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„Form follows Function“ – Bibliotheksräume sind gebaute Visitenkarten der Bibliothek im 21. Jahrhundert

  • Hermann Romer

    Winterthurer Bibliotheken, Obere Kirchgasse 6, Postfach 132, CH-8401 Winterthur, Schweiz

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Published/Copyright: April 9, 2020

Zusammenfassung

Winterthur ist eine mittelgroße Landstadt im Kanton Zürich/Schweiz mit etwa 112 000 Einwohnern. Die Stadt unterhält ein öffentliches Bibliothekssystem mit sieben Zweigstellen, darunter die Stadtbibliothek als Haupthaus. Derzeit stellt sich für die Stadtverwaltung nicht die Frage, ob sie sich ein öffentliches Bibliothekssystem leistet, sondern welches. In einer Stadt, die sich ein „Smart City“-Label auf die Fahnen geschrieben hat, stehen die öffentlichen Bibliotheken im Schnittpunkt zwischen „Service public“ und „Smart Library“. Die Stadtbibliothek, die 2003 ihre Türen öffnete, versteht sich als innovatives, technikaffines Haus, das offen und ohne Vorbehalte Neues in ihr Angebot aufnimmt. 2003 war sie die erste Bibliothek Europas mit einem RFID-Self-Circulation-Tool, später gewann sie den kantonalen Bibliothekspreis für die „Integrationsbibliothek“. In der Bibliothekspädagogik arbeitet sie seit zehn Jahren auf der Basis eines selbst entwickelten Spiralcurriculums, 2014 war sie die erste Bibliothek in der Schweiz mit einem eigenen Makerspace. Innovative Prozesse ziehen laufend bauliche Veränderungen nach sich, die architektonischen Anpassungen dürfen aber nicht ästhetischen Normen, sondern müssen den bibliothekseigenen Konzepten und Funktionen folgen. „Form follows Function“ wird zum dynamischen Prozess ständiger Veränderungen der Bibliothek und liefert die architektonische Visitenkarte der Bibliothek im hier und jetzt einer Bibliothek, die sich laufend neu erfindet.

Abstract

Winterthur is a medium-sized city in the Canton of Zurich/Switzerland with about 112,000 inhabitants. The city runs a public library system with seven branches, among them the City Library as the leading house. At present, the City government is not confronted with the question whether it affords a public library system but which. In a city that pursues the label “Smart City”, Winterthur Public Libraries are at the interface between “Service public” and “Smart library”. The City Library that opened its doors in 2003 understands itself an innovative high-tech house that takes on novelties openly and without reservations. In 2003 it was the first European library with a RFID-Self-Circulation-Tool, later it won the Cantonal Library Award for its “Intercultural Library”, in the field of library pedagogy it has been working on the basis of a self-developed spiral curriculum for ten years, and in 2014 it was the first library in Switzerland with its own makerspace. Innovative processes consequently involve structural changes, the architectural changes, however, must not follow the aesthetic norms but the library’s own concepts and functions. “Form follows Function” becomes a dynamic process of permanent changes of the library and provides the architectural business card of the library in the here and now of a library that constantly reinvents itself.

1 Ein Haus des Wissens

Samstagvormittag im vierten Obergeschoss der Stadtbibliothek Winterthur. 15 Personen sitzen konzentriert am Tisch und arbeiten beim ersten offenen Wikipedia-Atelier an verschiedenen Themen. Die Winterthurer Bibliotheken haben die Bevölkerung dazu eingeladen und Bücher, Bilder, Mikrofilme und Zeitungsartikel zu Winterthurer Themen bereitgestellt. „Wir haben [zur Bearbeitung] ein paar Winterthurer Frauen vorgeschlagen“, sagt Jonas Bürgi, Mitarbeiter der Sammlung Winterthur, der das offene Atelier organisiert hat.[1] Und so entsteht an diesem Tag beispielsweise ein Wikipedia-Beitrag zur Winterthurer Lyrikerin Lilly Ronchetti, deren Nachlass im Kulturmagazin der Sammlung Winterthur schlummert.

Während im vierten Obergeschoss in der „Sammlung Winterthur“ Wikipedia-Beiträge entstehen, wird im zweiten Obergeschoss handwerklich gearbeitet. Joachim Müller ist eben eingetroffen und hat an einem der öffentlichen Arbeitsplätze seine Tätigkeit aufgenommen. Er besitzt ein eigenes Label WESALO für Design-T-Shirts und produziert seine Einzelstücke im Makerspace der Stadtbibliothek.[2] Der Makerspace stellt ihm die notwendigen Maschinen zur Verfügung, „so kann er auch ohne viel Gewinn immer weiter produzieren“.[3] Der Makerspace bietet dem 21-jährigen Müller eine niederschwellige Möglichkeit, in die Kreativwirtschaft einzusteigen. Hier versteht man sich als Ort des Machens und des collaborativen Wirtschaftens.

Derweil wird die Kollegin am Kundendienst-Helpdesk im Erdgeschoss beim ersten Kundenansturm nach der 10-Uhr-Öffnung mit unterschiedlichsten Fragen überrannt. Geduldig gibt sie Auskunft zu Gebührenständen, hört sich Reklamationen zu nicht funktionierenden digitalen Plattformen an, erteilt Auskünfte, wo sich die Blue-Ray-Scheiben befinden und erklärt zum x-ten Mal, wie vorbestellte Medien selbständig ausgeliehen werden können. Unvorstellbar, müsste sie auch noch Medien ausleihen oder zurückbuchen. Die Winterthurer Bibliotheken wollen eine sogenannte „Smart Library“ sein und haben deshalb schon bei der Eröffnung der Stadtbibliothek 2003 als erste Bibliothek Europas ein Full-Circulation-Tool der Firma bibliotheca RFID eingeführt.[4] Mit einer Smart-Card-Lösung ist der 24-Stunden/7-Tage-Zugang zur Rückgabe gesichert, können Medien ausgeliehen, gescannt und kopiert werden, Kaffee gekauft oder am Kassenautomaten Gebühren bezahlt werden. Ein Standard heute, der 2003 die Bibliothekswelt ein klein wenig revolutionierte. Er führte dazu, 2014 die große Ausleihtheke durch einen Helpdesk zu ersetzen und das raumbeherrschende Möbel zu schrumpfen.[5]

An diesem Samstag werden die Besucher der Stadtbibliothek aber nicht nur von den Mitarbeitenden an den Helpdesks empfangen, sondern „[i]m Schaufenster der Bibliothek winkt ein Roboter durchs Glas, den Büchern zum Abschied oder der Technik zum Gruss“.[6] Er lädt die Laufkundschaft ein, in den kommenden Wochen an den verschiedenen Angeboten zur Bibliothek4.0 teilzunehmen: Roberta-Lab, Thementag Robotik, Forum Wissen. Die Mitarbeitenden der Winterthurer Bibliotheken sind davon überzeugt, dass die Medienausleihe die Nutzungsform der Bibliothek des 20. Jahrhunderts ist und dass die Legitimation der Bibliothek künftig woanders zu holen ist; vielleicht beim Haus des Wissens oder beim Zentrum für Spracherwerb – und zwar auch jener Sprache, mit der die Zukunft gestaltet wird.[7] Und diese Sprache ist binär codiert.

Ortswechsel: Drei Kilometer entfernt in der Bibliothek des Ortsteils Töss sitzen gerade Felix und Omar gemeinsam vor einem Bildschirm und diskutieren, wie das Motivationsschreiben Omars für die ausgeschriebene Stelle im Pflegebereich formuliert werden muss, damit Omars Bewerbungsunterlagen den formalen Anforderungen der Stellenausschreibung genügen. Seit zwei Jahren bietet der Quartierverein Töss-Dorf seine Schreibhilfe immer samstags in der Bibliothek Töss an.[8] Die Bibliothek bietet Platz und Infrastruktur, der Quartierverein das Know-how und die personelle Unterstützung. Eine echte Win-win-Situation für die Bevölkerung, da sind sich die Partner Quartierverein und Bibliotheken einig.

Fünf Bilder eines ganz alltäglichen Samstagvormittags bei den Winterthurer Bibliotheken. Wo soll die Darstellung der Rolle und Funktion der „winbib“ als Haus des Wissens beginnen? Bei der Mitgestaltung der Einwohner, wenn es um die Reproduktion der Stadtgeschichte geht? Bei der handfesten Arbeit in der „Bibliothek4.0“, wo beim „Do it Yourself“ die Grenzen von erstem und drittem Ort verwischen? Bei der RFID-Technologie, die die Grundlagen schuf, damit sich das Bibliothekspersonal wieder stärker dem „knowledge management“ widmen konnte? Oder doch eher bei der Diversity-Förderung in den Stadtteilen? Im Grunde genommen spielt es keine Rolle, wo die Storyline einsetzt, denn alle Aktivitäten sind Ausdruck des aktuellen Wertwandels, der die Bibliotheken aufrüttelt und sie mit der Frage nach dem Sinn und der Funktion im 21. Jahrhundert herausfordert. Diese Frage steht auch hinter dem Verständnis der Bibliothek als öffentlichem Ort, wenn man diesen als Verpackung von Bibliothekskonzepten versteht.[9] Denkt man diesen Ansatz weiter, müssen die Räume der Bibliothek des 21. Jahrhunderts eine Einladung an die Bevölkerung aussprechen, alltagsrelevante Bedürfnisse hier und jetzt befriedigen zu können. Dies hat Klaus Ceynowa bereits Mitte der 1990er-Jahre als Forderung erhoben.[10] Damit gewinnt auch der Grundsatz „Form follows Function“ des US-amerikanischen Architekten Louis Sullivan (1856 – 1924) seine Aktualität für Bibliotheken. Denn dieser folgt einer formalen Logik, dass Räume sich nicht ästhetischen Normen, sondern den sich verändernden funktionalen Bedürfnissen (der Bibliotheken) anpassen sollen. Und dass die Funktion der Bibliotheken im 21. Jahrhundert eine andere sein soll als jene der vergangenen Jahrhunderte, wird niemand bestreiten. Diese Diskussion wird im Zeichen der digitalen Transformation des Alltags zusätzlich dadurch befeuert, dass große online-Händler in den letzten Jahren begonnen haben, sogenannte „Flagship Stores“ zu eröffnen, gebaute Visitenkarten in Stahl, Beton und Glas, die diesen Unternehmen ein Gesicht in der analogen Welt der Erlebniskultur geben sollen. Und diese Erlebniskultur macht auch vor der Bibliothekswelt nicht halt.[11] Doch ist die Diskussion in dieser Welt angekommen?

Noch vor kurzem war es selbstverständlich, welche Funktionen Bibliotheken hatten und wie ihre Räume diese unterstützten. Als die neue Stadtbibliothek 2003 am Kirchplatz mitten in der Winterthurer Altstadt eröffnete, war sie ein bauliches Zeugnis der Bibliothekserfahrung des 20. Jahrhunderts: ein Medienspeicher und eine Ausleihbibliothek. Nach dem Winterthurer Alt-Stadtbaumeister Ulrich Scheibler wurde mit dem Umbau des letzten Kornspeichers innerhalb der historischen Altstadt zu einem Bücherspeicher die „richtige Aufgabe am richtigen Ort“ gelöst. Dass sich dabei die Eingriffe auf das funktionell Nötige beschränkten, fand seine Anerkennung.[12] Das „funktionell Notwendige“ bezog sich selbstredend auf den Bücherspeicher. Und weiter: beim „Erlebnis Liftfahrt erfährt man in knapp einer Minute Fahrt“ im gläsernen Aufzug durch acht Geschosse „die beeindruckende Raum- und Gebäudestruktur“. Von einem Bibliothekserlebnis ist da nicht die Rede. Für Kulturmanager und Architekt Rudolf Weiss folgt aber gerade diese Liftfahrt einer neuen Storyline des Hauses; sie wird „zum vielschichtigen Erlebnis“, bei dem „neben der Übermacht von Vergangenheit und Baugeschichte“ auch die „Erfahrung der medialen Lebenswelt der Zukunft fühlbar“ wird.[13] Hier klingt erstmals der Grundsatz „Form follows Function“ an: Die Fahrt im gläsernen Aufzug erzählt eine Bibliotheksgeschichte. Sie zeigt Menschen die lernen und arbeiten, die den Bibliotheksraum nutzen, um ihren Alltag zu gestalten und ihr Leben zu verbessern. Sie zeigt Bibliothekare, die mit Kunden diskutieren, ko-kreativ zusammen mit dem Publikum gesellschaftlichen Mehrwert schaffen, statt Medien auszuleihen. Medien sind Quellen der Inspiration und Kreativität, Bibliotheksräume sind Werkräume, wo gemeinsam an der Zukunft gearbeitet wird. In den Jahren 2003–2013 reift die Idee des collaborativen Hauses des Wissens heran. Zahllose Experimente, Pop-Up-Abteilungen, Fokusgruppen und Experimentiersatelliten folgen in den fünfzehn Betriebsjahren bis heute. Die Winterthurer Bibliotheken nutzen ihre Stadtbibliothek als „Flagship Store“, sie ist die Vorzeigefiliale des Netzes, die mit Inhalten, Angeboten und Ausstattung die Vision der Institution[14] zu Konzepten formt und diese als „Form follows Function“ in eine erlebbare Geschichte fasst. Wer sind diese Winterthurer Bibliotheken?

2 Die Winterthurer Bibliotheken im Rückspiegel

Die Winterthurer Bibliotheken, die sich seit dem Rebranding 2018 nur noch kurz und bündig „winbib“ nennen, sind ein Filialsystem von sieben öffentlichen Bibliotheken, das 1982 aus der Fusion einzelner Volksbüchereien mit der Stadtbibliothek und der Gewerbebibliothek hervorging. Seit damals sind die Gewerbebibliothek, die Bibliothek Altstadt und die Ortsteilfilialen Mattenbach, Neuburg, Reutlingen und Stadel geschlossen und die Zweigstelle Hegi neu eröffnet worden.[15] Zur älteren Geschichte kann auf den Eintrag auf dem Portal der Winterthurer Bibliotheken verwiesen werden.[16]

Leistungskennzahlen 2018:

– Gesamtnutzung Medien: 1 575 910 Nutzungen

– Davon physische Ausleihen: 1 212 796 Ausleihen

– Davon Downloads virtuelle Medien: 363 114 Downloads

– Besucher: 571 256 Zutritte gemäß Frequenzzähler

– Davon in der Stadtbibliothek: 360 361 Besucher

– Veranstaltungen und Führungen: 1971 Anlässe

– Davon Lektionen und Führungen für Schulklassen: 1 342 Anlässe

Betriebskennzahlen der Winterthurer Bibliotheken, 2018:

– Medienbestand: 1 216 067 Einheiten

–Betriebsfläche: 6 020 qm

– Davon Publikumsfläche: 3 265 qm

– Standorte: 7 Zweigstellen, 2 nicht öffentliche Standorte

– Publikumsarbeitsplätze: 237 Plätze

– Mitarbeitende: 47,7 Vollzeitäquivalente, verteilt auf 75 Mitarbei-tende

– Ausbildungsplätze: 7 Lehrverhältnisse/Praktika

– Jahresetat, netto: 7 790 196,- CHF

Trotz organisatorischer Fusion im Jahr 1982 erfolgte der eigentliche Zusammenschluss zu einer voll integrierten Organisation unter gemeinsamer Betriebsausrichtung erst 1995 mit der Einführung von New Public Management in der Winterthurer Stadtverwaltung. Die Kernfunktionen der Bibliothek wurden in drei Abteilungen eingeteilt: die Stadtbibliothek, die Quartierbibliotheken und die Sondersammlungen. Alle drei Abteilungen erhielten eine Zielvereinbarung und wurden erstmals am Output gemessen. Das Parlament bewilligte die jährlichen Mittel nach Maßgabe der Erfüllung des öffentlichen Auftrags. Grundlage ist seither eine Vollkostenrechnung, in die auch sämtliche Gebäudekosten, die Investitions- und Querschnittkosten der Stadtverwaltung und die ICT-Kosten einfließen. Das Erreichen der Ziele war dank des allgemeinen Aufwinds, in welchem die öffentlichen Bibliotheken in den 1990er-Jahren segelten, kein Problem. Es brauchte dann weitere zehn Jahre und erste Performance-Einbrüche, um ein unternehmerisches Denken im Management freizusetzen. Ein erster strategischer Plan lag 2005 vor. Sein oberstes Ziel lautete, die „Bibliothek als physischen Ort“ zu stärken. Dieses Ziel war primär getrieben von der Frage, welche Rolle die neu eröffnete Stadtbibliothek künftig spielen sollte, bot doch das neue Haus bisher ungeahnte Möglichkeiten der Selbstinszenierung. Gleichzeitig war der Betrieb des vergleichsweise großen Hauses eine gewaltige Herausforderung für das relativ kleine Bibliotheksteam, das gleichzeitig von einer städtischen Sparmaßnahme personell und finanziell heftig durchgeschüttelt wurde. 2004 kam das öffentliche Unternehmen zusätzlich unter neue Leitung und gab sich eine grundlegend neue Führungsstruktur (vgl. oben).

Abb. 1 Organigramm 2019, das im Wesentlichen auf dem Modell von 2005 beruht
Abb. 1

Organigramm 2019, das im Wesentlichen auf dem Modell von 2005 beruht

Der zweite strategische Plan von 2011–2017 zielte auf die Erweiterung des physischen um den virtuellen Raum. Der Weg in die Digitalisierung war durch die Entwicklung der „hybriden Bibliothek“ vorgegeben. eWinbib, Smart Library, Makerspace und Bibliothek4.0 hießen die Leitbegriffe des funktionalen Wandels seit 2010. Die Umsetzung des strategischen Plans ward von einem professionellen Controlling begleitet. Im dritten strategischen Plan steht konsequenterweise der „individuelle“ Mehrwert, den die physische und die hybride Bibliothek für die Bevölkerung schaffen soll, im Mittelpunkt des Handelns. „Customizing the Library“ lautet der Plan für die Jahre 2018-2023. Um den Plan zu erfüllen, musste das Management vor allem im Marketing und im Controlling ausbauen und die Prozesssteuerung griffiger ausgestalten. Neu dazu kam 2017 eine Rechtskonsulenz, die vorab die heiklen rechtlichen Fragen rund um Lizenznutzungen, Urheberrechte und Lieferverträge prüfen und die Geschäftsleitung in allen Rechtsfragen beraten soll. Das Produkt- und Dienstleistungsportfolio ließ sich auf zehn Angebote eindampfen, die mittels Kostenträgerrechnung und Arbeitsrapport gesteuert werden. Diese zehn Angebote führen über vier strategische Geschäftsfelder. Das Betriebsmodell dahinter basiert in der Essenz auf dem dänischen Vier-Räume-Modell.[17] Der dritte strategische Plan orientiert sich theoretisch an der „New Librarianship“ von R. David Lankes.[18] Vielleicht ein Versuch also, das Vier-Räume-Modell und die New Librarianship in der Praxis aufeinander abzustimmen. Eine Forderung, die jüngst auch Hans-Christoph Hobohm in dieser Zeitschrift erhob.[19]

Die Zukunftsfähigkeit der Winterthurer Bibliotheken entscheidet sich gemäß strategischem Plan im Dreieck von Raum (physischem und virtuellem), Mensch (Personal und Kundschaft) und Funktion (Mission und Auftrag). Nur wenn es der Geschäftsleitung in den kommenden Jahren gelingt, den behaupteten Wertzerfall der Marke „Bibliothek“ zu kontern,[20] dürften die Bibliothekshäuser vom Schicksal der Buchhandlungen verschont bleiben. Winterthur zählte vor zwanzig Jahren elf Buchhandlungen, heute gibt es noch derer drei.

3 Bibliotheksräume – gebaute Visitenkarten in der Sprache der Zeit

Fragte man vor zehn Jahren auf Winterthurs Straßen herum, was eine Bibliothek sei, erhielt man etwa noch folgende Antworten: „Ein Haus mit Regalen voller Bücher“, „ein Haus, wo mit Büchern still gearbeitet wird“, „ein Bücherort mit morbidem Charme“, „einfach ein netter Ort“, „zum Medien ausleihen“. Für die Bibliothek des 20. Jahrhunderts war der Bibliotheksraum ein Parkhaus für Medien. Sie standen in langen Regalen, Rücken an Rücken, und warteten auf ihre Nutzung. Die Raumgestaltung diente dem schnellen Auffinden der gesuchten Bücher, ihrer effizienten Ausbuchung und nach der Rückgabe der ebenso schnellen Rückstellung. Geruch, Anblick, Emotionalität des Raums entsprachen dem nüchternen Charme von Wartehallen und Parkhäusern. Aufenthaltsqualität hatte eine untergeordnete Bedeutung. Die kognitive Landkarte der Bibliothek erschloss sich über den Medienkatalog. Unter „kognitiven Landkarten“ versteht man in der Psychologie „Erwartungen im Kopf“, wo üblicherweise bestimmte Räume, Dinge und Orte in einer Wohnung, einem Gebäude oder einer Stadt liegen.[21]

Eine repräsentative Bevölkerungsbefragung, die die winbib 2017 für die Region Winterthur in Auftrag gegeben hatten, brachte den Bruch mit dem traditionellen Begriff der Bibliothek als Ausleihbibliothek zutage. Erwartungen und Vorstellungen, welche Dienstleistungen in einer Bibliothek angeboten werden sollten, deckten sich nur noch teilweise mit den Vorstellungen der letzten Befragung von 2009. Die Versorgung mit Büchern ist dem Wunsch nach Raum und Infrastruktur zum Arbeiten und Lernen gewichen.

Abb. 2 Grafik aus dem Bericht 2017: Repräsentative Bevölkerungsbefragung im Raum Winterthur zum Thema Wissensmanagement und Bibliotheksnutzung der Bevölkerung
Abb. 2

Grafik aus dem Bericht 2017: Repräsentative Bevölkerungsbefragung im Raum Winterthur zum Thema Wissensmanagement und Bibliotheksnutzung der Bevölkerung

Die Forderung nach einem Haus für vielschichtige Nutzungen hat die Idee des Parkhauses für Bücher abgelöst. Räume müssen folglich einen unverwechselbaren Charakter haben, ohne zur Karikatur des dritten Orts zu verkommen. Die kognitive Landkarte ist damit um einiges komplexer geworden und stellt erhöhte Anforderungen an eine moderne Typologie von Erlebnisräumen. Um die Bevölkerung einzuladen, ihre Zeit in der Bibliothek zu verbringen, muss die neue kognitive Landkarte transparent gestaltet werden. Die Besuchenden sollen den Ort intuitiv verstehen, damit sie sich frei durch das Haus bewegen können. Dafür muss man die Brain Scripts dem Publikum auf den Leib schreiben. „Brain Scripts“ sind Drehbücher im Kopf, in denen erzählt wird, was an welchen Orten passiert. Damit graben sie sich in der Erinnerung der Besuchenden ein.[22] Brain Skripts laufen ab, wenn sie einen Teaser erhalten, Namen, Präsentationen, Ausstellungen, Visualisierungen. Die Urbanisierung der Gesellschaft machte die historischen Innenstädte zu Erlebniszentren und Shopping-Malls. Von den Bibliotheken darf gefordert werden, dass sie da nicht abseitsstehen.

Die winbib sahen die Zeichen der Zeit und nahmen die Herausforderung an, nach 2005 den Wissensspeicher in ein Haus des Wissens, die Stadtbibliothek in einen Flagship-Store umzuwandeln. Die Marketingverantwortlichen setzten bewusst auf die Technik, die „Brain Scripts“ für die Bevölkerung mit der kognitiven Landkarte dieses Flagship-Stores zu verbinden. So entstand ein Ort, der als gebaute Visitenkarte der öffentlichen Bibliotheken in Winterthur gelesen werden kann. Durch Emotionen, Bilder, Begriffe und Raumatmosphäre sollten und sollen die Besucher intuitiv geleitet und verleitet werden, die Stadtbibliothek für sich in Besitz zu nehmen und sie zusammen mit den Mitarbeitenden zu beleben und zu gestalten. Ziel wäre es, sie mittels Empathie an der Bibliothek partizipieren zu lassen, Bestandteil der Bibliothek zu werden und sie so an die Institution zu binden – und dies nicht als Kunden, sondern als immanenter Teil davon.[23] Einige Beispiele: Das „Projektlabor“ war etliche Jahre der Kern der Bibliothek „U21“. Junge Erwachsene trafen sich hier regelmäßig und produzierten eigene Internetfilme und mischten Rap-Stücke. Als offener Jugendtreff erhielt das Projektlabor 2011 den Jugendpreis der Stadt Winterthur. Das Projektlabor entstand spontan, weil die Atmosphäre in der „U21“ stimmte. Nach drei Jahren löste sich das Projektlabor von alleine auf. Die fünf Meter lange Ausleihtheke machte 2014 der „Lesepalette“ im Erdgeschoss Platz, entstanden ist ein Ort, wo palettenweise Bestseller bereitliegen und nie ausgehen. Damit ist dies der beste Willkommensgruß, mit dem die Bibliothek ihre Gäste empfangen kann: sie verspricht immer verfügbare Buchbestseller. Die Absenzquote spricht für sich, sie liegt permanent über 80 % und doch sind alle Titel immer verfügbar. Das ist die Ausleihbibliothek, die Spaß macht! Die Mitarbeitenden waren skeptisch, dass die Auflösung des Lesesaals von den alteingesessenen Zeitungslesern geschätzt würde, doch der Umbau in eine Zeitungslounge mit Wohnzimmerambiente schlug ein wie eine Bombe. Selten wurde ein Angebot vom ersten Tag an so diskussionslos und positiv aufgenommen wie die neue Lounge. Aus den sterilen Tischreihen erwuchs eine Wohlfühlzone, die aus der Bibliothek nicht mehr wegzudenken ist. Auch das Fraktal Wissen ist heute nach der Mutation zum Makerspace so stark mit dem Flagship-Store verbunden, dass nur noch über Erweiterungen und Ausbau diskutiert wird. Der Makerspace ist fester Bestandteil der Maker-Community und führt mit derselben eine zentrale Kommunikation über seinen Twitterkanal.[24] Hybrid pur! Und die alte Abteilung Freizeit ist bereits länger eine „Piazza“, der Marktplatz in der Bibliothek, wo Marktprodukte verkauft, Fahrräder unter Anleitung repariert, Ratschläge für Urban Gardening erteilt werden oder professionell frisiert wird – und das während den regulären Öffnungsstunden der Bibliothek. Wenn gerade kein Markttreiben herrscht, laden Bistrotische, Sofas und Verweilecken zum Plaudern, Stricken und auch Lesen ein. Besucher, denen es anderswo zu laut ist, ziehen sich gerne hierher zurück.

Das achtgeschossige Gebäude ist so konzipiert, dass es sich nicht nur bezüglich Architektur, Dicke der Mauern und Fragilität der Baukonstruktion, sondern auch betreffend Lautstärke, Besuchsströme und Umtriebigkeit von unten nach oben verschlankt.[25] Durch die achtgeschossige Anlage bietet das Haus ideale Voraussetzungen, zahlreiche Raumbelebungen parallel zu programmieren und so einen echten Flagship-Store zu unterhalten, der den Besuchern wo auch immer auf den knapp 2 500 Quadratmetern Publikumsfläche beste Unterhaltung, Problemlösungen in Alltagsfragen und eine Sensibilisierung in gesellschaftskritischen Themen bietet. Was bei der ganzen Vielfalt jedoch nie aus dem Auge verloren werden darf, sind die Klammern, die das Gebilde zusammenhalten, jener quasi Konstruktivismus der Bibliothekskonzepte, der nicht sichtbar ist, aber auf der Liftfahrt oder besser noch einer kleinen Wanderung durchs Haus intuitiv erlebt wird und für die meisten Menschen ein Wohlbefinden auslöst. Das Haus ist wie ein Sack voller Geschichten und Gefühle, die lediglich ausgepackt werden müssen. Der Bau ist die einheitliche Verpackung, „Form follows Function“ eben das Brain-script.

Abb. 3 Pflanzenverkauf und Saatgut-Tausch beim Urban-Gardening-Tag in der Piazza der Stadtbibliothek (Bild: André Boss, ©Winterthurer Bibliotheken)
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Pflanzenverkauf und Saatgut-Tausch beim Urban-Gardening-Tag in der Piazza der Stadtbibliothek (Bild: André Boss, ©Winterthurer Bibliotheken)

4 Politisches Bekenntnis zum Service public „Bibliothek“

Nun ist es aber nicht so, dass die Erlebnisse, die vermittelt, die Geschichten, die erzählt, die Probleme, die gelöst werden, oder das Wissen, das gestärkt wird, abstrakt am Haus und seiner Einrichtung ablesbar wären. Nur Räume nett einrichten, sich Treffpunkt nennen und dann warten, bis die Menschen die Räume mit beliebigen Aktivitäten füllen, kann kaum die Intention des Rechtsträgers und Geldgebers sein, der mit dem Betrieb einer Bibliothek eine spezifische Absicht verfolgt. Zumindest in Winterthur fordern Parlament und Stadtrat, dass die Bibliotheken ihr Tun auf einen nachgefragten Service public ausrichten, der es rechtfertigt, jährlich acht Millionen Franken an Steuergeldern für den Betrieb dieser öffentlichen Bibliotheken auszugeben. Demzufolge sollen die Maßnahmen und Dienstleistungen der Bevölkerung nützen und von den Legislaturzielen des Stadtrats gedeckt sein. In diesem Sinn erfüllen die Bibliotheken auch einen öffentlichen Auftrag und ihre Räumlichkeiten müssen entsprechend zweckdienlich ausgestaltet sein. Auch hierin manifestiert sich der Anspruch Louis Sullivans, „Form follows Function“.

Tab. 1
Legislaturziele des Stadtrats von WinterthurCorporate Identity der Winterthurer Bibliotheken, CIGeschäftsprodukte der Winterthurer BibliothekenEinzelne Maßnahmen, um die Geschäftsprodukte zu charakterisieren, 2019–2023
Förderung einer optimalen LernumgebungWir sind ein Lernort für alleMediennutzung fördern

Haus des Wissens
Neudefinition der Marke Makerspace
Erneuerung der Schulinfrastruktur gemäß „Lehrplan 21“Wir schaffen Zugang zu WissenSchulische BibliothekspädagogikÜberarbeiten des Spiralcurriculums „biblioheft“ unter Anpassung an den Lehrplan 21
Erarbeitung und Umsetzung der Strategie „Frühe Förderung“Wir fördern Sprachkompetenz und das Verständnis für die digitale WeltAußerschulische BibliothekspädagogikKundenbindung im Vorschulalter in der Bibliothek Veltheim
Förderung des Wissens- und TechnologietransfersWir nehmen uns den Themen der Gegenwart anDigitales Lernen/Haus des WissensNutzung der digitalen Medien erhöhen und Verwaltung optimieren
Umsetzung der Diversity-Strategie und des IntegrationsleitbildesWir leben VielfaltVielfalt fördernDiversity im Quartier Veltheim fördern und mitgestalten
Umsetzung von Quartier-FörderungsmaßnahmenWir stiften Identität in WinterthurWinterthur mitgestaltenVernetzung im Quartier Seen fördern
Stärkung der städtischen Kommunikation

im Bereich Social Media
Wir vernetzen Menschen und schaffen damit WissenBibliothek 4.0Vernetzung im Quartier stärken unter Einbezug der Quartier-APP Hegi/Neuhegi
Aufwertung öffentlicher RäumeWir leben VielfaltVielfalt fördernUmgestalten der Bibliotheksräume (more Connection less Collection)
Erarbeitung Nutzungskonzept

Öffentliche Räume
Wir sind eine Bibliothek – egal was wir machenPiazzaEtablierung eines „Bib-Lab“ als offenen Raum für Kunden
Ausbau der elektronischenGeschäftsführungWir fördern Sprachkompetenz und das Verständnis für die digitale WeltBibliothek 4.0 / Haus des Wissens„Open Government Access“„werkStadt“
Winterthur ist eine Kultur- und Bildungsstadt mit großer AusstrahlungWir stiften Identität in WinterthurWinterthur mitgestaltenMagazin„Stadtliebe Bodenstation“Citizen Science Projekt Wiki Media

Im vorliegenden Chart (vgl. nächste Seite) lässt sich ablesen, wie aus luftigen, sehr hoch und abstrakt angesetzten städtischen Legislaturzielen konkrete Maßnahmen im Bibliotheksalltag werden, die vor Ort ablaufen. Dass es in dieser Konstellation nicht mit dem „Dritten Ort“ getan ist, belegt ein kurzer Blick auf die Tabelle: Damit aus luftigen Stadtratszielen Maßnahmen entstehen, die mittels Indikatoren und Benchmarks ins Ziel gesteuert werden können, muss ein strategischer Plan bestimmen, mit welcher Haltung (Corporate Identity) und mit welchen Dienstleistungen (Geschäftsprodukten) die Legislaturziele verfolgt werden sollen. 2017/2018 erarbeitete die Geschäftsleitung der winbib diesen Plan und es dauerte ein weiteres Jahr, bis die einzelnen Teams ihre Maßnahmen in der Spalte ganz rechts auf die CI und die Geschäftsprodukte abgestimmt hatten. 42 Einzelmaßnahmen sind es insgesamt, die die Alltagsarbeit bis 2023 bestimmen sollen. Neben den planerischen Arbeiten, dem Marketing und dem Controlling gehören auch infrastrukturelle Maßnahmen zur Umsetzung des strategischen Plans. Dazu zählen etwa die Erneuerung des Sicherheitskonzepts, die ICT-Strategie und diverse bauliche Anpassungen. Damit die politischen Ziele erreicht werden, sollen durch die Maßnahmen das „kognitiv Mapping“ und der Ablauf der Brain-Scripts in den Köpfen der Bibliotheksbesuchenden angestoßen werden. Dazu müssen die Räume, ihre Atmosphäre, das Ambiente so gestaltet sein, dass es gelingt, mit den Konzepten des Managements den politischen Auftrag des Trägers zu realisieren. Die Funktion des „Hauses des Wissens“ nimmt hier eine zentrale Rolle ein. Neben der Atmosphäre geht es auch um die nötige technische Infrastruktur, die digitalen Netze, Hochleistungsrechner und spezielle Geräte und Apparate, die die Legitimation der Bibliothek als Arbeitsort ausmachen. 70 % der Bevölkerung von Winterthur wünschen sich gemäß der Umfrage von 2017 eine leistungsstarke öffentliche Arbeitsinfrastruktur. Diese anzubieten hängt vom Willen des Trägers ab, die nötigen Steuergelder für den Unterhalt dieser Infrastruktur zu bewilligen. Für eine erfolgreiche Umsetzung der Maßnahmen zu diesem Haus des Wissens oder der Bibliothek4.0 steht wiederum das Konzept „Form follows Function“ im Hintergrund.

Um die Maßnahmen besser auf die Legislaturziele der Stadtregierung hinsteuern zu können, begrenzte die Geschäftsleitung die Zahl der Angebote auf zehn Produkte, die auch als Kostenträger ausformuliert sind. Der strategische Plan „Customizing the Library“ definiert sie folgendermaßen:

Abb. 4 Die zehn Geschäftsprodukte des strategischen Plans 3
Abb. 4

Die zehn Geschäftsprodukte des strategischen Plans 3

Die folgenden räumlichen Konsequenzen zog die Einführung dieser Produkteordnung nach sich: Seit 2013 wurde die Zonierung der Stadtbibliothek komplett neu gedacht. Flächen wurden zugunsten von „Meeting Places“ ausgeschieden, großflächig Regale abgebaut und der Medienbestand von ursprünglich 250 000 Einheiten auf 150 000 Medien reduziert. Dafür entstanden ein Labor, eine Bibliothekspädagogik-Arena, ein Sprachlabor, ein Saal „tiefrot“, ein Makerspace und zahlreiche Arbeitstische für Gruppenarbeiten und Diskussionsrunden, die auch von einzelnen Gruppen reserviert werden können. Die Entwicklung geht weiter, so ist für 2020 zum Beispiel ein Ton- und Bildstudio geplant oder eine „werkStadt“ für Beratungen der Bevölkerung, wie sie e-Government-Angebote der Stadt- und Kantonsverwaltung besser nutzen kann. Dahinter steht das Entwicklungskonzept, die Bevölkerung nicht mit Medien und auch nicht mehr mit Information zu versorgen, sondern mit Räumen, wo kollaborativ Wissen produziert oder gemeinsam gearbeitet werden kann. Da zum Beispiel die Zahl der Führungen und Lektionen für Schulklassen in den vergangenen Jahren auf jährlich über 1 300 Lektionen angestiegen ist, mussten die Nutzungen der Medienausleihe und die Lektionen für Schulklassen im öffentlichen Raum getrennt werden. Die Bibliothekspädagogik-Arena bietet einen besseren Service public, denn nun stören sich diese nicht mehr gegenseitig. Ein weiteres Beispiel, wie die neuen Produkte die Raumzonierung beeinflusst, zeigt der Makerspace. Mit dessen Einführung entstanden neue Vermittlungsformate in Robotik und Programmieren, sie verlangten speziell ausgestattete Räume wie das Labor, um die Nachfrage nach Workshops und Labs professionell zu befriedigen. Digitales Lernen wird auch in der Integrationsbibliothek immer wichtiger, weshalb ein Sprachlabor eine neue Notwendigkeit wurde. All diese räumlichen Anpassungen unterliegen dem Konzept der Bibliothek4.0 und des Hauses des Wissens, das zulasten der allgemeinen Medienversorgung immer mehr Raum einnimmt. So folgen die Bücherregale dem Schrumpfprozess der Ausleitheken mit einigen Jahren Verzögerung, der Prozess ist unumkehrbar und verändert schleichend die kognitive Landkarte der Bibliothek in den Köpfen ihrer Kundschaft. Der eingangs genannte Roboter im Schaufenster ist deshalb nicht nur ein Marketing-Gag, sondern er verabschiedet tatsächlich die Ausleihbibliothek des 20. Jahrhunderts und begrüßt das technikaffine 21. Jahrhundert. Er steht für den Wandel der Institution Bibliothek und ist auch eine Visitenkarte der neuen Stadtbibliothek gleich beim Empfang des Hauses.

Abb. 5 Der großzügige Makerspace der Stadtbibliothek Winterthur mit der langen Kreativ-Theke (Foto: Beat Märki, ©Winterthurer Bibliotheken)
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Der großzügige Makerspace der Stadtbibliothek Winterthur mit der langen Kreativ-Theke (Foto: Beat Märki, ©Winterthurer Bibliotheken)

5 Bibliotheken – ein Fall für’s UNESCO Weltkulturerbe?

Lesen Sie gerade diese Ausgabe von BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis beim Frühstück im Sitzen und bei einer duftenden Tasse Kaffee? Dann zählen Sie laut dem Zukunftsforscher Richard Watson im doppelten Sinn zu einer Gattung Mensch mit aussterbenden Alltagsgewohnheiten,[26] prophezeite der Brite doch sowohl dem „Frühstück im Sitzen“ als auch dem „Gang in die Bibliothek“ im Jahr 2019 das Ausscheiden aus der Alltagspraxis unserer westlich zivilisierten Welt.[27] Nun existiert sie ja augenscheinlich auch nach dem prophezeiten Untergang im Jahr 2019 munter weiter. Da stellt sich dann die Frage: Welche Bibliothek existiert noch? Die Ausleihbibliothek, die Richard Watson meinte? Der Wissensspeicher? Die als „Dritter Ort“ getarnte Treffpunkt-Bibliothek? Ist sie nicht längst zur leeren Hülle ihrer eigenen abgestorbenen Idee geworden, die nur noch von den letzten Bücherwürmern belebt wird? Ein Fall also für das UNESCO-Weltkulturerbe? In Winterthur hat man sich schon vor zehn Jahren ganz bewusst vom „Medienhaus“ verabschiedet und nach Wegen gesucht, sich als „Haus des Wissens“ zu positionieren. In seinem Winterthurer Referat an der Bibliothek4.0-Tagung 2017 nannte David Lankes drei Bedingungen, unter denen sich die öffentliche Bibliotheken auch im 21. Jahrhundert werden halten können:

„In order for us to invent a good future, I believe there are three principles that must guide our work:

1. The future of libraries is about knowledge, not data

2. The future of libraries is not neutral

3. The future of libraries is local and networked“.[28]

Wenn es gelingt, sich vom Sog der Tradition des 20. Jahrhunderts zu befreien und die Bibliothekare darauf einzuschwören, nicht die Schatten der Ausleihbibliothek zu bekämpfen, sondern das Paradigma der „New Librarianship“ im Alltag umzusetzen, in den Köpfen, in den Räumen und in den Dienstleistungen, dann wird die öffentliche Bibliothek auch im 21. Jahrhundert Bestand haben, zumindest in Winterthur.

Über den Autor / die Autorin

Hermann Romer

Winterthurer Bibliotheken, Obere Kirchgasse 6, Postfach 132, CH-8401 Winterthur, Schweiz

Literaturverzeichnis

Ball, Rafael (2016): Interview NZZ am Sonntag mit Rafael Ball, Bibliotheken: Weg damit. In: NZZ am Sonntag online, 7. Februar 2016.Search in Google Scholar

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Online erschienen: 2020-04-09
Erschienen im Druck: 2020-04-03

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Inhaltsfahne
  4. Design Thinking
  5. Design Thinking as a Framework for Innovation in Libraries
  6. „Form follows Function“ – Bibliotheksräume sind gebaute Visitenkarten der Bibliothek im 21. Jahrhundert
  7. Transformation
  8. Preistransparenz und -struktur von Artikelbearbeitungsgebühren
  9. Learning Circles: Learning Online Together at the Cologne Public Library
  10. Information Integrity in the Era of Fake News
  11. #ichteilewissen – Die Crowdsourcing-Initiative der Österreichischen Nationalbibliothek
  12. Library Education
  13. Library Education – Bracing for the Future?
  14. The Initial Training of Librarians and Curators in France: A National Mission
  15. Bibliotheken und Demokratie
  16. Die zentrale Rolle der Bibliotheken für den Fortschritt und die Demokratie
  17. Berichte
  18. Austrian Books Online – Acht Jahre Digitalisierung des historischen Buchbestandes der Österreichischen Nationalbibliothek mit Google
  19. Work in progress: Die langen Schatten der NS-Vergangenheit
  20. Rezensionen
  21. Hauke, Petra; Charney, Madeleine; Sahavirta, Harri (Hrsg.) (2018): Going Green: Implementing sustainable Strategies in Libraries around the World. Buildings, Management, Programmes and Services. IFLA Publications 177; X, 234 S., 1 Abb. (sw), 60 Abb. (Farbe), 14 Tab. (s/w). Gebunden: € 99,95, ISBN 978-3-11-060584-6, eBook: € 99,95, PDF ISBN 978-3-11-060887-8, EPUB ISBN 978-3-11-060599-0
  22. Michael Bender: Forschungsumgebungen in den Digital Humanities: Nutzerbedarf – Wissenstransfer – Textualität. Berlin/Boston: De Gruyter 2016. XIII, 341 Seiten. 6 Abb. (Sprache und Wissen, Band 22), € 99,95. ISBN 978-3-11-045969-2
  23. Sühl-Strohmenger, Wilfried; Tschander, Ladina (Hrsg.): Praxishandbuch Schreiben in der Hochschulbibliothek: De Gruyter Saur, 2019. ISBN 978-3-11-059116-3. EUR 79,95
  24. Musser, Ricarda; Naoka Werr (Hrsg.): Das Bibliothekswesen in der Romania. Berlin: De Gruyter Saur 2019. XV, 403 Seiten, s/w Illustrationen; 23 cm x 15,5 cm, ISBN 978-3-11-052713-1 Gebunden: € 99,95. Weitere Ausgaben: 978-3-11-052721-6 (EPUB), 978-3-11-052979-1 (PDF)
  25. Christian Keitel: Zwölf Wege ins Archiv. Umrisse einer offenen und praktischen Archivwissenschaft. Stuttgart: Franz-Steiner-Verlag, 2018. 285 Seiten, 29,90 €, ISBN 978-3-515-12156-9.
Downloaded on 28.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2020-0006/html
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