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Ein Sozialdemokrat im Auswärtigen Amt

Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte zur Bedeutung Hermann Müllers für die Außenpolitik der Weimarer Republik
  • Lars Lehmann EMAIL logo , Jörn Retterath , Christoph Johannes Franzen , Magnus Brechtken , Johannes Hürter , Hermann Wentker und Andreas Wirsching
Veröffentlicht/Copyright: 1. Januar 2021
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Vorbemerkungen der VfZ-Redaktion

Im Oktober 2019 wandte sich das Auswärtige Amt mit der Bitte an das Institut für Zeitgeschichte München–Berlin (IfZ), ein Kurzgutachten über Hermann Müller zu erstellen, den ersten Sozialdemokraten, der im Juni 1919 im Koalitionskabinett von Gustav Bauer zum Außenminister berufen wurde und der zweimal – 1920 und 1928 bis 1930 – selbst als Reichskanzler fungierte. Diese Bitte stand im Zusammenhang mit dem 150. Jubiläum des Auswärtigen Amts, dessen Gründungserlass vom 8. Januar 1870 datiert.[1] Im Vorfeld dieses Jubiläums ging es unter anderem darum, Persönlichkeiten nachzuspüren, die nicht mehr – wie etwa Otto von Bismarck oder Gustav Stresemann – im Rampenlicht der öffentlichen Erinnerung stehen, deren Einfluss auf das Auswärtige Amt als Institution sowie auf die deutsche Außenpolitik aber nachhaltig gewesen ist. Zu diesen Persönlichkeiten gehört Hermann Müller, der zudem für die demokratische Tradition deutscher Außenpolitik in der Zwischenkriegszeit steht.

Das Auswärtige Amt war vor allem an zwei Fragen interessiert: Zum einen sollte herausgearbeitet werden, welchen Einfluss Hermann Müller auf die Reorganisation des diplomatischen Diensts in der Gründungsphase der Weimarer Republik hatte; schließlich fiel die Umsetzung der großen Organisationsreform, die mit dem Namen des Direktors der Personalabteilung des Auswärtigen Amts, Edmund Schüler, verbunden ist, auch in seine Amtszeit. Zum anderen galt es zu untersuchen, welche europapolitischen Überlegungen und Konzeptionen der sozialdemokratische Spitzenpolitiker im Schatten der Nachkriegsordnung des Versailler Vertrags verfolgte und wie er zum Multilateralismus stand – als Außenminister und Reichskanzler, aber auch als Vorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion.

Das Forschungsteam des IfZ, das für das am 10. Januar 2020 fristgerecht erstattete Gutachten verantwortlich zeichnet, setzte sich wie folgt zusammen: Lars Lehmann, Jörn Retterath, Christoph Johannes Franzen, Magnus Brechtken, Johannes Hürter, Hermann Wentker und Andreas Wirsching.

Im Folgenden findet sich der vollständige Text des Gutachtens, der nicht nur ein wichtiges Aufgabenfeld des IfZ dokumentiert, sondern auch auf Desiderate der Forschung und Ansatzpunkte für neue Untersuchungen zur Geschichte der Weimarer Außenpolitik verweist. Die Publikation hat daher einen doppelten Wert. Abgesehen von Korrekturen und kleineren stilistischen Überarbeitungen blieb der Text des Gutachtens unverändert; für die Drucklegung wurden Formalia und Fußnoten grosso modo den Gepflogenheiten der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte angepasst, ohne alle Eigenheiten der Zitation zu beseitigen.

I. Einleitung

Das vorliegende Gutachten wurde im Auftrag des Auswärtigen Amts angefertigt. Es beschäftigt sich mit der Person Hermann Müllers (1876–1931). Erstens werden darin die Fragen nach Müllers Haltung gegenüber den europäischen Nachbarstaaten, nach seinen Ideen und Konzeptionen für eine multilaterale Politik im Rahmen des Völkerbunds sowie nach seinen Vorstellungen von einer europäischen Versöhnung und Zusammenarbeit nach dem Ersten Weltkrieg gestellt. Hierbei wird auch seine Position zum Versailler Vertrag untersucht. Zweitens wird der Frage nachgegangen, ob – und wenn ja wie – sich die innere Struktur und das verwaltungskulturelle Selbstverständnis des Auswärtigen Amts während Müllers Amtszeit als Außenminister veränderten. Hierbei wird eruiert, in welchem Maße es ihm gelang, dem traditionell aristokratisch-elitär geprägten Ministerium einen republikanischen Geist einzuhauchen.

Als langjähriger Nationalversammlungs- und Reichstagsabgeordneter (1916–1931), SPD-Vorsitzender (1919–1928) und Vorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion (1920–1928), zweimaliger Reichskanzler (1920 und 1928–1930) und kurzzeitiger Außenminister (Juni 1919–März/April 1920) gehörte Müller zu den führenden Politikern der Weimarer Republik. Zwar leitete er 1919/20 nur für neun Monate das Auswärtige Amt, gleichwohl beschäftigte er sich auch während seiner sonstigen politischen Karriere immer wieder mit Außenpolitik – so sah er sich als Reichskanzler mit Fragen der internationalen Politik ebenso konfrontiert wie als SPD-Vorstandsmitglied mit denen der transnationalen Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen Parteien.

Forschungs- und Quellenlage: Die außenpolitischen Konzeptionen Hermann Müllers und sein Wirken als Außenminister wurden von der historischen Forschung bislang noch nicht umfassend untersucht. Während Rainer Behring, der sich in einem Aufsatz mit Müllers Polenpolitik beschäftigt, ihn als „bedeutendsten sozialdemokratischen Außenpolitiker Weimars und neben und zeitlich vor Gustav Stresemann wichtigsten parlamentarischen Außenpolitiker der Republik überhaupt“[2] bezeichnet, wird Müller in einschlägigen Studien zur Außenpolitik der Weimarer Republik zumeist nur am Rande behandelt.[3] Auch seine Biografen, Peter Reichel und Andrea Hoffend, gehen Müllers außenpolitischen Überlegungen und Handlungen kaum nach.[4] Neben den genannten Werken wurde für das vorliegende Gutachten insbesondere die Literatur zur Geschichte des Auswärtigen Amts[5] sowie zur transnationalen Zusammenarbeit der sozialistischen Parteien in der Zwischenkriegszeit[6] ausgewertet.

Zudem wurden publizierte Quellen – Editionen sowie zeitgenössisch gedruckte Dokumente – untersucht. Hierzu zählen die sozialdemokratischen Periodika Vorwärts,[7]Die Neue Zeit[8] und Die Gesellschaft,[9] die Stenografischen Berichte der Verhandlungen der Nationalversammlung und des Reichstags,[10] die Protokolle des SPD-Parteiausschusses,[11] der SPD-Reichstagsfraktion[12] und der SPD-Parteitage[13] sowie die Editionen „Akten zur deutschen auswärtigen Politik“ (ADAP)[14] und „Akten der Reichskanzlei“.[15] Ferner wurden die Editionen „Die II. Internationale 1918/1919“,[16] „Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich“[17] und „Französische Diplomatenberichte aus Deutschland 1920“[18] sowie die Dokumente aus der Zeit der Weimarer Republik in der Edition „Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945“[19] herangezogen.

Des Weiteren wurden die im Bundesarchiv Berlin und im Archiv der sozialen Demokratie Bonn aufbewahrten Teilnachlässe Hermann Müllers sowie Akten zu seiner Zeit als Außenminister aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts in Berlin herangezogen. Die stichprobenartige Recherche in den im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München überlieferten Akten der bayerischen Gesandtschaft in Berlin brachte hingegen keine Treffer.[20]

Im Bundesarchiv in Berlin liegt ein Teil des Nachlasses von Hermann Müller mit einem zeitlichen Schwerpunkt auf den Jahren 1910 bis 1931. Die Dokumente umfassen damit auch seine Zeit als Reichsaußenminister, als Abgeordneter der Nationalversammlung und des Reichstags sowie als Reichskanzler der Weimarer Republik. Die ausgewerteten Akten spiegeln lediglich einen kleinen Ausschnitt seines politischen Wirkens und beinhalten Korrespondenzen[21] sowie Manuskripte von Reden und Artikeln,[22] die für das vorliegende Gutachten herangezogen wurden.

Das Archiv der sozialen Demokratie in Bonn beherbergt den anderen Teilnachlass Hermann Müllers für die Zeit seiner zweiten Reichskanzlerschaft (1928–1930). Dieser enthält zahlreiche Korrespondenzen, einzelne Vermerke, handgeschriebene und oftmals kryptisch bleibende Gedächtnisnotizen sowie meist maschinell verfasste und handschriftlich mit Anmerkungen versehene Manuskripte von Reden und Aufsätzen. Die Archivalien sind systematisch erschlossen und in dem dazugehörigen Findbuch detailliert erfasst.[23] Die meist aus dem tagespolitischen Geschäft hervorgegangenen Dokumente gehen auf mehrere außenpolitische Themen dieser Jahre ein wie etwa auf Müllers Besuch beim Völkerbund im September 1928,[24] auf das deutsch-polnische Liquidationsabkommen vom 31. Oktober 1929[25] sowie auf die Verhandlungen zu Reparationsfragen im Allgemeinen und zum sogenannten Young-Plan[26] im Besonderen.

Das Politische Archiv des Auswärtigen Amts enthält Tausende Akten aus der Amtszeit Müllers, weshalb für das vorliegende Gutachten nur einzelne Sondierungen zur Ergänzung der in den ADAP edierten Dokumente möglich waren. Generell zeigt sich in den Akten, dass der Minister nur selten mit Marginalien oder anderen Vermerken in den Geschäftsgang eingriff. Auch fehlen weitgehend Ministervorlagen programmatischer Natur. Bezeichnenderweise gehören zu den inhaltsreichsten Dokumenten an Journalisten gerichtete Schreiben mit Hintergrundinformationen.[27]

Struktur des Gutachtens: Das Kurzgutachten gliedert sich in drei Teile: In einem ersten Hauptkapitel werden außenpolitische Grundideen Müllers ab 1918 und ihr Wandel im Laufe der 1920er Jahre diskutiert. In einem zweiten Abschnitt erfolgt ein genauerer Blick auf seine neunmonatige Amtszeit als Außenminister und auf sein Wirken im und aus dem Auswärtigen Amt. Dabei wird punktuell auch seine unmittelbar anschließende erste Reichskanzlerschaft berücksichtigt. In einem dritten Teil wird Müllers außenpolitische Rolle während seiner zweiten Reichskanzlerschaft näher untersucht, in der er zeitweise auch die Aufgaben des Außenministers übernahm.

II. Müllers außenpolitische Grundpositionen

Hermann Müllers Denken und Handeln war in der Zeit ab 1918 schwerpunktmäßig von den im Folgenden näher dargelegten außenpolitischen Grundpositionen geprägt. Wie die Ausführungen zeigen, waren diese zumeist eng miteinander verwoben und lassen sich daher kaum trennscharf voneinander abgrenzen.

Völkerbund und multilaterale Zusammenarbeit: Ein besonderes außenpolitisches Augenmerk legte Hermann Müller auf den Völkerbund.[28] Dabei ist zu konstatieren, dass sich sein Verhältnis zum Völkerbund im Laufe der Zeit änderte. Am Ende des Ersten Weltkriegs befürwortete er zwar die vom Internationalen Sozialistenkongress in Bern im Februar 1919 geforderte Gründung einer „Gesellschaft der Nationen“, in der freie Völker als gleichberechtigte Mitglieder nebeneinander auf Basis eines allgemeingültigen internationalen Rechts agieren sollten.[29] Zur „Verhinderung künftiger Kriege zwischen Kulturvölkern“[30] hatte Müller auch schon im Juli 1918 – und damit noch während des Ersten Weltkriegs – öffentlich an die Forderung der internationalen Sozialisten zur Errichtung eines Völkerbunds mit „obligatorische[n] Schiedsgerichte[n] zur Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten“[31] erinnert. In diesem erblickte er eine Möglichkeit „zur Rettung der Menschheit vor künftigen Kriegsgreueln“.[32]

Den Völkerbund, wie er am 10. Januar 1920 in Genf seine Arbeit aufnahm, lehnte er dagegen ausdrücklich ab. So äußerte er am 23. Juni 1919 in der Nationalversammlung von Weimar, dass die geplante Institution ein „Bund der Kabinette, und zwar der Kriegskabinette“, sei und „unsere völkerrechtlichen Ideen in keiner Weise“ umsetze.[33] Für Müller war der Genfer Völkerbund durch den „Versailler Vertrag ins Leben gerufen“[34] worden und damit ein Produkt der Pariser Staatenordnung, die die Einteilung der Welt in Sieger und Besiegte fortschrieb. Damit hatte sich aus seiner Sicht das bewahrheitet, was er bereits im Juli 1918 befürchtet hatte: Der zu gründende Völkerbund war zu einem Instrument der Entente-Staaten geworden.[35] Auf dem SPD-Parteitag 1925 erklärte Müller, dass der Völkerbund eine Institution sei, die „über den Krieg hinaus die Politik der Sieger“ weiter verfechte.[36] Die Tatsache, dass es Deutschland und Sowjetrussland (zunächst) nicht zugestanden wurde, Mitglieder des Völkerbunds zu werden, war für Müller Ausdruck davon, dass die von ihm favorisierte Idee einer freien und gleichen Nationengesellschaft durch den Völkerbund nicht realisiert worden war.[37] Dementsprechend bezeichnete er diesen auch als „Völkerbundsrumpf“.[38]

Für Müller stand der Genfer Völkerbund im Zeichen des eigentlich überwunden geglaubten „Zeitalter[s] der Geheimdiplomatie“[39] und im Gegensatz zu den 14 Punkten Woodrow Wilsons. In einem Beitrag für den Vorwärts schrieb er am 9. Juli 1923, dass „zu Paris in der geheimdiplomatischen Dunkelkammer von den vier sogenannten starken Männern“ die „Wilsonsche Idee des Völkerbundes [...] verhunzt“ worden sei.[40] Nach Müllers Überzeugung hätte der Völkerbund eine Institution werden müssen, in der „die Länder durch ihre Parlamente vertreten“ sein sollten.[41] Müller plädierte damit für eine Parlamentarisierung der multilateralen Staatenbeziehungen. In einem Kommentar zum Programmentwurf der SPD schrieb er 1921, dass der Völkerbund „zurzeit nichts als eine Allianz der siegreichen alliierten und assoziierten Regierungen zur ferneren Niederhaltung der im Kriege unterlegenen Nationen [sei]. Die Völker, auch die der siegreichen Länder, haben in diesem Völkerbund nichts zu sagen.“[42] Und weiter führte er aus:

„Das oberste Organ eines wahren Völkerbundes darf nicht aus Delegierten der wechselnden Regierungen der einzelnen angeschlossenen Länder bestehen, sondern sein Rat muß zu einem Weltparlament werden, in das die Delegierten der einzelnen Länder je nach der Stärke der politischen Parteien zu entsenden sind. Nur so wird der Völkerbund den politischen Willen der einzelnen Völker widerspiegeln.“[43]

Trotz seiner Kritik an Entstehung und Aufbau des bestehenden Völkerbunds entwickelte Müller zunehmend einen pragmatischen Umgang mit der Organisation. So warb er 1923 im Vorwärts und 1924 in der Zeitschrift Die Gesellschaft für einen Beitritt des Deutschen Reichs zum Völkerbund. Zudem war es Müller, der auf dem SPD-Parteitag 1925 gemeinsam mit anderen Parteimitgliedern einen von den Delegierten angenommenen Antrag einbrachte, wonach die deutschen Sozialdemokraten „in Uebereinstimmung mit [...] der Sozialistischen Arbeiter-Internationale den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund“ forderten.[44] Für Müller waren Völkerbund und Sozialistische Internationale untrennbar miteinander verbunden. Der Antragstext auf dem Heidelberger Parteitag von 1925 stellte klar, dass der „Kampf für fortschreitende Demokratisierung des Völkerbundes und seine Ausgestaltung zu einem wirksamen Friedensinstrument [...] zu den wichtigsten Aufgaben der Sozialistischen Internationale“ gehöre.[45] In einem Redebeitrag auf dem Parteitag führte Müller aus: „Wir müssen es dahin zu treiben suchen, daß sich in diesem Völkerbund die Sozialisten aller Länder finden, – die Nationalisten können sich ja nicht finden, weil sie sich durch die nationalistischen Bestrebungen ihrer Länder gegenseitig aufheben.“[46]

Die Beweggründe für seinen pragmatischen Umgang mit dem Völkerbund waren vielfältiger Art: Erstens scheint Müller für einen Eintritt in den Völkerbund geworben zu haben, damit Deutschland aus der Organisation heraus „Ideen zur Umgestaltung des Völkerbundes“[47] propagieren könne. Durch konstruktive Mitwirkung, so seine Annahme, könne man sich am „Ausbau des Völkerbundes“[48] beteiligen. Zweitens hoffte Müller, mithilfe des Völkerbunds eine Revision des Versailler Vertrags und der mit diesem verbundenen Lasten für das Deutsche Reich erreichen zu können. In einem 1924 erschienenen Meinungsbeitrag für Die Gesellschaft schrieb er:

„Der Aufstieg eines neuen Deutschland wird nur auf dem Boden der Demokratie in einem wirklichen Völkerbund möglich sein – in einem Völkerbund, in dem das Recht gegen alle gleichermaßen angewandt wird [...]. Ein so gearteter Völkerbund hätte auch die Instanzen zu schaffen, in denen die Wiedergutmachung des Unrechts zu erfolgen hätte, das 1919 verübt wurde.“[49]

Zum einen dachte Müller dabei an eine Rückgängigmachung der deutschen Gebietsabtretungen mittels Volksabstimmungen und auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Allerdings sollten solche Revisionen an einen international gewährten Schutz nationaler Minderheiten gekoppelt werden.[50] Pikanterweise trachtete Müller damit danach, den Völkerbund in einer Weise zu nutzen, vor der er im Juli 1918 angesichts des mit der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker drohenden Verlusts von Elsass-Lothringen, der „Zerreißung Österreich-Ungarns“ und der „Zerstücklung der Türkei“ noch vehement gewarnt hatte.[51] Zum anderen verband Müller mit der Forderung nach einem deutschen Beitritt zum Völkerbund die Hoffnung auf eine tragfähige Lösung der durch Versailles aufgeworfenen Reparationenfrage. Er hoffte, dass die Entscheidung darüber aus der Verantwortung der Siegermächte herausgelöst und auf die multinationale Organisation übertragen werden könne. Eine Revision von Versailles und eine internationale Verständigung im Rahmen des Völkerbunds gingen für Müller damit Hand in Hand. Zudem setzte er darauf, dass unter Einbeziehung des Völkerbunds eine allgemeine Abrüstung in die Wege geleitet werden könne. Wenn unter den Staaten darüber Einigkeit erreicht worden sei, solle eine Demilitarisierung unter der Kontrolle des Völkerbunds durchgeführt werden.[52]

Anderweitigen überstaatlichen Einigungsideen stand Müller zwar teilweise aufgeschlossen gegenüber, er war aber Realist genug, um allzu kühnen Visionen eines umfassenden staatenübergreifenden Zusammenschlusses mit Zurückhaltung zu begegnen. Als ihm etwa der österreichische Bundeskanzler Johann Schober in einer Unterredung im Februar 1930 mitteilte, er überlege, Wien zum Mittelpunkt der Paneuropabewegung zu machen,[53] erwiderte Hermann Müller mit Blick auf den Vordenker dieser Bewegung, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi: „Was die Paneuropabewegung anbelangt, so haben wir die Arbeit Coudenhoves, soweit sie propagandistischer Art ist, nicht behindert, ja sogar mit Sympathie verfolgt. Praktisch hat sie allerdings nicht die Bedeutung, die Coudenhove ihr zuschreibt“.[54]

Mit einer ähnlichen Mischung aus Wohlwollen und Distanz äußerte sich Müller gegenüber der von Aristide Briand ins Spiel gebrachten Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Diese könne erst realisiert werden, so Müller 1931, wenn „alle europäischen Staaten demokratisch regiert werden“. Das „Diktaturregiment“ in Italien, Serbien und Spanien störe jedoch „die Bildung eines politisch und wirtschaftlich geeinten Europa“[55] genauso wie die „Gewaltherrschaft der Kommunisten“ in der Sowjetunion. Zudem würden die vielen Sprachen in Europa keine direkte Nachbildung der Vereinigten Staaten von Amerika zulassen, und ein geeintes Europa könne auch an den „Ungerechtigkeiten“ der offenen Grenzfragen nicht vorbeigehen.[56] Visionäre Konzeptionen für eine europäische Einigung unterstützte Müller somit nicht nachdrücklich.

Abrüstung und Sicherheit: Hermann Müller legte ein weiteres Augenmerk auf das Ziel, Sicherheit durch eine allgemeine Abrüstung herzustellen. Seine Positionen waren dabei nicht frei von Ambivalenzen. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs äußerte Müller die Überzeugung, dass „das internationale Wettrüsten zu Wasser und zu Lande [...] einfach nicht weitergehen“ dürfe. Entsprechend plädierte er im Juli 1918 für „das Verbot neuer Rüstung zu Wasser und zu Lande; die Begrenzung der bestehenden Rüstungen [und] die Verstaatlichung der Kriegsindustrien“.[57] Wie er selbst noch nach Ende des für das Deutsche Reich verlorengegangenen Kriegs feststellte, sollte diese Maximalforderung allerdings nicht nur einseitig vom Deutschen Reich, sondern von allen ehemaligen Kriegsparteien erfüllt werden.[58]

Auf dem Internationalen Sozialistenkongress in Bern, der im Februar 1919 stattfand, konkretisierte Hermann Müller seine Abrüstungsvorstellungen. Er zeigte sich einverstanden, dass „die Krupps, Creusots, Armstrongs, Putilows etc. verstaatlicht und kontrolliert werden“.[59] Mit seiner Anspielung auf die genannten Rüstungskonzerne unterstrich Müller seine Forderung, die Abrüstung als eine gemeinsame Aufgabe von Siegern und Verlierern des Ersten Weltkriegs gleichermaßen zu begreifen. Unter Bezugnahme auf das Erfurter Programm der SPD von 1891 stellte er dar, dass in Deutschland „anstelle des stehenden Heeres das Volksheer zu treten“[60] habe. Eine solche Miliz, die sich am Schweizer Vorbild orientieren sollte, dürfe „zu keinerlei Angriffszwecken dienen“, weshalb „für die einzelnen Waffengattungen die Dienstzeit durch internationale Verträge kurz bemessen werden“ müsse.[61] Seine Forderung nach einem Volksheer blieb auf dem Kongress nicht ohne Kritik. Ramsay MacDonald,[62] den er in den späten 1920er Jahren zu seinen Vertrauten zählte,[63] und Ethel Snowden[64] legten Müller in ihren Adressen eine Distanzierung von der Idee einer Volksarmee nahe. Hermann Müller sah sich daraufhin genötigt, eine zweite Stellungnahme abzugeben und darin seine erste Aussage einzuschränken. So äußerte er, dass er im Zuge der Versailler Verhandlungen für die „totale Abrüstung [der Völker] eintreten“ werde. Er brachte zugleich relativierend seine Befürchtung zum Ausdruck, dass man in Versailles eine „volle Abrüstung nicht beschließen“ und daher in Deutschland die „Frage der Heeresorganisation“ weiter im Raum stehen werde.[65] Eine Abrüstung konnte für Müller also nur das Ziel sein, sofern sie von allen Völkern gleichermaßen durchgeführt werde. Dabei plädierte er auch keineswegs für eine vollständige Demilitarisierung der Völker, vielmehr sprach er sich dafür aus, dass „[d]ie bewaffnete Macht eines jeden Landes [...] auf das Mindestmaß herabgesetzt“ werden müsse, „das nötig ist, die innere Sicherheit zu garantieren, ohne die die Aufrechterhaltung einer dauernden staatlichen Gemeinschaft nicht möglich ist“.[66]

Der Versailler Vertrag sah es hingegen fast ausschließlich als die Aufgabe der besiegten Staaten an, sich zu entmilitarisieren. Dessen ungeachtet hielt Müller – unter Verweis darauf, dass die Kriegsverlierer bereits in Vorleistung getreten seien – an seiner Forderung fest. In einem Meinungsbeitrag aus dem Jahr 1924 plädierte er einmal mehr für eine allgemeine Abrüstung:

„Wer an die hingemordeten zwölf Millionen Männer des Weltkrieges denkt, wird mit daran arbeiten müssen, daß die Methoden einer friedlichen Demokratie endlich und dauernd in der äußeren Politik Europas triumphieren. Nur so wird die einseitige Abrüstung Deutschlands, Oesterreichs, Ungarns und Bulgariens abgelöst werden von einer Internationalen Abrüstung, deren Ziel sein muß, die Wehrmacht eines jeden Landes auf das Maß herabzusetzen, das die innere Sicherheit der Staaten erfordert.“[67]

Diese Auffassung tat Müller bis zum Ende seines politischen Wirkens kund. Vor dem Völkerbund brachte er etwa am 7. September 1928 den „grundlegende[n] Gedanke[n]“ zum Ausdruck, dass nach Entwaffnung Deutschlands und anderer Verliererstaaten eine allgemeine Abrüstung erfolgen und eine internationale „Unterdrückung der Kriegsmittel“ umgesetzt werden müsse.[68]

Doch auch wenn Müller infolge des Versailler Vertrags für eine Abrüstung eintrat, war er von der Notwendigkeit der deutschen Wehrfähigkeit überzeugt.[69] Beispielsweise betonte er in seiner Regierungserklärung von 1928: „Die Regierung, die von der Wehrmacht verlangt, daß sie eine treue und unbedingt zuverlässige Stütze der Republik ist, wird ihrerseits dafür sorgen, daß die Wehrmacht im Rahmen ihrer Aufgaben, der bestehenden Verträge und nach Maßgabe der finanziellen Kräfte mit allen für ihre Aufgaben notwendigen Mitteln ausgestattet wird.“[70] Neben anhaltenden Appellen zur Abrüstung trat Müller damit zugleich für einen Ausbau der deutschen Wehrfähigkeit ein. Da nicht zu erwarten war, dass sich die Hoffnung auf eine allgemeine Abrüstung erfüllen würde, setzte Müller auf die Stärkung der Wehrkraft des Deutschen Reichs, die er als selbstverständliche Grundlage der deutschen Republik neben militärisch gerüsteten Nachbarstaaten ansah.

Deutsch-französische Verständigung: In Bezug auf die deutsch-französische Verständigung war Müller in der Zwischenkriegszeit nicht frei von Ambivalenzen. Grundsätzlich erkannte er ihr eine hohe Bedeutung zu und wertete sie als wichtigen Baustein für eine langfristige „Friedensgarantie“.[71] In einem Schreiben an Hugo Sinzheimer vom 14. März 1927 formulierte er gar: „Meine Betrachtung ist auf die kürzeste Formel gebracht die folgende: Die deutsch-französische Befriedung muß das Kernstück unserer Außenpolitik bleiben.“[72] Je nach aktueller Ereignislage unterschied sich jedoch die praktische Bedeutung, die er dem bilateralen Verhältnis zwischen den beiden ehemaligen Kriegsgegnern beimaß.[73] Noch aus seiner Zeit vor dem Ersten Weltkrieg pflegte Müller Verbindungen nach Frankreich. Er sprach seit seiner kaufmännischen Ausbildung bei der Porzellanfirma Villeroy & Boch neben Englisch fließend Französisch und war bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der SPD nicht zuletzt dank dieser internationalen Salonfähigkeit zu einem einflussreichen außenpolitischen Sprecher aufgestiegen,[74] der immer wieder zu transnationalen Treffen mit anderen sozialistischen Parteien entsandt wurde. So war Müller etwa am 1. August 1914 im Auftrag der SPD-Führung in Paris gewesen, um vor Ort von der sozialistischen Schwesterpartei zu erfahren, wie sich diese im Falle eines Kriegsausbruchs verhalten werde. Die Mission, den Krieg durch eine einheitliche Haltung der beiden Parteien zu verhindern, scheiterte. Mehr noch: Die französischen Genossinnen und Genossen behaupteten später, Müller habe zugesichert, dass die deutsche Sozialdemokratie Kriegskrediten niemals zustimmen werde – und habe sie damit getäuscht.[75] Nach Ende des Ersten Weltkriegs, gegen den Müller im Rahmen des „Burgfriedens“ nicht opponiert hatte, brachte er wiederholt Verständnis für den westlichen Nachbarn und dessen Ressentiment gegen das Deutsche Reich zum Ausdruck. Dies zeigte sich etwa in seiner Rede auf dem SPD-Parteitag im Juni 1919[76] und in seiner Regierungserklärung als Reichsaußenminister vom 23. Juli 1919, in der er „die verwüsteten Fluren Nordfrankreichs“ erwähnte, was ihm ein „Unglaublich!“ von der rechten Seite der Nationalversammlung einbrachte. Kein Volk, so fuhr er vor dem Parlament fort, habe „verhältnismäßig so viel Tote verloren [sic!], so viel Verwüstungen erlebt und so viel Opfer bringen müssen als [sic!] das französische Volk. Zeigen wir deshalb Verständnis für die derzeitige Mentalität dieses Volks. Zeigen wir, daß wir bereit sind, mit allen Kräften am Wiederaufbau in den verwüsteten Gegenden mitzuwirken, so wie wir das feierlich versprochen haben.“[77]

Die Bereitschaft Müllers, eine Verständigung mit Frankreich zu suchen, war jedoch von den jeweils gegebenen aktuellen Umständen abhängig. Rückblickend schrieb er etwa über die Tage, in denen er den Versailler Vertrag unterzeichnete, dass eine „persönliche Fühlungnahme“ mit den Siegern nicht stattgefunden habe: „Ich habe damals den Boden von Paris nicht betreten. Die französische Regierung legte auch keinen Wert darauf“.[78] Auch wenn französische Diplomatenberichte aus Deutschland nahelegen, dass sein außenpolitisches Auftreten einschließlich seiner Annäherungsversuche an die ehemaligen Kriegsgegner von französischer Seite aufmerksam rezipiert und reflektiert wurde, hielt sich die Annäherung zwischen beiden Staaten während Müllers Zeit als Außenminister in engen Grenzen.[79] Im Zuge der 1920 erfolgten Besetzung der rechtsrheinischen Zone durch französische Truppen verschärften sich die Spannungen zwischen beiden Staaten sogar.

Erst am 30. Januar 1920 waren die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland wiederaufgenommen worden.[80] Bereits wenige Wochen später kam es zu einer hitzigen Auseinandersetzung mit Paris, nachdem die Reichsregierung größere Truppenverbände in die nach den Bestimmungen von Versailles entmilitarisierte rechtsrheinische Zone entsandt hatte, um dort den infolge des Generalstreiks gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch am 13. März 1920 ausgebrochenen Ruhraufstand niederzuschlagen. Die französische Regierung, die für den Militäreinsatz keine Notwendigkeit sah, besetzte schließlich zur Kompensation ein Gebiet in Hessen, das unter anderem Frankfurt und Darmstadt umfasste.[81] Am 8. April 1920 hatte sich die Lage soweit zugespitzt, dass Müller – seit dem 27. März 1920 Reichskanzler und nur noch geschäftsführend Leiter des Auswärtigen Amts – gar mit dem Rücktritt seiner Regierung drohte. Vor der Weimarer Nationalversammlung brachte Müller sein Unverständnis über das Agieren Frankreichs zum Ausdruck: „Warum will man denn nur in Frankreich nicht begreifen, daß wir eine europäische Pflicht erfüllen, wenn wir im Ruhrgebiet wieder Ruhe herstellen?“ Er warf den Franzosen vor, „ihrerseits den Vertrag von Versailles verletzt und gleichzeitig den Völkerbund vor seinem Inkrafttreten um jeden Kredit gebracht zu haben“.[82]

Am 29. Mai 1922 ging Müller im Reichstag auf den Vertrag von Rapallo ein und maß ihm auch für die Annäherung mit Frankreich und anderen Entente-Mächten eine Vorbildfunktion zu: „In diesem Vertrag steckt eben gar nichts von dem Geiste der Verträge von Brest-Litowsk, von Versailles und St. Germain.“[83] Dies sei es gewesen, was dem Vertrag von Rapallo die Sympathie des deutschen und des russischen Volks eingetragen habe:

„Wenn irgendein anderer Staatsmann, auch irgendein Ententestaatsmann, mit der Regierung irgendeines anderen Volkes in demselben Geist einen ähnlichen Vertrag abschließt, so bin ich überzeugt, daß die Völker in der ganzen Welt diesen Vertrag mit der gleichen Sympathie begrüßen werden [...]. Die Ententestaatsmänner brauchen also nur hinzugehen und das gleiche zu tun.“[84]

In den gesamten 1920er Jahren blieb Müllers Verhältnis zu Frankreich ambivalent. Zwar sprach er diesem grundsätzlich eine hohe Bedeutung für die Stabilität Europas zu, die Besetzung des Ruhrgebiets wertete er jedoch am 19. Juli 1923 im Vorwärts als einen „Einbruch der Franzosen und Belgier“, der durch „die Anwendung weltkriegsmäßiger Methoden durch Frankreich“ erfolgt sei.[85] Außer französischen Militaristen und Expansionisten könne niemand ein Interesse an den wirtschafts- und finanzpolitischen Folgen der Besatzung haben. Müllers Kritik an Frankreich ging eng mit seiner Antipathie gegen Raymond Poincaré einher, der von 1913 bis 1920 das Amt des französischen Staatspräsidenten bekleidete und der die alliierte Reparationskommission, die mit dem Versailler Vertrag gegründet worden war, leitete. Müller schrieb etwa über Poincaré, er sei ein „zum Staatsmann verdorbene[r] Jurist“.[86] Da Müller im Juli 1923 fürchtete, dass die französische Regierung unter Poincaré einen deutschen Aufnahmeantrag in den Völkerbund zu „sabotieren“ versuchen könne, hob er im Vorwärts hervor: „Sicher ist, daß Frankreich nicht der Völkerbund ist.“[87]

Während seiner zweiten Reichskanzlerschaft, insbesondere in der Zeit der Reparationsverhandlungen, gewann für ihn neben dem deutsch-französischen auch das deutsch-amerikanische Verhältnis an Bedeutung. Dabei war er darauf bedacht, dass sich das Deutsche Reich nicht einseitig positioniere und sich von den westeuropäischen Mächten nicht gegen die USA in Stellung bringen lasse. An den deutschen Gesandten in Bern, Adolf Müller, schrieb er am 1. November 1928: „Dass in England und Frankreich Strömungen vorhanden sind, die uns in eine gemeinsame Front gegen Amerika einspannen möchten, ist richtig. Deutschland kann aber nicht daran denken, diese Partie mitzuspielen.“[88] Im Rückblick auf die gesamte Zeit seiner zweiten Reichskanzlerschaft maß er dem deutsch-amerikanischen Verhältnis eine hervorgehobene Bedeutung zu:

„Ich hoffe, dass die Friedenspolitik der letzten beiden Jahre ihre günstige Wirkung auf eine weite Zukunft erstrecken wird. Für diese Politik der Verständigung unter den Völkern hat das amerikanische Volk stets grosses Interesse gezeigt [...]. So werden sich die guten Beziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten nutzbar machen lassen für eine allgemeine Politik des Friedens und der Freundschaft für die ganze Welt.“[89]

Das Wechselspiel aus Sympathie und Ernüchterung in Müllers Haltung zum deutsch-französischen Verhältnis setzte sich bis zu seinem Lebensende fort. So zeigte er sich am Ende seiner zweiten Reichskanzlerschaft einerseits über die starre Verhandlungsposition Frankreichs insbesondere in der Reparations- und Saarfrage ernüchtert und sprach den Franzosen eine gewisse Sturheit zu, andererseits stellte er noch 1930 in einer in Zürich gehaltenen Rede fest, dass man in Deutschland zu leicht geneigt sei, „den aus Frankreich laut werdenden Ruf nach Sicherheit zu überhören“.[90] In seiner Züricher Rede, in der er die deutsch-französische Verständigung zu einer Notwendigkeit der Friedenssicherung erklärte, betonte Müller: „Der Krieg kann nicht bekämpft werden, nachdem er ausgebrochen ist. Seinem Ausbruch muß vorgebeugt werden. Das ist die Aufgabe der deutschen Demokratie. Das ist die Aufgabe der französischen Demokratie, das ist die Aufgabe der Demokratie in allen europäischen Staaten.“[91] In dieser Aussage wird deutlich, was sich in vielen seiner Stellungnahmen widerspiegelt: Er verknüpfte unterschiedliche Themenfelder, die er zur Sicherung des Friedens für unerlässlich hielt, und dachte das deutsch-französische Verhältnis in einem erweiterten europäischen Kontext.

III. Außenminister Müller und das Auswärtige Amt 1919/20

In diesem Kapitel steht Müllers neunmonatige Amtszeit als Außenminister (21.6.1919–26.3.1920) im Kabinett Gustav Bauers im Mittelpunkt, in der er den Versailler Vertrag unterzeichnete und sich zumindest zeitweise mit den inneren Reformen des Auswärtigen Amts beschäftigte.

Der Versailler Vertrag: Wie viele seiner Zeitgenossen hoffte auch Müller – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gewandelten politischen Verhältnisse in Deutschland – lange Zeit auf einen wilsonschen „Frieden des Rechts und der Völkerversöhnung“. Falls die „Raubpläne [...], insbesondere die Frankreichs“, verwirklicht würden, so warnte er im März 1919 auf einer Sitzung des SPD-Parteiausschusses, werde der „Wiederaufbau ganz unmöglich“ und es drohe „der Untergang nicht nur Deutschlands, sondern der europäischen Kultur überhaupt“.[92] Trotz dieser dunklen Vorahnungen überstieg die Härte der im Juni 1919 bekanntgegebenen Friedensbedingungen von Versailles die schlimmsten Befürchtungen. Wie wohl die Mehrheit der Deutschen empfand Müller das Abkommen als eine „vertraggewordene Vergewaltigung“,[93] doch war er Realist genug, um zu erkennen, dass die Unterzeichnung des Vertrags das kleinere Übel gegenüber einer ansonsten drohenden Fortsetzung des Kriegs und der vollständigen Besetzung Deutschlands darstellte.[94] Diese Erkenntnis mochte Müller dazu veranlassen, sich für das Amt des Außenministers zur Verfügung zu stellen und eine Woche nach Amtsantritt den Versailler Vertrag zu unterzeichnen. Rückblickend rechtfertigte er diesen Schritt:

„[I]ch habe mich in der schwersten Stunde des Vaterlandes wahrhaftig nicht zu dem Amt des Ministers gedrängt, sondern ich glaubte, in dieser schwersten Stunde meine Person dem Vaterlande zur Verfügung stellen zu müssen. Ich habe es in der Hauptsache aus dem Grunde getan, weil ich weiß, daß ich einen gewissen Personalkredit im Auslande habe, und ich habe keine Ursache, dieses politische Kapital, das ich besitze, verwirtschaften zu lassen.“[95]

Bereits sieben Tage nach der Übernahme des Ressorts musste Müller im Spiegelsaal von Schloss Versailles den Pariser Friedensvertrag unterzeichnen – ein Akt, dem sich die Vorgängerregierung durch Rücktritt entzogen hatte. „Es war der schwerste Tag meines bisherigen Lebens“, so schrieb Müller in der Rückschau über jenen 28. Juni 1919.[96] Aufgrund seiner Unterschrift unter den Versailler Vertrag schlug Hermann Müller der Hass der Rechten entgegen. Zwar fiel er nicht einem Mordanschlag zum Opfer wie Matthias Erzberger, der im November 1918 das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet hatte, doch wurde auch er immer wieder verbal angegriffen, bedroht und daran erinnert, dass sein Name „unter dem Schuldbekenntnis in Versailles“[97] stehe.[98] Vor dem Hintergrund von Versailles ist Müllers Handeln im und aus dem Auswärtigen Amt einzuordnen, insbesondere vor dem Inkrafttreten des Abkommens am 10. Januar 1920. Nicht nur inhaltlich war der Aktionsradius deutscher Außenpolitik dabei eng umrissen, auch formal war der Spielraum begrenzt, weil die diplomatischen Beziehungen zu den Kriegsgegnern erst nach dem offiziellen Friedensschluss wiederaufgenommen werden konnten und der Vertrag auch alle bis dahin geschlossenen Vereinbarungen mit den Nachfolgestaaten des Zarenreichs für nichtig erklärte.[99]

Verhandlungserfolge Müllers in Bezug auf die Versailler Vertragsbedingungen blieben die Ausnahme. Einen „ersten vorweisbaren Erfolg“[100] konnte Müller in der Frage der von den Siegermächten im Versailler Vertrag geforderten Auslieferung deutscher Staatsbürger erzielen. Sowohl intern als auch gegenüber der Entente hatte Müller deutlich werden lassen, dass sich die meisten deutschen Beamten wohl weigern würden, entsprechende Festnahmen sowie Auslieferungen vorzunehmen. Sollte dem Befehl dennoch nachgekommen werden, müsse man sich auf gewaltsamen Widerstand seitens der Reichswehr, wenn nicht gar auf einen Putsch gegen die Reichsregierung gefasst machen.[101] Die Beschuldigten erwarte nach einer Auslieferung kein faires Verfahren: „Wie die Stimmung in Frankreich ist, so ist damit zu rechnen, daß sie einfach in den Schützengraben gestellt und erschossen werden. Die Leute werden einfach nicht der Justiz, sondern den Hunden vorgeworfen, und ich glaube, dazu können wir nicht die Hand bieten, diese Leute, die es zum Teil verdient haben, dieser sogenannten ‚Gerechtigkeit‘ auszuliefern“, so Müller im SPD-Vorstand im Januar 1920.[102] Statt die Beschuldigten auszuliefern, plädierte Müller dafür, sie vor das Reichsgericht zu stellen.[103] Da unter den Siegermächten kein Konsens über die Durchsetzung der Auslieferungen existierte, ließen sich diese schließlich darauf ein, dass die Verfahren gegen Deutsche vor einem deutschen Gericht stattfinden könnten, und verzichteten auf ihre ursprüngliche Forderung nach Überstellung mutmaßlicher Kriegsverbrecher.[104]

In Bezug auf den Versailler Vertrag trat Müller für eine verlässliche Haltung Deutschlands ein. Während seiner Amtszeit als Außenminister und darüber hinaus plädierte er immer wieder dafür, „daß das von uns Unterschriebene ausgeführt werden muß, soweit das überhaupt in unserer Kraft steht“.[105] An der „Vertragserfüllung bis zum Äußersten“ – „ohne Vorbehalt, ohne Hinterhältigkeit“[106] – führe kein Weg vorbei. Wenngleich seiner Ansicht nach Teile des Abkommens nicht realisierbar waren, vertrat er doch die Haltung, dass das Deutsche Reich „in den Grenzen der Erfüllbarkeit [...] keine Schuld und kein Vorwurf treffen“ dürfe.[107] Die ausgewerteten Quellen legen nahe, dass er in seiner Außenpolitik um Erfüllung der Vertragsbedingungen bemüht war, um auf diese Weise sowohl Deutschlands guten Willen als auch die Unmöglichkeit zu demonstrieren, allen Forderungen entsprechen zu können.[108]

Der weitverbreiteten Hoffnung auf ein Auseinanderbrechen der Entente hing Müller nicht an. Aber er baute darauf, dass es in den Siegerstaaten „einsichtige Leute“ gäbe, die Verständnis für die Situation Deutschlands und der deutschen Regierung aufbringen würden.[109] Zudem setzte er auf einen Wandel der Stimmung in der internationalen Öffentlichkeit gegenüber Deutschland. So stellte er im Dezember 1919 die Frage in den Raum, „ob nicht heute bereits der psychologische Moment gekommen ist, in dem wir zu zeigen haben, daß mit dem deutschen Volke nicht Schindluder getrieben werden kann, wie es weite Kreise in England und Frankreich zu tun beabsichtigen“.[110]

Das Wiederanknüpfen zwischenstaatlicher Beziehungen: Das Wiederanknüpfen der im Krieg abgerissenen Verbindungen zu den europäischen Nachbarländern beziehungsweise die Aufnahme von Beziehungen zu den neu gegründeten Staaten geschah unter dem Eindruck der deutschen Kriegsniederlage und des Versailler Vertrags. Die Verhältnisse des Deutschen Reichs zu den meisten seiner Nachbarstaaten waren durch komplexe Fragen nach Gebietsabtretungen und Volksabstimmungen sowie durch Entschädigungs- und Besatzungsangelegenheiten bestimmt. Etwas einfacher schien sich hingegen die Wiederaufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zu gestalten, insofern genuine Interessen beider Seiten vorlagen und politische beziehungsweise ideologische Differenzen ausgeblendet werden konnten. Ein besonderes Beispiel stellte das sowjetische Russland dar, auf das im Folgenden neben Polen und Österreich exemplarisch eingegangen wird.

In Müllers Haltung gegenüber Sowjetrussland,[111] zu dem die diplomatischen Beziehungen seit dem 5. November 1918 unterbrochen waren, wird das vorsichtige Ausloten der begrenzten Handlungsoptionen Deutschlands deutlich: Die durch die Oktoberrevolution hervorgerufenen Zustände in Russland, so Müller, stellten sich anfangs „noch außerordentlich verworren“ dar, sodass im Oktober 1919 „eine klare Ostpolitik“ vorerst „nicht möglich“ war.[112] Hinzu trat Müllers Furcht vor einer russischen „Einmischung in unsere inneren Verhältnisse“.[113] Daher nahm er eine von Vorsicht geprägte Haltung gegenüber Sowjetrussland ein, auch wenn er sich in der Zukunft „rege wirtschaftliche Verbindungen“ versprach. Er schränkte jedoch ein, dass dort „augenblicklich“ „nicht die goldenen Berge liegen, die man zu uns herüberholen könnte“.[114] Im Laufe der Zeit erkannte Müller die durch die russische Revolution hervorgerufenen Verhältnisse als Realitäten an. Am 16. Februar 1920 führte er vor dem Reichsrat aus, „daß ein baldiger Sturz der Bolschewisten nicht zu erwarten“ sei.[115] Aus diesem Grund plädierte er für einen bedachten Aufbau wirtschaftlicher Beziehungen.[116]

Eine Voraussetzung hierfür hatte Müller bereits seit dem Sommer 1919 geschaffen. Damals begann er jene Baltikumpolitik zu liquidieren,[117] bei der deutsche Truppen – teils unbotmäßig, häufig aber auch durch das Reichswehrministerium unter Gustav Noske gedeckt – eine eigenständige Machtposition gegenüber der lettischen Regierung behaupteten und insbesondere die antisowjetische Bürgerkriegsarmee von Oberst Pawel Michailowitsch Bermondt-Awaloff unterstützten.[118] Er wandte sich damit auch energisch gegen Empfehlungen aus seinem eigenen Haus.[119] Hartmut Unger hat daher diese „russlandpolitische Wende“ ausdrücklich Müller zugeschrieben.[120] Peter Grupp betont zwar den britischen Druck in dieser Angelegenheit stärker, stellt aber ebenfalls eine eigene Linie Müllers heraus, dessen Amtsantritt dabei eine Zäsur bedeutet habe.[121] Im Oktober 1919 lehnte Müller die Aufforderung des Obersten Rats der Pariser Friedenskonferenz zur Beteiligung Deutschlands an der Wirtschaftsblockade gegen den Sowjetstaat ab.[122] Damit wahrte das Deutsche Reich im russischen Bürgerkrieg Neutralität. Dies bildete eine Grundlage dafür, dass Deutschland im Februar 1920 die diplomatischen Beziehungen wiederaufnehmen konnte.[123] Müllers Russlandpolitik war geprägt von einem auf nüchterner Einschätzung der politischen Gegebenheiten beruhenden Pragmatismus.

Die ausgewerteten Akten zu Müllers Außenministerzeit deuten an, dass seine Haltung gegenüber Polen ambivalent war. Einerseits sprach er sich wiederholt für die Anerkennung der Versailler Vertragsbedingungen aus. In seiner Rede vor dem Reichstag am 23. Juli 1919 erklärte Müller etwa: „Millionen Deutscher stehen in Zukunft unter polnischer Herrschaft. So hat der uns diktierte Frieden die vitalen Interessen beiden [sic!] Staatswesen nicht geachtet. Trotzdem wollen wir uns bemühen, gute auskömmliche Verhältnisse zwischen beiden Teilen zu erzielen. Wir wollen in unmittelbaren Verhandlungen mit Polen die Schäden des Friedensvertrages nach Möglichkeit mildern.“[124] Dabei betonte er, dass sich der Übergang der abzutretenden Gebiete in polnische Hand ohne Gewalttätigkeiten vollziehen solle. Besonderes Augenmerk wolle er darauf legen, „für die an Polen fallenden Deutschen einen zuverlässigen Schutz der Minderheit zu erwirken, damit der kulturelle Zusammenhang jener Deutschen mit der alten Heimat auch dann gewahrt wird, wenn sie loyale Bürger des neuen Staatswesens geworden sind“.[125] Andererseits finden sich neben solchen – auf Verständigung ausgerichteten – Stellungnahmen auch revisionistische Gedanken. Im Zuge des polnisch-sowjetischen Kriegs (1919–1921) äußerte er etwa die Hoffnung, dass das Deutsche Reich vom Kriegsausgang territorial profitieren werde. So notierte der Reichsminister des Innern, Erich Koch, am 13. Februar 1920 über die Kabinettssitzung vom selben Tag in sein Tagebuch, Müller habe sich dafür ausgesprochen, bei den militärischen Auseinandersetzungen zwischen Sowjetrussland und Polen auf den Sowjetstaat zu setzen, da ein Zerfall Polens den Erhalt Oberschlesiens beim Reich bewirken könne.[126] Hier wird auch deutlich, dass Müllers Bekenntnis zur Erfüllung des Versailler Vertrags keineswegs einen Verzicht auf Versuche zu dessen Revision bedeutete.

Eine Vereinigung des Deutschen Reichs mit Österreich befürwortete Müller während seiner gesamten Außenministerzeit und darüber hinaus. Als der Geschäftsträger in Wien, Wilhelm Prinz zu Stolberg-Wernigerode, am 25. Juli 1919 erklärte, „schließlich muß doch für jeden national denkenden Deutschen der Anschluß Deutschösterreichs das erstrebenswerte Ziel bleiben“, vermerkte der Außenminister am Rand seine Zustimmung.[127] Und als der österreichische Staatskanzler Karl Renner vor Abschluss des Friedens von Saint Germain um Verständnis dafür bat, dass er im Moment stärker die Vorstellungen der Entente berücksichtigen müsse, ging Müller darauf ein:

„Die Anschlußfrage werden wir im Auge behalten, aber nicht forcieren. Wir wissen, daß wir zur Zeit nicht die Macht haben, das durchzusetzen, was die Deutschösterreicher und wir wünschen. [...] Hier muß die Zeit für uns arbeiten, und sie wird für uns arbeiten. Soweit wir auf bestimmten Gebieten, denen des Rechts und des Verkehrswesens usw., ausgleichend und vorbereitend wirken können, werden wir es tun.“[128]

Am 21. September 1919 teilte er Stolberg mit, „nach dem scharfen Notenwechsel, den wir mit den Alliierten und Assoziierten Regierungen wegen der Vorbereitung des Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich gehabt haben“, sei „jede öffentlich angebahnte Verhandlung illusorisch“. Wenngleich er daran festhielt, „daß wir auch ohne Einleitung direkter Verhandlungen jeder in seinem Lande alles tun werden, was die Angleichung fördert, damit in hoffentlich nicht allzu ferner Zeit der Anschluß vollzogen werden kann“, kamen für Müller offizielle Verhandlungen über die geplante Fusion daher nicht infrage.[129]

Die Schülersche Reform und die Personalpolitik des Auswärtigen Amts: In den Jahren 1919 und 1920 wurde im Auswärtigen Amt die mit dem Namen des Leiters seiner Personalabteilung verbundene Schülersche Reform umgesetzt. Sie führte vor allem zur Zusammenführung der diplomatischen und konsularischen Laufbahn, zur organisatorischen Verschmelzung der allgemein- und handelspolitischen Aufgaben in neuen Regionalabteilungen sowie zu einer Stärkung der Außenhandelsförderung.

Ein Großteil der Umsetzung der Reform fiel in die Amtszeit Müllers, sodass dieser von Kurt Doß auch als „der eigentliche Reformminister“ bezeichnet worden ist.[130] Dabei ist zu beachten, dass die Reform bereits in der wilhelminischen Zeit initiiert worden war und auf Anregungen aus Wirtschaftskreisen beruhte. Mit ihrer Umsetzung wurde noch unter Müllers Vorgänger Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau begonnen, und am Ende von Müllers Amtszeit als Außenminister war diese noch keineswegs abgeschlossen.[131] Trotzdem spricht für die Sichtweise von Kurt Doß, dass es Müller war, der am 1. Juli 1919 verfügte, dass „die Umgestaltung des Auswärtigen Dienstes, insbesondere die des Auswärtigen Amtes [...], unverzüglich in Angriff zu nehmen [ist]. Mit der Durchführung im Einzelnen beauftrage ich hierdurch den Geheimen Legationsrat Schüler, der bei Erledigung dieser Aufgabe die Funktion eines Unterstaatssekretärs ausübt und insoweit mir unmittelbar unterstellt wird.“[132]

Am 31. August 1919 wurde Edmund Schüler dann zum Direktor der Personal- und Verwaltungsabteilung im Auswärtigen Amt berufen.[133] Der Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, urteilte gar am 27. Dezember 1920, dass Schüler durch Müller im Auswärtigen Amt „mit der Umbauarbeit betraut und zu diesem Zweck mit Diktatorvollmacht ausgerüstet worden“ sei.[134] Zugleich sprechen für die Sichtweise von Doß die öffentlichen Äußerungen Müllers zugunsten einer raschen Realisierung der Reformen. Vor der Nationalversammlung führte er im Oktober 1919 aus, dass mit dem erwarteten Wiederaufleben der diplomatischen Beziehungen die „Arbeitsmethoden“ des Auswärtigen Amts überdacht werden müssten.

Außerdem warb Müller für die Zusammenlegung der diplomatischen und konsularischen Laufbahn und die damit einhergehende Öffnung des Auswärtigen Diensts für gesellschaftliche Gruppen jenseits des bisher tonangebenden Adels: „Die neue Republik muß auf ihre ersten Posten eine Reihe neuer Männer bringen. [...] Vor allen Dingen muß aber auch dafür gesorgt werden – das ist fast noch wichtiger –, daß die Basis der Auslese verbreitert wird für die Zukunft, damit der Nachwuchs aus allen Kreisen herangezogen werden kann.“[135] Die fachliche Eignung sollte bei der Rekrutierung des diplomatischen Personals fortan ausschlaggebend sein, genauso wie die Akzeptanz der republikanischen Ordnung: „[W]er die Absicht hat, gegen die Republik zu intrigieren, der darf unter keinen Umständen auf einen diplomatischen Posten kommen. [...] Diplomatische Salons, in denen gegen die Republik agitiert wird, können wir draußen noch weniger brauchen als drinnen“, so Müller im Oktober 1919 vor der Nationalversammlung.[136] Noch 1921 griff Müller in der Diskussion um das SPD-Parteiprogramm diesen Punkt auf und betonte auch die monetären Voraussetzungen: „Lebensaufgabe der Republik muß es sein, auf diesem Gebiet den Tüchtigen die Bahn wirklich freizumachen. [...] Insbesondere muß der junge Nachwuchs während des Aufenthalts in fremden Ländern finanziell so gestellt sein, daß er ohne väterlichen Zuschuß auskommt.“[137]

Gezielt wurden vom Auswärtigen Amt Seiteneinsteiger aus dem Wirtschaftsleben angeworben – ein Vorgang, der allerdings bereits unter Müllers Vorgänger eingesetzt hatte und auch nach Ende von Müllers Amtszeit fortgeführt wurde.[138] Die Besetzung wichtiger diplomatischer Positionen mit Sozialdemokraten begann ebenfalls vor Müller und setzte sich nach seiner Amtszeit fort. Beispielsweise war Adolf Müller, der von 1919 bis 1933 als Gesandter in der deutschen Gesandtschaft in Bern amtierte, in diese Funktion bereits vier Monate vor Müllers Außenministerzeit berufen worden. Auch Samuel Saenger trat seine Position als Bevollmächtigter Vertreter in Prag schon im März 1919 an, wenngleich er sein Einsetzungsschreiben erst während der Amtszeit Müllers überreichte. Ulrich Rauscher, der zunächst in Tiflis und später in Warschau Gesandter war, wurde dagegen erst im November 1920 in den Auswärtigen Dienst übernommen.[139]

In Müllers Amtszeit fallen der Ausbau von Außenhandelsstellen und der Aufbau eines wirtschaftlichen Nachrichtendiensts.[140] Müller war dabei wichtig, dass „die Außenbeamten des Reichs Verständnis für die Lage der deutschen Volkswirtschaft“ aufwiesen. „Der Außenbeamte draußen soll Politik treiben, auch Wirtschaftspolitik, aber keine Geschäfte“, so der Minister vor der Nationalversammlung.[141] Dem Auswärtigen Amt sollte eine unterstützende Rolle bei privatwirtschaftlichen Unternehmungen zum Wiederaufleben des Außenhandels zukommen. Bei der Gründungssitzung des Verwaltungsrats einer Außenhandelsstelle des Auswärtigen Amts unterstrich Müller:

„In den hochgehenden Wogen des Weltmarktes erfolgreich zu schwimmen, die alten Fäden der Weltwirtschaft wieder anzuknüpfen, und neue Wege des Bezuges und des Absatzes aufzudecken, dürfte – auch nach Ansicht eines überzeugten Sozialisten – den Staatsorganen umso weniger gegeben sein, als in der nächsten Zukunft gerade unser staatliches Tun in der übrigen Welt auf mannigfache Hemmungen stoßen wird, denen die private Arbeit nicht in gleichem Maße ausgesetzt sein wird. Es kann sich nur um eine Ergänzung der privaten Arbeit handeln.“[142]

Hermann Müller war der erste Außenminister, der nicht aus dem Auswärtigen Dienst hervorging. Seine Beamten reagierten auf den ersten Sozialdemokraten an der Spitze des Auswärtigen Amts manchmal eilfertig,[143] manchmal versuchten sie, ihn zu hintergehen.[144] Insgesamt stellte Müller ihnen aber ein gutes Zeugnis aus und bescheinigte ihnen nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch: „Die Haltung des Amtes, dessen Angehörige – unbeschadet ihrer innerpolitischen Gesinnung, [...] der Verfassung unter schwierigen Verhältnissen die Treue gehalten haben, war vorbildlich auch für andere Behörden“.[145] Und schon bei der Baltikumpolitik zeigte sich, dass Müller bereits kurz nach Amtsantritt durchaus in der Lage war, sich auch dann durchzusetzen, wenn seine leitenden Beamten einen anderen Kurs befürworteten.

Der Minister pflegte im und aus dem Auswärtigen Amt einen verbindlichen, wenig emotionalen Umgangston. Als er etwa am 13. Dezember 1919 den Vorsitzenden der deutschen Friedensdelegation, Freiherr Kurt von Lersner, vorab über eine Note informierte, betonte er, dass er darin auf „die Weichheit des Tons“ geachtet habe. Zugleich merkte er an, dass die von ihm gewählte Tonlage „nicht über den Ernst der Lage täuschen“ dürfe.[146] Trotz der Schwere seiner Aufgaben, die sich aus den Versailler Bestimmungen ergaben, achtete Müller also darauf, kooperativ zu wirken. Werbend statt konfrontativ war sein Ton häufig auch in der innenpolitischen Auseinandersetzung, wenn er beispielsweise auf die scharfe Kritik des Publizisten Paul Rohrbach in der Kriegsschuldfrage mit einem ausführlich argumentierenden persönlichen Schreiben antwortete.[147]

Peter Grupp konstatiert, dass Edmund Schülers Vorhaben vom „Beharrungsvermögen des Amtsapparats“ behindert worden sei, und stellt fest, dass „dieses Trägheitsmoment [...] nur durch ganz energischen, politisch motivierten Veränderungswillen von außen zu überwinden gewesen“ wäre.[148] Damit impliziert Grupp, dass Müller die nötige Energie für praktische Veränderungen in einer so krisenhaften Zeit der deutschen Außenpolitik nicht beisteuern konnte. Grupps Einschätzung ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Zwar hatte Müller eine reformerische Rhetorik und erzielte einzelne praktische Erfolge, jedoch gelang es ihm nicht, die Reformen umfassend zu realisieren. Hierfür scheinen insbesondere seine kurze Amtszeit und die diversen akuten außenpolitischen Probleme verantwortlich zu sein.

IV. Reichskanzler Müller und die Außenpolitik 1928 bis 1930

Die ausgewerteten Quellen für die Zeit seiner zweiten Reichskanzlerschaft legen nahe, dass Hermann Müller der Außenpolitik für die Arbeit seines Kabinetts eine hervorgehobene Bedeutung beimaß. Bereits in seiner Regierungserklärung, die er am 3. Juli 1928 im Reichstag hielt, machte er die auswärtige Politik zu einem zentralen Gegenstand seiner Rede. Darin nannte er einige handlungsleitende Ziele, die die deutsche Außenpolitik im Allgemeinen und seine persönlichen außenpolitischen Interessenschwerpunkte im Besonderen in den Jahren seiner Kanzlerschaft prägen sollten. Zu diesen gehörten insbesondere die Räumung der noch besetzten Gebiete am Rhein und an der Saar, die Förderung einer staatenübergreifenden Abrüstung im Rahmen des Völkerbunds, eine endgültige Regelung der Reparationsfrage sowie der Ausbau der zwischenstaatlichen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen.

Es ging Müller nicht um eine Neuausrichtung, sondern um eine Fortsetzung der von Außenminister Stresemann geprägten und bis zu dessen Tod 1929 praktizierten Politik. Daher hielt Müller auch den Weg der auswärtigen Politik seines Kabinetts bereits zu Amtsantritt für „klar vorgezeichnet“.[149] In seiner Rede vor dem Völkerbund, die er am 7. September 1928 in Genf hielt, versicherte er den Anwesenden, dass er „in dem gleichen Geiste“ wie der erkrankte und daher durch ihn vertretene Gustav Stresemann agiere.[150]

Müllers praktische Rolle beim Erreichen außenpolitischer Ziele variierte. Das hing einerseits mit dem schwankenden Gesundheitszustand des Reichsaußenministers Gustav Stresemann zusammen, der bis zu seinem Tod am 3. Oktober 1929 wiederholt vertreten werden musste, andererseits hing es von der Bereitschaft Hermann Müllers ab, sich überhaupt auf die Wahrnehmung außenpolitischer Aufgaben einzulassen. Je nach Sachverhalt fiel seine Entscheidung unterschiedlich aus. Zwei Beispiele mögen dies veranschaulichen: Hermann Müller vertrat Gustav Stresemann auf der im September 1928 stattfindenden Konferenz des Völkerbunds. In einem Schreiben vom 28. August 1928, und damit rund eine Woche vor Beginn des Ereignisses, äußerte Müller die Erwartung, dass er „ausserordentlich stark in Anspruch genommen“ werde, da er „ja zum ersten Male Genfer Konferenzboden betrete“.[151]

Der deutsche Reichskanzler hielt während seines mehrtägigen Genfer Aufenthalts am 7. September 1928 eine außenpolitische Grundsatzrede,[152] die er eng mit Stresemann und dem Auswärtigen Amt abgestimmt hatte.[153] Friedrich von Boetticher, der zu dieser Zeit als Chef der Völkerbundabteilung im Reichswehrministerium fungierte, hatte Müller einen Entwurf der Rede ausgearbeitet.[154] In der Rede sprach sich Müller unter anderem für allgemeine Abrüstungsverhandlungen aus und warnte vor einem Versagen des Völkerbunds in dieser Frage. Zudem nutzte er seine Reise zum Völkerbund für Verhandlungen mit den Außenministern verschiedener europäischer Staaten. Hierzu gehörten bilaterale Gespräche mit dem belgischen Außenminister Paul Hymans,[155] mit dem französischen Außenminister Aristide Briand[156] und mit Lord Cushendun,[157] der den erkrankten britischen Außenminister Austen Chamberlain in Genf vertrat; ebenso tauschte er sich multilateral in den sogenannten Sechsmächte-Besprechungen aus, die am 11., 13. und 16. September 1928 stattfanden.[158] Seinen Aufenthalt wertete Müller rückblickend als Erfolg. In Genf habe er einen „in der ganzen Welt beachteten Vorstoss in der Abrüstungsfrage“ unternommen, so Müller in einem nach dem Ende seiner Kanzlerschaft publizierten Aufsatz zur deutschen Außenpolitik.[160] Zudem unternahm er den Versuch, in einem bilateralen Gespräch mit Briand auf eine umgehende Räumung des Rheinlands hinzuwirken.[161]

Am 9. September 1929, und damit ein Jahr nach seinem Aufenthalt in Genf, schrieb Müller in einem Brief an Friedrich von Boetticher, sein Auftreten in Genf werde „eine der schönsten Erinnerungen meines politischen Lebens sein, und zwar nicht deshalb, weil es mir unerwartet starke Sympathien eingetragen hat, sondern um der Sache selbst willen“.[162] Mit seinem energischen Auftreten in Genf wollte Müller wohl auch gegenüber dem politischen Gegner in Deutschland „ein für alle Mal mit der Legende aufräumen [...], daß wir Sozialdemokraten nur eine weiche Außenpolitik treiben können“, wie die Vorwärts-Redaktion in einem Schreiben an den Reichskanzler feststellte.[163] Die Einschätzungen Müllers legen nahe, dass sich der ehemalige Außenminister auf internationalem Parkett durchaus wohlfühlte und in diplomatischen Kreisen zu agieren verstand.

Gleichwohl betrat er dieses Parkett als Reichskanzler nur selten. So lehnte er es etwa nach dem Tod Gustav Stresemanns ab, der deutschen Delegation auf der zweiten Haager Konferenz anzugehören, die sich vom 3. bis zum 20. Januar 1930 der Umsetzung der bereits anvisierten neuen Reparationsvereinbarungen im Rahmen des sogenannten Young-Plans widmete. Am 30. Dezember 1929 begründete er diese Entscheidung in einem Schreiben an den deutschen Gesandten in Polen, Ulrich Rauscher, mit den Worten: „Der Delegation werde ich nicht angehören. Ich blieb gegen alle Bitten taub. Ich halte es für dringend notwendig, hier im Bedarfsfalle Gegenspieler zu sein, wenn uns in Pinkto [sic!] Lasten oder Sanktionen noch mehr zugemutet werden sollte, als Stresemann bereits übernommen hatte.“[164]

Für diese Entscheidung mochte auch Müllers eigener Gesundheitszustand mitverantwortlich gewesen sein. Beispielsweise weilte er während der Haager Konferenz im August 1929 zur Genesung im Kurort Bühlerhöhe bei Baden-Baden.[165] Allerdings lässt sich in den ausgewerteten Dokumenten nachweisen, dass Müller strategische Entscheidungen mitzugestalten gedachte. Er setzte sich etwa mit der Besetzung wichtiger Botschafterposten auseinander und mahnte an, dass bei strittigen Entscheidungen der „notwendige Ausgleich [...] in einer Art Clearing“[166] zwischen Reichspräsident, Reichskanzler und Reichsaußenminister gefunden werden müsse.

Die Räumung noch besetzter Gebiete am Rhein und an der Saar: Hermann Müller unterstrich in seiner Regierungserklärung sein Ziel der Räumung der noch besetzten Gebiete am Rhein und an der Saar: „In Übereinstimmung mit dem ganzen deutschen Volke ist diese Reichsregierung von unserem wohlbegründeten Anspruch auf die sofortige Befreiung dieser Gebiete überzeugt.“[167] Gemeinsam mit Carl von Schubert und unter Kenntnisnahme des erkrankten Außenministers Gustav Stresemann bereitete Müller einen „diplomatischen Vorstoß in diesem Sinne“[168] für die Tagung des Völkerbunds im September 1928 vor. So forderte er etwa gegenüber dem französischen Außenminister Aristide Briand eine Räumung, mit dem er am 5. September 1928 in Genf eine Unterredung hatte. In einer Sechsmächte-Besprechung mit den Außenministern Briand, Vittorio Scialoja, und Hymans sowie mit dem japanischen Botschafter in Paris, Adachi Mineichirō, und Lord Cushendun verwies Müller auf „juristische Gründe“, die genügten, um die Forderung der Rheinlandräumung zu erheben. Ergänzend merkte er an: „Aber wir können auch noch politische und moralische Gründe anführen, die in der Locarno-Politik begründet liegen.“[169] Mit erheblichem Nachdruck suchte er so eine Verhandlungslösung mit den ehemaligen Kriegsgegnern. Die Räumung des Rheinlands fand schließlich ab Juni 1930 und damit rund drei Monate nach dem Ende von Müllers Reichskanzlerschaft statt. Die „Rheinlandbefreiung“,[170] so Müller rückblickend, sei „im Interesse der Sicherheit des europäischen Friedens“ notwendig gewesen, damit „die moralische Abrüstung [...] die Befriedung der Geister“ erfolgen konnte.[171] Auf eine vorzeitige Rückgliederung des Saargebiets oder eine vorgezogene Volksabstimmung konnte sich die Regierung Müller nicht mit der französischen Regierung verständigen. Das Saargebiet, das durch den Versailler Vertrag für 15 Jahre unter das Mandat des Völkerbunds gestellt worden war, fiel erst nach Ablauf der regulären Frist 1935 nach erfolgter Volksabstimmung an das Deutsche Reich zurück.

Die Forderung nach einer internationalen Abrüstung: Eine der zentralen europapolitischen Forderungen Hermann Müllers, die er bereits lange vor seiner zweiten Kanzlerschaft erhoben hatte, war diejenige nach einer Abrüstung in Verbindung mit der Gleichbehandlung des Deutschen Reichs in der Rüstungsfrage. Die damit einhergehenden Ambivalenzen, die bereits für die Zeit ab 1918 aufgezeigt werden konnten, wurden in seiner zweiten Reichskanzlerschaft erneut evident.

In seiner Regierungserklärung vom 3. Juli 1928 führte Müller aus, dass die „Entwaffnung Deutschlands [...] bis zum letzten Ende durchgeführt“ worden sei und ergänzte: „[K]ein Staat hat so viel für die allgemeine Sicherheit getan wie Deutschland“.[172] Dies würden unter anderem die Verträge von Locarno und die aktive Mitarbeit des Deutschen Reichs im Sicherheitskomitee des Völkerbunds zeigen. Daraus schlussfolgerte er: „Alles das gibt uns das Recht und die Pflicht, mit allem Nachdruck die Forderung zu erheben, daß jetzt endlich mit der Durchführung der allgemeinen Abrüstung Ernst gemacht und so der sehnliche Wunsch der Völker, die durch den furchtbaren Krieg gegangen sind, erfüllt wird.“[173]

Am 7. September 1928 griff Hermann Müller diesen argumentativen Faden erneut auf und brachte vor dem versammelten Völkerbund zum Ausdruck, dass der „grundlegende Gedanke“ einer allgemeinen Abrüstung mehr als eine bloße Hoffnung sei und eine internationale „Unterdrückung der Kriegsmittel“ umgesetzt werden müsse.[174]

„Die Entwaffnung Deutschlands darf nicht länger dastehen als der einseitige Akt der den Siegern des Weltkrieges in die Hände gegebenen Gewalt. Es muß endlich zur Erfüllung des vertraglichen Versprechens kommen, daß der Entwaffnung Deutschlands die allgemeine Abrüstung nachfolgen solle.“[175]

An den Verhandlungen darüber, die seit der Völkerbundversammlung 1927 im Rahmen des Komitees für Schiedsgerichtbarkeit und Sicherheit stattgefunden hatten, habe Deutschland „mit größtem Interesse“ teilgenommen. Müller maß dem Völkerbund für das Erreichen dieses Ziels die alles entscheidende Rolle zu und mahnte an, dass „ein Versagen des Völkerbundes in der Abrüstungsfrage geradezu bedrohliche Folgen“ haben müsse.[176] Da die vorbereitende Abrüstungskommission seit drei Jahren ergebnislos tage, forderte Müller in seiner Genfer Rede die „Einberufung einer ersten Entwaffnungskonferenz“.[177] Unmittelbare Konsequenzen zeitigte seine Abrüstungsinitiative nicht. Dementsprechend stellte er in seiner 1930 gehaltenen Rede in Zürich fest, dass die „Verpflichtung zur Abrüstungsbestimmung der Friedensverträge [...] nicht minder heilig als die anderen Bestimmungen dieser Verträge“[178] sein dürfe.

Parallel zu diesen Forderungen nach einer allgemeinen Abrüstung setzte Müller im Inland auf einen Ausgleich mit der Reichswehr und unterstützte Maßnahmen, die die militärischen Kapazitäten des Deutschen Reichs erhöhten. So verabschiedete seine Regierung für 1929 einen zum Vorjahr deutlich größeren Wehrhaushalt und beschloss den Bau des Panzerkreuzers A.[179] Müllers Regierung genehmigte damit das bis dahin größte Rüstungsvorhaben der Reichswehr nach Kriegsende und wurde dafür unter anderem von sozialdemokratischen Parteikollegen, die den Bau zu verhindern versucht hatten, und von Sozialisten im Ausland heftig kritisiert.[180] Außerdem wurde unter der Regierung Müller die von der Reichswehr betriebene Geheimrüstung haushaltsrechtlich genehmigt und damit auf eine scheinbar legale Basis gestellt. Darüber hinaus stützte seine Regierung den Ausbau des Grenz- und Landesschutzes und bemühte sich damit um eine Verbesserung der deutschen Verteidigungsfähigkeit.[181] Trotz seiner Appelle zugunsten einer allgemeinen Abrüstung ist daher zu konstatieren, dass Müller in seiner zweiten Reichskanzlerschaft eine wehrfreundliche Politik betrieb.[182] Entsprechend äußerte sich der Reichswehrminister und Ex-General Wilhelm Groener in der letzten Ministerbesprechung dieses Kabinetts am 27. März 1930, „daß die gesamte Wehrmacht dem Reichskanzler wärmsten Dank für die vorbildliche Art und Weise ausspreche, mit der er die Interessen der Wehrmacht gefördert habe. Seine Tätigkeit zugunsten der Wehrmacht werde nie vergessen werden.“[183] Müllers Bestreben der Gleichbehandlung des Deutschen Reichs in Rüstungsangelegenheiten führte neben wiederholt vorgetragenen Abrüstungsforderungen also auch zu praktischen Aufrüstungsaktivitäten in seiner zweiten Reichskanzlerschaft.

Endgültige Klärung der Reparationsfrage: Ein weiteres Ziel seiner Kanzlerschaft war es, eine endgültige Regelung in der Reparationsfrage zu erzielen. Die Vereinbarungen – vom Dawes- bis hin zum Young-Plan – sah Müller als einen Erfolg der deutschen Außenpolitik an, auch wenn er das Erreichte nur sehr bedingt für sich beanspruchte. Vielmehr maß er dem Wirken Stresemanns entscheidende Bedeutung zu. Seinen größten Eigenanteil am Young-Plan sah er darin, zu einer Versachlichung der Verhandlung durch Einrichtung einer Kommission der Wirtschaftsexperten beigetragen zu haben.[184] Rückblickend schrieb er hierzu: „Ich einigte mich mit den Vertretern der beteiligten Mächte auf die Einberufung einer Konferenz wirtschaftlicher Sachverständiger, die an Stelle des provisorischen Dawesplans eine Endlösung für die Reparationsfrage finden sollten.“ Nicht zuletzt durch sein Wirken sei ein Lösungsweg eingeschlagen worden, der sich nicht nach politischen Stimmungen, sondern nach nüchternen Analysen richtete.[185] Damit verband Müller die leise Hoffnung, durch eine endgültige Klärung der Reparationsfrage eine neue Epoche der deutschen Außenpolitik einleiten zu können. An den belgischen Abgeordneten Emile Vandervelde schrieb er am 22. August 1928: „Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie ich mich persönlich freuen würde, wenn es gelänge, nach diesen Expertenverhandlungen im Laufe des Sommers auch alle politischen Streitpunkte zu beseitigen und den Krieg, wie Briand zu sagen pflegt, endgültig zu liquidieren.“[186]

Der unter Müllers Kanzlerschaft ausgehandelte Young-Plan trat erst zum 1. August 1930 und damit nach Ende seiner Amtszeit in Kraft. Müller wertete sein Zustandekommen als Erfolg, für den er dem namensgebenden Präsidenten der Sachverständigenkonferenz, Owen Young, telegrafisch den „wärmsten Dank der Reichsregierung“ übermittelte.[187] Zugleich hielt er sich nicht zurück, zu betonen, dass auch der „neue Plan für Deutschland eine schwere Last“ bedeute.[188]

Ausbau der zwischenstaatlichen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen: Bereits lange vor seiner Zeit als Reichskanzler hatte Hermann Müller dem Ausbau der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen eine besondere Bedeutung beigemessen. Auf dem SPD-Parteitag 1925 in Heidelberg äußerte Müller: „Wir haben immer gesagt: wirtschaftliche Beziehungen müssen gepflogen werden ganz unabhängig von der Staatsverfassung, in der sich ein Staat befindet.“[189] In puncto Handelsbeziehungen plädierte Müller damit für einen ausgeprägten Pragmatismus, der sich auch in seiner zweiten Reichskanzlerschaft zeigte. In seiner 1928 gehaltenen Regierungserklärung bezeichnete er den Abschluss neuer Handelsverträge als „das vornehmliche Mittel zur Beseitigung von Hindernissen im Austausch der einzelnen Volkswirtschaften“. Die Erweiterung der Handelsbeziehungen zu den östlich und südöstlich gelegenen Staaten sehe die Reichsregierung als „eine wesentliche Aufgabe“ an.[190] Zu den unter seiner Reichskanzlerschaft geführten Verhandlungen gehörten diejenigen zum deutsch-polnischen Liquidationsabkommen und zum Handelsvertrag mit dem östlichen Nachbarstaat,[191] für die Müller ein besonderes Interesse erkennen ließ: Einerseits hatte Müller die durch den Versailler Vertrag festgelegten Gebietsabtretungen nicht akzeptiert und – wie die meisten seiner Zeitgenossen – eine Revision der Grenzziehung angestrebt. Andererseits hielt er an einer „friedlichen Verständigung“[192] mit Polen fest und machte deutlich, dass man nicht „im Vorbeigehen das Korridorproblem lösen“[193] könne und stattdessen pragmatische Verbesserungen für die deutsche Minderheit über Verhandlungen zu einem Handelsabkommen finden müsse. Diesbezüglich stellte Müller gegenüber dem deutschen Gesandten in Polen, Ulrich Rauscher, fest, er nehme sich „persönlich der Sache an“,[194] und schrieb ihm zugleich, er wolle über die Verhandlungen „laufend unterrichtet sein“.[195] Gegenüber dem polnischen Außenminister August Zaleski äußerte Müller in einer Unterredung am 12. September 1928, dass er „bereits vor seiner Amtszeit als Kanzler stets für die Regelung der deutsch-polnischen Fragen eingetreten“ sei.[196] In einem Brief vom 21. November 1929 brachte Müller gegenüber Rauscher zum Ausdruck: „Es war vielleicht falsch, dass man gelegentlich von einer Generalbereinigung der deutsch-polnischen Beziehungen gesprochen und geschrieben hat und darin böswillige Nationalisten das Ostlocarno zu wittern versuchten.“[197] Trotz dieses Zweifels war der Abschluss des Liquidationsabkommens bereits Ende Oktober 1929 gelungen. Der Vertrag regelte den Verzicht auf gegenseitige finanzielle Ansprüche und trug zu einer zwischenzeitlichen Verbesserung der bilateralen Beziehungen bei. Der ebenfalls ausgearbeitete Handelsvertrag wurde zwar am 17. März 1930 unterzeichnet, gelangte aber nicht mehr zur Ratifikation.[198]

Der wirtschaftlichen Zusammenarbeit maß Müller auch nach Ende seiner zweiten Kanzlerschaft eine zentrale außenpolitische Bedeutung bei. So zeigte er sich in seiner 1930 in Zürich gehaltenen Rede überzeugt, dass eine staatenübergreifende Instanz zur Regelung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa „eines Tages“ eine „Lösung erheischen“[199] würde: „Auf industriellem Gebiete ist der Not gehorchend schon heute vielfach die Zusammenarbeit international geregelt. Kali, Rohstahl und Chemie haben ihre Abkommen über die Verteilung der Märkte. Hier fehlt aber die überstaatliche Aufsicht.“[200]

V. Fazit

Hermann Müller vertrat ab 1918 außenpolitische Grundpositionen, die er zwar jeweils den Handlungskontexten anpasste, die jedoch seine Außenministerzeit überdauerten und sich noch bis in die Jahre seiner zweiten Reichskanzlerschaft nachweisen lassen. Hierzu gehört sein Bestreben, außenpolitische Ziele des Deutschen Reichs – inklusive der Revision des Versailler Vertrags – ausschließlich auf friedlichem Wege zu erreichen. Dabei zeigte er sich überzeugt, dass neben einer bilateralen Außenpolitik auch eine multilaterale Politik zur Problemlösung notwendig sei. Zwar kritisierte er die Genese und den Aufbau des Völkerbunds scharf, da dieser im Rahmen der Pariser Friedensordnung von den Siegermächten gegründet worden sei. Trotzdem entwickelte Müller einen pragmatischen Umgang mit dem Völkerbund und hoffte darauf, dass der Versailler Vertrag und seine Folgen für das Deutsche Reich unter Einbeziehung des Völkerbunds revidiert würden. Außer auf den Völkerbund legte er ein besonderes Augenmerk auf die deutsch-französische Verständigung, auch wenn deren praktische Bedeutung bei ihm stark variierte und sich Sympathiebekundungen und ernüchternde Äußerungen zur französischen Deutschlandpolitik abwechselten. Ein grundsätzliches Ziel der deutschen Außenpolitik lag für Müller in der Verständigung mit den Entente-Mächten über eine allgemeine Abrüstung, die von allen ehemaligen Kriegsparteien durchgeführt werden sollte. Müllers Haltung zu einer Abrüstung blieb nicht frei von Ambivalenzen: Trotz wiederholter Aufrufe zur Demilitarisierung trat er für eine Ausweitung der deutschen Wehrfähigkeit ein, insbesondere als sich seine Hoffnungen auf eine staatenübergreifende Abrüstung nicht erfüllten.

Sein Handeln im und aus dem Auswärtigen Amt ist vor dem Hintergrund des Versailler Vertrags einzuordnen, den Müller am 28. Juni 1919 unterzeichnete und der dem deutschen Außenminister einen nur engen außenpolitischen Handlungsspielraum gewährte. Obwohl die Friedensbedingungen von Versailles die schlimmsten Befürchtungen überstiegen, plädierte Müller bereits als Außenminister dafür, dass Deutschland eine verlässliche Haltung gegenüber den Siegerstaaten des Ersten Weltkriegs einnehmen und das Unterschriebene ausführen müsse. Der Aufbau neuer Außenbeziehungen geschah in der neunmonatigen Amtszeit ebenfalls unter dem Eindruck der deutschen Kriegsniederlage und des Versailler Vertrags. Seine Zeit als Außenminister war von den Problemen der Gebietsabtretungen und Volksabstimmungen, der Entschädigungen und Besatzungen bestimmt. Zudem legte Müller ein besonderes Augenmerk auf die durch Edmund Schüler konzipierten inneren Reformen des Auswärtigen Amts, die bereits eingeleitet waren, von ihm aber fortgeführt und offensiv beworben wurden. Seine kurze Amtszeit und die mit Versailles verbundenen außenpolitischen Herausforderungen dürften maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Reformen in Müllers Amtszeit als Außenminister nur teilweise umgesetzt wurden. Die Öffnung des Auswärtigen Diensts für Seiteneinsteiger aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung, ja generell für mehr bürgerliche Bewerber begann vor der Amtszeit Müllers, wurde von ihm aber ebenfalls nachdrücklich unterstützt und auch von seinem Amtsnachfolger weiterverfolgt. Der Hauch der Veränderung, der durch das traditionell aristokratisch-elitär geprägte Ministerium wehte, ging insgesamt zwar nicht von Müller aus, die Reformen wurden von ihm aber stark befürwortet und fortgesetzt, auch wenn die Umsetzung der umfangreichen Reformziele unter seiner Leitung nur teilweise gelang.

Lars Lehmann, Jörn Retterath, Christoph Johannes Franzen, Magnus Brechtken, Johannes Hürter, Hermann Wentker und Andreas Wirsching

Published Online: 2021-01-01
Published in Print: 2020-12-25

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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