I. Vorbemerkungen
Am 20. Oktober 1999 öffnete die Dokumentation Obersalzberg ihre Pforten – an Adolf Hitlers zweitem Regierungssitz, wo er zwischen 1933 und 1945 rund ein Viertel seiner Amtszeit verbrachte. Seit mehr als 20 Jahren informiert die vom Institut für Zeitgeschichte München–Berlin (IfZ) kuratierte Dauerausstellung über die Geschichte des historischen Orts und gibt einen fundierten Überblick über den Nationalsozialismus einschließlich seiner Verbrechen. Mehr als drei Millionen Menschen haben die Ausstellung bisher gesehen, 2019 kamen rund 170.000 Besucherinnen und Besucher. Die Dokumentation besetzt damit einen historisch belasteten Ort, schafft Transparenz und eröffnet ein wissenschaftlich fundiertes Informationsangebot.
Dieser Erfolg führte die museale Infrastruktur an ihre Grenzen, die Mitte der 1990er Jahre auf rund ein Fünftel der mittlerweile erreichten Besuchszahlen ausgelegt worden war. Deshalb hat die bayerische Staatsregierung beschlossen, die Dokumentation Obersalzberg zu erweitern. Momentan entsteht ein Neubau, der mit rund 800 Quadratmetern mehr als doppelt so viel Fläche für die Dauerausstellung bieten wird. Das bestehende Gebäude wird zu einem Bildungszentrum mit weiteren Seminarräumen für die museumspädagogische Vermittlungsarbeit umgebaut, die ebenfalls vom IfZ durchgeführt wird.
Seit der Konzeption der aktuellen Ausstellung sind fast 25 Jahre vergangen. In diesen zweieinhalb Jahrzehnten ist die historische Forschung zum Nationalsozialismus vorangeschritten; erinnert sei nur an die neuen Perspektiven, die die Debatte um das Konzept der „Volksgemeinschaft“ eröffnet hat. In Verbindung mit einer breiten Forschung zu NS-Verbrechen war es gerade diese Debatte, die zu einem besseren Verständnis von Mord und Ausgrenzung auch als gesellschaftliches Phänomen beigetragen hat. Wie jedes Medium bedürfen auch Ausstellungen der regelmäßigen Überarbeitung und Aktualisierung, wenn sie Vermittlung auf der Höhe des Forschungsstands ermöglichen sollen. Da bildet die Dokumentation Obersalzberg keine Ausnahme. Eine ganze Reihe von Ausstellungen vergleichbarer Institutionen an historischen Orten, die Historikerinnen und Historiker um die Jahrtausendwende konzipiert haben, werden gegenwärtig einer Erneuerung unterzogen. Für den neuen Museumsraum haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Dokumentation Obersalzberg am IfZ das Konzept für eine neue Dauerausstellung erarbeitet.[1] Begleitet wird die Arbeit durch einen hochkarätig besetzten Wissenschaftlichen Beirat[2] und durch ein Kuratorium aus Vertreterinnen und Vertretern von Politik und Gesellschaft.[3]
II. Leitmotive und Erzählprinzip
„Idyll und Verbrechen“ – es ist genau dieser Gegensatz zwischen der Schönheit der Berge und den Schrecken der NS-Herrschaft, die den Täterort Obersalzberg definieren. Gelegen oberhalb von Berchtesgaden in den bayerischen Alpen, bietet das Hochplateau des Obersalzbergs die sprichwörtliche Postkartenidylle (und heutzutage zahlreiche Motive für die Selfiekultur). Der Obersalzberg jedoch ist nicht ein Berg wie jeder andere. Hier befanden sich zwischen 1933 und 1945, wie Martin Bormann es in einem Brief an die NSDAP-Gauleiter formulierte, „Privatwohnung und Privathaushalt des Führers“.[4]
Doch auch die Reduktion auf die Privatsphäre der Regimegrößen ist irreführend. Tatsächlich war der Obersalzberg nicht nur ein privates Refugium, in das sich Hitler zurückzog, um sich zu erholen. Diese unpolitisch-naive Sicht der Dinge, die durch die NS-Propaganda bewusst verbreitet und auch nach 1945 noch gerne rezipiert wurde, korrespondiert mit dem Verlangen nach einem anständigen, jedenfalls nicht gewalttätigen, nach einem entlasteten und damit auch entlastenden Hitler. Durch zahllose Postkarten und Bildbände, die dieses Zerrbild massenhaft verbreiteten, war der Obersalzberg eine maßgebliche Quelle für die gesellschaftliche Etablierung dieses „Führer“-Images. Im Kern rekurriert dieses Image auf den nationalsozialistischen Führerkult, den die NS-Propaganda lange Zeit am Obersalzberg inszenierte: der nahbare Volkskanzler, der gute Nachbar, der Kinder- und Tierfreund, der Berg- und Naturliebhaber, der unermüdliche Arbeiter für das Volk und jeden einzelnen „Volksgenossen“.
Was uns die Aufnahmen von Hitlers Leibfotografen Heinrich Hoffmann vorgaukeln, die in großer Zahl am Obersalzberg entstanden, ist – kurzum – der nette „Führer“ von nebenan. Dieses Bildangebot und die darauf aufsetzende Interpretation bot Entlastung, nicht nur für den Ort selbst, an dem Hitler ja nur ganz privat „in seinen Bergen“[5] geweilt habe, sondern auch für all diejenigen, die in den 1930er Jahren in großer Zahl dorthin gefahren waren, um einen Blick auf „ihren Führer“ zu erhaschen, ihm zu begegnen oder gar von ihm berührt zu werden. Nahm man die Propaganda für bare Münze, konnte man Verfolgung und NS-Verbrechen bequem auf Distanz halten: Der Obersalzberg hatte damit ebenso wenig zu tun wie die ehemaligen Hitleranhänger. Und auch die Faszination, die der Ort nach 1945 auf die zahlreichen Besucherinnen und Besucher ausübte, konnte sich mit einer entpolitisierten und voyeuristisch grundierten Unschuld des Schlüssellochblicks bemänteln. Nur auf der Grundlage dieser spezifischen Geschichtsvergessenheit lässt sich die unbekümmerte Kommerzialisierung des Obersalzbergs durch geschäftstüchtige Einheimische in der Nachkriegszeit verstehen, die auf die zahlreichen Besucherinnen und Besucher aus dem In- und Ausland sowie die Angehörigen der Besatzungstruppen zielte.
Die neue Ausstellung „Idyll und Verbrechen“ zeigt vor dem Hintergrund dieser Inszenierungen die enge Verflechtung des Obersalzbergs mit der Verfolgungspolitik und den Massenverbrechen des NS-Regimes auf. Noch stärker als bisher wird deutlich, dass die Verbrechen nicht als etwas Unverbundenes begriffen werden können, das sich fernab vom Obersalzberg ereignete und diesen schon durch die räumliche Distanz nicht berührte. Tatsächlich waren die Verbrechen der Wesenskern des Nationalsozialismus, und sie sind nicht nur abstrakt, sondern sehr konkret mit dem Obersalzberg verknüpft – durch Entscheidungen, die hier getroffen wurden, durch Opferschicksale und Täterbiografien, aber auch durch den Blick auf die NS-Gesellschaft. Dabei verfolgte das Konzeptteam bei der Entwicklung des Ausstellungsnarrativs drei Leitmotive:
Die Ausstellung zeigt die Diskrepanz zwischen Hitlers idyllisch gelegener Bergresidenz in großartiger Landschaft einerseits und den Schauplätzen des millionenfachen Mords andererseits, aber auch zwischen der Schönheit der Landschaft und der hier betriebenen Verfolgungs- und Mordpolitik. Dabei verdeutlicht sie, dass diese Diskrepanz eine rein äußerliche ist und legt die vielfältigen Zusammenhänge und Verbindungslinien offen. Sie thematisiert die Gleichzeitigkeit von (inszeniertem) Alltag und Verbrechen, von schönem Schein und Diskriminierung, von Gewalt und Massenmord, die die NS-Herrschaft prägte. Die Ausstellung zeigt dies nicht nur anhand der Berghof-Gesellschaft auf dem Obersalzberg, sondern blickt gleichzeitig auf die „Volksgemeinschaft“ und auf die alltäglichen Mechanismen von gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion.
Die Dekonstruktion der Propagandabildwelten, die am Obersalzberg geschaffen wurden, ist eine zentrale Aufgabe. Der Ort war einer der wichtigsten Inszenierungsorte des Führerkults; die Images, die Hitler und Hoffmann dort schufen, prägen das Bild vom Obersalzberg vielfach bis heute. Ihre Darstellung im Ausstellungskontext kann und sollte nicht vermieden werden – vielmehr müssen sie thematisiert und konsequent hinterfragt werden, ohne ihrer Re-Ästhetisierung Vorschub zu leisten.
Zu diesen drei Leitmotiven treten drei eng miteinander verknüpfte erzählerische Grundprinzipien. Die Erzählung arbeitet exemplarisch, exponatorientiert und strebt eine ortsgebundene Darstellung an, orientiert sich also konsequent an der Perspektive des historischen Orts. Ausgangspunkt der Themenerzählungen ist der Obersalzberg – also der Ort, an dem sich die Besucherinnen und Besucher befinden und an dem sie aus der Landschaft des gegenwärtigen Obersalzbergs in den Ausstellungsraum treten. Der „authentische Ort“[6] ist der unique point of interest; ausgehend von seinen Spezifika und dem Interesse des Publikums daran, kann das Allgemeine im Besonderen vermittelt werden. Die Menschen wollen sich aus unterschiedlichsten Motivationen heraus mit der Geschichte des Obersalzbergs befassen. Auch die neue Ausstellung greift dieses Interesse auf und macht es für die eigene Vermittlungs- und Bildungsaufgabe fruchtbar, indem sie gesicherte Informationen und die fundierte Einordnung in den weiteren historischen Kontext bietet.
Das Prinzip der ortsgebundenen Darstellung liefert thematische Leitlinien und Orientierung bei der kuratorischen Auswahl dessen, was – und teils auch wie – in einer Ausstellung exemplarisch erzählt werden soll, der sowohl durch den verfügbaren Raum als auch durch das Zeitbudget und die Ausdauer des Publikums Grenzen gesetzt sind. Dabei wird der Ort nicht eng gefasst. Die historische Topografie, die die Ausstellung entfaltet, endet nicht am Berghof oder den Grenzen des „Führersperrgebiets“, sondern bezieht den lokalen und regionalen Kontext Berchtesgadens, des Berchtesgadener Lands, teils auch Salzburgs sowie Münchens als nächstgelegene Groß- und Gauhauptstädte mit ein. Dort finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für Erzählungen, die ein weites Spektrum an Themen der NS-Geschichte abdecken und die die Besucherinnen und Besucher auch weit vom Obersalzberg weg an viele andere Orte im Reich und im besetzten Europa führen. Die Orte werden in der Ausstellung immer wieder in Beziehung gesetzt mit den Menschen – mit den Opfern, aber auch mit den Verantwortlichen für Verfolgung und Vernichtung. Aus dem Leitmotiv der Diskrepanz und dem Prinzip der ortsgebundenen Darstellung leitet sich auch die Strukturierung der Narrative ab. So lässt sich dem Publikum etwa die gesellschaftsgeschichtliche Perspektive durch den Blick auf ausgewählte Orte der „Volksgemeinschaft“ vermitteln. Das zentrale Ausstellungskapitel „Täterort und Tatorte“ präsentiert Massenverbrechen und Völkermord an ausgewählten Schauplätzen, die in Beziehung zum historischen Ort Obersalzberg gesetzt werden.
III. Ein Rundgang
Der Prolog der Ausstellung empfängt die Eintretenden mit einer Collage aus Ansichten des Obersalzbergs, die Hitlers Haus Wachenfeld oder den späteren Berghof zeigen. Die Ausführungen reichen vom Ölgemälde über kleine Veduten im billigen Alufolierahmen bis zu einem Wandteller aus Porzellan. Die Ansichten werden zwar in einer sogenannten Petersburger Hängung (enge Reihung von Gemälden an einer Wand) inszeniert, die aber in bewusstem Kontrast steht zur Qualität der Werke. Was sich hier findet, ist in der Regel Massenware, Schund und Kitsch. Zusätzlich gebrochen wird die Inszenierung durch eine Reihe von hinterleuchteten Gegenbildern, die die Orte von Verbrechen, Krieg und Völkermord zeigen, die den Besucherinnen und Besuchern in der Ausstellung als Teil der Keyvisuals nochmals begegnen werden – dazu unten mehr. Auf der Rückwand des Prologs befindet sich der Metalog, der am Übergang zwischen Ausstellung und Bunker diese Inszenierung nochmals aufgreift.
Das narrative Grundelement der neuen Dauerausstellung sind 17 Erzähleinheiten, die wiederum zu fünf Kapiteln zusammengefasst sind. Kapitel eins befasst sich unter dem Titel „Die Bühne Obersalzberg“ aus verschiedenen Perspektiven mit dem historischen Ort im engeren Sinne. Gleich zu Anfang macht die Ausstellung die Besucherinnen und Besucher mit der Topografie des Obersalzbergs vor und während der NS-Zeit vertraut. Ein dreidimensionales Modell des „Führersperrgebiets“ mit Hitlers Berghof im Zentrum bietet geografische Orientierung und zeigt zugleich die Transformationen des Bergrückens zwischen 1933 und 1945. Das Modell dient als Wegweiser in einer historischen Landschaft, aus der die Ausstellungsgäste zwar gerade kommen, in der aber nur noch wenige historische Überreste vorhanden sind und die in den Nachkriegsjahrzehnten stark überformt wurde.
Es folgt ein Themenblock, der der Bedeutung des Berghofs und der Berghof-Gesellschaft für Hitler und seine Herrschaft gewidmet ist – also jener eigentümlichen Mischung aus Regierungszentrale im Bergidyll und privatem Wohnsitz nebst Ersatzfamilie, die der Diktator unter diesem Dach versammelte. Erläutert wird dies anhand von Gemeinschaftsorten wie der Terrasse oder der großen Halle des Berghofs, aber auch anhand der täglichen, stark ritualisierten Spaziergänge Hitlers. Am Ende dieses ersten Kapitels steht eine Erzähleinheit zu den Propagandabildwelten sowie zu dem Kitsch und den Devotionalien, die mit dem Obersalzberg verbunden sind und die den Führerkult beförderten und zugleich ein lukratives Geschäft waren. Ein großer Medientisch, der in Kooperation mit dem Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen entwickelt wurde, bietet die Möglichkeit, interaktiv die Propagandabilder Heinrich Hoffmanns zu dekonstruieren. Geboten werden unter anderem Informationen zur Entstehung und fotografischen Konstruktion der Bilder, zu Motivtraditionen und technischer Ausführung, zu Retuschen und inhaltlicher Entschlüsselung.
„Führer, Volk und Sperrgebiet“ lautet der Titel von Kapitel zwei, das die gesellschaftsgeschichtliche Perspektive eröffnet. Den narrativen Anschluss an die vorangegangene Sektion bildet der Blick auf die zahlreichen „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“, die zunächst bis an den Zaun von Hitlers Haus Wachenfeld pilgerten, mit dessen Ausbau zum Berghof sie aber zusehends aus dem „Führersperrgebiet“ ausgeschlossen wurden. Es folgen die bereits erwähnten Orte der „Volksgemeinschaft“, an denen sich Verfolgende und Verfolgte begegneten. Inklusion und Exklusion werden so nicht als zwei Seiten eines Phänomens erzählt, sondern in enger, sich gegenseitig bedingender Verflechtung. Die Orte der „Volksgemeinschaft“ werden verwoben mit den Schicksalen von verfolgten Individuen und Familien aus der Region. Biografische Verbindungslinien führen aus der Region um den Obersalzberg zu den Schauplätzen des Völkermords. Auf diese Weise werden anhand von Orten und Biografien die Mechanismen und Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik anschaulich gemacht und als gesellschaftliche Phänomene gezeigt, in denen sich der Alltag der einen durch das Handeln der anderen radikal veränderte. Damit wurden Alltagsorte nach den rassistischen Regeln der „Volksgemeinschaft“ neu konfiguriert; für die Opfer änderten sie radikal ihr Gesicht: Sie mutierten zu lokalen Kristallisationspunkten von Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung. Am Übergang zwischen den Kapiteln zwei, drei und vier befasst sich schließlich eine Querschnittssequenz mit Hitlers Buch „Mein Kampf“, dessen zweiter Band in weiten Teilen am Obersalzberg geschrieben wurde. Die Konsequenzen der in dieser Hetzschrift grundgelegten Weltanschauung sind Gegenstand der umliegenden Kapitel.
Kapitel drei „Bergwelt und Weltmacht“ widmet sich in seinem ersten Teil vor allem der Vorkriegsphase von Hitlers Expansionspolitik und greift Aspekte der „Bühne Obersalzberg“ auf. Nach Fertigstellung des Berghofs 1936 war der Obersalzberg ein wichtiger Ort von Hitlers Außen- und Bündnispolitik. Ausgehend vom Empfang von Staatsgästen auf der großen Freitreppe des Berghofs wird die Inszenierung und die kulturelle Praxis von Außenpolitik hinterfragt. Konkretisiert wird diese dann anhand der drei Expansionsschritte Saargebiet, Österreich und Sudetenland, für die der Obersalzberg ein wichtiger Schauplatz war. Auch das Ausstellungsnarrativ zum Zweiten Weltkrieg konzentriert sich auf die Bedeutung des Obersalzbergs. Es zielt deshalb weniger auf eine Gesamtschau der militärischen Ereignisse, sondern legt den Schwerpunkt auf maßgebliche Richtungsentscheidungen, die Hitler dort getroffen hat, und zahlreiche Befehle, die am Obersalzberg ergingen und den verbrecherischen Charakter des Kriegs prägten. Wochen- und monatelang diente der Berghof als „Führerhauptquartier“, in dem der Feldherr Hitler weitab vom realen Kriegsgeschehen die Truppen der Wehrmacht durch Europa lenkte. In diesem Kapitel begegnet man zudem erstmals dem Gebirgsjägerregiment 100, dessen II. Bataillon seit 1938 in der Jägerkaserne in der Strub bei Berchtesgaden untergebracht war. Der Verband marschierte im März 1938 nach Salzburg, überschritt Anfang September 1939 die polnische Grenze, nahm am Westfeldzug 1940 teil, landete im Mai 1941 auf Kreta, kämpfte ab Anfang 1942 im Belagerungsring um Leningrad und ab 1943 in Italien. Die Besucherinnen und Besucher folgen den Gebirgsjägern an die Schauplätze von Kriegsverbrechen und Vernichtungskrieg.
Kapitel vier ist räumlich im Zentrum der Ausstellung verortet. Der Titel „Täterort und Tatorte“ setzt den historischen Ort nicht nur sprachlich in engen Konnex mit den Verbrechensorten, sondern tut dies auch räumlich wie konzeptionell. Im Zentrum der Ausstellung am Täterort Obersalzberg stehen die Tatorte und die dort begangenen Verbrechen, von der „Euthanasie“ über die Hungerpolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion bis hin zu Holocaust und Völkermord. Die Verknüpfung erfolgt nicht nur symbolisch, sondern auch inhaltlich: Die Tatorte und die Verbrechenskomplexe, für die sie stehen, werden mit dem Obersalzberg in Beziehung gesetzt – durch Befehle oder durch Gleichzeitigkeiten, durch Täter- oder Opferbiografien. Der Obersalzberg ist in der Ausstellung ohne Hartheim, Leningrad, Kaunas, Warschau, Treblinka oder Auschwitz nicht zu rezipieren. Ergänzt wird dieses auf die Tatorte fokussierte Narrativ durch ein Medienelement, das die zeitlichen, räumlichen und numerischen Dimensionen der nationalsozialistischen Verbrechen sichtbar macht.
Das abschließende Kapitel führt in die Zeit „Nach Hitler“ und fokussiert noch einmal stärker den historischen Ort. Das Kriegsende in Berchtesgaden und die kampflose Einnahme des „Führersperrgebiets“ durch amerikanische und französische Truppen werden hier erzählt. Der fundamentalen Umgestaltung des Bergs nach 1933 durch die Nationalsozialisten folgte eine weitere durch den Bombenangriff vom April 1945 und die in der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart konsequent betriebene Beseitigung aller Überreste aus der NS-Zeit. Dem Triumph der alliierten Befreier folgte die Entwicklung zu einem Besuchsmagneten und touristischen Hotspot, den kritische Journalistinnen und Journalisten in den 1950er Jahren als „Rummelplatz der Zeitgeschichte“[7] beschrieben. Die Recreation Area, die die amerikanischen Streitkräfte bis Mitte der 1990er Jahre in Berchtesgaden und in den verbliebenen Gebäuden aus der NS-Zeit unterhielten, ist ebenso Teil dieses Schlusskapitels wie der nostalgische, nachtrauernde Blick auf den „alten“ Obersalzberg, also auf das Bergdorf der Zeit vor Hitler.
In vielerlei Hinsicht schließt Kapitel fünf an Kapitel eins an. 1923 kam Hitler auf den Obersalzberg, im Juli 1944 verließ er ihn, ohne noch einmal zurückzukehren. Anfang und Ende der Ausstellung machen die mehrfache Transformation des historischen Orts sichtbar – die Veränderungen der Topografie, aber auch der semantischen und bildlichen Aufladungen, die bis heute vielschichtig bleiben und dem historischen Ort heterotope Züge verleihen. Fotografische Blicke auf die Gegenwart des Obersalzbergs sind es auch, mit denen die Ausstellung ihr Publikum zunächst entlässt. Der Metalog greift dabei den Prolog wieder auf und streut die gleichen Bilder von Verfolgung, Krieg und Verbrechen unter die aktuellen Aufnahmen.
Mit der Bunkeranlage wartet dann der letzte Teil des Rundgangs, für den sich – wie die Ergebnisse von Besuchsforschungsprojekten dokumentieren – rund die Hälfte der Gäste besonders interessiert. Eine inhaltliche Hinführung erhalten sie in einem Vorraum vor dem Portal, das in den Bunker führt. Der Bunker selbst ist keine Ausstellungsfläche. Er ist vielmehr ein Realexponat, das lediglich eine erweiterte Kommentierung erfährt. Eine Ausnahme bilden die vorhandenen Medienräume, die zwei Themen Platz bieten werden, die in besonders engem Zusammenhang zum Bunker stehen. Im Hörraum werden die Erfahrungen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern dokumentiert, die auf dem Obersalzberg eingesetzt waren und auch an der Errichtung des Bunkers mitarbeiten mussten. Im alten Wechselausstellungsraum, dem ehemaligen Luftschutzraum des Hotels Platterhof, finden Informationen zum Luftangriff auf den Obersalzberg Platz. Nach dem Rundgang durch den Bunker führt der Weg zurück an die Oberfläche. Dort kommen im Epilog überlebende Opfer des Nationalsozialismus zu ihrem Recht – gerade am Obersalzberg gebührt ihnen das letzte Wort.
IV. Über das Zeigen
Die Dokumentation Obersalzberg trägt eine Grundsatzentscheidung im Namen, die im zeitlichen Kontext ihrer Entstehung gewissermaßen historisiert werden kann. Ausstellungen an historischen Orten, die mit der Selbstinszenierung des verbrecherischen Regimes verbunden sind, versuchten lange Zeit, jeden Anschein musealer Inszenierung zu vermeiden. Dazu gehörte in der Regel, auf dreidimensionale Objekte zu verzichten. Als problematisch angenommen wurde die besondere Aura der „Museumsdinge“,[8] von denen ein besonderes Risiko unerwünschter Faszination auszugehen schien; solche Objekte fanden weit häufiger Eingang in die Ausstellungen von Gedenkstätten, wo Artefakte der Opfer geeignet schienen, emotionale Nähe und Empathie zu generieren. Das war an den Inszenierungsorten des Nationalsozialismus nicht erwünscht. Folglich entschied man sich, zu dokumentieren – durch Akten oder Fotos, durch „Flachware“ also, der in ihrer Zweidimensionalität größere Nüchternheit zugeschrieben wurde. In diesem Sinne war die Dokumentation Obersalzberg freilich noch nie eine reine Dokumentation – sie zeigte von Anfang an auch eine Reihe dreidimensionaler Objekte.
Die neue Ausstellung wird diese Tradition nicht nur fortsetzen, sondern in noch größerem Umfang auf dreidimensionale Objekte setzen und sich offensiv zum musealen Charakter von Einrichtung und Darstellung bekennen. Dennoch wird auch weiterhin nicht der Eindruck entstehen, hier sei dem „Führer“ oder Hitlerdevotionalien ein Museum gebaut worden: Zum einen haben wir in den letzten Jahrzehnten durch die Erkenntnisse der historischen Bildkritik und der Visual History gelernt, dass gerade Bilder als Quellen (und auch als Exponate) keineswegs unproblematisch sind. Für die fotografischen Propagandainszenierungen eines Heinrich Hoffmann gilt dies erst recht. Auch die Annahme, die großformatige Hinterleuchtung einer Fotografie sei keine Form der Inszenierung oder erzeuge keine auratische Wirkung, scheint wenig schlüssig. Egal ob Fotos oder Objekte – beides bedarf der historisch sensiblen, ausreichend kontextualisierten und zurückhaltenden Präsentation und Inszenierung. Zum anderen sind Ausstellungen ein Medium des Zeigens, das einlädt, sich auf die Exponate – egal ob zwei- oder dreidimensional – einzulassen und sich mit ihnen zu beschäftigen. Dazu gehört bei aller deutlich formulierten Grundhaltung eine gewisse Offenheit und Uneindeutigkeit sowie das Angebot, sich von Exponaten anziehen zu lassen. Die Attraktion des Exponats, auch des dreidimensionalen Objekts, gilt es vor allem als Chance, nicht als Gefahr zu begreifen: Das Publikum wird sich umso intensiver mit den Themen der Ausstellung auseinandersetzen (und nicht nur konsumieren), wenn es den nötigen Freiraum für eigenes Denken vorfindet.
Ziel ist es, die Exponate erzählen zu lassen. Im Mittelpunkt steht nicht das, was gelesen werden soll, sondern das, was zum Betrachten einlädt. Die Exponate dienen nicht der Veranschaulichung des Texts; sie sollen vielmehr ihre Geschichte erzählen und so zum eigentlichen Träger des Ausstellungsnarrativs werden. Das entspricht dem Medium. Nicht erst seit sich unsere medialen Seh- und Konsumbedingungen unter den Vorzeichen der Instagram-Kultur massiv verändert haben, sind die Exponate in Ausstellungen die Aufmerksamkeitsgeneratoren. Sie wecken und kanalisieren das Interesse, das wir uns wünschen und das wir für eine erfolgreiche Vermittlung brauchen. Die Ausstellungstexte bleiben weiterhin wichtig, ohne sich jedoch in den Vordergrund zu drängen. In deutscher und englischer Sprache bieten sie gut verständlich und auf Leseeffizienz optimiert den nötigen Hintergrund für eine informierte Auseinandersetzung. Die einzelnen Exponate werden so in ihre historischen Zusammenhänge eingeordnet und zu einer größeren Erzählung zusammengeführt. Auch gilt es, ein Angebot für diejenigen bereit zu halten, die es gewohnt sind, sich in einer Ausstellung anhand von Texthierarchien zu orientieren und einen effizienten Überblick über ein Segment zu gewinnen, um auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob sie sich an dieser Stelle in den Inhalt vertiefen möchten oder nicht. Notwendig ist eine Balance zwischen Offenheit und Freiraum einerseits und einem leitenden Angebot an Information, Orientierung, Interpretation und Haltung andererseits – eine Balance, die eine kritische, nicht-affirmative Lesart nahelegt.
V. Raum und Gestaltung
Ausstellungen sind ein in erster Linie visuelles Medium. Sie basieren auf dem Zeigen von Dingen im Raum, das immer auch Inszenierung ist. Die Gestaltung des Raums ist deshalb von eminenter Wichtigkeit. Der im Entstehen begriffene Erweiterungsbau, den das österreichische Architekturbüro Aicher Ziviltechniker (Dornbirn) ausgesprochen überzeugend entworfen hat, macht nur wenige Vorgaben. Die Ausstellungsfläche befindet sich in einem offenen, zusammenhängenden Raum ohne Zwischenwände oder unterschiedliche Ebenen, an die sich die Ausstellung anpassen müsste. So bleiben große Freiräume für die Ausstellungsgestaltung, die das Büro ramićsoenario Ausstellungsgestaltung (Berlin) übernommen hat. Es hat für die neue Dauerausstellung der Dokumentation Obersalzberg eine unaufdringliche, gleichwohl charakteristische Formensprache entwickelt, die sich an die umliegende Berglandschaft anlehnt. Sie stellt damit eine Verbindung her zum Außen, zum Idyll, reduziert es jedoch zugleich und folgt damit den Prämissen von Nüchternheit und Zurückhaltung, die der Auseinandersetzung mit dem historischen Ort Obersalzberg angemessen sind. Das gestalterische Konzept grenzt sich bewusst sowohl von der propagandistischen Inszenierung des Obersalzbergs in der NS-Zeit als auch von seiner Reduzierung auf eine enthistorisierte, idyllische Berglandschaft ab und vermeidet die Gefahr einer doppelten (Re-)Ästhetisierung.
Der Ausstellungsraum wird nur zurückhaltend durch Wände gegliedert. Zusammen mit behutsam eingesetzten sekundären raumbildenden Maßnahmen wie Licht und Deckenstrukturierung erlauben sie es den Besucherinnen und Besuchern gleichwohl, sich zu orientieren und in der Ausstellung zurechtzufinden. Gleichzeitig entsteht eine Offenheit, die es ermöglicht, die Ausstellung auch abweichend von einem gedachten Führungsweg zu erkunden. Dabei ist es Teil des Konzepts, schon am Ende von Kapitel eins durch immer breiter werdende Durchgänge den Zugang zum zentral verorteten Kapitel vier, also zu den Tatorten der NS-Verbrechen, zu ermöglichen.
Orientierung bietet ebenfalls die hierarchische Struktur der Ausstellung. Die fünf Kapitel sind jeweils farblich codiert und verfügen über einen prominenten Einführungstext und ein Keyvisual. Diese sind die einzigen Installationen der Ausstellung, die Fotografien großformatig inszenieren. Sie vermitteln die Kernbotschaft des jeweiligen Kapitels, indem sie ein (Propaganda-)Bild vom Obersalzberg mit einem Gegenbild aus den Kontexten Verfolgung, Krieg und Völkermord überlagern. Gemeinsam mit den Kapiteltexten bilden sie Anker, die durch Sichtlinien verbunden sind, um so auch in kurzer Zeit wichtige Informationen über den Obersalzberg zu vermitteln.
Unterhalb der Kapitel gliedert sich die Ausstellung in die bereits erwähnten 17 Erzähleinheiten. Sie funktionieren weitgehend modular und setzen nicht die Kenntnis aller vorangegangenen Themenbereiche voraus. Jede dieser Erzähleinheiten verfügt über ein gestalterisch besonders hervorgehobenes Schlüsselexponat, das zusammen mit einem weiteren einführenden Text einen Einstieg und grundlegende Informationen zum Thema bietet. Je nach Interesse und Zeitbudget kann das Publikum sich dann ausgehend von diesem Exponat weiter in die Ausstellung vertiefen. Der gedachte Idealrundgang orientiert sich an diesen Schlüsselexponaten, die – wie schon die Keyvisuals – durch Sichtlinien miteinander verbunden sind.
Blickachsen werden außerdem von Anfang an genutzt, um inhaltliche Zusammenhänge über Kapitel- und Erzähleinheitengrenzen hinweg herzustellen. Schon in Kapitel eins können die Besucherinnen und Besucher durch Wanddurchbrüche Teile von Kapitel vier sehen – sie blicken vom Obersalzberg aus auf die Tatorte. In Kapitel zwei korrespondieren insbesondere die Biografien der Opfer mit entsprechenden Blickachsen, die aus der „Volksgemeinschaft“ und der Region hin zu den Tatorten des Kapitels vier führen. Auch der enge Konnex von Krieg und Massenverbrechen wird durch eine eigene Sichtachse visualisiert.
Durch die räumliche Anordnung von Kapitel vier im Zentrum des Ausstellungsraums, die Zugänglichkeit aus praktisch allen anderen, ringförmig im Außenbereich angeordneten Kapiteln und die Ausrichtung zahlreicher Blickachsen von außen nach innen wird die Bedeutung der NS-Verbrechen unterstrichen und die inhaltliche Kernaussage der Ausstellung räumlich und gestalterisch unterstützt: Idyll und Verbrechen – der historische Ort Obersalzberg ist mit Krieg und Völkermord aufs Engste verknüpft.
VI. Ausblick
Die Arbeiten am Konzept der neuen Dauerausstellung sind weitgehend abgeschlossen; Ausstellungsdrehbuch und Textbuch liegen vor. Abhängig vom Baufortschritt wird die Ausstellung voraussichtlich innerhalb der nächsten zwei Jahre eröffnet.
Die Dokumentation Obersalzberg wird damit für die nächsten Jahre über eine moderne, inhaltlich auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung basierende und attraktiv gestaltete Dauerausstellung verfügen. Sie wird – noch mehr als bisher, und anders, als die Bezeichnung nahelegt – nicht nur ein statisches Medium sein. Verschiedene Formen der inhaltlichen Auseinandersetzung und Weiterentwicklung, etwa durch Interventionen oder im Rahmen des Bildungs- und Vermittlungsprogramms, sind nicht nur Arbeit mit, sondern immer auch Arbeit an der Ausstellung. Zudem verfügt die Dokumentation Obersalzberg zukünftig über Platz für Leih- oder selbst kuratierte Wechselausstellungen. Dort können relevante Themen vertieft und inhaltliche Horizonte geweitet werden.
Axel Drecoll, Albert Feiber und Sven Keller
© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Aufsätze
- Deutsche Arbeitswelten zwischen globalen Problemlagen und nationalen Handlungsbezügen
- Emanzipatorischer Aufbruch und antisemitische Verfolgung
- Der Aufbau des Sozialismus
- Dokumentation
- Ablehnung und Anerkennung
- Gutachten des IfZ
- Ein Sozialdemokrat im Auswärtigen Amt
- Notizen
- Idyll und Verbrechen
- 15. Aldersbacher Schreib-Praxis
- VfZ-Online
- Kommentar im VfZ-Forum und Aufzeichnung des „Podiums Zeitgeschichte“ 2020
- Rezensionen online
- Rezensionen
- Abstracts
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- Autorinnen und Autoren
- Autorinnen und Autoren
- Hinweise
- Hinweise
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- Emanzipatorischer Aufbruch und antisemitische Verfolgung
- Der Aufbau des Sozialismus
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