Michael Bender: Forschungsumgebungen in den Digital Humanities: Nutzerbedarf – Wissenstransfer – Textualität. Berlin/Boston: De Gruyter 2016. XIII, 341 Seiten. 6 Abb. (Sprache und Wissen, Band 22), € 99,95. ISBN 978-3-11-045969-2
Rezensierte Publikation:
Michael Bender: Forschungsumgebungen in den Digital Humanities: Nutzerbedarf – Wissenstransfer – Textualität. Berlin/Boston: De Gruyter 2016. XIII, 341 Seiten. 6 Abbildungen. (Sprache und Wissen, Band 22), € 99,95. ISBN 978-3-11-045969-2
Beim vorliegenden Werk Forschungsumgebungen in den Digital Humanities: Nutzerbedarf – Wissenstransfer – Textualität (2016) handelt es sich um die Publikation einer im Jahr 2015 am Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der Technischen Universität Darmstadt angenommen Dissertation in der De-Gruyter-Reihe Sprache und Wissen. Das Werk ist nahe an der Praxis entstanden, denn sein Autor Michael Bender hat während des Entstehungszeitraums im unmittelbaren Kontext der digitalen Forschungsinfrastruktur DARIAH-DE bzw. der daran assoziierten Virtuellen Forschungsumgebung (VFU) TextGrid geforscht, die auch im Mittelpunkt der vorliegenden Publikation steht. Diese unmittelbare Nähe des Autors zum eigentlichen Forschungsobjekt birgt einerseits den Vorteil unmittelbarer Einblicke, andererseits jedoch die Gefahr eines Bias.
Das Buch ist klassisch und zielführend in eine Einleitung (Kapitel 1), einen Hauptteil zu Theoretischen Grundlagen und Stand der Forschung (Kapitel 2), einem Kapitel mit Erläuterungen zur Forschungsmethode: Bedarfserhebung (Kapitel 3), und den Ergebnissen derselben (Kapitel 4), sowie eine abschließende Synthese (Kapitel 5) und ein allgemeines Fazit (Kapitel 6) gegliedert.
Schauen wir nun genauer in den Inhalt. In der knappen Einleitung (Kapitel 1) führt der Autor aus historischer Perspektive in den Forschungsgegenstand ein. Er assoziiert den Memex-Ansatz des Ingenieurs Vannever Bush aus den 1950er-Jahren, eine visionäre technikbasierte Forschungsumgebung, die inzwischen als Grundlage des Hypertext- bzw. Internet-Konzepts gilt, mit den heute propagierten Ideen der aktuellen Protagonisten im Bereich VFUs. Er diskutiert kritisch, dass deren optimistische Fortschrittsrhetorik und der daraus folgende Entwicklungsimpetus nur begrenzt auf methodisch fundierten Erforschungen des Nutzerbedarfs beruhen. Diese Lücke möchte er exemplarisch anhand TextGrids, einer VFU mit editionswissenschaftlichem Schwerpunkt, schließen und potenziell längerfristig relevante Erfolgsfaktoren identifizieren, d. h. Faktoren für eine intensivere Nutzung von VFUs. Außerdem soll die Arbeit einen allgemeinen Beitrag zur kritischen Betrachtung bisheriger Ansätze und Praktiken der Bedarfsforschung und zur theoretischen Weiterentwicklung der Digital Humanities leisten.
Im Kapitel Theoretische Grundlagen und Stand der Forschung (Kapitel 2) definiert der Autor Begriffe wie Wissen, Informationen und Daten vor dem Hintergrund der Ziels der Arbeit, einer Untersuchung des Bedarfs an informationstechnischer Unterstützung des wissenschaftlichen, speziell des editionswissenschaftlichen Arbeitens. Die fundierte theoretische Hinführung besticht durch ihren Detailreichtum, bleibt aber teilweise vage in Bezug auf die Relevanz für die eigentliche Zielsetzung. Sie leitet über zu einer Auseinandersetzung der Spezifika digitaler Editionen und Hypertexts, in der u. a. die Bedeutung der Auflösung der Grenzen zwischen „Leser und Autor bzw. Produzent und Rezipient“ (S. 51) und zwischen „Veränderbarkeit und Fixiertheit“ für Prozesse des digitalen Edierens aber auch die vernetzte Rezeption mittels VFUs herausgestellt wird, wobei das Konzept einer horizontalen Ebene neben einer vertikalen Tiefendimension von besonderer Bedeutung ist. Dann stellt der Autor TextGrid als VFU mit editionsphilologischem Schwerpunkt vor und gibt Details zum Entwicklungsstand zum Zeitpunkt der Erhebung der als Grundlage der Arbeit dienenden Nutzerinterviews (2010!) vor und ordnet TextGrid definitorisch, inhaltlich und technisch in sein Umfeld ein. Problematisch ist der wiederholte, unkritische Vorgriff auf geplante Features von TextGrid, die zum Zeitpunkt der Nutzerbefragung noch nicht existierten oder noch nicht stabil waren. Besonders interessant aus informationswissenschaftlicher Sicht sind die umfangreichen Ausführungen zu Methoden der empirischen Nutzerforschung in den Digital Humanities (in Abgrenzung von Usability Engineering), die zum Zeitpunkt der Arbeit noch am Anfang stand (u. a. wegen fehlender Ressourcen).
Im folgenden Kapitel 3 Bedarfserhebung werden die Stichprobenauswahl, die Wahl der Methode (Leitfadeninterviews), die Erarbeitung des Leitfadens, der Leitfaden selbst und die Auswertungsmethode ausführlich dargestellt. Es wurden als Probanden für die Interviews Teilnehmer von fachwissenschaftlichen TextGrid-Schulungen ausgewählt (insg. 28 Personen). Die Eignung der eingesetzten Methode und die Repräsentativität der Stichprobe zum Erreichen des Untersuchungsziels werden überzeugend argumentiert. Bezüglich des Leitfaden könnte angemerkt werden, dass keine der Fragen explizit zur Kritik aufruft, dafür deckt er gut die Breite ab, ist jedoch stark auf TextGrid ausgerichtet, was wiederum etwas kritisch für die breitere Übertragung der Ergebnisse scheint.
Bezüglich Kapitel 4 Ergebnisse der Bedarfserhebung ist positiv zu vermerken, dass die Interviews und Ergebnisse als Rohdaten offen zur Verfügung stehen, wenn auch nicht in einem Datenrepositorium mit PID und ohne umfangreiche Dokumentation; wer das dazugehörige Buch nicht kauft, wird nicht viel mit den Daten anfangen können. In diesem Kapitel werden sehr detailliert die Ergebnisse der Extraktion der Antworten in verschiedene Kategorien aus den Interviews diskutiert. Trotz der zeitlichen Gebundenheit der Ergebnisse sind einige der in diesem Kapitel angesprochenen Problematiken noch heute aktuell, wie zum Beispiel die Frage, ob Geisteswissenschaftler komplexe Auszeichnungssprachen wie TEI/XML lernen sollten und ob eine VFU diese Komplexität entweder verbergen oder aber didaktisch unterstützen solle (vgl. z. B. S. 214), um aus der Vielfalt der Ergebnisse, einen Aspekt herauszugreifen. Dazu kommt der Aspekt der offenen Verfügbarkeit von (mit der VFU vernetzten) wissenschaftlich aufgearbeiteten Inhalten (Daten) als wichtiger Bedarfsfaktor dafür, dass in VFUs nicht nur – als eine Art Werkzeugkasten – an eigenen Inhalten gearbeitet werden kann (vgl. z. B. S. 221–29), ein Thema das in den letzten Jahren im Zuge der Bestrebungen zum Aufbau der EOSC und NFDI, nicht zuletzt auch unter dem Schlagwort FAIR an Fahrt aufgenommen hat. Auch wird die Wichtigkeit agilen Designs in enger Zusammenarbeit mit den Fachcommunities hervorgehoben: „Diesbzgl. ist jedoch auch zu beachten, dass Bedarfsformulierungen von dem Wissensstand über Möglichkeiten im Bereich des computergestützten Arbeitens abhängen. Die Bedarfsermittlung muss als iterativer Austauschprozess zwischen Anbietern und Befragten angesehen werden“ (S. 246). Besonders in diesem Kapitel zeichnet sich ein methodologisches Problem der Arbeit ab, anhand von Nutzerbefragungen (vor allem Editionswissenschaftler) zu einer sehr spezifischen VFU, nämlich TextGrid, allgemeine Schlussfolgerungen für geisteswissenschaftliche VFUs ziehen zu wollen. Diese Problematik wird vom Autor selbst reflektiert (z. B. S. 246).
Im Kapitel 5 Synthese werden die Ergebnisse aus der Bedarfserhebung in Bezug auf die theoretischen Vorüberlegungen kontextualisiert. Es werden Bedarfsschwerpunkte (Fokus auf digitalen Inhalten, digital explizierte Kohärenzstrukturen, Vernetzung von Datenbeständen, Spannungsfelder wie Komplexitätsreduktion und Komplexitätssteigerung sowie generische Komponenten und Spezifikationsmöglichkeiten) sowie Desiderata (u. a. didaktische Vermittlung) benannt und innerhalb der ideengeschichtlichen Perspektive (Hypertext etc.) und des Kulturtechnikenwandels situiert. Insbesondere letztere Aspekte werden als fruchtbare Ansätze für die weitere Nutzerforschung in den digitalen Geisteswissenschaften benannt.
Im letzten Kapitel (Fazit) werden die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst und ihre Bedeutung in Bezug auf TextGrid abgeleitet. Von breiterem Interesse ist hier das Plädoyer für die Berücksichtigung fachspezifischer Kriterien für die Entwicklung von VFUs, die „weiterhin differenzierte, methodisch fundierte und transparent dokumentierte Nutzerbedarfsforschung“ (S. 325) erfordern. Ein vielversprechender Ansatz ist auf jeden Fall mit dieser Studie gemacht.
Es wäre ein Hinweis auf den TextGrid eigenen Nutzerreport (Roeder und Zinsmeister 2014[1]) willkommen gewesen und es ist schwer einige der Aussagen nachzuprüfen, wenn man (die Geschichte von) TextGrid nicht kennt; hier wären einige zusätzliche Abbildungen bzw. Screenshots hilfreich gewesen. Auch gibt es keine Angaben zum Autor oder den Fakt, dass das Buch mit dem Dissertationspreis für herausragende wissenschaftliche Leistungen 2015 (Vereinigung von Freunden der TU Darmstadt) geehrt wurde.
Das Buch ist, mit den vom Autor gewollten thematischen Einschränkungen und den oben angeführten Kritikpunkten, auf dem aktuellen Wissensstand, aber gleichzeitig auch ein historisches Dokument. Es ist nicht zu verleugnen, dass die „Schnelllebigkeit“ der Digital Humanities einen großen Einfluss auf die Zeitlichkeit stark techniklastiger Forschungsarbeiten hat und wir heute vor anderen Möglichkeiten, Voraussetzungen, aber auch Herausforderungen stehen, die jedoch teilweise schon angedeutet sind (webbasiert, EOSC). Für den Fall einer Neuauflage wäre allerdings ein sorgfältiger Korrekturdurchgang empfohlen, bei einem Verlagserzeugnis in dieser Preisklasse kann man mehr verlegerische Sorgfalt erwarten.
Die Kritikpunkte schmälern allerdings in keiner Weise den Wert dieser Publikation, in der auf reflektierte Art und Weise und theoretisch breit untermauert das Gebiet der Nutzerforschung im Bereich digitale Forschungsumgebungen für die Digital Humanities für den deutschsprachigen Raum aufbereitet ist. Es wäre wünschenswert, wenn sie dazu beitrüge, die Fachdiskussion um dieses Thema bzw. ähnliche Bereiche wie digitale Forschungsinfrastrukturen und Werkzeugen für die digitalen Geisteswissenschaften (aber auch andere Disziplinen) zu stimulieren und professionalisieren. Es handelt sich hierbei um ein zukunftsträchtiges Forschungsgebiet, das für die gemeinsame Bearbeitung durch Fachwissenschaftler und Informationswissenschaftler prädestiniert scheint.
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Inhaltsfahne
- Design Thinking
- Design Thinking as a Framework for Innovation in Libraries
- „Form follows Function“ – Bibliotheksräume sind gebaute Visitenkarten der Bibliothek im 21. Jahrhundert
- Transformation
- Preistransparenz und -struktur von Artikelbearbeitungsgebühren
- Learning Circles: Learning Online Together at the Cologne Public Library
- Information Integrity in the Era of Fake News
- #ichteilewissen – Die Crowdsourcing-Initiative der Österreichischen Nationalbibliothek
- Library Education
- Library Education – Bracing for the Future?
- The Initial Training of Librarians and Curators in France: A National Mission
- Bibliotheken und Demokratie
- Die zentrale Rolle der Bibliotheken für den Fortschritt und die Demokratie
- Berichte
- Austrian Books Online – Acht Jahre Digitalisierung des historischen Buchbestandes der Österreichischen Nationalbibliothek mit Google
- Work in progress: Die langen Schatten der NS-Vergangenheit
- Rezensionen
- Hauke, Petra; Charney, Madeleine; Sahavirta, Harri (Hrsg.) (2018): Going Green: Implementing sustainable Strategies in Libraries around the World. Buildings, Management, Programmes and Services. IFLA Publications 177; X, 234 S., 1 Abb. (sw), 60 Abb. (Farbe), 14 Tab. (s/w). Gebunden: € 99,95, ISBN 978-3-11-060584-6, eBook: € 99,95, PDF ISBN 978-3-11-060887-8, EPUB ISBN 978-3-11-060599-0
- Michael Bender: Forschungsumgebungen in den Digital Humanities: Nutzerbedarf – Wissenstransfer – Textualität. Berlin/Boston: De Gruyter 2016. XIII, 341 Seiten. 6 Abb. (Sprache und Wissen, Band 22), € 99,95. ISBN 978-3-11-045969-2
- Sühl-Strohmenger, Wilfried; Tschander, Ladina (Hrsg.): Praxishandbuch Schreiben in der Hochschulbibliothek: De Gruyter Saur, 2019. ISBN 978-3-11-059116-3. EUR 79,95
- Musser, Ricarda; Naoka Werr (Hrsg.): Das Bibliothekswesen in der Romania. Berlin: De Gruyter Saur 2019. XV, 403 Seiten, s/w Illustrationen; 23 cm x 15,5 cm, ISBN 978-3-11-052713-1 Gebunden: € 99,95. Weitere Ausgaben: 978-3-11-052721-6 (EPUB), 978-3-11-052979-1 (PDF)
- Christian Keitel: Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft. Stuttgart: Franz-Steiner-Verlag, 2018. 285 Seiten, 29,90 €, ISBN 978-3-515-12156-9.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Inhaltsfahne
- Design Thinking
- Design Thinking as a Framework for Innovation in Libraries
- „Form follows Function“ – Bibliotheksräume sind gebaute Visitenkarten der Bibliothek im 21. Jahrhundert
- Transformation
- Preistransparenz und -struktur von Artikelbearbeitungsgebühren
- Learning Circles: Learning Online Together at the Cologne Public Library
- Information Integrity in the Era of Fake News
- #ichteilewissen – Die Crowdsourcing-Initiative der Österreichischen Nationalbibliothek
- Library Education
- Library Education – Bracing for the Future?
- The Initial Training of Librarians and Curators in France: A National Mission
- Bibliotheken und Demokratie
- Die zentrale Rolle der Bibliotheken für den Fortschritt und die Demokratie
- Berichte
- Austrian Books Online – Acht Jahre Digitalisierung des historischen Buchbestandes der Österreichischen Nationalbibliothek mit Google
- Work in progress: Die langen Schatten der NS-Vergangenheit
- Rezensionen
- Hauke, Petra; Charney, Madeleine; Sahavirta, Harri (Hrsg.) (2018): Going Green: Implementing sustainable Strategies in Libraries around the World. Buildings, Management, Programmes and Services. IFLA Publications 177; X, 234 S., 1 Abb. (sw), 60 Abb. (Farbe), 14 Tab. (s/w). Gebunden: € 99,95, ISBN 978-3-11-060584-6, eBook: € 99,95, PDF ISBN 978-3-11-060887-8, EPUB ISBN 978-3-11-060599-0
- Michael Bender: Forschungsumgebungen in den Digital Humanities: Nutzerbedarf – Wissenstransfer – Textualität. Berlin/Boston: De Gruyter 2016. XIII, 341 Seiten. 6 Abb. (Sprache und Wissen, Band 22), € 99,95. ISBN 978-3-11-045969-2
- Sühl-Strohmenger, Wilfried; Tschander, Ladina (Hrsg.): Praxishandbuch Schreiben in der Hochschulbibliothek: De Gruyter Saur, 2019. ISBN 978-3-11-059116-3. EUR 79,95
- Musser, Ricarda; Naoka Werr (Hrsg.): Das Bibliothekswesen in der Romania. Berlin: De Gruyter Saur 2019. XV, 403 Seiten, s/w Illustrationen; 23 cm x 15,5 cm, ISBN 978-3-11-052713-1 Gebunden: € 99,95. Weitere Ausgaben: 978-3-11-052721-6 (EPUB), 978-3-11-052979-1 (PDF)
- Christian Keitel: Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft. Stuttgart: Franz-Steiner-Verlag, 2018. 285 Seiten, 29,90 €, ISBN 978-3-515-12156-9.