Startseite Horst Möller zum 80. Geburtstag
Artikel Öffentlich zugänglich

Horst Möller zum 80. Geburtstag

Laudatio auf der VfZ-Festveranstaltung am 12. Januar 2023 in München
  • Anselm Doering-Manteuffel EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Juli 2023
Veröffentlichen auch Sie bei De Gruyter Brill

Verehrter Jubilar, lieber Herr Möller! Verehrte Frau Möller! Verehrter Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, lieber Andreas Wirsching! Meine Damen und Herren!

Als ich damit begann, über die Ehrung des heutigen Tages nachzudenken, wurde mir bewusst, dass wir uns im Jahr Ihres 80. Geburtstags inzwischen vierzig Jahre kennen. 1983 begegneten wir uns an der Universität Erlangen im dortigen Institut für Geschichte. Was für eine lange Zeit sind allein diese vierzig Jahre!

Aber wir wussten schon vor dem ersten Zusammentreffen in Erlangen einiges übereinander, und mit diesem „Vorher“ möchte ich auch beginnen. – Es kreist um den jungen Horst Möller als Assistent, Doktorand und Habilitand am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Sie waren dort acht Jahre tätig, von 1969 bis 1977.

Am Anfang war Friedrich Nicolai, der eminente preußische Aufklärer und Publizist. Sie haben mit Ihrer Dissertation die erste umfassende historische Studie über Nicolai geschrieben und wurden darüber zu einem intimen Kenner der Aufklärungsgeschichte, namentlich der preußischen Aufklärung und der aufklärerischen Kontaktkreise in Berlin. Aber Sie wussten früh – und haben es später immer wieder betont –, dass die Aufklärung europäisch war, bevor sie national werden konnte. Der europäische Horizont ist das Charakteristikum jeder nationalen Aufklärungsgeschichte.

Die Geschichte der Aufklärung war der Gegenstand, an dem Sie in den späten 1960er und den frühen 1970er Jahren Ihre Kritikfähigkeit ausbildeten – die kritische Einschätzung der Sie umgebenden Welt: das Berlin der Nachkriegszeit, das Berlin der Studentenbewegung, die Freie Universität als ein Zentrum der Neuen Linken. Ich gehe gleich noch ausführlicher darauf ein.

Zuvor ein Blick auf den Ertrag Ihrer Aufklärungsforschung. Ausgehend von Friedrich Nicolai, seiner Zeit und seinem Umfeld erkannten Sie, dass aus der Aufklärung zwei mächtige Impulse hervorgingen, nicht nur einer – nicht nur der Impuls der politisch-gesellschaftlichen Revolution, sondern auch der Impuls der staatlich-politischen Reform. Gesellschaft steht für Revolution, Staat steht für Reform, könnte man verkürzend sagen.

Wer den „Fortschritt“ – der mit der Aufklärung ursächlich verbunden ist –, wer diesen „Fortschritt“ allein gesellschaftlich denkt, spricht leicht vom „Sonderweg“ der Deutschen in die Moderne. So lautete Ihr Urteil. Wer den „Fortschritt“ hingegen vornehmlich von der staatlichen Seite her denkt, erkennt eine weitere, ergänzende Strömung von gesellschaftlicher Relevanz: den Zusammenhang von Staat und Gesellschaft anstelle des Gegensatzes von Gesellschaft und Staat. Die Träger dieser Strömung waren die deutschen Liberalen, die den monarchischen Staat, zumal das preußische Königreich, nicht antasten wollten. Sie hofften darauf, den Staat reformieren zu können.

Diese Auffassung ist Ihnen in den Berliner Jahren gewissermaßen an den Leib gewachsen. Sie wurde mit der Zeit zur Außenhaut des Staatsbürgers Horst Möller. Die Reflexion über die Aufklärung, die zeitgenössische politische Reflexion auch über den Staat Preußen, wurzelt in Berlin. Sie haben diese Auffassung – die den zeitkritischen Beobachter, den kommenden Zeithistoriker Horst Möller, im Kontext der Forschung zum 18. Jahrhundert erkennen lässt –, Sie haben diese Auffassung immer wieder offensiv vertreten, zumal in den Jahren, als die Geschichte Preußens um 1980 wieder in Mode kam: So zum Beispiel im Sonderheft von Geschichte und Gesellschaft „Preußen im Rückblick“ von 1980 oder im Katalog der Berliner Preußen-Ausstellung von 1981; später dann in Ihrer Studie „Vernunft und Kritik“ von 1986 und der umfassenden Darstellung über „Fürstenstaat oder Bürgernation“ von 1989.

Die Auffassung, dass Staat und Gesellschaft bei der Suche nach dem „Fortschritt“ zusammenwirken (können), bildet die Klammer zum zweiten Schwerpunkt Ihrer Forschungen zur Geschichte Preußens. Das ist die Demokratieforschung, die Frage nach den Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten von Demokratie im Freistaat Preußen nach 1918/19 während der Weimarer Republik.

Die Verklammerung von Aufklärung und Demokratie am Beispiel des preußischen Staats gewinnt ihre Plausibilität nicht allein aus den beiden Forschungsfeldern, sondern auch aus der Verankerung in Berlin. Sie ist nicht zuletzt zeitgenössisch und biografisch motiviert. Durch Ihre Forschungsarbeit wurde Ihre Befähigung, rational zu denken – wurde Ihr rationalistisches Talent –, gefördert. Durch das geistige Klima an der Freien Universität Berlin wurde es politisch herausgefordert und – wie soll ich sagen? – demokratisch geschult.

Die FU Berlin war bis 1989 (vielleicht zusammen mit Frankfurt am Main) die modernste deutsche Universität, ohne den Ballast der Tradition, dafür durch und durch politisch, kritisch und international. 1948 entstanden als Gegengründung zur Ost-Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der späteren Humboldt-Universität (die damals gerade von der Sowjetischen Militäradministration vereinnahmt wurde), war die FU eine amerikanisch inspirierte, vom Geist der deutschen Emigranten und Remigranten geprägte Universität. West-Berlin war der Dreh- und Angelpunkt des Ost-West-Konflikts, und die FU bildete das intellektuelle Zentrum darin.

Wer als Historiker an der Freien Universität arbeitete, konnte nicht anders als politisch denken. Und politisch hieß um 1970 immer auch ideologiekritisch. Konservativ zu sein, hatte dort keinen Sinn. Im geistigen Umfeld der FU waren die Konservativen in erster Linie kritische Intellektuelle und keine rückwärtsgewandten Fortschrittsfeinde wie andernorts. Sie waren kritische Intellektuelle, die sich mit offenem Visier den Vertretern der unterschiedlichen progressiven, zum Teil doktrinären Fraktionen der sozialistischen Initiativgruppen entgegengestellt haben. Das war nicht Rechts gegen Links, wie man es von Weimar her kannte.

Die Freie Universität war ein Schmelztiegel transnational-atlantischer und national-deutscher Einflüsse der New Left, die auf Erneuerung drängte. Der gedankliche Hintergrund der Neuen Linken war die aufklärerische Rationalität. Das programmatische Anliegen der Neuen Linken aber war die gesellschaftliche Umgestaltung – mithin Revolution. Dem haben Sie sich mit Ihrer Überzeugung von der gegenseitigen – der interaktiven – Bedingung von Revolution und Reform entgegengestellt und für politisches Handeln aus dem Geist der Reform Partei ergriffen. Das machte Sie – und nicht nur Sie! – zu einem skeptischen Kritiker und einem Kontrahenten der Neuen Linken, der sich mit dem rationalen statt einem ideologistischen Argument auf die Seite des staatlich-gesellschaftlichen Vorangehens, auf die Seite eines staatlich gesteuerten „Fortschritts“ stellte. Diese Haltung kennzeichnet den politisch engagierten Staatsbürger Horst Möller bis heute.

Die prägende Bedeutung der FU Berlin und der intellektuellen Atmosphäre dort haben Sie in Ihrem einfühlsamen Nachruf auf Thomas Nipperdey, Ihren akademischen Lehrer, plastisch beschrieben. Ich erlaube mir, diese Passage wörtlich zu zitieren:

„Er [Nipperdey] kam an ein Institut, in dem sich wissenschaftliches und hochschulpolitisches Engagement von selbst verstanden, an die Universität einer in ihrer politischen Sensibilität – und natürlich auch durch ihre weltpolitische Bedeutung – in diesen Jahren einzigartigen deutschen Großstadt, einer im Osten eingeklemmten westlichen Metropole, die sich vom beschaulichen Göttinger oder Heidelberger Parnaß fundamental unterschied. Nipperdey kam schließlich in eine durch die Studentenbewegung geistig und politisch erregte Stadt, deren Universitäten in vollem Aufbruch waren, ohne daß das Ergebnis zu diesem Zeitpunkt schon feststand. Und nicht zu vergessen: Er kam [1967] an ein Institut, das in den knapp zwanzig Jahren seines Bestehens nicht allein eine große Zahl führender deutscher Historiker zu versammeln gewußt hatte, sondern in dem das Gespräch zwischen Lehrenden und Lernenden die Regel war. Der Studiengang des Meinecke-Instituts war der modernste in Deutschland, seine Kontakte zur amerikanischen Historiographie waren schon seit den frühen fünfziger Jahren institutionalisiert.“[1]

In Berlin gab es keine Talare, deshalb gab es dort auch nicht „den Muff von tausend Jahren unter den Talaren“. West-Berlin war weit eher eine Schule der Demokratie als gesellschaftlicher Lebensform.

Das ist aus meiner Sicht der zeitgenössische Erfahrungszusammenhang Ihrer Interessenschwerpunkte Aufklärung und Demokratie. Ihr Standardwerk über den Parlamentarismus in Preußen von 1919 bis 1932 bezieht seinen kritischen Geist, bezieht die Frage nach der Durchsetzungsfähigkeit des demokratischen Staats und der sozialdemokratischen Regierung gegen das deutsch-nationale Umfeld der reaktionären postwilhelminischen Eliten aus der Atmosphäre der zerstörten, kaputten, geteilten Stadt Berlin.

Über die Weimarer Republik haben Sie in Ihren Jahren als stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte von 1979 bis 1982 und dann in Erlangen ab 1982 ihr Standardwerk mit dem Untertitel die „unvollendete Demokratie“ geschrieben, in dem Sie – nicht zuletzt – den entschlossenen Parlamentarier Friedrich Ebert als ersten Reichspräsident dem entschlossenen Gegner alles Demokratischen Paul von Hindenburg als zweitem Reichspräsident gegenüberstellten. Das Buch erschien zuerst 1985. Es wurde zum maßgebenden Referenzwerk für die Beschäftigung mit der Weimarer Republik – bis heute, wo es unter dem neuen Titel „Die Weimarer Republik. Demokratie in der Krise“ in der 13. Auflage vorliegt. Parallel zur „unvollendeten Demokratie“ der Weimarer Zeit entstand in Erlangen das Buch „Vernunft und Kritik“ über die deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, das 1986 erschien. Aufklärung und Demokratie begleiteten Sie durchgängig als Themen der deutschen Geschichte, und Sie bündelten Ihre Position in der bitteren Kritik an Hindenburg als einer Unheilsgestalt der preußisch-deutschen Geschichte. Ich lese diese Passagen Ihres Weimar-Buchs auch heute noch als eine späte Reaktion des Historikers Horst Möller auf das geistige Klima West-Berlins im Schlagschatten des schwarz-weiß-roten Klimas in der Reichshauptstadt Berlin um 1930/32.

Ihre Berliner Zeit verstehe ich als die erste Kernphase der biografischen Prägung als Historiker. Die zweite Kernphase liegt im Übergang von den 1980er zu den 1990er Jahren in Frankreich und Paris, bevor Sie, ausgestattet mit beiden Erfahrungs- und Wissenskernen, 1992 die Leitung des Instituts für Zeitgeschichte übernahmen. In Paris haben Sie breit vernetzte Kontakte in die französische Wissenschaftslandschaft aufgebaut, wurden dort mit drei Ehrendoktoraten gewürdigt – in Bordeaux, Paris und Orléans – neben anderen hohen französischen Auszeichnungen. Von Paris aus wuchsen Sie in die Struktur der Deutschen Geisteswissenschaftlichen Institute im Ausland hinein. Dem Kuratorium der Max Weber Stiftung haben sie von 1992 bis 2003 angehört, den wissenschaftlichen Beiräten der Deutschen Historischen Institute in Rom und London jeweils für einige Jahre, den Beirat des DHI Warschau haben Sie ein gutes Jahrzehnt lang geleitet. Hinzu kamen die Mitgliedschaft im Beirat des DHI Moskau und der Ko-Vorsitz der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

Doch eins nach dem anderen. Von Paris leitet sich der Forschungsschwerpunkt zur vergleichenden Demokratieforschung in Frankreich und Deutschland in der Zwischenkriegszeit her, später auch die Dokumentation zur deutsch-französischen und französisch-deutschen Politik in der Regierungszeit von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle. Begleitend dazu schrieben Sie die vergleichende Darstellung über „Europa zwischen den Weltkriegen“ für die Grundriss-Reihe des Oldenbourg-Verlags, in der Sie die Demokratiekrise im Europa der 1920er Jahre markant herausgestellt haben.

Mit dem Frankreich-Schwerpunkt zur Zwischenkriegszeit ist nicht nur die vergleichende Forschung in der Zeitgeschichte vorangebracht worden (acht Bücher entstanden in diesem Rahmen), sondern davon gingen auch Impulse für eine erweiterte Perspektive auf das 20. Jahrhundert aus. „Frankreich“ gab es nur an wenigen Standorten – in Trier etwa oder an der HU Berlin, in Tübingen und Freiburg, also überwiegend an Universitäten in der ehemaligen französischen Besatzungszone. Der IfZ-Schwerpunkt ergänzte den dominierenden angloatlantischen Schwerpunkt der deutschen Zeitgeschichte, dem ich mich selbst verbunden fühle.

Die Pariser Jahre und die Einbindung in die Struktur der deutschen Auslandsinstitute (mit allen Weiterungen in das kulturdiplomatische Politikfeld hinein) leiten dann über zu Ihrer Tätigkeit als Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, die die Jahre von 1992 bis 2011 umspannt. Ich kann von der weitreichenden Leistung nur weniges erwähnen – zuerst die Institutionen, dann einige Arbeitsschwerpunkte.

Die Außenstelle Berlin des IfZ wurde seit 1989/90 geplant und nahm 1993, zunächst in Potsdam, ihre Tätigkeit auf, um die Forschung zur Sowjetischen Besatzungszone und der DDR zu bündeln. Die Arbeit dort galt der Sowjetischen Militäradministration, dem Transformationsprozess der Justiz, der Vertriebenen-Integration und Themen der Sozialpolitik. In den 1990er Jahren musste die DDR-Forschung erst in Gang gebracht werden, und sie benötigte Zeit, um Tritt zu fassen. Ohne die Außenstelle Berlin und Ihre stete Förderung dieser Abteilung wäre das deutlich schwerer gewesen.

Die „ständige Dokumentation“ auf dem Obersalzberg entstand seit 1996, nachdem die Amerikaner den Platz geräumt hatten. Die Ausstellung und der Begleitband unter dem Titel „Die tödliche Utopie“ von 1999, der bis 2016 eine Auflage von 100000 Exemplaren erreicht hat, machten die De-Kontaminierung des Obersalzbergs möglich und wurden zu einem Orientierungsmuster für die neue Teildisziplin Public History.

Die Dokumentation Obersalzberg war nun ihrerseits mit den Forschungsschwerpunkten verbunden, die sich auf die Geschichte des Nationalsozialismus beziehen. In diesem Zusammenhang ist sicherlich die Edition der Goebbels-Tagebücher besonders spektakulär. Die Überlieferungsgeschichte ist bekannt: Aus den vor 1990 verfügbaren Bruchstücken edierte Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und in Verbindung mit dem Bundesarchiv 1987 die vierbändige Dokumentation der „Sämtlichen Fragmente“. 1992 recherchierte sie in Moskau und entdeckte dort den nahezu vollständigen Bestand der Goebbels-Tagebücher. Elke Fröhlich wurde zur Herausgeberin der im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte besorgten Gesamtausgabe bestellt, nachdem es Ihnen, lieber Herr Möller, gelungen war, den Quellenbestand kopieren zu lassen und in München zur Verfügung zu halten. Sie haben das Unternehmen mit großer Energie vorangetrieben; Sie verschafften dem Institut die organisatorische und rechtliche Rückendeckung, was ohne Ihre weitgespannten westeuropäischen und russischen Kontakte nicht möglich gewesen wäre. Seit 2008 liegt die Edition mit 29 Textbänden und drei Registerbänden vollständig vor – eine enorme Leistung!

Dann kam die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung mit ihren Rückwirkungen auf das Institut für Zeitgeschichte. Die Reaktionen in der Öffentlichkeit waren heftig, teils zustimmend, teils empört ablehnend. Sie gehörten zu den Kritikern der Ausstellung. Konflikte haben Sie nie gescheut, Ihre Auffassungen haben Sie immer mit Verve vertreten: Im Fall der Wehrmachtsausstellung haben Sie einzelne Aussagen und die Konzeption in Zweifel gezogen – nicht so sehr wegen einiger falsch zugeordneter Fotografien, sondern wegen der Zahlenangaben über die Beteiligung von Wehrmachtsangehörigen an den Massenmorden in Russland und wegen empirisch ungesicherter Verallgemeinerungen. Die veränderte zweite Fassung der Ausstellung haben Sie dann mit Jan Philipp Reemtsma gemeinsam gegenüber der Öffentlichkeit vertreten. Die Ausstellung schnitt tief – vergleichbar nur der Fernsehserie „Holocaust“ von 1978/79 – in das psycho-emotionale Empfinden der deutschen Gesellschaft ein. Man musste damals (wie heute noch) die biografischen Einschlüsse im Auge behalten – das betraf auch mich selbst. Ich fand die erste Fassung der Ausstellung stichhaltig, weil sich darin einiges bestätigte, was ich aus der Geschichte meiner eigenen Familie vom Geschehen an der Ostfront 1944 wissen (oder besser: ahnen) konnte.

Die Ausstellung gab den Anstoß für das Forschungsprojekt zur „Wehrmacht in der nationalsozialistischen Diktatur 1933 bis 1945“, das im Institut für Zeitgeschichte Christian Hartmann, Johannes Hürter und Dieter Pohl neben anderen durchgeführt haben. Dessen bisheriger Ertrag müsste noch über die Schwelle des Sommers 1944, also über den Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte und das Stauffenberg-Attentat hinaus, bis zum Mai 1945 weitergeführt werden; aber auch so erbrachte die Forschungsarbeit dieser Gruppe den wichtigsten Beitrag zur Kriegsgeschichte an der Ostfront zwischen 1941 und 1944. Sie selbst haben die Wehrmachtsforschung des Instituts ermöglicht und die Finanzierung durch den Freistaat Bayern ausgehandelt. In der Rezeption der einzelnen Forschungsschritte und der Ergebnisse sind Sie mit den Jahren zu einer vorsichtig abwägenden Einschätzung gelangt, die Sie unlängst auch in Ihrem neuesten Buch über „Die letzten hundert Jahre“ der deutschen Geschichte im Kapitel über die „Verantwortung der Wehrmachtsführung und der Heerführer“ dargelegt haben.

Nächst dem Projekt über die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg wurde für das Institut für Zeitgeschichte die Edition „Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland“ wichtig. Die verwickelte Vorgeschichte lasse ich hier beiseite; sie reicht mit einzelnen Wurzelsträngen bis in die Anfangszeit des Instituts zurück und war später auch mit den Unstimmigkeiten über eine Übersetzung des Opus magnum von Raul Hilberg „The Destruction of the European Jews“ verknüpft. In den 1980er Jahren war es der Berliner Holocaustforscher Wolfgang Scheffler, der wiederholt beklagte, dass es keine umfassende wissenschaftliche Dokumentation zum Holocaust gebe. Götz Aly nahm die Idee auf und trug sie 2002/03 an Ulrich Herbert heran, der den Vorschlag machte, das Institut für Zeitgeschichte einzubeziehen, zumal damals Dieter Pohl noch am IfZ tätig war. Gemeinsam bereiteten sie den Antrag an die DFG auf Langzeitförderung des Projekts vor, das Bundesarchiv kam schließlich noch dazu. Sie, lieber Herr Möller, ermöglichten die institutionelle und organisatorische Unterstützung und trugen die Verantwortung für den stetigen Fortgang mit. Ich erinnere mich noch an eine Sitzung in der Berliner Geschäftsstelle der DFG, auf der es um die Finanzierung der letzten vier Bände ging. Die Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Interessen ist damals gelungen – zwischen Susanne Heim und Ihnen für das Kollegium der Projektleiter, der ziemlich skeptischen internationalen Gutachtergruppe und schließlich der DFG, so dass die Organisationsstruktur über die ursprünglich bewilligten zwölf Jahre hinaus sichergestellt werden konnte, anstatt das Vorhaben in die ungesicherte Obhut des Akademienprogramms zu geben. Die institutionelle Verankerung der Edition VEJ im Institut für Zeitgeschichte bildete eine maßgebliche Voraussetzung für den Erfolg des gesamten Vorhabens.

Heute stehen die Goebbels-Edition, die Wehrmachtsstudien und die VEJ-Edition als international bedeutsame Marksteine neben der Edition von Hitlers „Reden, Schriften, Anordnungen“, die von 1992 bis 2003 erschienen ist. Das ist allein beim Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus eine beeindruckende Bilanz, die sich mit Ihrer Leistung, Ihrem organisatorischen Augenmaß verbindet und neben der Bedeutung des IfZ auch die gewachsene institutionelle Vernetzung innerhalb der Geschichtswissenschaft dokumentiert – mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung, mit dem Lehrstuhl Herbert in Freiburg, mit den Auslandsinstituten und den internationalen Kommissionen.

Und dann die Nachkriegszeit. Das Institut für Zeitgeschichte hat schon früh, zusammen mit dem Bundesarchiv, die „Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ ediert und dann mit dem Projekt „Gesellschaft und Politik in Bayern 1949 bis 1973“ unter der Leitung von Hans Woller und Thomas Schlemmer die regionalgeschichtliche Traditionslinie fortgeführt, die unter Martin Broszat mit dem Unternehmen „Bayern in der NS-Zeit“ begonnen und mit den Studien zur Umbruchszeit in der amerikanischen Zone „Von Stalingrad zur Währungsreform“ von Klaus-Dietmar Henke und Hans Woller weitergeführt wurde.

„Gesellschaft und Politik in Bayern 1949 bis 1973“ erschließt mit insgesamt sieben Büchern methodisch höchst anregend die Strukturgeschichte und die Kulturgeschichte einer Agrarregion, die innerhalb von 20 Jahren – das klingt ja auch in Ihrer Franz Josef Strauß-Biografie von 2015 an – in die Lage versetzt wurde, zum Rhein-Ruhr-Gebiet aufzuschließen und mit einer modernen Chemie- und Automobilindustrie die niedergehende Industrieregion am Rhein als Wachstumsmotor der Bundesrepublik abzulösen.

Besondere Bedeutung kommt den Akteneditionen für die Zeit nach 1945 zu. Ich erwähnte schon die vierbändige Dokumentation zu Westdeutschland und Frankreich in der Regierungszeit von Adenauer und de Gaulle, die in den Jahren 1997 bis 1999 erschien. Das Monument allerdings bilden zweifellos die „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“, die seit 1993 vom Institut für Zeitgeschichte herausgegeben werden, in Berlin mit einer eigenen Abteilung ausgestattet sind und mit ihren jährlichen Publikationen den Nachweis führen, dass die Dokumentation des Staatshandelns besser in den Händen der nichtstaatlichen Wissenschaft aufgehoben ist, als es die früheren Editionen für die Zeit des Deutschen Reiches waren, die vom selbst-legitimatorischen Interesse des Auswärtigen Amts bestimmt gewesen sind. Die Aktenedition AAPD setzt neue Standards in dieser Hinsicht, sowohl durch diese organisatorische Loslösung vom Auswärtigen Amt und die Anbindung an das IfZ als auch durch die mustergültige Bearbeitung und erstklassige Kommentierung.

Lieber Herr Möller, lassen Sie mich zum Schluss noch einmal auf die gemeinsame Zeit in Erlangen zurückkommen. Das waren die Jahre von 1983 bis 1986. Ich stand damals unter dem Druck, meine Pflichten als Akademischer Rat am Nachbarlehrstuhl und die Niederschrift meiner Habilarbeit in time and on time zu bewältigen. Sie beide, liebe Frau Möller und lieber Herr Möller, haben mir in dieser Zeit immer wieder den Rücken gestärkt und mir zu verstehen gegeben, dass es zwischen England, Habsburg und Preußen, zwischen Freihandel und Sanktionspolitik im Krimkrieg (was für eine historische Parallele zur Gegenwart!), dass es zwischen all dem auch ein humorvolles, lebensfrohes Miteinander geben konnte. Dafür bin ich Ihnen noch heute dankbar, und deshalb verbindet sich mit meinem Glückwunsch für den international renommierten Historiker Horst Möller zu seinem 80. Geburtstag auch ein großer Dank: Herzlichen Dank und herzlichen Glückwunsch!

Online erschienen: 2023-07-01
Erschienen im Druck: 2023-06-05

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 17.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2023-0029/html
Button zum nach oben scrollen