Abstract
This article addresses the question of how to deal with anti-Muslim prejudices and attitudes among pupils in Christian Religious Education, especially from the perspective of interreligious learning. Based on current empirical findings, in particular on corresponding prejudices and negative attitudes of young people and Christian pupils, the so far insufficient consideration of the problem of prejudice in concepts of interreligious learning is considered and the potentials of Religious Education for the reduction of hostility against Muslims and Islam are discussed. From there, and especially in orientation to the so-called contact hypothesis, tasks for the future of Religious Education practice and further research are outlined.
Zusammenfassung
Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie im christlichen Religionsunterricht und hier insbesondere in der Perspektive interreligiösen Lernens mit muslim:innenfeindlichen Vorurteilen und Einstellungen bei Schüler:innen umgegangen werden kann. Von aktuellen empirischen Befunden aus, insbesondere zu entsprechenden Vorurteilen und negativen Einstellungen Jugendlicher bzw. christlichen Schüler:innen, wird die bisher unzureichende Berücksichtigung der Vorurteilsproblematik in Konzeptionen interreligiösen Lernens bedacht und nach den Potenzialen des Religionsunterrichts für den Abbau von Muslim:innen- und Islamfeindlichkeit gefragt. Von dort aus und insbesondere in Orientierung an der sogenannten Kontakthypothese werden Aufgaben für die Zukunft religionsunterrichtlicher Praxis und weiterer Forschung skizziert.
Die Frage, wie mit muslim:innenfeindlichen Vorurteilen und Einstellungen bei Schüler:innen im christlichen (evangelischen oder katholischen) Religionsunterricht umgegangen werden soll, hat lange Zeit wenig Beachtung gefunden. Erst in neuerer Zeit gibt es vermehrt Problemanzeigen in der religionspädagogischen Diskussion, dass insbesondere beim interreligiösen Lernen viel deutlicher Vorurteile gegenüber anderen Religionen und deren Angehörigen einbezogen werden müssen. Zwar hat die Diskussion zum interreligiösen Lernen von Anfang an Ziele wie Toleranz, wechselseitige Anerkennung und Respekt hervorgehoben, aber die Vorurteilsthematik wurde erst in jüngster Zeit vermehrt explizit gemacht.[1] Wir gehen hingegen – auch in Anknüpfung an aktuelle Debatten über Antisemitismus und Rassismus – von einem Konnex zwischen interreligiösem Lernen und Vorurteilen aus. Denn bei allen Thematisierungen des Islam können zum einen eigene vorurteilsrelevante Erfahrungen von Schüler:innen mit Muslim:innen, zum anderen bestimmte gesellschaftliche Stimmungen und damit verbunden, vorurteilsbezogene negative Einstellungen im Raum sein.
1. Islambezogene Einstellungen bei christlichen Schüler:innen: empirische Befunde
Schon seit längerer Zeit dokumentieren empirische Untersuchungen negative Vorurteile und Einstellungen gegenüber dem Islam sowie gegenüber Muslim:innen in Deutschland und Europa. Die Rede ist sogar von einem „antimuslimischen Rassismus als historische Konstante europäischer Geistesgeschichte“.[2] Internationale Vergleiche verweisen darauf, dass solche Negativhaltungen besonders in Deutschland stärker verbreitet sind als in einem Teil der Nachbarländer.[3] Bei solchen Befunden geht es allerdings nicht speziell um Kinder und Jugendliche, sondern in der Regel um die Bevölkerung insgesamt, auch wenn mitunter nach Altersgruppen differenziert wird.[4]
Eine weitere Frage betrifft die Terminologie: Wie im Editorial zu diesem Heft dargestellt, wird manchmal von Islamfeindlichkeit gesprochen und manchmal von Muslim:innenfeindlichkeit. Häufig gebraucht wird auch der Begriff Islamophobie, der zugleich von manchen ausdrücklich abgelehnt wird.[5] Im englischsprachigen Bereich wird häufig von Islamophobia gesprochen, auch in offiziellen Dokumenten vor allem aus dem United Kingdom.[6] Bei der Frage nach empirischen Befunden spiegelt sich die terminologische Unklarheit insofern wider, als nur selten konsequente Unterscheidungen geboten werden.[7] Die Begriffe schwanken stark – dies zeigen auch die Beiträge in diesem Heft. In einer psychologischen Perspektive wird von Einstellungen als habitualisierten (positiven oder negativen) Wertungen gesprochen, von Vorurteilen heute zumeist im Sinne gruppenbezogener Einstellungen abwertender Art, die dann auch als (negative) festliegende Stereotype bezeichnet werden.[8]
Einleuchtend bezeichnet Wolfgang Benz, woran wir uns im Folgenden der Sache nach orientieren, „Muslimfeindschaft“ als „Oberbegriff“ „für die aus Vorurteilen gespeiste Abneigung gegen Muslime“ und definiert diese als „Ressentiment gegen eine Minderheit, die mit religiösen, kulturellen und politischen Argumenten ausgegrenzt wird.“[9] Von dort aus differenziert Benz Islamophobie, Islamkritik und Islamfeindschaft als unterschiedliche Phänomene weiter aus: Gegenstand von „Islamfeindschaft“ seien „Ressentiments gegen Muslime, die diskriminiert werden, weil sie Muslime sind. Gegen sie werden Feindbilder konstruiert, die in den Komplex gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gehören und deshalb aus der Perspektive der Vorurteilsforschung zu betrachten sind. Das Paradigma des Antisemitismus kann zur Erklärung des Gruppenverhaltens gegenüber Muslimen gute Dienste leisten.“[10]
Offenbar kann auch das Gefühl der Bedrohung der eigenen Identität zu einer Angst vor Islam und Muslim:innen führen, wofür zugleich bestimmte mediale sowie digital induzierte „Erfahrungen“ mitursächlich sein können. Anstelle fehlender direkter Kontakterfahrungen sind es „über die Medien vermittelte (parasoziale) Kontakte […], die zur Konstruktion eines eigenen Bildes von einer anderen Religion und ihren Mitgliedern“[11] beitragen.[12] Insofern könnte man sagen, dass Muslim:innenfeindlichkeit eine spezifische personale und gruppenbezogene vorurteilsgeladene Wahrnehmung darstellt, bei der der Islam als eine spezifisch religiös konnotierte, wiederum gruppenbezogene Komponente zusätzlich mit ins Spiel kommt. Muslim:innenfeindlichkeit wird hier folglich als Ausdruck für die, häufig medial induzierte, vorurteilsbeladene Wahrnehmung von Individuen mit „anderer“ Zugehörigkeit verwendet, die zugleich als Angehörige der Religion des Islam wahrgenommen werden.[13]
Die in der genannten Literatur verfügbaren Befunde zur Islam- oder Muslim:innenfeindlichkeit in der Gesamtbevölkerung sollen an dieser Stelle nicht erneut dargestellt werden.[14] In knappster Zusammenfassung ausgedrückt zeigen sie bei wiederkehrender Befundlage, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Bevölkerung in Deutschland und Zentraleuropa (allerdings weniger in der Schweiz) den Islam ablehnt. Unser Fokus liegt im Folgenden auf Befunden zu Kindern und Jugendlichen.
Im Blick auf Kinder wird oft angenommen, dass sich in diesem Lebensalter noch kaum Vorurteile finden. Die neuere psychologische Forschung geht jedoch davon aus, dass Vorurteile sich spätestens im mittleren Kindesalter herausbilden.[15] Qualitative Untersuchungen zum Elementarbereich belegen darüber hinaus, dass schon im Vorschulalter entsprechende gruppenbezogene Einstellungen wohl vor allem von Eltern oder anderen Bezugspersonen oder auch aus den Medien übernommen werden.[16] Wie weit ihre Verbreitung reicht, lässt sich jedoch auf der Grundlage solcher Studien mit kleinen Samples nicht sagen. Festzuhalten ist, dass die Vorurteilsproblematik auch in der Elementarpädagogik nicht prinzipiell ausgeblendet werden darf. Der Ansatz einer „vorurteilsbewussten“ Erziehung unterstreicht dies aus praktischer Perspektive.[17]
Auch zu älteren Kindern bzw. jüngeren Jugendlichen gibt es kaum verallgemeinerbare Befunde. Bei der Studie „Judentum und Islam im Religionsunterricht“ (Klasse 5/6) wurde eine Frage aus den Shell-Studien an die Situation in der Schulklasse angepasst: „Fändest du es gut, wäre es dir egal oder fändest du es nicht so gut, wenn folgende Schüler neu in deine Klasse kämen?“[18] Dabei stieß ein „muslimisches Mädchen mit Kopftuch“ auf die vergleichsweise ausgeprägteste Ablehnung, auch wenn sich die hier geäußerte Haltung noch im neutralen Bereich bewegte.[19] Da die Studie mit mehreren Messzeitpunkten operierte, konnte auch festgestellt werden, dass der Religionsunterricht zum Thema „Judentum und Islam“ keine positivere Haltung gegenüber dem „muslimischen Mädchen mit Kopftuch“ bewirkte.[20] Auch wenn diese Studie wiederum mit einem kleinen Sample durchgeführt wurde, sind die Befunde doch ein Hinweis darauf, dass in der hier untersuchten Klassenstufe durchaus mit Vorurteilen zu rechnen ist.
Im Blick auf Jugendliche stellt sich die Befundlage besser dar. Deshalb können hier nur exemplarisch einige Studien genannt werden und muss im Übrigen auf Überblicksdarstellungen verwiesen werden.[21] Bei der in Baden-Württemberg durchgeführten Repräsentativstudie „Jugend – Glaube – Religion“ beispielsweise bejahten von den 7246 befragten Schüler:innen im Religions- und Ethikunterricht 25 % die Aussage „Es gibt zu viele Muslime in Deutschland“ und 6 % stimmten der Aussage zu: „Es gibt zu viele Juden in Deutschland“.[22] Diese Befunde stehen nicht allein. Eine – allerdings kleinere – Untersuchung in Nordrhein-Westfalen erbrachte ähnliche Ergebnisse.[23]
Die Befunde belegen nicht, dass von einer speziell christlichen Muslim:innenfeindlichkeit zu sprechen ist,[24] wohl aber von solchen Einstellungen bei jungen Menschen, die dem Christentum angehören. Dass dieses Problem lange Zeit wenig beachtet wurde, hat wohl mehrere Ursachen. Zum einen lag der Fokus beim Thema Interreligiosität häufig stark auf Fragen religiöser Traditionen und Glaubenspraxis, nicht hingegen auf alltäglich in der Gesellschaft anzutreffenden Einstellungen. Zum anderen macht es eine Ausrichtung auf Verständigung und Versöhnung mitunter schwer, bei einem solchen Lernen auch „harte“ Konflikte einzubeziehen. Nicht zuletzt fällt es offenkundig in Theologie und Kirche nicht leicht, Vorurteile „im eigenen Bereich“, also im Christentum, öffentlich zu adressieren.[25]
2. Konzeptionen interreligiösen Lernens ohne Berücksichtigung der Vorurteilsproblematik?
Die für das Verständnis interreligiösen Lernens im deutschsprachigen Bereich grundlegend gewordenen Darstellungen von Johannes Lähnemann und Karl Ernst Nipkow auf evangelischer und Stephan Leimgruber auf katholischer Seite nahmen ihren Ausgangspunkt vor allem bei theologischen Entwicklungen, wenn auch erkennbar vor dem Hintergrund der durch Migration veränderten Religionspräsenzen in Zentraleuropa.[26] Bei Nipkow werden auch Konflikte zwischen den Religionen thematisiert. Negative Einstellungen von jungen Menschen werden in diesen Ansätzen aber bestenfalls gestreift.
Das ändert sich auch nur wenig in den Darstellungen, die sich gleichsam als zweite Generation religionspädagogischer Gesamtdarstellungen zum interreligiösen Lernen verstehen lassen. In diesen Darstellungen beispielsweise von Mirjam Schambeck, Friedrich Schweitzer, Clauß-Peter Sajak, Thomas Schlag/Jasmine Suhner und Karlo Meyer stellt die religiös-weltanschauliche Vielfalt, wie sie durch Migration und Religionswandel entstanden ist, einen wichtigen Hintergrund dar.[27] Nach wie vor kommt es aber nicht zu einer breiteren Auseinandersetzung mit der Vorurteilsthematik. Auf dieses Defizit hat Martin Rothgangel bereits vor zehn Jahren aufmerksam gemacht.[28]
Erst seit wenigen Jahren findet das Thema Vorurteile, Ablehnung des Islam und muslimfeindliche Einstellungen stärkere Beachtung. Insbesondere ist hier auf die Untersuchungen von Andrea Betz (allerdings zu Studierenden), von Joachim Willems zu Religion in der Schule oder von Lennart Jentsch zu Schülerinnen sowie auf den aktuellen Diskussionsband von Korchide et al. hinzuweisen, wobei auch der Begriff Diskriminierung zunehmend Beachtung findet.[29] Ähnlich wie bei der oben angeführten Studie „Jugend – Glaube – Religion“ werden hier Vorurteile muslimfeindlicher Art teils empirisch nachgewiesen und teils theoretisch konzeptionell in ihrer Bedeutung für die Religionspädagogik und den Religionsunterricht erörtert. Auch die kritische Diskussion zu interreligiösem Lernen und Othering ist hier einschlägig.[30]
Parallele Entwicklungen gibt es auch im Bereich der politischen Bildung.[31] Hier wird beispielsweise die Frage diskutiert, wie muslimische Identitäten angesichts antimuslimischer Einstellungen in Deutschland konstruiert werden und wie die Rede von „antimuslimischem Rassismus“ einzuschätzen sei.
Angesichts der Befunde zur Ablehnung muslimischer Menschen durch Schüler:innen im christlichen Religionsunterricht wäre von Ansätzen interreligiösen Lernens zu erwarten, dass die Vorurteilsthematik inzwischen auch in den entsprechenden Lehrbüchern zu den Grundlagen interreligiösen Lernens gezählt wird und empirisch fundierte Analysen zum Zusammenhang zwischen interreligiöser Wahrnehmung und Vorurteil gegenüber dem Islam oder muslimischen Menschen geboten werden. Wie wenig dies noch der Fall ist, zeigen exemplarisch die vier von Karlo Meyer als Kern seines Modells interreligiösen Lernens beschriebenen Haltungen: „Religionsforscherin“, „existenzieller Denker“, „Brückenmanager“, „glokale Akteurin“.[32] Genannt werden wünschenswerte Haltungen, aber Einstellungen im Sinne von Vorurteilen sind dabei nicht oder nur am Rande im Blick.
Es soll hier nicht die Auffassung vertreten werden, es komme beim interreligiösen Lernen gar nicht mehr auf theologische Argumentationen an. Eine solche theologie-kritische Tendenz findet sich im Zusammenhang des Vorwurfs einer Religiosierung gesellschaftlicher Probleme, wie er etwa von dem Erziehungswissenschaftler Frank-Olaf Radtke erhoben wird.[33] Ähnlich wie bei der im Kontext der Othering-Diskussion kritisierten Tendenz, dass in Politik und Medien aus „Türken“ „Muslime“ geworden seien, besteht hier die Gefahr, dass mit der Kritik an der Religiosierung alle von Religion ausgehenden Einflüsse übergangen werden. Damit wird jedes Potenzial fortschreitender interreligiöser Verständigung verspielt.
3. Abbau von Muslim:innen- und Islamfeindlichkeit durch Religionsunterricht?
Eine Beantwortung der Frage, ob speziell vorurteilsbezogene Muslim:innen- und Islamfeindlichkeit durch Religionsunterricht abgebaut werden können, wird durch mehrere Probleme erschwert. Bislang gibt es dazu noch kaum praktische Beispiele oder Vorschläge. Darüber hinaus ist auch die Zahl von empirischen Untersuchungen, die auf eine Prüfung der Wirksamkeit von interreligiösem Lernen allgemein sowie speziell hinsichtlich des Abbaus von Vorurteilen im Religionsunterricht zielen, noch sehr beschränkt.
3.1 Empirische Befunde
In der religionspädagogischen Theorie und Praxis sind die Entwicklung von Zielsetzungen und kompetenzorientierten Leitlinien sowie die Ausarbeitung entsprechender methodischer Vorschläge für interreligiöses Lernen weit intensiver vorangetrieben worden als die empirische Prüfung von deren Wirksamkeit.
Dies mag zum einen darauf zurückzuführen sein, dass hier noch kein allseits überzeugendes Messinstrumentarium vorliegt, mit dem Befunde zu den diversen Zielsetzungen verlässlich erhoben werden könnten, obwohl in den letzten 20 Jahren in dieser Hinsicht deutliche Fortschritte erzielt worden sind.[34] Zum anderen ist nicht auszuschließen, dass man gerade bei dieser Thematik sozusagen ganz selbstverständlich einen kausalen Zusammenhang zwischen Unterrichtsanspruch und sich einstellenden Effekten annimmt. Allzu selbstverständlich erscheint es, dass der Weg von den proklamierten Zielvorstellungen zur Erkenntnis und Umsetzung auf Seiten der Schüler:innen gleichsam kurz und einfach ist. Die bislang verfügbaren Untersuchungen unterstützen jedoch eher den Eindruck, dass entsprechende Wirkungen insbesondere bei den Einstellungen kaum belegbar sind.[35] Vielfach werden positive Wirkungen auch in der Literatur eher narrativ dargestellt, ohne dass die dann versammelten Aussagen aber einen weiterreichenden Befund erlauben. So findet sich nicht selten eine Art Wirksamkeitsnarration, die dann zwar „für sich“, aber kaum für das Ganze spricht.[36]
Darüber hinaus lassen sich weitere Erklärungsmöglichkeiten für die Befundlage diskutieren. So ist etwa aus Sicht Alexander Unsers entweder das entsprechende Lernziel „unrealistisch“, weil es durch interreligiöses Lernen nicht erreicht werden kann, oder „die bislang beherrschenden didaktischen Konzepte und eingesetzten Methoden“ sind im Blick auf dieses Ziel nicht zureichend. In seiner Analyse der Unterrichtsinterventionen in verschiedenen Wirksamkeitsstudien kommt er zu dem Schluss, dass „die Problemursache auf der didaktischen und methodischen Ebene zu suchen“ sei.[37]
Insofern besteht in dieser Hinsicht ein dringender Forschungsbedarf, etwa auch zu Veranstaltungen und Projekten jenseits des herkömmlichen Unterrichts. Grundsätzlich stellt sich darüber hinaus die Frage, welcher Einfluss im Blick auf Vorurteils- und auch Einstellungsfragen nicht nur dem Religionsunterricht, sondern der Schule insgesamt zukommen kann.
Schließlich ist an dieser Stelle noch eine weitere Schwierigkeit zu bedenken. Es könnte durchaus sein, dass Lehrkräfte im Zusammenhang interreligiösen Lernens Konfliktfälle und Konfliktfelder bewusst ausblenden oder nur mit spitzen Fingern anfassen, da sie für einen konstruktiven Dialog – durchaus plausibel – zuerst einmal die positiven Seiten der jeweiligen Religion und Religionspraxis ins Licht stellen und grundsätzlich in dialogfördernder Absicht stärker die Gemeinsamkeiten als mögliche Konfliktlinien thematisieren. Jedenfalls lässt sich in den Bildungsplänen, Schulbüchern und Unterrichtsmaterialen keine explizite Thematisierung solcher Fragen aufzeigen.
3.2 Theoretische Perspektiven als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung zu Unterrichts
Das Ausbleiben von Vorurteilsabbau bzw. Einstellungsänderungen hat schon bei der Diskussion entsprechender Befunde mitunter zu der Auffassung geführt, dass die bei den Untersuchungen zur Wirksamkeit interreligiösen Lernens eingesetzten zeitlich begrenzten Unterrichtseinheiten nicht ausreichen, die gewünschten Effekte zu erzielen. Für die Weiterarbeit können in dieser Hinsicht unterschiedliche Hypothesen entwickelt werden. In der pädagogischen Tradition wurde und wird immer wieder auf die besondere Bedeutung von Projekten oder der Einbindung außerschulischer Lernorte etwa durch Praktika verwiesen.[38] Überlegt werden kann auch, ob der Unterricht sich stärker an lebensweltlich relevanten Aufgaben orientieren müsste.[39] Dem könnte entgegengehalten werden, dass bei anderen Projekten gerade die lebensweltbezogene Ausgestaltung geringere Effekte hatte als eine eher allgemeine Form von Religionsunterricht.[40] Zuzustimmen ist sicherlich der Forderung, bei der Entwicklung von Unterrichtsstrategien in diesem Bereich auch stärker psychologische Perspektiven einzubeziehen.
Von grundlegender theoretischer Bedeutung ist hier zunächst die gut belegte, auf Gordon Allport zurückgehende Kontakthypothese, wonach die reale Begegnung mit Menschen außerhalb des gewohnten Bezugskreises entscheidend dafür ist, unter welchen Voraussetzungen sich Vorurteile Raum schaffen bzw. verstärken können bzw. entkräftet werden können.[41] Allerdings gilt dies nicht für jede Form von Kontakt. So spielt für beide Dimensionen die Art und auch die zeitliche Länge des jeweiligen Kontakts eine entscheidende Rolle: Enge Beziehungen im unmittelbaren Kontext des Aufwachsens und Freundeskreises sind eher dazu geeignet, Vorurteile abzubauen als punktuelle kurzzeitige Begegnungen oder punktuelle Bildungsmaßnahmen. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Kontakt bei intoleranten Menschen eine besonders vorurteilsreduzierende Wirkung hat.[42] Zu beachten sind hier auch die Befunde aus der Forschung zu gruppenbezogenen Vorurteilen (In-Group – Out-Group).[43] Hier wird hervorgehoben, das es die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und damit häufig die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen ist, die das Festhalten an bestimmten stereotypen Sichtweisen bedingt.
Stärker kognitiv ausgerichtete Theorien, für die ebenfalls auf eine lange Forschungstradition hinzuweisen ist – insbesondere im Falle der von Leon Festinger entwickelten Theorie der kognitiven Dissonanz – finden heute in der psychologischen Forschung ebenfalls starke Beachtung.[44] Dabei wird auf eine Vielfalt möglicher Einflussfaktoren verwiesen, deren Übertragung auf den (Religions-)Unterricht aber eigens, auch empirisch untersucht werden müsste. Einigkeit besteht weithin darüber, dass die bloße Präsentation von Informationen nicht zum Abbau von Vorurteilen oder Einstellungsänderungen führt.
4. Aufgaben für die Zukunft von Praxis und Forschung
Im Anschluss an die bisherigen Einordnungen legt sich eine ganze Reihe von Zukunftsaufgaben sowohl für den Religionsunterricht wie für die religionspädagogische Forschung nahe. Da es noch weithin an Ansätzen und Perspektiven für eine wirksame religionspädagogische Praxis in der Perspektive interreligiösen Lernens gegen Muslim:innenfeindlichkeit mangelt, liegt die wichtigste Aufgabe zunächst in der Entwicklung entsprechender Ansätze und Modelle. Dies sollte dann von Anfang an mit einer sorgfältigen, wo immer möglich auch empirisch gestützten Überprüfung von deren Wirksamkeit verbunden sein. Die im Folgenden genannten Möglichkeiten skizzieren so gesehen Anregungen dafür, in welche Richtung solche Entwicklungen gehen könnten. Im Anschluss an die festgestellten Unterschiede und gleichzeitigen Überschneidungen von Islam- und Muslim:innenfeindlichkeit ergibt sich die Notwendigkeit der parallelen Betrachtung und Bearbeitung beider Dimensionen: Dies bedeutet, dass alle pädagogischen Ansätze, „die sich lediglich auf die Reduzierung von Vorurteilen gegenüber entweder der Religion des Islams oder Menschen muslimischen Glaubens fokussieren“[45], der Sache nach unzureichend sind. Demgegenüber ist „eine Verbindung von Maßnahmen, die auf unterschiedliche Wissensbestände und Heterogenitäten in Bezug auf den Islam einerseits und Muslim*innen anderseits abzielen, und Maßnahmen, die eine Auseinandersetzung mit multiplen Gruppenzugehörigkeiten und daraus resultierenden vielfältigen Identitäten […] anregen“[46], weiterführend.
In Hinsicht auf den Religionsunterricht gilt es somit grundsätzlich, vorurteils- und gruppenbezogene Stereotype aufzubrechen. Hier kann an die auch bereits für dieses Schulfach entwickelten Standards und Erfahrungen einer antisemitismuskritischen Bildung angeknüpft werden (wobei es auch in diesem Falle noch fast ganz an empirischen Untersuchungen zur Wirksamkeit entsprechender Bildungsmaßnahmen im Bereich des Religionsunterrichts fehlt).[47]
Zu stärken sind Differenzierungsfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit im Blick auf Islam und Muslim:innen. Dies beinhaltet die Auseinandersetzung damit, ob und wie Muslim:innen- und Islamfeindlichkeit entstehen und wie sie zusammenhängen bzw. was diese in ihrem sachlichen Kern unterscheidet. So könnte ein konkreter Faktor bestehender Muslim:innenfeindlichkeit eben nicht unbedingt die Religion des Islam sein, sondern etwa ein bestimmtes „erfahrenes“ oder „angenommenes“ Frauenbild oder schlichtweg eine Form des Verhaltens, das man für störend und kulturell – aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft – für problematisch hält.
Zu sensibilisieren ist folglich für die Unterscheidung zwischen bestimmten – wahrgenommenen und kollektiv zugeschriebenen – Verhaltensweisen und der spezifisch religiös konnotierten Kollektivierungs-Dimension. Damit ist produktive Diskursivität zu stärken – z. B. durch die entsprechende kritische Diskussion zu medialen Einflüssen, gerade dort, wo tatsächlich massive Vorurteile aufbrechen oder kommuniziert werden. Denn wenn nicht am Ort der Schule Konflikte und Vorurteile Raum bekommen, wo sollte dies dann sonst der Fall sein. Auf jeden Fall ist die Dimension der Medienbildung im vorliegenden Zusammenhang besonders wesentlich.
Bei der Muslim:innenfeindlichkeit geht es aber nicht nur um kognitive, sondern auch hoch emotionale Einstellungen: Die Thematisierung von Angst und die Erzeugung von Empathie sind insofern auch wichtige Elemente unterrichtlicher Prozesse.[48] Für die mögliche Wirksamkeit interreligiösen Lernens sind insofern – theologisch zu profilierende[49] – Aspekte der persönlichen Relevanz für die Lernenden ebenso bedeutsam wie eine methodische Gestaltung, die die persönlich-existentielle Auseinandersetzung mit dem Thema möglich macht.[50] Damit kommt die Herausforderung in den Raum, politische und emotionale Einstellungen gegenüber einer bestimmten – als kulturell unterschiedlich angesehen – Gruppe und Einstellungen gegenüber dem Islam als Religion überhaupt selbstkritisch wahrzunehmen.
Dafür ist es konstruktiv, im Sinn eines gemeinsamen Nachdenkens auf die verfassungsmäßigen Standards des menschenwürdigen Umgangs miteinander zu verweisen und diese auch (etwa in Hinblick auf Religionsfreiheit) für Fragen des Umgangs mit Menschen überhaupt als Angehörigen welcher Religion auch immer miteinzubringen. Wenn durch eine solche präventive und sensibilisierende Grundhaltung vorhandene Vorurteile thematisiert werden, und damit die Schüler:innen erleben, dass sie in einem zugleich freien und geschützten Raum eigene Einstellungen benennen können, hätte der Religionsunterricht bereits Wesentliches zur demokratierelevanten Beschäftigung mit Vorurteilen geleistet.
Von hier aus und in der Perspektive interreligiösen Lernens stellt sich zugleich für den Religionsunterricht die Aufgabe, seinen spezifischen Beitrag zum Schulleben und zur Schulkultur aufzuzeigen bzw. sich für eine entsprechende Ausgestaltung der Schule einzusetzen. Dies bedeutet angesichts mancher gegenwärtigen bildungspolitischen Debatte deutlich zu machen, dass dieses Fach eben nicht zur Segregation führt, sondern in konfessionell verantworteter und in pluralitätsfähig theologischer Form zu einer interreligiös produktiven Wahrnehmungs- und Begegnungskultur beizutragen vermag. Hier verbindet sich die Thematisierung von Muslim:innenfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit vor dem Hintergrund der programmatisch interreligiösen Dialogaufgabe des Religionsunterrichts – angesichts der oben genannten Kontakthypothese – mit der besonderen Chance eines nicht nur punktuellen und zufälligen informellen, sondern prozessual angelegten kontinuierlichen Lernens.
Wenn für den Umgang mit Vorurteilen und Stereotypen gilt, dass besonders positiv direkter Kontakt wirkt, indem er die Zusammenarbeit an gemeinsamen Zielen beinhaltet, auf Augenhöhe stattfindet und von Institutionen unterstützt wird,[51] dann fordert dies den Religionsunterricht heraus, zu diesen Kontaktmöglichkeiten etwa durch konkrete Projekte beizutragen. Aber auch die Wirkung von indirektem Kontakt – das heißt vermittelt über andere Personen oder seriöse Medien(inhalte) – kann positive Wirkungen erzeugen.[52] Dazu mag man für das interreligiöse Lernen etwa das Einspielen bestimmter personaler Narrative zählen, das nochmals von ganz eigener Erschließungskraft für den Abbau von Vorurteilen über den Weg der kognitiven und emotionalen Teilhabe an diesen Narrativen werden kann.[53]
Dass allerdings dieser hehre und hohe Anspruch an einen „guten Religionsunterricht“ dabei hoffentlich schon in näherer Zukunft durch die entsprechende Wirkungsforschung intensiv geprüft und im besten Fall gestützt wird,[54] ist nicht zuletzt im Zusammenhang des konstruktiven Umgangs mit Muslim:innenfeindlichkeit ausdrücklich zu wünschen. Deshalb sollte die in jüngster Zeit vermehrt aufgeworfene Frage nach den Kriterien und der Näherbestimmung eines „guten Religionsunterrichts“ zukünftig auch die Dimension interreligiösen Lernens in der besonderen Perspektive des konstruktiv-kritischen Umgangs mit Muslim:innenfeindlichkeit und Islamfeindlichkeit unbedingt beinhalten.
© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Beiträge
- Islam- und Muslimfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum aus praktisch-theologischer Perspektive
- Religiosität im digitalen Wandel
- Westenfeindlichkeit in den islamischen Ländern
- Diskriminierung von Muslim:innen im Bildungsbereich: Problemfelder, Folgen und mögliche Ansätze zum Umgang mit Muslimfeindlichkeit im islamischen Religionsunterricht
- Muslim:innenfeindlichkeit als Vorurteil und Herausforderung für interreligiöses Lernen – Konsequenzen für den christlichen Religionsunterricht
- Teaching and Learning for Interreligious Encounters: An Islamic Perspective
- Das besondere Buch
- Bayerischer Religionsunterricht in christlich-ökumenischem Blickfang
- Rezensionen
- Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott.<fnote> Kurzform für Zitate: Kermani, Jeder soll.</fnote> München (Carl Hanser Verlag) 2022, 240 S., € 22,00.
- Michael Schneider/Michael Rydryck, Bibelauslegung. Grundlagen – Textanalysen – Praxisfelder. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2022, 288 S., € 25,00.
- Carsten Gennerich/Mirjam Zimmermann, Bibelwissen und Bibelverständnis bei Jugendlichen. Grundlegende Befunde – Theoriegeleitete Analysen – Bibeldidaktische Konsequenzen, Stuttgart (Kohlhammer) 2020, 212 S., € 39,00
- Matthias Traugott Meier, Verbildlichte Religion. Bild und Bilddidaktik im christlich-islamischen Dialog (Kultur und Bildung Bd. 21). Paderborn (Brill/Ferdinand Schöningh) 2021, 340 S., € 109,00.
- Thorsten Knauth/Rainer Möller/Annebelle Pithan (Hg.), Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt. Konzeptionelle Grundlagen und didaktische Konkretionen (Religious Diversity and Education in Europe 42). Münster/New York (Waxmann), 2020, 388 S., € 37,90.
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- Editorial
- Beiträge
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