Christliche Tradition zwischen Sinnlichkeit und Körperfeindlichkeit
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Monika Jakobs
Abstract
Die christlichen Urzeugnisse des Neuen Testamentes, insbesondere die Evangelien, zeichnen sich aus durch eine dem religiös-kulturellen Mainstream zuwiderlaufende Leibfreundlichkeit. Die Konsolidierung des Christentums in den ersten vier Jahrhunderten bringt den Neuplatonismus mit sich und kombiniert ihn mit den aus der jüdischen Tradition stammenden Heiligkeitsvorstellungen. Damit setzt sich das dualistische Denken mit seiner Trennung von Körper und Seele wieder durch und überschreibt die egalitären Ansätze des frühesten Christentums durch Minderbewertung von Frauen und Körperfeindlichkeit. – Am Beispiel asketischer Praktiken sowohl der frühen Kirche wie des Mittelalters lässt sich die Ambivalenz von Körperfeindlichkeit und Körperkult, bei der einerseits grundlegende körperliche Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlaf, Sauberkeit, Sexualität extrem unterdrückt werden und andererseits eine obsessive Beschäftigung mit dem Körper zu beobachten ist, gut aufzeigen. Gleichzeitig führt die Entkörperlichung zu einer Verwischung der Geschlechter, die Chancen für Frauen bietet, die sich dieser Entkörperlichungsstrategie zu unterziehen gewillt sind. Das 19. Jahrhundert bringt eine Renaissance und Verstärkung des kultischen Heiligkeitsgedankens, welcher sich mit dem Ideal der Virginität und der Marienverehrung verbindet.
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© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Zur Einführung: Religion, Geschlecht und Sexualität
- I. Historische Fundamente und Entwicklungen
- Geschlechtlichkeit und Sexualität im Alten Testament und im Koran: Eine intertheologische Betrachtung
- Jüdische Matrilinearität – christliche Patrilinearität
- Zwischen Gebärstreik und sinnlicher Verzückung: religiöse Frauenbewegungen
- Christliche Tradition zwischen Sinnlichkeit und Körperfeindlichkeit
- Handlungsfähigkeit und systemische Gewalt: Weibliche Erotik und Macht am Beispiel der Mystikerin Andal
- Avatar of Desire: Das Begehren des ganz Anderen als Einfühlungs-Erotik
- II. Gegenwärtige Diskurse und Praktiken
- Religion und Geschlecht als diskursive, intersektionale, performative Kategorien der Wissensproduktion
- Was ist das eigentlich: Sexualität?
- Der Glanz der Körper
- Warum es „Sexualität im Islam“ nicht gibt
- Geschlechterhabitus und religiöse Identität in gegenwärtiger jüdischer Jugendliteratur
- Askesekonzeptionen in Mahima Dharma
- Zur gegenderten Attraktivität von Geisterinkorporationen
- Geschlecht und Sexualität im Buddhismus und die Wechselwirkung von Gender und Religion in gesellschaftlichen Dialogprozessen
- Buddhismus, queer-gedacht
- Der politische Aushandlungsprozess um die Ehe für alle zwischen Konservatismus und Moderne
- Die aktuelle Situation der Frauen in Afrika
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