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Carsten Gennerich Mirjam Zimmermann, Bibelwissen und Bibelverständnis bei Jugendlichen. Grundlegende Befunde – Theoriegeleitete Analysen – Bibeldidaktische Konsequenzen, Stuttgart Kohlhammer 2020 € 39,00 1 212
[1]Im Fokus der Studie von Carsten Gennerich und Mirjam Zimmermann steht die Frage nach Bibelverwendung, Bibelwissen und Einschätzung der Bibel durch Kinder und Jugendliche (7). Ihr Forschungsinteresse ist dadurch charakterisiert, sowohl den Einfluss des Lebensstils auf den Zugang zur Bibel als auch Gendereffekte beim Zugang zur Bibel einzubeziehen (57 f.). Da die Studie Kinder und Jugendliche von 9 bis 20 Jahren einbezieht, wird auch untersucht, inwiefern sich die Wahrheitsfrage und die Vorstellungen in Bezug auf die Bibel im Laufe der Pubertät verändern. Die Studie wurde in vier verschiedenen Ländern durchgeführt: Deutschland, Kanada, Australien und England. Dadurch wird ein Kulturvergleich zwischen der deutschsprachigen und der englischsprachigen Kohorte möglich.
Gennerich und Zimmermann wählen ein methodisches Design, das anhand eines neuentwickelten Fragebogens den Lebensstil der verschiedenen Schüler:innengruppen mit der je eigenen Weise, biblische Texte zu interpretieren, korrelieren kann. Das wird durch den Einbezug von Hintergrundvariablen (Geschlecht, Alter, Klasse, Konfession, religiöse Prägung im Elternhaus, Kirchenbindung) und die Abfrage persönlicher Wertehaltungen möglich (59).
Diese werden durch die Wertefeldanalyse nach Shalom H. Schwartz analysiert. Alle denkbaren Werte werden auf der Skala zweier Wertedimensionen (Selbststeigerung und Selbsttranszendenz/Offenheit für Wandel und Bewahrung) verortet. Dieses Wertefeld wurde ebenfalls für die Analyse der Interpretation der Jugendlichen herangezogen. Anhand der Zachäusgeschichte (Lk 19,1–10) wurde erfasst, wie Kinder und Jugendliche interpretieren. Dabei musste zuerst eine Einschätzung der Geschichte abgegeben werden, danach wurden zehn Formulierungen vorgegeben, die das Wertefeld der Geschichte (zugeschriebene Geschichtenwerte, 134) darstellen und die mit den persönlichen Wertehaltungen der Werteskala nach Schwartz korrespondieren. Die Jugendlichen sollten die Wertehaltungen der Zachäusgeschichte einschätzen. Dadurch konnte das persönliche Werteprofil der Jugendlichen direkt mit der inhaltlichen Wahrnehmung der Zachäusgeschichte verglichen werden (60). Die persönliche Deutung der Geschichte wurde dann durch eine narrative Methode abgefragt (60). Die Stichprobe wurde durch ein «convenience sampling» zusammengestellt. Insgesamt wurden 2111 Kinder und Jugendliche mit dem Fragebogen befragt (1446 umfasst das deutschsprachige Sample, 665 das englischsprachige Sample). Die Mehrheit der befragten Schüler:innen stammt aus dem gymnasialen Bereich. Nur 1 % der Teilnehmenden besuchten eine Hauptschule. Die angefragten Hauptschulen hatten den Bogen teilweise abgelehnt, weil er für die Schüler:innen zu umfangreich und leseintensiv sei (68).
Zu den grundlegenden Erkenntnissen der Studie gehört, dass sie die hohe Bedeutung der Medien (insbes. DVDs/Filme, Hör-CDs, auch Computerspiele und Comics) für den Kontakt der Kinder mit biblischen Geschichten belegen kann (77). Dagegen lesen die Hälfte der Kinder und Jugendlichen die Bibel nie und ein weiteres Drittel selten (80). Ein wichtiges Ergebnis für den Lernort von biblischen Geschichten ist, dass als Hauptquelle der Kenntnisse von Bibelgeschichten der Religionsunterricht angegeben wird. Das weist auf die hohe Bedeutung des Religionsunterrichtes für die Vermittlung von Bibelwissen hin. Eindrücklich sind auch die Ergebnisse dazu, wie die Bibel bewertet wird: Sie ist für knapp 90 % der Kinder und Jugendlichen ein altes Buch. Die Hälfte findet sie langweilig und über 50 % der Teilnehmenden aus dem deutschsprachigen Sample meinen, dass die Bibel mit ihrem eigenen Leben nichts zu tun hat (90). Hier ist die Korrelation mit dem Alter der Kinder besonders interessant. Je älter sie werden, desto langweiliger finden sie die Bibel. Die Bewertung, dass die Bibel erfunden sei, steigt mit dem Alter der Jugendlichen sogar um 26 % (92). Für die Wahrheitsfrage können die Autor:innen feststellen, dass sie dann als «wahr» verstanden wird, wenn sie Relevanz für das eigene Leben hat, nicht nur, weil sie als «heiliges Wort Gottes» eingeschätzt wird (163 f.). „Festzuhalten ist hier, dass die Vieldeutigkeit bei den Älteren mit einer Zustimmung von 87 % das dominierende Merkmal der Bibel ist. Die Schülerinnen und Schüler zeigen damit, dass sie von einem fundamentalistischen Bibelverständnis weit entfernt sind. Zugleich zeigt die Bewertung der Bibel bei Älteren, dass die Vieldeutigkeit insgesamt nicht als ein positiv zu würdigendes Merkmal der Bibel wahrgenommen wird.“ (92). Die Autoren sehen hier einen wichtigen Bildungsfokus der Bibeldidaktik.
Im Hinblick auf die Deutungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen weisen Gennerich und Zimmermann darauf hin, dass die Ergebnisse hauptsächlich zeigen, welche Begründungsstrategie die Teilnehmenden wählen. Die Autoren ersetzen das Wort Deutungskompetenz mit Begründungskompetenz, denn die Beantwortung der Aufgaben fiel häufig sehr knapp aus und es handelt sich eher um Zuschreibungen als Interpretationen. Hier zeigt sich, dass 42 % aller Antworten unbegründete Behauptungen sind, wie z. B. „Jeder Mensch ist gleich viel wert.“ (111). Sie werden ohne Bezug auf die Bibel oder andere Referenzgrössen mit einem Satz aufgestellt. Bei der zweithäufigsten Begründung wird ein externes Argument herangezogen z. B. „Sie ist ohne Zweifel gleich viel wert. Außerdem wird sie eines Tages von ihrem Leid erlöst und lebt auch ohne ihren Arm ein schönes Leben.“ (112). Eine Begründung mit explizitem Bezug zur Geschichte lieferten nur 8 % der Teilnehmenden. Auffällig war auch, dass 7 % fehlende korrekte Antworten hatten und 25 %(!) leere Kästchen ließen (112).
Neben Erkenntnissen zum Bibellesen und zur Bibelkenntnis sowie zur Deutung der Schüler:innen gehört zum Hauptbefund der Studie der Einbezug der Wertefeldanalyse in die Interpretation der Deutungen der Zachäusgeschichte (133). Letztere wurde von den Teilnehmenden durch das Einordnen der Geschichte im Wertefeld als prosoziale, universalistische Geschichte verstanden. Der dritthöchste Wert war nach «prosozial und universalistisch» aber Konformität, was der Geschichte gar nicht entspricht. Damit wird die Geschichte von den Jugendlichen als profiliert konservativ eingeschätzt. Gennerich und Zimmermann deuten diesen Befund so, dass die Schüler:innen die Nonkonformität von Zachäus und Jesus gar nicht wahrnehmen, sondern die Geschichte als Darstellung einer konventionellen Religion einordnen. Damit zeigt die Einordnung der Geschichte im Wertefeld eine stereotype Zuschreibung, die abhängig von der Einstellung der Studienteilnehmer:innen zur Bibel ist, wie sie im oberen Teil des Fragebogens abgefragt wurde: alt, langweilig, hat mit dem Leben nichts zu tun (s.o). Gennerich und Zimmermann vertreten die Auffassung, dass die Teilnehmer:innen bei der Interpretation tendenziell die eigenen Werthaltungen in die Geschichte projizierten. Daraus schlussfolgern sie im Hinblick auf die Deutungskompetenz von Kindern und Jugendlichen als eine wichtige Aufgabe der Lehrpersonen, Bibelgeschichten vor der Vereinnahmung der Schüler:innen zu bewahren und Interpretationen nicht einfach zu bestätigen, sondern auch „interpretations-erweiternde Aspekte der Geschichte“ einzubringen, wodurch die Schüler:innen lernen, mit einer Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten umzugehen (149). Die «progressiven» Interpretationen (z. B. Lukas zeichnet Jesus als Mensch, der Vorurteile als Lügen enttarnt) sind deutlich seltener (186 f.). Gennerich und Zimmermann vermuten, dass die im Wertefeld als progressiv eingeordneten Schüler:innen aufgrund ihrer geringeren Religiosität weniger elaborierte Antworten geben können (155). Die Jugendlichen, die im Wertefeld konservativere Werte erreichen, sind dafür geübter in der Formulierung von kohärenten und begründeten Interpretationen. Oder die Ursache könne darin liegen, dass im Religionsunterricht kaum progressive Interpretationen als Deutungsmöglichkeit angeboten werden, wodurch die Versprachlichung dieser Lesart nicht eingeübt werde und sich zudem viele Schüler:innen aus der progressiven Hälfte des Wertefelds vom Religionsunterricht abmelden, weil ihnen die vorherrschenden Deutungsangebote zu unattraktiv erscheinen („haben mit meinem Leben nichts zu tun“ s. o.) (155). Interpretationen von biblischen Geschichten mit konservativen Werten werden von den progressiven Schüler:innen als unvereinbar mit ihrer eigenen Entwicklung wahrgenommen, die in der Pubertät vom Autonomiestreben geprägt ist. Mehr noch, die Schüler:innen stereotypisieren aufgrund ihrer Zuschreibungen zur konventionellen Religion die Geschichte als konservativ und können dadurch keinen Zugang finden.
Ein großer Gewinn dieser umfassenden, länderübergreifenden Studie ist, dass durch den Einbezug der Wertedimensionen klar gezeigt werden kann, wie schnell Interpretationen durch bereits bestehende Haltungen und Einstellungen beeinflusst werden. Die Forderung, dass im Religionsunterricht den Stereotypsierungen noch viel stärker immer wieder öffnende Perspektiven entgegengehalten und die progressiven Interpretationen eingeübt werden müssen, ist fundamental wichtig, damit die Schüler:innen nicht nur behaupten, sondern auch argumentativ begründen können, wie sie eine Geschichte deuten (155). Aus bibeldidaktischer Perspektive schlussfolgern die Autor:innen, dass der argumentative Umgang mit der Bibel stärker gefördert werden muss (184). Eine Religionspädagogik, die Schüler:innen befähigen will, in einem multireligiösen Umfeld sprachfähig zu sein, muss hier einen deutlichen Schwerpunkt setzen. Dafür liefert das vorliegende Buch viele Ansatzpunkte. Somit bietet dieses Buch für die Forschung der Bibelrezeption von Kindern und Jugendlichen einen grossen Überblick an repräsentativen Daten zum Leseverhalten und Wissen in Bezug auf die Bibel. Für den Religionsunterricht, sowohl im schulischen als auch gemeindepädagogischen Feld, gibt das Buch den dringenden Anstoss, den deutenden Umgang mit der Bibel für Kinder und Jugendliche als Differenzerfahrung erfahrbar zu machen, in dem die Fremdheit der Texte, der theologischen Sprache ebenso wie die Fremdheit der Meinung anderer als Lernerfahrung zugänglich wird und dadurch auch Chancen bieten, eigene Erfahrungen neu zu deuten.
© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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