Musser, Ricarda; Naoka Werr (Hrsg.): Das Bibliothekswesen in der Romania. Berlin: De Gruyter Saur 2019. XV, 403 Seiten, s/w Illustrationen; 23 cm x 15,5 cm, ISBN 978-3-11-052713-1 Gebunden: € 99,95. Weitere Ausgaben: 978-3-11-052721-6 (EPUB), 978-3-11-052979-1 (PDF)
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Musser, Ricarda; Naoka Werr (Hrsg.): Das Bibliothekswesen in der Romania. Berlin: De Gruyter Saur 2019. XV, 403 Seiten, s/w Illustrationen; 23 cm x 15.5 cm, ISBN 978-3-11-052713-1 Gebunden: € 99,95. Weitere Ausgaben: 978-3-11-052721-6 (EPUB), 978-3-11-052979-1 (PDF)
Mit dem Sammelband Das Bibliothekswesen der Romania liegt zum ersten Mal eine Gesamtdarstellung des Bibliothekswesens im romanischen Kulturraum vor, das neben der europäischen Ibero-, Gallo-, Italo- und Balkanromania auch die ehemaligen Kolonien bzw. die außereuropäischen Kulturräume mit romanischsprachigen Idiomen (Lateinamerika, Afrika, Karibik) in den Blick nimmt. Das interesseweckende Vorwort beleuchtet die inhaltlichen Schwerpunkte und Kernaussagen der einzelnen Länderkapitel, die von Experten aus deutschen Bibliotheken (Ausnahme sind die Autoren der Kapitel über Italien und Chile) verfasst wurden.
Folgende Länder bzw. Kulturräume werden vorgestellt: Teil 1 Europa: Frankreich, Italien, Portugal, Rumänien, Spanien. Teil 2 Afrika: frankophones West- und Zentralafrika (Benin, Burkina Faso, Demokratische Republik Kongo, Elfenbeinküste, Guinea, Kamerun, Mali, Senegal)[1], lusophones Afrika (Angola, Guinea-Bissau, die Kapverden, Mosambik, São Tomé und Príncipe). Teil 3 Lateinamerika: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Mexiko, Paraguay, Peru, Uruguay, Venezuela, Zentralamerika) sowie Teil 4 Karibik: Dominikanische Republik, Haiti, Kuba und Puerto Rico.
Die Angaben zu den einzelnen Ländern sind recht heterogen, was sicherlich auch der mitunter schwierigen Quellenlage geschuldet ist. Bei einigen Ländern (z. B. Italien) nimmt die geschichtliche Darstellung (hier: seit der Antike) einen größeren Raum ein; bei anderen (z. B. Frankreich) wird die Kulturpolitik seit der Französischen Revolution faktenreich und in exzellenter Weise kontextualisiert; bei wieder anderen (z. B. Rumänien, Spanien) werden sogar Katalogisierungsrichtlinien und Automatisierung des Bibliothekswesens vorgestellt. Manche Autoren informieren zusätzlich über Buchdruck und Buchhandel ihrer Länder; mitunter werden einzelne bedeutende Bibliotheken recht ausführlich beschrieben. Größere Linien hingegen sind dann erforderlich, wenn vielgestalte kulturelle Landschaften (wie das portugiesisch- und das französischsprachige Afrika) zum Gegenstand von verdienstvollen Überblicksartikeln werden. Umfangreiche Literaturverzeichnisse zeugen von der Pionierarbeit der Autoren (v. a. Monika Schade, 151–57).
Die Kritik an der Gesamtleistung fällt marginal aus, zumal die beiden herausgebenden Initiatorinnen – und mit je vier Beiträgen auch maßgebliche Mitautorinnen – Naoka Werr[2] und Ricarda Musser[3] betonen, dass die Zusammenstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe, sondern „ein Schlaglicht auf das vielfältige Bibliothekswesen im romanischen Kulturraum werfen und zur weiterführenden Auseinandersetzung anregen“ möchte (S. V).
Um von einer wirklich vergleichenden Studie zu sprechen, hätte man sich zusätzlich eine Bilanz gewünscht, die komparatistisch Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausarbeitet. Dies wäre allerdings ein schwieriges und komplexes Unterfangen geworden, das nun den Lesern, die vor allem aus dem Kreis von Romanistik, Bibliothekswissenschaft und Forschungsreisenden kommen dürften, vorbehalten bleibt.
Anregen könnte man allenfalls eine Übersetzung der teilweise in den Aufsätzen verwendeten originalsprachlichen Zitate in einer Fußnote. Andererseits wird die Mehrzahl der Rezipienten über entsprechende Sprachkenntnisse verfügen. Bedauerlich ist, dass es lediglich zu vier Ländern Abbildungen gibt (Frankreich, Chile, Mexiko, Uruguay). Als unüblich sind ausführliche Wiederholungen von Literaturangaben in unmittelbar aufeinanderfolgenden Fußnoten anzusehen (z. B. 169, 176 f.). Manche Autoren kommen ausschließlich mit Internetquellen aus, was freilich dem Wunsch nach aktueller Information geschuldet sein wird.
Auf den Italien gewidmeten Teil von Luisa Marquardt soll den nun etwas genauer eingegangen werden. Offenbar überzeugt das Diktum Goethes angesichts der seit der Antike überkommenen Schätze einerseits und der nicht ausreichend reglementierten und etatisierten Gegenwart der italienischen Bibliotheken andererseits so sehr, dass der Titel „Viel Licht und viel Schatten“ nach Christina Hasenau nun auch auf den vorliegende Darstellung verwendet wurde.[4] Die aktuelle Entwicklung im Bibliothekswesen könnte dabei zwischen ausführlichen typologischen Schilderungen verschiedener Bibliotheksarten eingehender berücksichtigt werden.[5] Die maßgebliche Rolle des zum Kulturministerium MIBAC gehörenden Koordinierungsinstituts ICCU bei verschiedenen EU-Projekten (MINERVA, MICHAEL, ATHENA, DPE, PARTHENOS etc.) und Initiativen wie das nationale Portal „Internet Culturale“ und der Europeana-Aggregator „CulturaItalia“ zeugen von großem Aufholwillen und -vermögen. „Internet Culturale“ dient dabei nicht nur als Aggregator der „Biblioteca digitale italiana“[6] und der nationalen Datenbank der retrodigitalisierten Zeitschriften und Zeitungen „Emeroteca Digitale Italiana“, sondern bietet auch Zugang zu den digitalisierten Sammlungen zahlreicher Kulturerbeeinrichtungen, zu Handschriften, Kinoplakaten und anderen Sondersammlungen sowie zum nationalen Katalog SBN.
Die immer noch komplizierte personelle Situation der italienischen Bibliotheken und die Schwierigkeiten bei der Anerkennung des Berufsbildes wünscht man sich näher erläutert.[7] Die nach wie vor unbefriedigende bibliothekarische Ausbildung, die neben Praktika (tirocinio), Volontariaten (volontariato) und berufsbegleitenden Weiterbildungskursen seit einiger Zeit auch über Bachelor-, Masterstudiengänge der Fachrichtung „Beni culturali“ (mit Spezialisierung auf Bibliothekswissenschaft) und einem Promotionsstudiengang (in Udine und Rom) ablaufen kann, kontrastiert mit der Tatsache, dass nach wie vor die Stellen durch Wettbewerbe (concorsi) besetzt werden, bei denen Vorbildung allein Zusatzpunkte verschafft. Dem fast rein italienischen Literaturverzeichnis sollten noch einige grundlegende italienische, aber auch internationale Titel beigefügt werden.[8]
Abschließend lässt sich sagen: Der Sammelband ist kein Nachschlagewerk, wenngleich zahlreiche Fakten in den Fließtexten der Aufsätze enthalten sind. Dass ein Sachregister fehlt, ist aufgrund der Volltextdurchsuchbarkeit bei Google Books, das die bekannten Snippets zu den Suchbegriffen bietet, oder im E-Book (allerdings in die üblichen kapitelweisen PDFs) verschmerzbar. Ein festes Raster mit einheitlichen Abhandlungskriterien einzuhalten war offenbar durch die Heterogenität der Kulturräume, die Quellenlage und die Vielzahl an Experten nicht möglich. Wahrscheinlich wäre dies aber ohnehin eine ermüdende Faktenlektüre geworden. Nun ist stattdessen ein meist hervorragend lesbares, abwechslungsreiches Panorama entstanden, das erfreulich viele Informationen über den Regalboden der Bibliotheken hinaus ermöglicht. So erfährt man von der schwierigen Situation afrikanischer Bibliotheken, die oft von Plünderungen betroffen sind. Mitunter unterstützt die französische Nationalbibliothek die ehemaligen Kolonien mit Spenden und Infrastruktur für Digitalisate. Die ausbeuterische Kolonialpolitik wird noch einmal ganz anders deutlich, wenn daran erinnert wird, warum Druckerpressen in Lateinamerika eingerichtet wurden: allein um religiöse Literatur herzustellen. Missionierung war in jenen Ländern, die vor allem der Rohstoffgewinnung dienten, lange Zeit der einzige Grund für kulturelle Investitionen. In Mexiko konnten glücklicherweise trotz Bücherverbrennungen durch die christliche Inquisition noch Zeugnisse der bedeutenden indigenen Schrifttraditionen aus vorkolonialer Zeit erhalten bleiben. Mangelnde Infrastruktur ist auch heute noch ein Hemmnis, dem z. B. in Kolumbien mit vierbeinigen Bibliotecas Ambulantes in den entlegensten Gebieten begegnet wird, dem Büchertransport auf dem Eselsrücken (Biblioburro). Leseförderung für die Kleinsten in Paraguay firmiert unter der Bezeichnung „bebeteca“, in Afrika werden fantasievoll Mini-Bibliotheken in Friseursalons eingerichtet, in Lateinamerika laden Container namens Biblioplaya zur Sommerlektüre am Strand ein. Uruguay startete als erstes Land der Welt die Initiative „One Laptop per Child“. Dass die digitale Versorgung allerdings nicht das einzige Mittel zur Kultur- und Bildungsförderung sein kann, zeigt ausgerechnet die Bill & Melinda Gates Stiftung, die sich in der Kampagne „Beyond Access“ für den Ausbau von öffentlichen Bibliotheken in Peru engagiert.
Mit 99 Euro ist der höchst verdienstvolle Titel auf die Erwerbung durch Bibliotheken ausgerichtet.
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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