit 1933 Briefe an Deutsche im Ausland schrieb und diese um Geld bat.[40] Die Adressatinnen und Adressaten waren teilweise Bekannte der Familie Boss aus baptistischen Kreisen, teilweise auch wildfremde Personen, deren Anschriften Boss etwa Zeitschriften entnommen hatte. Als Folge der forcierten Zwangskollektivierung herrschte in der Ukraine 1932/33 eine verheerende Hungersnot, und Boss’ Bettelbriefe lassen sich als Versuch deuten, ohne Einkommen zu überleben.[41] Was dies mit Zechs vermeintlicher „Zelle“ zu tun haben sollte, blieb ungeklärt, doch den Ermittlern boten die Briefe einen Ansatzpunkt, um Boss juristisch zu belangen, denn man warf ihm vor, das Bild der Sowjetunion im Ausland zu „verzerren“.[42] Während der Vernehmungen wurde Boss gezwungen, die Schrecken des Alltags zu verneinen:

„Ich bekenne mich schuldig, aus feindlicher Gesinnung gegenüber der Sowjetmacht faschistische Tätigkeit ausgeübt zu haben, die sich konkret darin manifestierte, dass ich mich an Hitlerische Wohltätigkeitsgesellschaften und Einzelpersonen im Ausland wendete, mit der Bitte, mir materielle Unterstützung zuzuschicken, in den Briefen berichtete ich ihnen über eine angeblich bei uns existierende Hungersnot und bat ich [sie], mich und meine Bekannten, die ich in den Briefen erwähnte, vor der Hungersnot zu retten.“[43]

Boss’ Taktik bei den Verhören war es, alle Anschuldigungen zu gestehen. Darüber hinaus zeigte er sich bereit, seine vermeintlichen Komplizen zu belasten. Er betonte, „unumwunden“ zu sprechen, legte zu den anderen Verfolgten reichlich belastende Einzelheiten vor und leistete den Ermittlern so gute Dienste. Offensichtlich lohnte sich Boss’ Fügsamkeit, denn trotz seiner Verurteilung zu fünf Jahren Haft (Zech bekam zehn) kam er bereits am Tag der Urteilsverkündung nach einer „speziellen Sitzung“ des OGPU wieder auf freien Fuß.[44] Aller Wahrscheinlichkeit nach bedeutet dies, dass er zugestimmt hatte, als Informant tätig zu werden. Nichtsdestotrotz sah Boss nach seiner Entlassung keine Zukunft mehr in der Sowjetunion und versuchte umgehend, in die Schweiz auszuwandern. Doch dieses Vorhaben scheiterte an der sowjetischen Bürokratie: Die Auslandsabteilung des Stadtrats verweigerte ihm den dafür notwendigen Reisepass.[45] Unfähig oder unwillig zu arbeiten, wandte er sich wieder seiner alten Beschäftigung zu und schrieb Briefe.

Das Jahr 1935 brachte eine weitere Zuspitzung des Terrors mit der massenhaften Abschiebung der deutschen (und polnischen) Bevölkerung aus dem Grenzgebiet westlich von Žytomyr.[46] Es war nur eine Frage der Zeit, bis Artur Boss wieder zur Zielscheibe wurde, und tatsächlich leitete die Žytomyrer Stadtabteilung der Geheimpolizei im November ein weiteres Verfahren gegen ihn ein.[47] Bei der Durchsuchung wurden nicht weniger als 77 Briefe und 43 Ansichtskarten gefunden, dazu Zeitschriften aus Deutschland.[48] Die Žytomyrer Niederlassung der sowjetischen Staatsbank stellte für die Ermittler eine lange Liste mit Überweisungen auf.[49] Unter Druck nannte Boss den Ermittlern, die nach einer „Organisation“ fahndeten, einen zweiten Mann, der wiederum einen dritten Namen preisgab.

Diesmal galt Boss als Rädelsführer der Verschwörung; ein Vorwurf, den die anderen Männer bereitwillig bestätigten. Er habe nicht nur „provokatorische“ Briefe geschrieben, sondern auch anderen gezeigt, wie man das macht. Ein Zeuge sagte vor Gericht aus, Boss habe ihm das Porträt Hitlers in einer Zeitschrift gezeigt und gesagt: „Im Ausland ist das Leben besser.“[50] Auch habe er das Konsulat besucht, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Anfangs verfolgte Boss wieder die Taktik der Gefügigkeit, doch später widerrief er einen Teil seiner Geständnisse. Ja, er habe in seinen Briefen konterrevolutionäre Äußerungen getätigt und Bekannten aus deutschen Zeitschriften vorgelesen. Die Zeitschriften habe er aber legal über die Post erworben. Und das Konsulat habe er niemals besucht. Er betonte, aus seinen Fehlern gelernt zu haben: Er sei nur bis 1934 „konterrevolutionär gesinnt“ gewesen, und zwar wegen seiner erbärmlichen Lebensverhältnisse. „Ich habe diesen ernsten Verstoß aufgrund meiner ernsten Gesundheitslage begangen,“ schloss er. „Ich gestehe, dass es eine schlechte Tat war.“[51]

Am 11. Februar 1936, drei Monate nach Beginn des Verfahrens, wurden die drei Männer von einem Gericht in Kyjiv verurteilt. Die beiden vermeintlichen Handlanger bekamen fünf beziehungsweise drei Jahre Haft in „Korrektions-Arbeitslagern“ in den „abgelegenen Orten der UdSSR“. Boss bekam sieben Jahre, und damit drei Jahre weniger als vom Ankläger gefordert: ein Akt der Gnade aufgrund seiner Tuberkulose.[52] Schon im März wurde Boss mit der Eisenbahn abgeschoben.

An diesem Punkt verliert sich seine Spur für einige Jahre. Boss behauptete später, er habe in einem kasachischen Lager gesessen, sei 1937 geflüchtet und habe sich dann vier Jahre in seinem Elternhaus versteckt gehalten. Glaubt man den Unterlagen, die der sowjetische Geheimdienst KGB in der Nachkriegszeit zusammengestellt hat, befand sich Boss am 17. April 1936 in einer Strafanstalt in der Oblast Sverdlovsk, wobei nicht klar ist, ob dies sein endgültiges Ziel war. Die Frage, wo er sich zwischen April 1936 und Juni 1941 aufhielt, scheint den KGB vor Rätsel gestellt zu haben.[53] Bekannte von Boss aus den Jahren der deutschen Besatzung berichteten später, er sei 1941 gleichsam aus dem Nichts in Žytomyr aufgetaucht.[54]

Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass Boss’ Fluchtgeschichte ein Körnchen Wahrheit enthält, doch scheint sie eher erfunden zu sein. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Häftling imstande gewesen ist, aus einem Lager in Kasachstan oder im Ural zu entkommen und unerkannt nach Hause zurückzugelangen. Seinerzeit war es in der Sowjetunion kaum möglich, ohne Ausweis und Reiseerlaubnis mit der Eisenbahn zu fahren. Wahrscheinlicher ist, dass Boss freigelassen wurde, was auch 1937, als Stalins Terror seinen Höhepunkt erreichte, nicht unmöglich war. Auch in diesem Fall hätte er sich nach seiner Rückkehr verstecken müssen, denn freigelassenen Verurteilten war es untersagt, sich in einer Oblasthauptstadt wie Žytomyr niederzulassen.

Im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes ist jedoch eine andere Frage bedeutsamer: Was wusste Boss vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion vom Nationalsozialismus, und wie war er Hitler-Deutschland gegenüber eingestellt? Es muss unterstrichen werden, dass die vermeintlichen konterrevolutionären Organisationen, die der Geheimdienst enttarnt zu haben glaubte, wenn überhaupt, wenig fassbar waren. Die Anschuldigungen entsprachen wohl eher den Vorstellungen des Regimes als den Tatsachen.[55] Nichtsdestotrotz lassen sich aus den Prozessakten Hinweise auf Boss’ Erwartungen hinsichtlich einer deutschen Invasion herausarbeiten.

Fest steht, dass Boss über ein weitverzweigtes Netzwerk außerhalb der Sowjetunion verfügte, was auf den rezenten Migrationshintergrund seiner Familie und den traditionell hohen Organisationsgrad der Baptisten zurückzuführen war.[56] Er unterhielt etwa Kontakt zu seinem Onkel väterlicherseits, der in Berlin wohnte.[57] Angesichts dieser Kontakte kann man davon ausgehen, dass sich Boss, obwohl er in der Sowjetunion aufgewachsen war, mit einer breiteren deutschen Gemeinschaft identifizierte.

Über sein Netzwerk erhielt er zudem Informationen über die Entwicklungen in Deutschland. Obwohl die überlieferten Briefe nur spärliche Verweise auf den Aufstieg des Nationalsozialismus enthalten, muss Boss aus den ihm zugeschickten Zeitschriften reichlich Kenntnisse über das politische Programm Hitlers gewonnen haben. Ferner kann angenommen werden, dass die Ereignisse in Deutschland unter den Deutschen in Žytomyr ein vielbesprochenes Thema waren. Bedeutsam in dieser Hinsicht ist Boss’ Behauptung, ein Komplize habe gesagt, dass „Deutschland die Wohltätigkeitshilfe nicht umsonst“ schicke, sondern „bestimmte Absichten“ habe, nämlich „die in der Ukraine lebenden Deutschen von einer wohlwollenden Grundhaltung gegenüber der hitlerischen Regierung zu erfüllen“. Überdies beabsichtige das Reich, „alle Deutschen zu erfassen“.[58]

Auch falls diese Aussage erzwungen worden wäre, lässt sich daraus ableiten, dass die sowjetisch-deutsche Gemeinschaft ahnte, was Hitler und sein Regime mit Blick auf die Eroberung von „Lebensraum“ planten. Über andere Aspekte der NS-Ideologie, etwa den Antisemitismus, ist nichts zu finden. In diesem Zusammenhang lässt sich nur bestätigen, was Meir Buchsweiler postuliert hat: Was die nationalsozialistische Weltanschauung angehe, seien die Deutschen in der Sowjetunion einigermaßen ahnungslos gewesen.[59] Ganz offensichtlich ist, dass die ständigen Verfolgungen seitens des Geheimdiensts eine tiefe antisowjetische Stimmung begründeten; in dieser Hinsicht gibt es keinerlei Grund, Boss’ Worten zu misstrauen. Auch wenn er nur über ein unvollständiges Bild der Entwicklungen in Deutschland verfügte, kann man davon ausgehen, dass das NS-Regime in seinen Augen eine wünschenswerte Alternative zur Sowjetherrschaft darstellte.

Zu allem Überfluss nahm der NKVD am Tag des deutschen Angriffs Boss’ Vater Albert in Haft. Obwohl das Sowjetregime erst Anfang August, als Žytomyr schon längst besetzt war, eine flächendeckende Massendeportation der einheimischen Deutschen anordnete, zeigt der Fall Albert Boss, dass unmittelbar nach der Invasion damit begonnen wurde, willkürlich Deutsche zu inhaftieren.[60] Die Ermittler ergriffen Albert Boss zusammen mit drei deutschen Kollegen in einer Fabrik wegen vermeintlicher „antisowjetischer Agitation“ und des „Lobens Hitlers“. Der Beschuldigte bestritt alle Vorwürfe. Er wurde als Häftling mit den Behörden „evakuiert“ und, bemerkenswerterweise, im Oktober 1941 in Novočerkassk freigelassen, weil seine antisowjetische Haltung „nicht nachgewiesen“ werden konnte. Danach verliert sich seine Spur.[61] Was Artur Boss noch von seinem Vater fand, war dessen Beinprothese im Gefängnis vom Žytomyr.[62]

IV. Aufstieg unter deutscher Besatzung

Am 9. Juli 1941 marschierten deutsche Truppen in der Stadt Žytomyr ein. Die Besatzungsbehörden begannen umgehend damit, ihre Pläne für die Ukraine in die Tat umzusetzen, wobei das Territorium zunächst unter Militärverwaltung stand, bevor im November 1941 weite Teile davon in das Reichskommissariat Ukraine eingegliedert wurden. Žytomyr wurde Sitz eines Generalkommissariats. Zur Beherrschung und Ausbeutung der Ukraine bauten die Deutschen eine von einheimischen Kräften unterstützte Zivilverwaltung auf. Für Sicherheit und Ordnung hatte der Höhere SS- und Polizeiführer zu sorgen, der anfangs über die Einsatzgruppe C verfügte, um alle Bevölkerungsgruppen zu vernichten, die als gefährlich oder unerwünscht galten, darunter sämtliche Jüdinnen und Juden. Später ruhte die Sicherheitsarchitektur vor allem auf zwei Säulen: auf der SiPo und dem SD[63] sowie auf der Ordnungspolizei, der auch die örtliche Hilfspolizei unterstand.

Der SS war die Volksdeutsche Mittelstelle untergeordnet, die für die Versorgung und Förderung der „Volksdeutschen“ zuständig war. Sicherheit und Volkstumspolitik waren in der NS-Ideologie zwei Seiten derselben Medaille. Die ethnischen Deutschen hatten im Besatzungsapparat auch eine praktische Rolle zu erfüllen: Aufgrund ihrer Orts- und Sprachkenntnisse stellten sie ein unverzichtbares Bindeglied zwischen den neuen Herren und der Zivilbevölkerung dar; viele „Volksdeutsche“ arbeiteten in der Verwaltung oder bei der Hilfspolizei. Daher wuchs ihre Zahl in der Stadt Žytomyr rasch an.[64] Nichtsdestotrotz blieben sie in der Rassenhierarchie eine Stufe unter den Reichsdeutschen – sie verdienten weitaus weniger und hatten ihnen zu gehorchen.[65]

Boss war eine Ausnahme. Die Quellen legen nahe, dass ihm die Reichsdeutschen auf Augenhöhe begegneten und er sich Freiheiten herausnehmen konnte, die für andere „Volksdeutsche“ unvorstellbar gewesen wären. Obwohl möglicherweise nicht alles über ihn bekannt ist, steht fest, dass Boss verschiedene Aufgaben im Sonderkommando 4a (Juli bis September 1941), in der Kyjiver Stadtverwaltung (Oktober 1941 bis Februar 1942) und im Sicherheitsapparat von Žytomyr (im Sommer 1943) wahrnahm. Dabei wurden ihm weitreichende Entscheidungsbefugnisse anvertraut. Boss’ Aufstieg begann damit, dass er, wohl in den ersten Tagen der Besatzung, beschloss, sich fortan als Arzt auszugeben. Alles, was er dafür mitbrachte, war seine Erfahrung in der Klinik von Odesa, wo er um 1930 gearbeitet hatte.[66] Auch scheint er gerne medizinische Zeitschriften, darunter einige aus Deutschland, gelesen zu haben.[67] Er selbst gab an, im besetzten Žytomyr als „Leiter der neurologischen und psychiatrischen Abteilungen“ des deutschen Krankenhauses gearbeitet zu haben, was sich aber nicht nachweisen lässt.[68] In einem undatierten Personalverzeichnis des Generalkommissariats Žytomyr wird Boss als Medizinalrat geführt, in anderen Verzeichnissen jedoch nicht.[69]

Ein Schlüsselmoment in Boss’ Biografie war seine Begegnung mit dem Sonderkommando 4a.[70] Diese Teileinheit der Einsatzgruppe C nahm Anfang Juli 1941 in Žytomyr Quartier, fahndete nach Kommunisten oder Widerstandskämpfern und führte mit Unterstützung eines Zugs Reserve-Polizei etliche anti-jüdische Aktionen in der Stadt und ihrem Umland durch.[71] Am 19. September räumten Mitglieder des Kommandos mit Hilfe der Wehrmacht, des Polizeibataillons 303 und der örtlichen Hilfspolizei das Getto von Žytomyr und erschossen die 3145 verbliebenen Jüdinnen und Juden in einem Wald außerhalb der Stadt.[72] Tags darauf zog das SK 4a weiter in das gerade erst eroberte Kyjiv, wo es seine Mordaktionen in großem Stil fortsetzen sollte.

Im Callsen-Verfahren behauptete Boss, zum ersten Mal mit dem SK 4a in Berührung gekommen zu sein, als er gebeten wurde, zwei „Soldaten“ zu behandeln.[73] Die genauen Umstände dieses ersten Zusammentreffens lassen sich nicht klären; klar ist nur, dass Boss bereits im Juli 1941 für das Sonderkommando 4a tätig war, anfangs vermutlich nur als Dolmetscher bei Verhören. Daneben führte Boss offensichtlich auch weitere Aufgaben für das Kommando aus und beschaffte etwa Lebensmittel.[74] Nach eigener Aussage habe er nie einen Vertrag unterzeichnet und für seine Tätigkeit kein Honorar erhalten.[75] Fest steht, dass er weder Uniform noch Waffen trug.[76]

Alsbald ging Boss’ Rolle in der Terrormaschinerie des SK 4a über die eines Dolmetschers hinaus, obwohl er das Gegenteil behauptete. Josef Suchanek, ein subalterner Ermittler des Sonderkommandos, bezeichnete Boss im Callsen-Verfahren als „russischen Vernehmungsbeamten“ und behauptete: „Er hat immer selbständig die Vernehmung durchgeführt.“[77] Nach Aussage von Lienhard Puchta, einem Kollegen Suchaneks, fahndete Boss für das SK 4a nach Kommunisten, und zwar mit Eifer: „Er brachte immer Anschriften von Leuten, die wir überprüfen oder anzeigen mußten. Meistens hat es sich um Anzeigen gehandelt, an denen nichts dran war.“[78] Ein dritter Zeuge hielt fest, Boss sei „nicht nur Dolmetscher, sondern auch als Agent für das [SK 4a] tätig“ gewesen.[79]

Boss betonte im Callsen-Verfahren immer wieder, nicht bei Erschießungen anwesend gewesen zu sein. In Žytomyr sei er erst nach dem Massaker zum Tatort gefahren, um sich um die Kleidung der ermordeten Jüdinnen und Juden zu kümmern. Und in Babyn Jar habe er „in der Nähe der Schlucht“ dolmetschen müssen.[80] Diese Angaben sind nachweislich falsch. Aus verschiedenen Zeugenaussagen ergibt sich, dass Boss im Sommer 1941 bei mehreren Erschießungen in und um Žytomyr zugegen war und dabei als Dolmetscher zum Einsatz kam. Strittig ist, ob das alles gewesen ist, was er tat.

Zwei Zeugen warfen Boss im Callsen-Prozess vor, bei Erschießungen Listen mit jüdischen Namen bereitgestellt beziehungsweise vorgelesen zu haben. Der ranghöchste Unteroffizier des Sonderkommandos gab mit Bezug auf das große Massaker in Žytomyr an, seines Wissens sei es Boss gewesen, der Standartenführer Paul Blobel, dem Führer des SK 4a, „hier die nötigen Unterlagen über in Shitomir wohnhafte Juden verschafft [habe], die er durch die einheimische Miliz zusammenholen ließ“.[81] Und der ehemalige Kompaniefeldwebel der Reserve-Polizeikompanie, deren Zug die Einsatzgruppe C begleitete, beschrieb detailliert, dass Boss bei einer Erschießung „ein Schriftstück in den Händen“ gehalten habe, das „in russischer Sprache maschinengeschrieben abgefaßt“ gewesen sei. Es habe sich um eine Liste gehandelt, wobei die „einzelnen Namen [. . .] mit Bleistift abgehakt worden“ seien.[82]

Mit diesen Vorwürfen konfrontiert, erwiderte Boss, er habe während der Jahre im Versteck „keinen Kontakt mit den Juden“ gehabt. „Wie sollte ich da die Unterlagen beschafft haben, aus denen sich ergab, wer Jude sei.“ Das war freilich keine besonders überzeugende Verteidigung, denn um solche Angaben bereitzustellen, brauchte man keine persönlichen Kontakte; der Zugriff auf das Aktenmaterial der Sowjetbehörden genügte. Als der Untersuchungsrichter darauf hinwies, beteuerte Boss einmal mehr, er sei nicht zugegen gewesen, als die Erschießungen stattgefunden hätten.[83] Selbst wenn Boss mit den Listen nichts zu tun hatte, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er als Dolmetscher und Verwalter jüdischen Eigentums einen wichtigen Beitrag dazu leistete, dass das SK 4a seinem blutigen Handwerk nachgehen konnte. Über seine Zuständigkeit für die Kleidung der Ermordeten weiß man nicht viel, da es dazu kaum Aussagen gibt. Boss gab diese Tätigkeit bereitwillig zu, weil er zu Recht davon ausging, dass sie keinen Anlass zu strafrechtlicher Verfolgung bot.

Nach dem Massaker von Babyn Jar gingen Boss und das SK 4a getrennte Wege; das Sonderkommando zog weiter nach Osten, während Boss in Kyjiv blieb. Nach seinen Angaben verließ Boss das Kommando bereits in Žytomyr. Er sei zwar in einem Fahrzeug des SK 4a in die ukrainische Hauptstadt gefahren, jedoch aus persönlichen Gründen; er habe seinen Vater suchen wollen. Erst in Kyjiv habe ihn Blobel wieder aufgesucht und ihn für das Unterstützungspersonal des Massakers von Babyn Jar rekrutiert. Obwohl es nicht unwahrscheinlich ist, dass Boss in Kyjiv seinen Vater suchen wollte, scheint er diese Geschichte ansonsten erfunden zu haben, und zwar mit dem Ziel, sein Engagement für das SK 4a herunterzuspielen. Alles weist auf einen ununterbrochenen, intensiven Kontakt mit dem Kommando hin.

Mehr noch: Offensichtlich stieg Boss in eine privilegierte Position auf. Er sei, so Zeugenaussagen, „meistens“[84] mit Blobel zusammen gewesen und habe sogar als Blobels „Vertrauensmann“[85] oder „rechte Hand“[86] gegolten. Das ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil andere Ortskräfte erheblich schlechter behandelt wurden. Eduard Bartz, ein „Volksdeutscher“ aus der Gegend von Žytomyr, der als Schlosser für das Sonderkommando arbeitete, berichtete später von Schikanen und körperlicher Gewalt. Als es zu einer Auseinandersetzung mit seinem reichsdeutschen Vorgesetzten gekommen sei, habe ihn dieser geohrfeigt.[87] Boss hingegen sei so selbstsicher gewesen, dass er sogar – wenn auch erfolglos – versucht habe, einem subalternen Reichsdeutschen einen Befehl zu erteilen.[88]

Boss’ weiterer Werdegang im Besatzungsapparat bestätigt den Eindruck vom raschen Statusgewinn. Kurz nach dem Massaker von Babyn Jar avancierte er zum Leiter der Personalabteilung der ukrainischen Stadtverwaltung von Kyjiv. Nach eigener Aussage bekam Boss diese Stelle von Stadtkommissar Dr. Wilhelm Muss angeboten, den er aufgesucht habe, um sich nach dem Schicksal seines Vaters zu erkundigen. Er habe nicht ablehnen können.[89] Bezeichnend ist vor allem die Tatsache, dass Boss ohne Weiteres vom Stadtkommissar, dem höchsten zivilen Amtsträger im besetzten Kyjiv, empfangen wurde. Die ukrainische Stadtverwaltung in Kyjiv, für die nicht nur Ukrainer arbeiteten, war dem Stadtkommissar unterstellt und übernahm Aufgaben wie die Organisation des Schulwesens. Boss war als Leiter der Personalabteilung von Oktober 1941 bis Februar 1942 zuständig für die Überprüfung der ideologischen Zuverlässigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; dabei wurde er von etwa zehn Untergebenen unterstützt. Wer als Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion oder als Funktionsträger des sowjetischen Sicherheitsapparats erkannt wurde, war an die SiPo auszuliefern.

Im Ehrlinger-Verfahren in den 1960er Jahren machte Boss unglaubwürdige Aussagen über seine Tätigkeit bei der Personalabteilung. Die eigentliche Überprüfung habe nicht er, sondern ein Untergebener vorgenommen, der vor dem Krieg im sowjetischen Geheimdienst gedient habe. „Meine Tätigkeit erstreckte sich allein darauf, die Arbeit innerhalb des Personalamtes zu überwachen und Berichte, welche mir von meinen Untergebenen vorgelegt wurden, zu unterschreiben.“[90] Dagegen stehen freilich Aussagen, die bezeugen, Boss habe selbst Bewerberinnen und Bewerber vernommen.[91] Es gibt Hinweise darauf, dass Boss nicht nur nach Kommunisten, sondern auch nach ukrainischen Nationalisten fahndete. Im besetzten Kyjiv versuchte die OUN, die Stadtverwaltung zu infiltrieren, um ihren Einfluss auszubauen. SiPo und SD unterdrückten diese Bestrebungen und organisierten wiederholt Säuberungsaktionen; die erste, die in großem Stil durchgeführt wurde, fand im Februar 1942 statt, kurz bevor Boss aus dem Amt schied.

Nach Kriegsende stigmatisierten Mitglieder der OUN Boss im Exil als Sowjetagenten, der die Deutschen gegen die ukrainische Nationalbewegung aufgehetzt habe.[92] Er habe als „Henker der Ukrainer“ gegolten.[93] Belege für eine Zusammenarbeit zwischen Boss und dem NKVD finden sich allerdings nicht. Für die OUN war die Mär vom Sowjetagenten bequem, erklärte sie doch ihre Rückschläge auf einfache Art und Weise. Es ist durchaus möglich, dass Boss zwar nach Nationalisten fahndete, jedoch nicht für die sowjetische Sache, sondern auf Geheiß der deutschen Besatzungsbehörden.[94] Dafür sprechen Dokumente des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg (ERR), der jenseits der Besatzungsverwaltung operierte. Sein Aufgabenbereich war ein doppelter: der Abtransport von Kriegsbeute und die Erforschung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den besetzten Gebieten.[95] Ab Februar 1942 arbeitete Boss ehrenamtlich für den ERR, für den er Berichte verfasste, unter anderem über „die ukrainische Frage“, und Auskunft über „die politische Lage“ gab.[96] Außerdem ist ein ausführlicher Bericht von einem ukrainischen Geistlichen an Boss über die religiöspolitische Lage in Kyjiv überliefert, in der nationalistisch gesinnte Geistliche bezichtigt wurden, eine „selbständige Ukraine, nur für Ukrainer“ anzustreben.[97] Boss selbst gab zu, „Stimmungsberichte“ über die Zivilbevölkerung und die Möglichkeit einer ukrainischen „Widerstandsbewegung“ verfasst zu haben.[98] So scheint er intensiv in die deutschen Untersuchungen über die ukrainische Nationalbewegung involviert gewesen zu sein.

Nach der Aktion im Februar 1942 beschloss Boss, nach Žytomyr zurückzukehren. Nach seinen Angaben löste der neue Stadtkommissar die von Boss geleitete Abteilung auf, aber das scheint jeder Grundlage zu entbehren.[99] Der Stadtkommissar selbst meinte im Ehrlinger-Verfahren, Boss sei seines Amts wegen „irgendwelcher Unstimmigkeiten“ enthoben worden.[100] Es gibt auch Hinweise, dass Boss aus Angst vor der Rache der OUN Kyjiv verließ. Er behauptete selbst, die Nationalisten hätten ihm schon länger misstraut und im Dezember 1941 versucht, ihn zu vergiften.[101] Anderen Berichten zufolge war auch bei den Besatzungsbehörden der Verdacht aufgekommen, Boss könne ein Sowjetagent sein; es sei nur seinen guten Kontakten zum Chef der SiPo in Kyjiv zu verdanken gewesen, dass man ihn nicht festgenommen habe.[102] Nachdem Boss die Stadt verlassen hatte, verbreitete sich in ukrainischen Kreisen das Gerücht, ein Aktivist habe ihn erschossen.[103]

Nach seiner Rückkehr nach Žytomyr eröffnete Boss, der in der Zwischenzeit eine 19-jährige Krankenschwester aus Kyjiv geheiratet hatte, eine private Praxis für Nervenheilkunde, die er bis zu seiner Flucht im November 1943 betrieb. Boss selbst gab zu, bis dahin in Žytomyr „immer wieder“ von der SiPo als Dolmetscher herangezogen worden zu sein.[104] Zwei kurz nach der Befreiung verfasste sowjetische Quellen deuten aber auch für diesen Zeitraum auf eine intensive Zusammenarbeit zwischen Boss und den deutschen Sicherheitsbehörden hin. So taucht sein Name in einem Bericht der Außerordentlichen Staatlichen Kommission auf, die im Umland von Žytomyr die „Gräueltaten der deutschfaschistischen Aggressoren und ihrer Komplizen“ untersuchte. Anfang Oktober 1944 besuchten vier Mitglieder der Kommission das Dorf Veresy, etwa zehn Kilometer nordöstlich der Stadt, wo sie mit Zeugen sprachen und ein Massengrab aufsuchten, in dem vermutlich ermordete Jüdinnen und Juden lagen. Im Bericht heißt es, dass ein gewisser „Bos“ Befehle gegeben habe für das „Verprügeln und Erschießen friedlicher Bürger sowie Plünderung“. Aus dem Dokument geht hervor, dass hier nicht eine anti-jüdische Aktion des SK 4a gemeint ist, sondern eine spätere Razzia gegen nicht-jüdische Einwohner des Dorfs.[105] Auffällig ist, dass Boss namentlich erwähnt wird; in den meisten Berichten nannten die Zeugen als Ausführer nur „Deutsche“. Dies ist womöglich ein Zeichen, dass Boss in einem gewissen Ruf stand.

Der zweite Beleg ist wesentlich eindeutiger. Im Mai und Juni 1945 führte ein Beauftragter des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine in Žytomyr eine Untersuchung durch, um festzustellen, ob es in der Kleinstadt Černjachiv, 25 Kilometer nördlich von Žytomyr, rund um den Dorfschuldirektor und Parteimann Demyd Slobožan eine sowjettreue Untergrundzelle gegeben habe.[106] Eine von Slobožans Mitstreiterinnen war Sof’ja Vereščak, die am 1. Juni 1945 ausführlich über ihre Aktivitäten unter deutscher Besatzung befragt wurde. Als Tochter eines Arztes aus Černjachiv pflegte sie Kontakte in Žytomyr und diente als Verbindungsfrau zwischen den Untergrundaktivisten in beiden Städten. Im Juni 1943 wurde sie von der Gestapo gefasst und nach Žytomyr ins Gefängnis gebracht, wo sie Boss kennenlernte: „Ich wurde von Boss verhört, einem Einheimischen, der ein deutscher Spitzel war, er arbeitete in der Gestapo als Leiter des Agentennetzwerkes.“ Nach zweieinhalb Monaten wurde Vereščak, die im Gefängnis gefoltert und gedemütigt wurde, aus der Haft entlassen – nach ihren Angaben aufgrund der Fürsprache eines anderen „Volksdeutschen“.[107] Gerade, weil Vereščak ihre Aussagen zu Boss am Rande machte und es sich nicht um den Gegenstand der Untersuchung handelte, kann ihre Auskunft als besonders zuverlässig bewertet werden.

Aufgrund der beschränkten Überlieferung von SiPo-Akten bleibt die genaue Stellung von Boss im deutschen Sicherheitsapparat ungeklärt. Fest steht, dass er eine Rolle ausübte, die über jene eines einfachen Dolmetschers hinausging – als Vernehmungsbeamter oder sogar in einer Führungsposition.[108] Zudem fällt auf, dass Boss nicht wie die anderen Ortskräfte dem Kommandeur der Ordnungspolizei untergeordnet war, sondern dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD. Damit war er Teil der mächtigeren und prestigeträchtigeren Säule des deutschen Sicherheitsapparats. Dass Boss für die deutschen Besatzungsbehörden arbeitete, kam ihm in materieller Hinsicht sehr zugute. Alle „Volksdeutschen“ profitierten von der Besatzungsherrschaft, vor allem von der Verteilung jüdischen Besitzes.[109] Sie konnten in freigewordene Wohnungen einziehen und sich aneignen, was sie darin vorfanden.[110] Eine Stelle im Sicherheitsapparat bot „Volksdeutschen“ wie Ukrainern zusätzliche Möglichkeiten, um sich zu bereichern.[111]

Aus einem Antrag auf Entschädigung, den Boss 1953 in der Bundesrepublik stellte, ergibt sich, dass er mit seiner Frau in Žytomyr eine geräumige Villa in der vulycja Miščans’ka (Bürgerstraße) bezog. Boss erklärte, diese bereits vor dem Krieg erworben zu haben, aber diese Behauptung kann in den Bereich der Fabel verwiesen werden. Nach eigenen Angaben erzielte Boss mit seiner Praxis Einkünfte von bis zu 200000 Reichsmark jährlich und nahm bei der Flucht vor der Roten Armee Ende 1943 über 500000 RM sowie Bilder und Teppiche mit. Freilich erscheinen diese Zahlen, wie auch die Bearbeiter des Entschädigungsantrags bemerkten, einigermaßen übertrieben. Dass Boss in dieser Zeit jedoch sehr gut verdiente, ist von mehreren Zeugen bestätigt worden. So besaß er ein Automobil, konnte sich in seiner Praxis zwei Mitarbeiter leisten und war nach seiner Flucht nach Łódź (deutsch: Litzmannstadt) imstande, auf eigene Kosten eine neue Praxis mit vollständiger Einrichtung zu eröffnen, die mehrere zehntausend Reichsmark wert war.[112]

V. Meister des eigenen Schicksals?

Unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch vermochte es Boss, sich über das SK 4a das Vertrauen der Besatzer zu verdienen. Er gelangte an eine einflussreiche Stelle im Sicherheitsapparat, die nicht nur mit breiten Entscheidungsbefugnissen, sondern auch mit einem erheblichen Wohlstandsgewinn verbunden war. Insbesondere im Vergleich zu anderen „Volksdeutschen“ fällt sein Aufstieg auf: Sie konnten zwar durchaus höhere Stellen besetzen, doch normalerweise nicht im Befehlsbereich des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD. Wie lässt sich diese Karriere erklären? Außer Zweifel steht, dass Boss mit seinen guten Sprachkenntnissen für die SS von großem Nutzen gewesen sein muss, denn es war schwierig, fähige Dolmetscher zu finden.[113] Doch diese Erklärung bleibt unbefriedigend, denn sie lässt seine weitere Karriere außer Acht. Es sei vorweggenommen, dass sich Boss nicht einfach von den Ereignissen treiben ließ, auch wenn er in den Verfahren gegen Ehrlinger und Callsen versuchte, seine Rolle als möglichst passiv und randständig zu beschreiben. Boss betonte immer wieder, „herangezogen“ und „eingesetzt“ worden zu sein. Diese Darstellung steht im krassen Gegensatz zu den Angaben anderer Zeugen aus dem SK 4a und dessen Umfeld, die festhielten, Boss habe den Besatzern seine Dienste aktiv angeboten.

Zunächst gilt es, nach den Motiven zu fragen, aus denen heraus Boss handelte – soweit es die Quellen zulassen. Memoiren oder sonstige Zeugnisse jenseits der Ermittlungs- und Gerichtsverfahren hat er nicht hinterlassen, was die Suche nach seinen Beweggründen erschwert. Dennoch lassen sich auf der Basis von Beobachtungen und von Zeugnissen Dritter einige vorsichtige Schlüsse ziehen. Man kann davon ausgehen, dass Boss eine tiefsitzende Abneigung gegen das Sowjetregime verspürte, verbunden mit großen Hoffnungen nach dem Überfall der Wehrmacht. Eine (Selbst-)Mobilisierung für den Nationalsozialismus lässt sich dagegen nur schwer erkennen; jedenfalls finden sich in den Quellen keine Hinweise auf ideologische Begeisterung. Das einzige Zeichen, dass Boss womöglich der nationalsozialistischen Weltanschauung zuneigte, ist die Tatsache, dass er sich in einem offiziellen Dokument nicht als Baptist, sondern als gottgläubig bezeichnete – die gängige Selbstbezeichnung von Nationalsozialisten, die aus der Kirche ausgetreten waren.[114] Diese Angabe kann aber gleichwohl als Zeichen berechnenden Kalküls gedeutet werden.

Ein Eckpfeiler der NS-Propaganda in der Ukraine war der Antisemitismus.[115] Allerdings scheinen antisemitische Überzeugungen für Boss, anders als für andere „Volksdeutsche“, keine wichtige Rolle gespielt zu haben, obwohl er im Sommer 1941 direkt in die Ermordung der jüdischen Bevölkerung involviert war.[116] Dagegen ist ein Fall belegt, in dem sich Boss für jüdische Opfer einsetzte. Als Leiter der Personalabteilung in Kyjiv hielt er seine schützende Hand über zwei verhaftete Juden, darunter einen Arzt namens Rabinowitz (vermutlich: Rabinovič). Boss behauptete, es handele sich um deutsche Mitglieder der Baptistengemeinschaft; daraufhin wurden beide entlassen. Es war nicht nur Boss selbst, der den Ermittlern im Ehrlinger-Verfahren von dieser Begebenheit erzählte, sondern es gab zwei weitere Zeugen, die von sich aus darauf zu sprechen kamen.[117] Vielmehr als ideologische Disposition scheint für Boss die Aussicht auf materiellen Gewinn entscheidend gewesen zu sein. Es ging ihm nicht darum, die nationalsozialistische Politik in der Ukraine mitzugestalten, sondern darum, seine eigene Lebensgrundlage und die seiner Familie nachhaltig abzusichern – nach der anhaltenden Mangelerfahrung vor 1941 ist das nicht verwunderlich. Nun, da sich die Gelegenheit ergab, seine Situation zu verbessern, nutzte Boss seine Chancen tatkräftig, ohne große Skrupel, dafür aber mit viel Opportunismus.

Von den mörderischen Aufgaben der Einsatzgruppen konnte Boss kaum etwas erfahren haben, als er auf das SK 4a traf. Doch schon nach den ersten Verhören, bei denen er übersetzte, muss er verstanden haben, dass Blobel und seine Männer in der Ukraine waren, um die jüdische Bevölkerung zu vernichten.[118] In diesem Moment hätte Boss sich dazu entschließen können, von einer Zusammenarbeit so weit wie möglich Abstand zu nehmen, doch er tat genau das Gegenteil und schloss sich dem Todeskommando an. Er muss gespürt haben, dass sich daraus würde Kapital schlagen lassen.

Boss bemühte sich von Anfang an, das Wohlwollen von SS-Standartenführer Paul Blobel zu gewinnen, der das Kommando über das SK 4a führte. Er biederte sich an – ein Zeuge nahm sogar das Wort „Arschkriecher“ in den Mund – und beschenkte den Offizier mit Spirituosen.[119] Blobel galt als Trinker mit narzisstischen Zügen – Charakterschwächen, die Boss offensichtlich auszunutzen verstand.[120] Dagegen ließ Boss die subalternen Angehörigen des Kommandos, von denen ihn die meisten nicht ausstehen konnten (hier spielten offensichtlich auch rassistische Vorstellungen von der Unterlegenheit der „Volksdeutschen“ eine Rolle), augenscheinlich links liegen. Es lohnte sich für Boss, Blobel zu hofieren, denn es ist anzunehmen, dass er über den Standartenführer mit anderen reichsdeutschen Führungskräften in Kontakt kam: dem Kyjiwer Stadtkommissar Wilhelm Muss, dem Führer des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg in der Ukraine sowie herausgehobenen Repräsentanten von SiPo und SD in Žytomyr und Kyjiv. Als Boss das SK 4a verließ, verfügte er bereits über ein breites Netzwerk.

Dieser rasche Aufstieg von einem fast mittellosen „Volksdeutschen“ zu einem einflussreichen Akteur im Umfeld eines hochrangingen SS-Offiziers war nicht einfach auf bloße Menschenkenntnis zurückzuführen. Boss hatte offensichtlich ein besonderes Gespür, wie es um die Machtverhältnisse im deutschen Sicherheits- und Besatzungsapparat bestellt war und wem man zu Gefallen sein musste, wollte man vorankommen. Auffallend ist dabei, dass Boss in den 1960er Jahren immer noch zu sagen wusste, welchen Dienstgrad die Offiziere des SK 4a bekleidet hatten.[121] Das unterscheidet ihn deutlich von der Mehrheit der „Volksdeutschen“ in der Ukraine, die – ob sie nun für die Deutschen arbeiteten oder nicht – in der Regel keine Ahnung davon hatten, wie der deutsche Besatzungsapparat funktionierte. Boss scheint sich dagegen intensiv mit Personen wie Institutionen auseinandergesetzt zu haben, und er lernte offensichtlich schnell. Darüber hinaus war Boss’ Gewaltbereitschaft von entscheidender Bedeutung, um das Vertrauen der Reichsdeutschen zu gewinnen. Sein Eifer bei der Verfolgung von Kommunisten und Juden ist – wie gezeigt – gut belegt, auch wenn man nicht sagen kann, ob er selbst geschossen hat. Nach der NS-Ideologie konnten „Volksdeutsche“ mithilfe von Gewalt ihre „Rassereinheit“ untermauern.[122] Vor allem im Umgang mit Paul Blobel, der aus der Loyalität seiner Männer Selbstbestätigung zog, dürfte Boss’ ostentative Gewaltbereitschaft seine Stellung gefestigt haben.[123]

Zudem gab es einen weiteren Faktor, der Boss’ Aufstieg bedingte, der in der Forschung bislang aber nur wenig Beachtung gefunden hat: der Informationsvorsprung der örtlichen Bevölkerung, der insbesondere den „Volksdeutschen“ zugutekam. Schließlich waren die Besatzer vor Ort auf Hilfskräfte angewiesen, um bestehende Verhältnisse zu verstehen und neue Strukturen aufzubauen. Boss war sich dieser Tatsache bewusst und wusste die Situation auszunutzen, um in Positionen zu gelangen, aus denen er Vorteil und Gewinn schlagen konnte. Er handelte überall mit Kenntnissen und Informationen – beim SK 4a, in der Stadtverwaltung von Kyjiv, im ERR und bei der Sicherheitspolizei von Žytomyr. Obwohl er dabei strikten Richtlinien zu folgen hatte, lässt es sich nachweisen, dass aus seinem privilegierten Zugang zu Informationen ein erheblicher Handlungsspielraum resultierte. Dadurch war es ihm wiederholt möglich, nach seinen eigenen Interessen und seinem eigenen Gutdünken zu handeln, auch wenn er dadurch gegen die Intentionen der Besatzer verstieß.

Boss hatte begriffen, dass die Reichsdeutschen nicht nur schlecht über die Verhältnisse in den eroberten Gebieten informiert waren, sondern dass sie auch wenig über die einheimischen Hilfskräfte wussten, die sie rekrutierten. Er konnte sich daher gegenüber den Besatzern als jemand ausgeben, der er nicht war, und steigerte so sein soziales Kapital erheblich. Als angeblich promovierter Mediziner konnte er den Offizieren des SK 4a ganz anders gegenübertreten, die in Boss wiederum mehr sahen, als er eigentlich war. Vermutlich lag in dieser Mischung aus hochstaplerischer Intuition und gewaltbereitem Opportunismus Boss’ Erfolgsgeheimnis begründet. Sicherlich hatten auch andere „Volksdeutsche“ keine Probleme mit Gewalt, andere haben wohl die Strukturen des deutschen Besatzungsapparats gut begriffen und den Vorteil der Informationsasymmetrie erfasst. Aber keiner wusste so wie Boss die Unwissenheit der Reichsdeutschen auszunutzen, um sich selbst neu zu erfinden.

VI. Zum Schluss: Opfer und Täter

So rasch wie Boss sein Vermögen erworben hatte, so rasch verlor er es wieder. Am 9. November 1943 flohen Boss und seine Frau[124] in ihrem Automobil nach Westen, um der vorrückenden Roten Armee zu entkommen. Sie nahmen nicht nur Geld, Bilder und Teppiche mit; auch Boss’ Mutter Amalie, seine Schwiegermutter und seine Schwägerin mit ihrer kleinen Tochter, die zwei Monate zuvor aus Kyjiv nach Žytomyr geflohen waren, schlossen sich ihnen an.[125] Die Entscheidung zur Flucht war verständlich. Die „Volksdeutschen“ hatten allen Grund, die Rache der sowjetischen Sicherheitsorgane zu fürchten, wobei Boss als Kollaborateur zweifellos die Todesstrafe drohte. In der Tat begann das stalinistische Regime nach der Rückeroberung der Ukraine unverzüglich damit, Sowjetbürgerinnen und -bürger deutscher Herkunft in Arbeitslager abzuschieben oder hinzurichten.[126]

Die Flucht war für Boss und seine Familie eine Katastrophe und der Beginn jahrelanger Unsicherheit. Außer dem Großteil ihres Besitzes verlor das Paar unterwegs sein erstes Kind. Nichtsdestotrotz hatte Artur Boss auch in dieser Stunde des Unheils mehr Glück als andere Flüchtlinge. Allein schon die Tatsache, dass er über ein Kraftfahrzeug und über Geld verfügte, war ein geradezu unschätzbarer Vorteil.[127] Außerdem hatten Boss, seine Frau und seine Mutter in Žytomyr noch kurz vor der Flucht die deutsche Staatsbürgerschaft erworben, welche die meisten „Volksdeutschen“ erst später über die Einwanderungszentralstelle (EWZ) beanspruchen konnten.[128]

Der Weg führte zunächst nach Lwiw, wo die Familie den Winter 1943/44 verbrachte. Dort schmiedete Boss Pläne zur Eröffnung einer Praxis, aber bevor es so weit war, stand die Rote Armee wieder vor der Tür, und es ging weiter nach Łódź. Dort blieben Boss und die Seinen zunächst einige Wochen in einem Flüchtlingslager in der Vorstadt Zgierz (deutsch: Görnau), wo ihre Dokumente durch die EWZ geprüft wurden. Nun erhielten auch Adeles Schwester und ihre Nichte die deutsche Staatsbürgerschaft, obwohl deren Sprachkenntnisse zu wünschen übrig ließen und das Kind aus der Ehe mit einem ethnischen Russen stammte. Hier machte Boss seinen Einfluss geltend: Seiner Nichte wurde die Staatsangehörigkeit nur deshalb gewährt, weil er bereit war, sie in seine Obhut zu nehmen; „dadurch ist d[eu]t[sche] Erziehung gewährleistet“.[129] Sein guter Ruf bei den deutschen Behörden zeigt sich außerdem daran, dass das Einbürgerungsverfahren und die Zuweisung einer Wohnung in Łódź beschleunigt abgewickelt wurden. Selbstverständlich sagt auch die Tatsache, dass Boss hier eine neue Praxis aufbauen konnte, viel über seine finanziellen Mittel und seine guten Kontakte aus.

Im Januar 1945 mussten Boss und seine Angehörigen erneut fliehen, und diesmal unter noch chaotischeren Bedingungen. Das Deutsche Reich stand kurz vor dem Zusammenbruch, und die Familie geriet in den Strom von Abermillionen Flüchtlingen, der sie schließlich in die französische Besatzungszone spülte. Dort hielt Artur Boss seine Lüge, er sei promovierter Psychiater, mit erstaunlicher Beharrlichkeit aufrecht und ließ sich 1946 eine offensichtlich gefälschte sowjetische Promotionsurkunde von den Besatzungsbehörden anerkennen.[130] 1948 lebte Boss mit Frau und Schwiegermutter in der Nähe des Bodensees; seine Mutter, seine Schwägerin und deren Tochter waren verschwunden – wann und wo ist unbekannt.

Klar ist, dass Boss nicht nur Verwandte, sondern auch einen erheblichen Teil seines Besitzes verloren hatte. Er lebte jahrelang in einem Lager für Displaced Persons und war auf Fürsorgeleistungen angewiesen.[131] Noch immer scheint ihn die Angst vor der Roten Armee umgetrieben zu haben, denn er versuchte mit aller Kraft, mit seiner Familie zu emigrieren – in die Schweiz, nach Argentinien oder in die USA, wobei er in allen Fällen Hilfe von örtlichen baptistischen Gemeinden erhielt. In einem letzten verzweifelten Versuch ließ er sich 1950 sogar aus der deutschen Staatsangehörigkeit entlassen, damit er als Staatenloser Anspruch auf Emigration geltend machen konnte. Als keiner seiner Anträge Erfolg hatte, ließ er seine deutsche Staatsbürgerschaft wiederherstellen.[132]

Anfang der 1950er Jahre stellte Boss sich auf ein neues Leben in der Bundesrepublik ein, wo er auf der Basis seiner gefälschten Promotionsurkunde in kurzer Zeit eine erstaunlich erfolgreiche Karriere als Arzt für Nervenheilkunde auf den Weg zu bringen wusste, zunächst in Schwenningen, dann in München, wo er mit seiner Frau und zwei Kindern in einer Villa in der Maria-Theresia-Straße lebte und praktizierte. Die Mittel dafür stammten aus einem Darlehen für Aussiedler, das er 1954 beantragt hatte. Er erhielt dieses Darlehen, weil mehrere Zeugen – die meisten ebenfalls Deutsche aus Žytomyr – bestätigten, dass Boss in seiner Heimatstadt eine luxuriös ausgestattete Villa samt Praxis besessen habe. Zusätzlich erhielt er 1966 eine Entschädigung.[133]

Boss hatte diesen Wiederaufstieg ohne Zweifel seiner Intelligenz und Anpassungsfähigkeit zu verdanken. Abermals war er imstande, seinen Weg durch die Instanzen zu finden, um sich einen möglichst komfortablen Platz in der Gesellschaft zu sichern. Zugleich wusste er wiederum geschickt seinen Informationsvorteil auszunutzen. Wie die deutschen Besatzer in der Ukraine hatten auch die französischen Dienststellen und später die bundesdeutschen Behörden keine Ahnung, wer vor ihren stand. So konnte sich Boss gleichsam zum zweiten Mal neu erfinden.

Doch die Vergangenheit ließ ihn nicht los. Die sowjetischen Geheimdienste fanden heraus, dass Boss – ein „Komplize“ der deutschen Besatzer – in der Bundesrepublik lebte.[134] Der KGB versuchte 1959, über das Rote Kreuz seine Anschrift zu ermitteln. Boss bat die Organisation ausdrücklich, keine Angaben zu seiner Person weiterzuleiten.[135] Kurz danach geriet er zum ersten Mal ins Visier der bundesdeutschen Justiz: Zuerst im Ehrlinger-Verfahren und dann im Callsen-Verfahren wurden Boss’ Behauptungen über sein Leben in der Sowjetunion kritisch geprüft, wobei die Ermittler starke Vorbehalte gegenüber seiner Selbstdarstellung erkennen ließen.[136] Dass Boss nicht belangt wurde, hatte weniger mit der Glaubwürdigkeit seiner Aussagen als vielmehr mit der Tatsache zu tun, dass ihm eine direkte Beteiligung an Tötungsverbrechen nicht nachgewiesen werden konnte.

Inzwischen litt seine Gesundheit sichtlich unter den Ermittlungen. Je länger die Verfahren dauerten, umso ängstlicher wurde er. Nach Angaben seiner Frau erlitt Boss nach einem Verhör einen Herzanfall.[137] Er vermied es, vor Gericht zu erscheinen, obwohl er nur als Zeuge gehört werden sollte. Ein Kollege attestierte Boss ein Nervenleiden, so dass er seine Gattin in seinem Namen das Wort führen ließ.[138] Es versteht sich, dass Boss nach seiner Verfolgung in der Sowjetunion für sein Leben traumatisiert war, genau wie es leicht zu erahnen ist, dass die Ermittlungen in den 1960er Jahren das Trauma in aller Heftigkeit wieder aufleben ließen. Die Angst, entlarvt zu werden, dürfte sein ständiger Begleiter gewesen sein; über mögliche Gewissensbisse kann man nur spekulieren. Artur Boss, der sowohl Opfer als auch Täter war, trug die Last der Vergangenheit bis zu seinem Tod. Er starb am 10. März 1970 im Alter von nur 62 Jahren in München.[139]

Online erschienen: 2025-07-01
Erschienen im Druck: 2025-05-28

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 18.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2025-0024/html
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