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70 Jahre Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

Laudatio auf der VfZ-Festveranstaltung am 12. Januar 2023 in München
  • Ulrich Herbert EMAIL logo
Published/Copyright: July 1, 2023

Dass am Anfang der Geschichte einer Institution, eines Unternehmens, eines Staats, einer Zeitung oder einer Zeitschrift ein knorriger Alter steht, mit Ideen, Charisma und Arbeitswut ausge­stattet, mit einem oft widersprüchlichen biografischen Hintergrund und einem enormen, durch die Jahre der Diktatur und des Kriegs gewissermaßen aufgestauten Gestaltungswillen, ist für die Anfangsjahre der Bundesrepublik in der Wirtschaft, in der Politik, in der Kultur nicht selten, sondern geradezu kennzeichnend – und gilt für die hier zu belobigenden Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte in ganz besonderem Maße. Hans Rothfels war für die deutsche Geschichts­wissenschaft nach 1945 ein Glücksfall. Ein Nationalkonservativer, der in Königsberg die Perspektive eines deutsch dominierten Reichsverbands in Ostmitteleuropa konzipiert hatte, als Jude emigrieren musste, in Providence und Chicago mit den fortgeschrittenen Methoden der amerikanischen Geschichtswissenschaft vertraut wurde und nach 1945 mit einem Buch über die „deutsche Opposition gegen Hitler“[1] seine Landsleute generell, den deutschen Nationalkonservatismus im Besonderen, von Schuld und Mitverantwortung an den Untaten des Dritten Reichs weitgehend freisprach, der kam den deutschen Historikern nach dem Krieg gerade recht. Einerseits weil seine Biografie so etwas wie eine nationalkonservative Phantasie ohne Nazi-Sündenfall darstellte – und in dieser Spezifität zum erträumten Leitbild all jener Konservativer wurde, bei denen der Sündenfall nicht ausgeblieben war. Andererseits weil Rothfels mit diesem biografischen und intellektuellen Hintergrund die deutsche Zeitgeschichte und damit vor allem die Auseinandersetzung mit der eben erst beendeten NS-Diktatur nahezu im Alleingang konstituieren konnte und an vorderster Stelle dafür verantwortlich war, dass in der Bundesrepublik eine professionelle und mit modernen wissenschaftlichen Methoden arbeitende Zeitschrift entstand, die erstmals die jüngste deutsche Nationalgeschichte, die Epoche der Mitlebenden, kritisch in den Blick nahm.

Von vornherein waren die Vierteljahrshefte, die er 25 Jahre lang als Herausgeber konzeptionell, inhaltlich und auch formal geleitet hat, auf die wissenschaftliche, quellengestützte und analytisch präzise Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, seinen Vorbedingungen und Auswirkungen konzentriert. Bedenkt man, in welchem Zustand sich die westdeutsche Beschäftigung mit der NS-Zeit in diesen Jahren ansonsten befand – man denke nur an die riesigen Auflagenerfolge der Memoiren von Wehrmachtsgenerälen oder die enorm erfolgreichen Kriegsbücher „Paul Carells“ (als Paul Schmidt zuvor SS-Obersturmbannführer und Pressesprecher Joachim von Ribbentrops) –, dann wird diese Leistung von Rothfels und seinen Mitstreitern noch beeindruckender.[2]

Natürlich war auch das in den Vierteljahrsheften bis in die späten 1960er Jahre und noch länger gezeichnete Bild vom NS-Staat unvollständig und durchaus auch problematisch: eine Diktatur mit geringer gesellschaftlicher Verankerung, ohne aktives Personal unterhalb der engsten Führungsspitze. Die Verbreitung des Antisemitismus wurde wenig behandelt, und trotz so aufsehenerregender Beiträge wie der Dokumentation über den Gerstein-Bericht war der Judenmord bis in die 1980er Jahre hinein nicht das zentrale Thema der Zeitschrift, nicht anders als in der deutschen (und internationalen) Geschichtswissenschaft insgesamt.[3] Aber das sind kritische Einwände aus der Retrospektive. Die Bedeutung der Zeitschrift für die nüchterne und kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, mit ihren Voraussetzungen, Entstehungsbedingungen und mit ihren Verbrechen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Dass es in der Zeitschrift Leerstellen thematischer wie methodischer Art gab, wurde in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit wie im Institut selbst schon seit Mitte der 1960er Jahre durchaus gesehen und zunehmend thematisiert. Die Öffnung zu den Sozialwissenschaften, die stärkere Berücksichtigung von Themen außerhalb des nationalen Horizonts sowie komparative und diachrone Untersuchungen wurden gefordert und auch umgesetzt, wenngleich in kleinen Schritten und begrenztem Umfang. Gegen eine allzu starke Öffnung stand auch das neue Herausgeberduo Karl Dietrich Bracher und Hans-Peter Schwarz, wenngleich Martin Broszat immer stärker in die Rolle des Anregers, Ideengebers und Reformers hineinwuchs, den NS-Schwerpunkt aber nachdrücklich teilte. Hans Mommsen indes vermochte er nicht als Herausgeber durchzusetzen. Allerdings nahm in diesen Jahren der Einfluss der Redaktion stetig zu, die mit Wolfgang Benz, Martin Broszat, Hermann Graml, später mit Norbert Frei, Klaus-Dietmar Henke und Hans Woller ein kampfstarkes Gegengewicht zu den Herausgebern bildete.

Das Ganze formte sich dann zu einem gewiss nicht spannungsfreien, durchaus kontroversen, aber produktiven Nebeneinander unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze und politischer Ausrichtungen. Im ersten Heft des 31. Jahrgangs 1983 stand die fünfzigste Wiederkehr des Datums der NS-Machtergreifung im Mittelpunkt. In seinem einleitenden, bis heute oft gelesenen Aufsatz über „Demokratie und Ideologie im Zeitalter der Machtergreifungen“ hob Karl Dietrich Bracher im Anschluss an sein gerade erschienenes Buch „Zeit der Ideologien“ hervor, dass um die Jahrhundertwende infolge von Industrialisierung und Verstädterung der Ideologisierungsprozess begonnen habe, der letztlich zu den Machtergreifungen Lenins, Mussolinis und Hitlers geführt habe. Im Kern gehe es dabei darum, die komplexen Realitäten der Moderne „auf eine Wahrheit zu reduzieren [. . .], also mit einem einzigen Erklärungsmuster die Welt bipolar zu erfassen, wie es besonders die marxistische Klassentheorie oder die nationalsozialistische Rassentheorie versuchen“.[4]

Horst Möller, der zehn Jahre später Direktor des Instituts und mit Schwarz und Bracher auch Herausgeber der VfZ wurde, untersuchte im selben Band die Frage, ob die nationalsozialistische Machtergreifung eine Konterrevolution oder eine Revolution gewesen sei, deutlich gegen die „prinzipiell positive [. . .] Bewertung der Revolution [. . .] bei Sozialisten aller Schattierungen“ gerichtet, die „Revolution und den als reaktionär eingestuften Nationalsozialismus von vornherein als gegensätzlich“ betrachteten. Im Ergebnis plädierte er „für die Verwendung des Begriffs Revolution anstelle des Begriffs Machtergreifung“, denn „[s]o reaktionär viele Ideologeme des Nationalsozialismus waren, seine soziale Wirkung und die Formen, mit deren Hilfe sie erzielt wurde, waren von spezifischer Modernität, der totale Anspruch der Diktatur, der über weite Strecken zur totalitären Lebensrealität des NS-Staates wurde, verweist auf den revolutionären Charakter, nur so ist die Ungeheuerlichkeit dieser Diktatur zu fassen“.[5] Natürlich reflektieren beide Beiträge die politische Aufladung der Zeit Anfang der 1980er Jahre zwischen rechts und links und die Abwehr der Versuche der Linken, zu der damals übrigens auch die SPD gezählt wurde, die Machtübernahme der Nationalsozialisten als Ausdruck und Folge der Zerstörung der Republik durch die Rechtsparteien und größere Teile der alten Eliten zu erklären.

Dagegen stand dann Martin Broszat, der die Machtübernahme der Nationalsozialisten hier aber vor allem auf generationelle Elemente zurückführte: der Nationalsozialismus als Jugendbewegung mit spezifischen Erfahrungen, wobei er betonte, dass „das Subjektive der Erfahrungsverarbeitung [. . .] dabei meist ausschlaggebender [war] als die ‚Objektivität‘ sozialer Faktoren“. Der „Schub sozialer Proteststimmung [. . .] vor allem bei der jungen Generation“ habe während der Wirtschaftskrise der NS-Bewegung Auftrieb gegeben. Dabei sei die „Volksgemeinschafts-Parole, zweifellos das wirksamste Element der NS-Propaganda, nicht nur wirklichkeitsfremde Utopie einer Aufhebung sozialer Klassengegensätze“ gewesen, „sondern zugleich auch Aufruf zur Überwindung der Relikte vorbürgerlicher, vorindustrieller sozialer Hierarchien und Normen, Aufruf zur Bildung einer modernen, mobilen bürgerlich-nationalen Massengesellschaft“.[6]

Hier sind die neuen Thesen der milieu- und generationsspezifischen Ansätze ebenso zu erkennen wie die revolutionstheoretischen Thesen David Schoenbaums und Ralf Dah­ren­dorfs, die dann im funktionalistischen Ansatz Broszats und Mommsens weiterentwickelt wurden. Ideologiegeschichtliche Erklärungen wie bei Bracher fehlen jedoch hier ganz, etwa wenn Broszat betonte, dass bei den jungen Spitzenfunktionären des Regimes wie Reinhard Heydrich „die ideologische Bindung [. . .] meist ziemlich schwach“ gewesen sei, es sei ihnen eher darum gegangen, unter den neuen Bedingungen „schneller als in der sozial verkrusteten Gesellschaft der Weimarer Republik Karriere machen“ zu können.

Die Unterschiede zwischen diesen Ansätzen, die allesamt zwar etwas historische Patina angesetzt haben, aber doch nach wie vor mit großem Gewinn zu lesen sind, vermitteln die Weite und die Begrenzung der pluralistischen Publikationspolitik der VfZ dieser Zeit. Explizit linke Texte, die den zu dieser Zeit in der Bundesrepublik durchaus geläufigen Thesen der DDR-Historiografie entsprochen hätten, fehlen. Hingegen markieren die drei genannten Aufsätze die analytische Bandbreite der zeitgeschichtlichen Forschung dieser Jahre auf hohem Niveau. Dass es hinter diesen Exemplifikationen der Akzeptanz unterschiedlicher wissenschaftlicher und politischer Ansätze ganz handfeste Auseinandersetzungen gab, womöglich bis ins Persönliche hinein, ist nicht auszuschließen, hier aber nachrangig.

Zehn Jahre später, 1993, möchte man zunächst erwarten, dass die stattgehabten weltgeschichtlichen Umwälzungen, das Ende des Kalten Kriegs, der Untergang des sowjetischen Imperiums und vor allem die deutsche Wiedervereinigung das Gesicht der Zeitschrift geprägt hätten. Aber weit gefehlt. In den 1990er Jahren widmeten sich 68 Aufsätze der NS-Zeit (34 Prozent), 30 der Geschichte der Bundesrepublik (15 Prozent), 15 der DDR (sieben Prozent). Die Geschichte der Sowjetunion wurde elf Mal behandelt (fünf Prozent), die Nachkriegsjahre 1945 bis 1949 sechs Mal (drei Prozent), der Kalte Krieg fünf Mal (2,5 Prozent). Nicht einbezogen sind hier thematisch, zeitlich und regional übergreifende Beiträge, methodische Fragen – sowie die relativ häufigen Geburtstagswünsche. Das unterschied sich von der Praxis der vergangenen Jahre und Jahrzehnte nur marginal. Dass die aktuelle, sich gerade vollziehende zeitgeschichtliche Gegenwart besondere Aufmerksamkeit genossen hätte, wird man nicht sagen können. Auch die Zahl der Beiträge zur Geschichte der DDR stieg prozentual in den 1990er Jahren nicht deutlich an.

Woran lag das? Nun, zum einen spiegeln die VfZ, die ja im Wesentlichen von eingesandten Manuskripten leben, jeweils Stand und Entwicklung der zeithistorischen Forschung, vor allem in Deutschland. Zwar gab es seit 1990 eine große Zahl aktueller Sachbücher zu den Themen der frühen 1990er Jahre, aber die Zeitgeschichtsforschung, die ja auch an die archivalische 30-Jahressperrfrist gebunden ist, nahm das Übermaß der national- und weltpolitischen Themen vor allem der frühen 1990er Jahre nur mit gehöriger Verspätung auf – von der Wiedervereinigung, dem nachfolgenden Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft und der Auflösung des sowjetischen Imperiums bis zu Maastricht, dem ersten Irakkrieg, den Jugoslawienkriegen und den Pogromen im Kontext der sogenannten Asylfrage.

Vielmehr markieren die 1990er Jahre sowohl in der akademischen Zeitgeschichte wie in der Öffentlichkeit wie auch in den VfZ den Höhepunkt der deutschen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit – für viele unerwartet, weil sie mit der Wiedervereinigung eher mit einem Abflauen der NS-Thematik gerechnet oder darauf gehofft hatten. Das Gegenteil traf ein, die deutsche Geschichtswissenschaft begann nun damit, den Judenmord intensiv zu erforschen und nicht nur zu interpretieren. Die Debatte um Daniel Goldhagen schlug riesige Wellen, ebenso die über die Zwangsarbeiterentschädigung und die Wehrmachtsausstellung. Einige dieser Impulse nahmen die Vierteljahrshefte auf, wenngleich nicht alle und durchaus zögerlich.

Dieter Pohls nüchterne Entgegnung auf die Thesen Goldhagens zeigte dabei den Weg: keine Beteiligung an den ja zum Teil sehr emotionalen Debatten in der Presse, sondern eine präzise Analyse des Sachstands. Pohl ging zunächst die Forschungsgeschichte zum Judenmord Schritt für Schritt durch und zeigte, dass Goldhagens Aussagen zu Vorgeschichte, Entwicklung und Organisation der „Endlösung“ hinter den momentanen Erkenntnisstand mit seinen methodischen und inhaltlichen Differenzierungen weit zurückfielen. Dabei, konzedierte Pohl, stelle Goldhagen aber viele richtige Fragen. „Er weist auf entscheidende Defizite in der Forschung hin, besonders die Analyse des Antisemitismus von 1918 bis 1939 und die Frage nach seiner kausalen Bedeutung für die ‚Endlösung‘. Das Konzept der Verknüpfung von deutscher politischer Kultur, institutionellen Voraussetzungen und Entscheidungen zum Massenmord mit den tatnahen Vorgängen“ sei vom Ansatz her überzeugend. Hingegen könne Goldhagen aber „an keiner Stelle beweisen, daß ‚gewöhnliche Deutsche‘, die nicht institutionell in den ‚Endlösungs‘-Apparat eingebunden waren, [. . .] im Regelfall Juden umbringen wollten“. Somit könne er „letztlich weder die Monokausalität der Motivation noch die These von der Tatbereitschaft der ‚gewöhnlichen Deutschen‘ [. . .] abgesichert belegen“.[7]

Diese wohltuend nüchternen Aussagen standen in deutlichem Gegensatz zu der auch von Goldhagen selbst überwiegend polemisch geführten Diskussion und erfüllten insoweit die an ein wissenschaftliches Periodikum der Zeitgeschichtsforschung zu stellenden Anforderungen: eben nicht tages- oder auch nur jahresaktuell zu sein, sondern aktuelle Debatten aufzunehmen und im Kontext des wissenschaftlichen Kenntnisstands zu prüfen und einzuordnen. Der Aufsatz hat jedoch, wie schon in den späten 1980er Jahren die berühmte Diskussion zwischen Saul Friedländer und Martin Broszat über die Perspektive der Geschichtsschreibung des Judenmords,[8] nicht zu einer deutlichen Erhöhung der Zahl der Beiträge zu diesem Thema in den VfZ geführt.

Anders war das bei der Dokumentation von Bogdan Musial über die erste Wehrmachtsausstellung.[9] In seinem Beitrag wies er den Ausstellungsmachern eine ganze Reihe von Fehlern nach, insbesondere bei der Beschriftung der zahlreichen gezeigten Fotografien. Musials Dokumentation hatte weitreichende Folgen: Zum einen trug sie maßgeblich dazu bei, dass das Hamburger Institut für Sozialforschung die Ausstellung schloss und eine neue erheblich erweiterte Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht erarbeitete, die diese Kritik aufnahm und im wissenschaftlichen Raum weitgehende Zustimmung fand. Zum anderen aber wurden die Verbrechen der Wehrmacht in den Vierteljahrsheften (und im Institut für Zeitgeschichte insgesamt) zu einem der Schwerpunkte von Forschung und Publikation, so etwa in dem umfangreichen Aufsatz von Christian Hartmann „Verbrecherischer Krieg – ver­bre­­che­rische Wehrmacht?“, in dem die Beteiligung der Wehrmacht an den großen Verbrechen des NS-Regimes überaus differenziert untersucht und im Wesentlichen bestätigt wurde, während Hartmann die Insinuationen, nahezu alle Wehrmachtssoldaten seien daran beteiligt gewesen, deutlich und gut begründet zurückwies.[10]

Auch in den sogenannten Nullerjahren zwischen 2000 und 2009 blieb das thematische Profil der Zeitschrift weitgehend das gleiche, 66 Beiträge zur NS-Geschichte (35 Prozent), 37 zur Bundesrepublik (18 Prozent), deren Repräsentanz nun leicht zunahm, etwa fünf Prozent jeweils zu Weimar, zur DDR und überraschend zu Italien – allerdings nicht wirklich überraschend, wenn man weiß, dass Hans Woller seit 1994 Chefredakteur der VfZ war und zunächst noch zusammen mit Hermann Graml, dann ohne ihn das Profil der Zeitschrift nachhaltig geprägt hat. Dass die Geschichte der DDR weiterhin nicht so stark im Vordergrund stand, wie vielleicht zu erwarten wäre, mag auch mit dem Aufstieg des Zentrums für Zeithistorische Forschung zu tun haben, das diese Thematik in starkem Maße in ihren Zeitschriften, Büchern und Online-Publikationen behandelte – aber wohl auch damit, dass die VfZ ein sehr westdeutsches (und bayerisches) Organ waren, in dem die Vorgänge in den Weiten des preußischen Ostens ohnehin auf eher verhaltenes Interesse stießen. Andererseits wurde schon 1993 in Potsdam eine Außenstelle des Instituts eingerichtet, die vorrangig die Geschichte der DDR bearbeitete und heute als Forschungsabteilung Berlin in Lichterfelde firmiert.

Dass hingegen die Geschichte der Bundesrepublik nur von 18 Prozent der Beiträge thematisiert wurde, muss andere Gründe haben. Es spiegelt einerseits die Entwicklung in der Forschung insgesamt, in der kulturgeschichtliche Themen zunehmend dominierten (nicht eben das Steckenpferd der VfZ), während politik-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragen der Geschichte der Bundesrepublik zwar beforscht wurden, aber durchaus nicht sonderlich intensiv, bis heute. Das mag auch daran liegen, dass die Geschichtsschreibung über die Bundesrepublik nur wenige oder eigentlich gar keine klaren, nachhaltigen geschichtswissenschaftlichen Kontroversen herausgebildet hat, wie etwa über Weimar, das Kaiserreich oder auch über die Geschichte der USA, wie derzeit in Bezug auf die Entwicklung von race und white supremacy. Die Geschichte der Ostpolitik oder der Wiedervereinigung ist, allen Transformationsansätzen zum Trotz, nicht wirklich umstritten, und die Barzel-Forschung ist weiterhin ohne brisante Entdeckungen geblieben. Es liegt also nicht nur an der vielbeschworenen Reduktion auf den nationalen Container, wie der mittlerweile etwas lahm gewordene Begriff lautet, sondern an der mangelnden historiografischen Konfliktualität der Bundesrepublik. Und auch die linken und rechten Außenseiter der Zunft, die die deutsche Zeitgeschichtsforschung wegen ihrer normativen Bindung an Westlichkeit und liberale Demokratie verspotten, haben daran nichts zu ändern vermocht.

Einer der großen Trends der deutschen Zeitgeschichtsforschung der vergangenen 25 Jahre, die zunehmende Orientierung auf Aspekte der internationalen Geschichte und der Globalisierung, spiegelt sich in den VfZ dieser Jahre durchaus wider, aber erneut in eng umrissener und bedächtiger Weise. Unter den etwa 200 VfZ-Aufsätzen zwischen 2000 und 2009 findet man neun, die nicht mit der Bundesrepublik, der DDR oder dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben, darunter den von Manfred Berg über schwarze Bürgerrechte und liberalen Antikommunismus, einen der ganz wenigen Beiträge zur Geschichte der inneren Verhältnisse in den USA, den von Harold James über „Krieg und Frieden in Zeiten der Globalisierung“, in dem er weit ausholend die erneute Skepsis gegenüber einem USA-orientierten, globalisierten Kapitalismus-Modell beschrieb und wohl auch beklagte. Dazu kommt Jean-François Sirinellis Aufsatz über „Die Babyboomer und der Mai 1968 in Frankreich“, in dem er fragte, warum der Mai 1968 in Frankreich bei aller Militanz doch relativ gewaltfrei verlaufen sei und die Fünfte Republik nicht prinzipiell in Frage gestellt habe – mit der Antwort: wegen der bereits festen Verankerung der demokratischen Institutionen und der Auswirkungen des wirtschaftlichen Aufschwungs während der trente glorieuses insbesondere auf die 68er-Generation alias Babyboomer.[11]

Das sind durchweg interessante, zum Teil brillante Texte, sie bilden innerhalb des ruhigen Hauptstroms der Beiträge zum Nationalsozialismus und zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert aber doch eher Inseln, die nicht miteinander verknüpft sind. Durchaus häufiger sind hingegen Texte zur osteuropäischen, zumal der sowjetischen Geschichte, in diesem Jahrzehnt vertreten etwa durch Bernd Bonwetschs Dokumentation über „Stalin und die Vorbereitung des 3. Parteitags der SED“ sowie Igor Lukes’ Studie über „Die Amerikaner und die kommunistische Machtergreifung in der Tschechoslowakei 1948“, wobei aber auch diese Aufsätze in direktem oder indirektem Verhältnis zur deutschen Nachkriegsgeschichte stehen.[12]

Kommen wir zum letzten Jahrzehnt dieses kleinen Durchgangs, den 2010er Jahren, so ergibt sich in der Ära Altrichter/Möller/Szöllösi-Janze/Wirsching zunächst das gleiche Bild wie in den Jahren zuvor: Von den etwas mehr als 200 Aufsätzen behandeln den Nationalsozialismus 70, die Bundesrepublik 54, die DDR 13, die Weimarer Republik und den Ersten Weltkrieg 15, Probleme der Globalisierung sechs (und wiederum sechs Italien!) – wenig Internationales weiterhin, nahezu durchgehend auch das fast völlige Fehlen der Geschichte von Kolonialismus und Dekolonialisierung, ebenso im engeren Sinne kulturgeschichtlicher Ansätze, Gender history; der Anteil sozialgeschichtlich ausgerichteter Beiträge hat wieder abgenommen: Das alles ist ja schon häufiger und auch intern festgestellt und angemahnt worden.

Aber es gibt doch auch wichtige Neuerungen, die auf eine stärkere Verzahnung der Beiträge in den VfZ mit den zeitgeschichtlichen Diskussionen in Öffentlichkeit und Forschung abzielen. Das betrifft beispielhaft Aufsätze wie den von Michael Epkenhans über die Debatten und neuen Arbeiten zum Ersten Weltkrieg, den von Magnus Brechtken über die zum Teil recht polemischen Auseinandersetzungen bezüglich des Buchs „Das Amt und die Vergangenheit“, von Benedikt Stuchtey über Zeitgeschichte und Imperialismusgeschichte oder von Ariane Leendertz zur Ge­schichtsschreibung über das deutsche 20. Jahrhundert.[13] Hier ist aber auch auf einige Neuerungen zu verweisen, etwa auf das von Jürgen Zarusky neu eingerichtete „Podium Zeitgeschichte“, das ein Thema in mehreren kurzen, thematisch zusammenhängenden Beiträgen in einem Heft aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet – beispielsweise den Populismus, die demokratischen Staatsgründungen nach dem Ersten Weltkrieg oder den Cultural Turn in der NS-Forschung[14] –, oder auf den „VfZ-Schwerpunkt“, der ein Thema über mehrere Hefte hinweg be­handelt, erstmals 2020 zum Thema Globalisierung.[15] Man wünschte sich hier allerdings zuweilen durchaus etwas stärker zuspitzende Beiträge, wie wir sie, seligen Angedenkens, etwa in der Publikation der Debatte des Instituts für Zeitgeschichte über Totalitarismus und Faschismus von 1980 fanden, wo man in den nahezu wörtlich mitgeschriebenen Diskussionsbeiträgen die knisternde Stimmung der Tagung geradezu körperlich nachvollziehen konnte.[16]

Viel NS-Geschichte, zunehmend mehr Bundesrepublik, nach wie vor Weimar, DDR, Kalter Krieg, ein wenig internationale, mit Deutschland nicht verbundene Geschichte und nur wenig Aktuelles: So etwa könnte das Fazit dieses kleinen Durchgangs formuliert werden. Viel Kontinuität über die Jahrzehnte hinweg, ein durchgehend deutliches pluralistisches Konzept (mit dem Maß an Veränderung, was unter Pluralismus in der jeweiligen Zeit verstanden wurde) und ein durch die Bank und mit wenigen Ausreißern sehr hohes wissenschaftliches Niveau.

Auf diese Weise aber – durch die überdeutlichen Schwerpunkte wie die nicht minder deutlichen Auslassungen – hat sich hier doch ein klarer Kanon herausgebildet von dem, was deutsche Zeitgeschichtsforschung angeht. Ein solcher Kanon ist immer umstritten, immer defizitär, und natürlich verändert er sich; wenn auch langsam, widerstrebend, oft kaum merklich. Aber wenn man nun die Nachbarfächer betrachtet, zumal die nicht-historischen, wird einem diese Kanonbildung doch anders und wichtiger vorkommen. Die Germanistik etwa hat sich in ihre Sub- und Einzeldisziplinen nahezu aufgelöst, die sich wechselseitig kaum mehr kennen oder wahrnehmen. Nicht einmal die germanistische Literaturwissenschaft hat noch einen solchen als verbindlich ausgegebenen Kanon. Aber nur wenn es einen solchen gibt, ist es möglich, sich darauf bejahend oder ablehnend zu beziehen, ihn zu ergänzen oder zum Teufel zu wünschen. Wenn aber alles geht, von jeder und jedem und überall, ist es egal, was man oder frau beforscht – die Tendenz zu den viel beschworenen Echokammern in den politischen Auseinandersetzungen gibt es eben auch in der Wissenschaft, wenn mit jeder halbwegs neuen Idee gleich eine neue Zeitschrift gegründet wird, hinter der sich die Anhänger verschanzen. Auch die Soziologie könnte man hier nennen, die das genannte Problem seit längerer Zeit beklagt, oder die europäische Ethnologie, seit sie nicht mehr Volkskunde sein will, verständlicherweise.

Die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte haben in siebzig Jahren in ganz erstaunlicher Weise ein Verständnis dafür geschaffen, was deutsche Zeitgeschichtsforschung ist und soll. Sie betrifft Deutschland, Europa und die Welt, in dieser Reihenfolge. Das ist einerseits eine Beschränkung und eine Reduktion der schier unendlichen Themenvielfalt, die ja auch möglich wäre. Sie konzentriert sich auf die Perspektive von Deutschland aus, auch weil sie keine American Historical Review ist, die die ganze Welt in Augenschein nimmt, aus der Perspektive der weltweiten Supermacht, die sich für alles interessieren und über alles Bescheid wissen muss, wie USA-kritisch, liberal oder woke die einzelnen Forscherinnen und Forscher auch dastehen mögen. In dieser Beschränkung der VfZ liegt auch ein Moment des sich Bescheidens – auf die Interessen, die Möglichkeiten und Ansprüche eines mittelmächtigen Landes mit einer sehr spezifischen Vergangenheit. Auf der anderen Seite ist Deutschland groß und einflussreich genug und hat überdies brisante Nationalgeschichte geradezu im Übermaß anzubieten, dass sich eine vom Nationalen ausgehende, aber weltweit interessierte Zeitgeschichte rechtfertigen lässt, anders als dies etwa für die meisten kleineren europäischen Staaten zutrifft, die sich überwiegend in die angloamerikanischen Kontexte einbinden.

Natürlich gibt es herausragende und enorm vielfältige Forschung über die Geschichte der außerdeutschen und außereuropäischen Welt von deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, auch zu Themen der jüngsten Geschichte, als Teil der internationalen Communities – zu Lateinamerika, zur afrikanischen Geschichte, zu China, zur Globalgeschichte im weiten Sinn. In der Regel ist es dabei ganz zweitrangig, aus welchem Land die einzelnen Beiträge und die Autorinnen und Autoren stammen. Und natürlich ist auch die Forschung zur deutschen Zeitgeschichte Gegenstand einer internationalen Forschungscommunity, vermutlich gibt es kein stärker international beforschtes Feld als die Geschichte des deutschen Judenmords.

Aber es gibt eben gute Gründe dafür, in der deutschen Zeitgeschichte, ob sie von deutschen oder nicht deutschen Forschenden betrieben wird, von der deutschen Geschichte in ihren nationalen, europäischen und globalen Bezügen auszugehen – und unvermeidbar auch von der Geschichte des NS-Regimes und seiner Menschheitsverbrechen, selbst wenn die Kritik daran immer erneut vorgebracht wird –, vom „endlich genug“ der früheren Jahrzehnte bis zur Forderung nach Relativierung im kolonialen Kontext heute. Wenn ein deutscher Institutsdirektor kürzlich davon sprach, man müsse nun endlich von der verstiegenen Holocaustfixierung der deutschen Zeitgeschichte wegkommen, dann ist das ja nicht weit entfernt von Dieter Kunzelmanns Diktum vom deutschen „Judenknax“,[17] zumal es derzeit in Deutschland, wenn ich recht sehe, ganze drei historische Lehrstühle mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der NS-Zeit gibt und nur einen einzigen mit dem Schwerpunkt Judenmord. Die anderen deutschen Spezialisten mussten ja nach Klagenfurt, Bern oder Los Angeles auswandern.

Gleichwohl, der Kanon dessen, was Zeitgeschichte in diesem Land ist und meint, wird sich weiter verändern und mit ihm die Vierteljahrshefte. Die VfZ sind nach wie vor eine der deutschen historischen Zeitschriften mit der höchsten Auflage und der größten Leserschaft und werden dies hoffentlich auch bleiben, nicht zuletzt durch ihre verstärkte Online-Ausrichtung. Sie werden diesen Kanon weiter maßgeblich bestimmen, ausweiten und neu definieren: nüchtern, etwas behäbig, auch etwas altmodisch – aber wissenschaftlich präzise, auf hohem Niveau und mit klarer pluralistischer Ausrichtung. Meine Gratulation.

Online erschienen: 2023-07-01
Erschienen im Druck: 2023-06-05

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 17.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2023-0030/html
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