Abstract
Zeithistorische Studien zu Arbeitswelten in Deutschland erleben einen Neustart nach dem Auslaufen der klassischen gesellschaftshistorischen und arbeiterbewegungsgeschichtlichen Forschungen zum Industriezeitalter in Deutschland (1880–1970). Die neuen Forschungen sind geprägt von der Umbruchsituation der Gegenwart, sie sind geprägt von widerstreitenden Erkenntnisinteressen zwischen Global- und Nationalgeschichte, zwischen einer radikalen Ausweitung des Forschungsgegenstands auf jede Art von Tätigkeit und der Konzentration auf lohnabhängige Beschäftigungsformen. Der Aufsatz plädiert für das Innovationspotenzial einer neuen Arbeitsgeschichte als einer Problemgeschichte der Gegenwart auf den Gebieten der Geschlechtergeschichte, der Geschichte von Klassenlagen und Ungleichheit, nationaler Ordnungsmuster von Arbeit, der Mikropolitik in Betrieben sowie der Wissensordnungen und Berufswelten.
Abstract
Historical studies on working environments in Germany are experiencing a revival after the running out of the classical social historical and labour movement historical studies on the German industrial age (1880–1970). The new projects are shaped by the upheaval of the present: competing research interests between global and national history, between a radical expansion of the research topic to cover every sort of activity and a concentration on forms of gainful employment. The article makes the case for the innovative potential of a new history of labour as a conceptual history of the present in the fields of gender history, the history of class and inequality, national labour policies, the micro-politics in businesses as well as the knowledge systems of professional environments.
Vorspann
Während die Geschichte von Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland zumindest für die Jahre bis 1933 lange Zeit ein viel beachteter Forschungsgegenstand gewesen ist, tat sich die Zeitgeschichte insbesondere für die Jahre nach 1945 schwer damit, die Geschichte der Arbeitswelten in den Kanon ihrer Themen und Forschungsfelder aufzunehmen. Dies gilt vor allem für Prozesse transnationaler Transformation seit den 1970er Jahren, die für eine Geschichtswissenschaft nur schwer zu fassen waren, die wenn nicht noch nationalen, so doch (west-)europäischen Bezügen verhaftet war. Seit einiger Zeit beginnt sich die Szenerie freilich zu verändern, nicht zuletzt weil die Folgen der Globalisierung für die Arbeitswelten weit über Deutschland hinausreichen. Lutz Raphael umreißt nicht nur den Gang der Forschung, sondern betont auch das Potenzial einer Zeitgeschichte der Arbeitswelten, die globale Problemlagen ernst nimmt, ohne nationale Handlungsbezüge zu vernachlässigen.
I. Zeitgeschichte der Arbeit: aktuelle Kontexte
Die Geschichte der Arbeit ist nach langen Jahren nostalgischer Nischenexistenz zurückgekehrt auf die Bühne der Zeitgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland.[1] Drei akademische Ereignisse sind symptomatisch für die neue Dynamik, die dieses Forschungsfeld erfasst hat. Im Dezember 2019 fand die Abschlusstagung des Graduiertenkollegs „Wandel der Arbeitswelt“[2] im Institut für Zeitgeschichte in München statt. Im Februar 2020 wurde im Institut für soziale Bewegungen anlässlich der Gründung der German Labour History Association die Tagung „Zur Freiheit der Arbeit im Kapitalismus“ veranstaltet. Zeitgleich organisierten die Verantwortlichen des Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kollegs „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“, kurz re:work, an der Humboldt Universität zu Berlin (HU) internationale Konferenzen, um in drei Bänden die Ergebnisse der nunmehr zehnjährigen Forschungsarbeit zu bündeln. Alle drei Initiativen haben dazu beigetragen, der Geschichte der Arbeit ihren Platz in der kritischen Zeitgeschichtsforschung zurückzuerobern, und sie sind Teil vielfältiger Aufbrüche, die seit etwa zehn Jahren dieses Forschungsgebiet in Deutschland tiefgreifend verändern. Dies ist Anlass genug, um über den aktuellen Stand und künftige Aufgaben einer Zeitgeschichte der Arbeitswelten nachzudenken.[3]
Eine solche Standortbestimmung darf nicht die Prägungen ausblenden, die die Gegenwart in uns hinterlässt. Wir leben in einer Gesellschaft, die gerade dabei ist, ihre eigenen Arbeitswelten zu inspizieren und neu zu bewerten. In den 1980er und 1990er Jahren hatte das Gegensatzpaar Massenarbeitslosigkeit und neue digitale Arbeitswelten die öffentliche Phantasie und Wahrnehmung beflügelt. Auf der einen Seite entdeckte man mit ungläubigem, zuweilen bewunderndem Staunen die neuen Arbeitsplätze von Computer-Spezialistinnen und -Spezialisten, Entwicklerinnen und Entwicklern von Medien- und Kommunikationsdesign oder in Wirtschafts- beziehungsweise Unternehmensberatungen aller Art, auf der anderen Seite malten Reportagen das dunkle Bild abgehängter Langzeitarbeitsloser und arbeitsferner Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger. Die Schlagworte Prekarisierung und Flexibilisierung gehören zu den Erbschaften dieser Umbruchphase.[4] Sie haben nach dem Ende des Nachkriegsbooms und der Vollbeschäftigung für gut drei Jahrzehnte die Wahrnehmungsmuster von Arbeitswelten in unserer Gesellschaft strukturiert. Erst allmählich entdecken wir die Vielfalt heutiger Arbeitswelten: im Handel, in der Logistik, in der Pflege und medizinischen Versorgung, neuerdings auch in Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen und Hochschulen. Das steht sicherlich in enger Verbindung mit dem massiven Anstieg der Beschäftigungsquote in den letzten 15 Jahren. Heute sind in der Bundesrepublik sechs Millionen mehr Menschen beschäftigt als im Jahr 2000. Von 2002 bis 2018 stieg der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerungsgruppe der 20- bis 64-Jährigen von 68,7 auf 79,9 Prozent.[5] Der Hauptanteil an dieser Zunahme entfällt auf die Frauen: Ihre Erwerbsquote stieg von 61,8 auf 75,8 Prozent und lag damit nur noch acht statt 14 Prozentpunkte hinter der der Männer.[6] Statt des Verlusts von Arbeit erleben wir heute eine Entgrenzung von Arbeit: Die Übergänge zwischen Freizeit und Arbeit sind offener und unbestimmter, der konkrete Arbeitsort ist beweglicher und unbeständiger geworden. In unserem Sprechen erobert die Arbeitssemantik viele Bereiche, die sich früher ihrem Zugriff entzogen.[7] Gleichzeitig werden die Verbindungen zwischen Arbeitswelten und Lebensentwürfen stärker als in früheren Zeiten kritisch thematisiert. Individuelle Ansprüche an gute Arbeit sind größer geworden, andersherum sind die Anforderungen der Arbeitswelten an den Einzelnen im Durchschnitt gewachsen. Die Bedeutung von Arbeit für das psychische und physische Wohlergehen des Einzelnen, aber auch für seine moralische Wertschätzung und seine soziale Einbindung in die Gesellschaft hat eher zu- als abgenommen.
All diesen Phänomenen ist eigentümlich, dass ihnen eine klare Richtung fehlt. Dies sorgt für schwankende Bewertungen und ambivalente Folgen. Es entsteht bei Beobachterinnen und Beobachtern der zeithistorischen Szenerie der Eindruck, als seien sie Zeugen des Umbaus der Ordnungsmuster, mit denen unsere westlichen Gesellschaften den Abschied von der Maloche und der Selbstauslegung als Industriegesellschaften zu organisieren beziehungsweise zu bewältigen versuchen. Zu vermuten ist, dass die Aufbrüche und das neue Interesse an der Geschichte von Arbeitswelten mit aktuellen Umcodierungsarbeiten unseres Meinungswissens[8] und der sie tragenden politisch-sozialen Sprachen zu tun haben.
Der Bezugsort, auf den sich Beobachtungen, Kommentare und Bewertungen in öffentlichen Debatten in den meisten Fällen beziehen, ist die eigene Nation in ihrer ambivalenten Doppelbedeutung als demokratische Verfassungsordnung und als territorialer Gesellschaftscontainer. Die laufenden Grenzüberschreitungen in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft haben die Fixierung der Problemwahrnehmungen auf die nationalen Kontexte kaum tangiert. Dabei müssen Zeithistorikerinnen und -historiker aber der Tatsache Rechnung tragen, dass Prozesse wie die Entstehung eines europäischen Binnenmarkts mit all den dazu gehörenden rechtlichen Regulierungen und das Zusammenwachsen globaler Märkte große Bedeutung für die konkrete Gestaltung hiesiger Arbeitswelten gewonnen haben – sie können es sich nicht leisten, nur auf die nationalen Zusammenhänge zu achten. Dabei haben wir zugleich auch die Phase bloß europäischer Horizonterweiterungen hinter uns gelassen. Der sogenannte methodische Nationalismus gilt heute wie sein jüngerer Zwilling, der Eurozentrismus, als akademische Todsünde und wird entsprechend stigmatisiert. Weltweite Transfers, grenzüberschreitende Verflechtungen oder Netzwerke und transnationale Phänomene gehören heute zu den nobelsten Gegenständen, denen wir Historikerinnen und Historiker uns zuwenden können. Der „Tanz der Ströme und Fragmente“, wie dies Frederick Cooper spöttisch genannt hat,[9] erreichte als Modeströmung die deutsche Geschichtswissenschaft relativ spät, aber hat wie der Tango viele hiesige apasionados gefunden. Mit ihnen muss auch eine neue Arbeitsgeschichte rechnen.[10]
II. Widerstreitende Erkenntnisinteressen einer neuen Arbeitsgeschichte
Wie lassen sich diese aktuellen Entwicklungen in intellektuelle Anregungen verwandeln? Aus einer diffusen Neugierde für neue Arbeitswelten und globale Zusammenhänge muss sich ein historisches Problembewusstsein formen, ohne das eine neue Arbeitsgeschichte nicht auskommen wird. Denn auch für sie gilt, was Lucien Febvre allen Historikerinnen und Historikern 1941 ins Stammbuch geschrieben hat: „Poser un problème, c’est précisément le commencement et la fin de toute l’histoire.“[11] Knapp zusammengefasst: keine Geschichtsforschung ohne Problemstellung. Aber diese Problemhorizonte sind keineswegs eindeutig definiert. Alles deutet darauf hin, dass die neue Arbeitsgeschichte von gegenläufigen Erkenntnisinteressen bewegt wird. Daraus entstehen Zielspannungen für die Zielsetzung und Problemwahrnehmung, denen man grosso modo zwei Achsen zuordnen kann: Die erste wird durch das Gegensatzpaar National- und Globalgeschichte bestimmt, die zweite durch das Gegensatzpaar Lohnarbeit und informelle beziehungsweise selbstständige Tätigkeit. Je nach Ausrichtung ergeben sich erhebliche Unterschiede, wenn es um Themenwahl, Theoriebezüge und Methoden einer neuen Arbeitsgeschichte geht.
Beginnen wir mit der Zielspannung nationale versus globale Bezüge. Die neue Geschichte der Arbeitswelten hat auch hierzulande enorm vom Aufschwung der Global Labour History profitiert.[12] Damit ist seit langer Zeit wieder ein internationaler Bezugsrahmen und in Ansätzen auch Diskussionszusammenhang entstanden, in den konkrete Studien zu Arbeitswelten eingebettet werden können. Den teilnehmenden Beobachterinnen und Beobachtern fallen dabei drei Phänomene auf: Erstens erweitert die weltumspannende Perspektive die Vielfalt der Arbeitsverhältnisse und Arbeitswelten, mit denen eine neue Global Labour History methodisch und theoretisch zurande kommen muss. Dies ist jedenfalls der Minimalkonsens, auf den man sich für dieses Teilfeld historischer Arbeitsstudien rasch einigen konnte. Über die sich daraus ergebenden forschungspraktischen und theoretischen Konsequenzen besteht hingegen Dissens. Zweitens rücken in der Global Labour History, sofern sie sich der Zeitgeschichte zuwendet, industrielle Arbeitswelten im globalen Süden mehr und mehr in den Vordergrund. Dort geht es nicht um den Abschied von der Maloche, sondern meist erst um deren Einführung oder Ausweitung. Drittens erleben wir in der Global Labour History die Metamorphose des intellektuellen Engagements, ohne das Arbeitsgeschichte oder Arbeiter(bewegungs)geschichte nicht zustande gekommen wäre und auch heute nicht existieren würde. Nun sind es die Befreiungsversuche des globalen Südens, neue soziale Bewegungen, aber auch international agierende Nichtregierungsorganisationen oder Gewerkschaftssekretariate, die die lebensweltlichen Bezugspunkte von Forscherinnen und Forschern darstellen, die sich für die Geschichte der alten und neuen Arbeitswelten interessieren.[13] Den Historikerinnen und Historikern der westlichen Metropolen kommt dabei bis heute eine ambivalente Rolle zu: Sie sind so etwas wie die globalhistorischen Veredler am Ende einer langen, transnationalen Kette von Emanzipationsnarrativen von Arbeiterinnen und Arbeitern. Dass dies vor allem internationalistisch geschulte Linke sehr gut können, versteht sich von selbst.
Die meisten laufenden Forschungsvorhaben zur Zeitgeschichte der Arbeit hierzulande widmen sich aber weiterhin Arbeitswelten in Deutschland, viele von ihnen sind als Beiträge zu einer deutschen Gesellschaftsgeschichte im langen 20. Jahrhundert zu lesen und liefern wichtige Bausteine für die Geschichte der Bundesrepublik beziehungweise der DDR. Welchen Nutzen können sie aus der globalgeschichtlichen Wende ziehen? Lässt sich also aus dem ganz anderen Problemhaushalt und Lektürekanon der Global Labour History Profit für solche nationalhistorischen Bezüge ziehen? Die Globalgeschichte der Arbeit hat die Erforschung von informeller Arbeit, Hausarbeit sowie von freien und unfreien Formen der Arbeit ganz oben auf ihre Agenda gesetzt.[14] Informelle, aus deutscher beziehungsweise westeuropäischer Sicht rechtlich schwach oder gar nicht geregelte Arbeitsverhältnisse geraten in den Blick – und laden zur Neubewertung aktueller Veränderungen in hiesigen Arbeitswelten ein.[15]
Auch die Lektüre anderer Klassiker ist jetzt möglich: Frederick Coopers Studie zu Arbeitskämpfen in der Spätphase französischer Kolonialherrschaft in Westafrika wäre hier zu empfehlen.[16] Die Lektüre von Aufsätzen Marcel van der Lindens tritt eventuell an die Stelle kanonischer Weber-Texte.[17] Die kulturwissenschaftlich angereicherten postkolonialen Deutungshorizonte erweitern und verändern den theoretischen Horizont: John Stuart Halls Untersuchungen zu den Verknüpfungen und Überlagerungen der Grenzziehungen von Gender, Class, Race und Ethnicity sind ebenso zu nennen wie die frühen Subaltern Studies zu Arbeitskämpfen und -konflikten.[18] Die indischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Arbeitswelten rücken nun – zumindest konzeptionell und normativ – viel näher an die deutschen Arbeitswelten. In der Bundesrepublik hat das Internationale Forschungskolleg an der HU Berlin eine wichtige Rolle bei der Akklimatisierung solcher Perspektiven gespielt.[19] In diesem neuartigen Spannungsfeld rangiert nun auch die German Labour History Association.
Bei genauerem Hinsehen geht es natürlich nicht um den Konflikt zwischen neuen und alten Ansätzen. Die Provinzialisierung Europas, um die heute griffige, aber missverständliche Formel aufzunehmen, öffnet den Horizont unserer Studien und regionalisiert die Geltungsansprüche überkommener Kategorien und Erklärungsmodelle. Angeprangert werden immer wieder die Engführung der Arbeitsgeschichte auf die Arbeitswelten männlicher Vollerwerbstätigkeit in Industrie oder Verwaltung, die unsachgemäße Verallgemeinerung der Spezifika von Proletarisierung beziehungsweise Klassenbildung nach britischem oder kontinentaleuropäischem Muster sowie schließlich die Isolierung von kritischen Perspektiven der Gender- und Kolonialismusgeschichte.[20]
Die Anerkennung der Vielfalt von Arbeitsformen und Arbeitsverhältnissen hat die Aufmerksamkeit für die sozial-kulturelle Einbettung aller Arbeitswelten noch einmal gesteigert. Gleichzeitig hat die globalgeschichtliche Perspektive uns sensibilisiert für die Fernwirkungen, die von internationalen wirtschaftlichen und politischen Interdependenzen auf Arbeitswelten ausgehen.[21] Nur wenn die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge internationaler Kapitalanlage und -verwertung sowie asymmetrischer Arbeitsteilungen in globalen Wertschöpfungsketten mitgedacht werden, können national- oder regionalzentrierte Forschungs- und Erklärungsperspektiven für die Zeitgeschichte von Arbeitsverhältnissen zu intellektuell befriedigenderen Ergebnissen führen.[22]Global Labour History kann als intellektueller Impfstoff gegen die Gefahr wirken, arbeitsgeschichtlich in national bornierte Narrative zurückzufallen. Dieses Risiko ist nicht von der Hand zu weisen, zumal der neue Internationalismus der Global Labour History keineswegs auf theoretisch und methodisch sicheren Füßen steht.
Es ist kein Zufall, dass die wichtigsten Impulse für eine solche Fundierung aus der Geschichte des Kapitalismus stammen und nicht erst aus Anlass des 200. Geburtstags von Karl Marx marxistische Denkfiguren mobilisiert werden, um die Globalgeschichte der Arbeitswelten aus den Sackgassen herauszubringen, in die gängige Globalisierungsdiskurse und postkoloniale Posen sie hineinmanövrieren.[23] In jüngster Zeit hat sich auch die Forschung im Bereich der Arbeitswelten in diese theoretischen und methodischen Debatten eingemischt – zu nennen sind an dieser Stelle die Beiträge von Werner Plumpe, Friedrich Lenger, Jürgen Kocka oder Thomas Welskopp.[24] Für die internationale Debatte sind schließlich auch die Anregungen besonders wichtig, die die begriffsgeschichtliche Tradition einer transnationalen Geschichte der Arbeit zu geben vermag. Zu nennen ist der Aufsatzband des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, der von Willibald Steinmetz und Jörn Leonhard herausgegeben worden ist und sich mit den Semantiken von Arbeit in den unterschiedlichen sprachlich-kulturellen und sozio-ökonomischen Zusammenhängen auseinandersetzt.[25] An beiden Polen – Global- wie Nationalgeschichte – sind die gerade in der deutschsprachigen Forschung frühzeitig etablierten Brückenschläge zwischen historischer Semantik und der Sozialgeschichte von Arbeitswelten von größter Bedeutung. Angesichts ihrer inhärenten Zielspannung macht es keinen Sinn, national- gegen globalgeschichtliche Perspektiven auszuspielen, wie dies gern getan wird, wenn es um Machtpositionen und symbolische Geländegewinne in unserem Fach geht. Meines Erachtens handelt es sich um eine notwendige Zielspannung, die dem Gegenstand Arbeitswelten heute eingeschrieben ist.[26]
Eine zweite Zielspannung scheint mir von mindestens ebenso großer Bedeutung zu sein. Angesichts der Pluralisierung heutiger Arbeitswelten und einer Diffusion der Arbeitssemantiken rücken mögliche thematische Grenzen einer Arbeitsgeschichte in immer weitere Fernen. Jede menschliche Tätigkeit gerät ins Visier einer historischen Anthropologie von Arbeit; die Freude an der Entdeckung atypischer Beschäftigungsweisen wird noch gesteigert durch die Prämierung singulärer Originalitätsprodukte im Wettkampf um Ressourcen und Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Wissenschaftssystem. Auf der einen Seite entstanden deshalb enzyklopädische Visionen einer Globalgeschichte moderner Arbeitswelten,[27] während die Erforschung von lohnabhängiger Beschäftigung zumal in ihrer industriellen Variante kapitalistischer oder sozialistischer Prägung den traditionellen Gegenpol darstellt. Von ihm auszugehen, verspricht sichere Geländegewinne. Denn dort ist auch nach wie vor die größte empirische Forschungsdichte und Expertise vorhanden; viele theoretische und methodische Einsichten resultieren gerade aus der Verdichtung dieser empirischen Forschungsarbeit.
Auch hier besteht eine strategische Zielspannung zwischen der Weiterführung etablierter Forschungsfragen und der Exploration neuer Themenfelder. Es spricht nichts dagegen, unser historisches Wissen über die Tätigkeit von Maklern, Handlungsreisenden oder Musikern zu erweitern und klassischen Studien zu den Arbeitswelten von Metallarbeitern auch solche über Näherinnen, Erzieherinnen und Politikerinnen zur Seite zu stellen. Damit vollzieht die Arbeitsgeschichte nur nach, was im Bereich der Arbeitssoziologie und -ethnologie längst passiert ist.[28] Aber eine solche Erweiterungsstrategie bedarf der theoretisch-methodischen Reflexion. Auf jeden Fall ist es ratsam, den Fehler der Soziologie zu vermeiden und die Beschäftigung mit Arbeitswelten zu einer fest ummauerten Spezialistendomäne mit Teilfachansprüchen zu entwickeln.
Untersuchungen vergangener Arbeitswelten finden Anknüpfungspunkte in ganz unterschiedlichen Themenfeldern, Sachzusammenhängen und Teildisziplinen. Die Kategorie Arbeit selbst ist ahistorisch-abstrakt und deshalb denkbar ungeeignet für neue disziplinäre Grenzziehungen innerhalb der Geschichtswissenschaft. So kommen wir auch nicht an den Einsichten der historischen Semantik vorbei, dass die Exploration der Deutungshorizonte, in die konkrete Arbeitstätigkeiten und entsprechende Arbeitswelten auf lokaler, regionaler beziehungsweise nationaler Ebene eingeordnet werden, den Ausgangspunkt für die thematischen Erweiterungen der Arbeitsgeschichte bilden muss.[29] Eine historische Phänomenologie auch nur produktiver Tätigkeiten erweitert zwar den Wissensstand einer künftigen Globalgeschichte – verstanden als Fortsetzung weltgeschichtlicher Syntheseanstrengungen – hat aber nur wenig intellektuelle Ausstrahlungskraft für die Erneuerung historischer Forschungen hiesiger Arbeitswelten in der jüngeren Vergangenheit und in ihren grenzüberschreitenden Vernetzungen und Strukturzusammenhängen.[30]
III. Zeitgeschichte und Arbeitsgeschichte: organisierte Nähe und erprobte Distanz
Die meisten laufenden Projekte zur Zeitgeschichte der Arbeit widmen sich Arbeitswelten in Deutschland. Die Bezugspunkte zu den großen Themen der Zeitgeschichte sind offensichtlich. Dabei sind freilich die institutionellen und intellektuellen Traditionen zu bedenken, in denen die Geschichte der Arbeit und der Arbeitenden in Deutschland sich entwickelt hat. Als nachrangiger Bestandteil einer primär politisch und politikgeschichtlich definierten Arbeiter(bewegungs)geschichte hat die Geschichte von Arbeitswelten längere Zeit eine Rand- und Schattenexistenz geführt.
Dieses Arbeitsgebiet gehörte wiederum zu dem institutionell streng (partei)politisch eingehegten Bereich der Zeitgeschichte, der nach 1945 in die ideologische Konfrontation des Kalten Kriegs und die Konkurrenz der beiden deutschen Staaten hineingeriet. Vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten kämpften erbittert um die Deutungshoheit in diesem Feld. Aus dieser Engführung ist die Arbeiterbewegungsgeschichte erst herausgetreten, als die neue Sozialgeschichte der industriellen Welt die Geschichte der Arbeit zu einer ihrer Hauptarbeitsfelder erklärte. Mit dem Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte und Werner Conzes Leitidee, dass die industrielle Welt eine methodische und theoretische Herausforderung der besonderen Art für die Geschichtswissenschaft darstelle, sowie der daran anknüpfenden Gesellschaftsgeschichte Bielefelder Prägung sind zwei wichtige methodische, theoretische und interpretatorische Rahmungen genannt, ohne die wir die Aufbrüche von heute nicht verstehen.[31] In beiden Fällen verband sich ein politisches Projekt mit einer historischen Problemstellung: Es ging um die Integration der industriellen Arbeitswelten in die politische Ordnung der Nation, es ging um Modernisierungschancen und -risiken, die mit dem Basisprozess der Industrialisierung in Deutschland verbunden waren.[32] Der Deindustrialisierungsschub zwischen 1980 und 2000 hat diese klassischen Problemstellungen in den Hintergrund gedrängt. Der Prestigeverlust der Sozialgeschichte innerhalb der Geschichtswissenschaft, aber auch das Ende des Kommunismus und die anhaltende Krise der Sozialdemokratie haben, zusammen mit der Deindustrialisierung, diese Sonderkonjunktur beendet.
Man sollte aber nicht vergessen, dass die Gesellschaftsgeschichte die Zeithorizonte der Zeitgeschichte verschoben hat: Sie arbeitete übergreifende soziale und politische Problemlagen der Zeitspanne zwischen 1880 und 1970/80 heraus und konturierte so eine industriegesellschaftliche Epoche der jüngeren deutschen Nationalgeschichte. Demgegenüber beharrte eine primär auf die politischen und kulturellen Aspekte fokussierte Zeitgeschichte weiterhin auf dem Gewicht der Zäsuren von 1914, 1933, 1945 und dann 1990. In beiden Interpretationsrahmen blieben Themen, denen in der neuen Arbeitsgeschichte große Aufmerksamkeit geschenkt wird, eher randständig.
Sucht man nach Gründen, warum Arbeitsgeschichte und Zeitgeschichte eher in freundlicher Distanz zueinander stehen, sollte man auch nicht den Einfluss unterschätzen, den die zeitgenössischen Gesellschaftsbilder auf die Zeithistoriker und ihre Sicht der Arbeitswelten ausüben. Seit den 1980er Jahren sorgten diese zeitgenössischen Gesellschaftsbilder und die Expertisen der Sozialwissenschaften dafür, dass andere Aspekte der sozialen Wirklichkeit die Aufmerksamkeit der Zeithistorikerinnen und -historiker auf sich zogen: Migration, Bildung und Konsum, kulturelle Identitäten und Individualisierung waren Themen, deren Behandlung nur wenig Berührungspunkte zur Geschichte von Arbeit und Arbeitswelten aufwiesen. Bei der Verschiebung der Aufmerksamkeit folgte die Zeitgeschichte den soziologischen Trenddeutern der Zeit: „Krise der Arbeitsgesellschaft“, „Erlebnisgesellschaft“, jüngst die „Gesellschaft der Singularitäten“.[33] Im Ergebnis wurde die Relevanz der Arbeitswelten für den gedachten sozialen Raum, in den die Wohnbevölkerung des deutschen Staats nach 1990 hineinprojiziert wird, immer geringer gewertet. Im Ergebnis spielte Arbeit bestenfalls als Erwerbsquelle von Haushalten eine Rolle, denn deren Einkommenshöhe war und ist für milieuprägende Lebensstile von nicht zu leugnender Bedeutung. Medial vermittelte Konsumwelten und generationsspezifisch beziehungsweise bildungsspezifisch geprägte Wertorientierungen wurden als viel wichtiger eingeschätzt. Man darf vermuten, dass diese Deutungen nur Symptome der eingangs geschilderten Umbruchsituation unserer Arbeitswelten sind.
Dieses Wechselspiel von Distanz und Nähe gilt es zu bedenken, wenn man den Stellenwert einer neuen Arbeitsgeschichte für zeithistorische Fragestellungen zu bestimmen sucht. Eine Rückkehr zu einer bloßen Nischenexistenz ist zwar unter den aktuellen Regeln der historiografischen Produktion möglich, aber wünschenswert wäre dies nicht. Man sollte sich vielmehr darum bemühen, die naheliegenden Verbindungen zur Unternehmensgeschichte, zur Gesellschaftsgeschichte, zur Wissensgeschichte, zur Technikgeschichte und – last but not least – zur Demokratiegeschichte zu aktivieren, um die spezifischen Perspektiven zur Geltung zu bringen, die mit dem Interesse an Arbeitswelten verbunden sind. Dies soll im Folgenden anhand der Zeitgeschichte westdeutscher Arbeitswelten im 20. Jahrhundert, und insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten „nach dem Boom“[34] erläutert werden.
IV. Arbeitsgeschichte als Geschlechtergeschichte
Eine erste Verbindung drängt sich gerade angesichts der aktuellen Dynamiken sofort auf: Die Geschichte moderner Erwerbsarbeit ist nur als Gender- oder Geschlechtergeschichte zu schreiben. Damit wäre eine grundlegende Dimension der Problemgeschichte moderner Arbeitswelten genannt. Sie sind Untersuchungsräume par excellence für die Erscheinungsformen und Auswirkungen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilungen und Hierarchien. Die genderhistorische Perspektive macht deutlich, dass Arbeitswelten wichtige Kampfzonen sozialer Anerkennung und Einkommensverteilung waren und bis heute geblieben sind. Der Kampf um Gleichstellung, gegen Lohndiskriminierung und faktische oder rechtliche Zugangsschranken zu Berufen beziehungsweise Arbeitsfeldern gehört in dieses Kapitel; der Wandel der geschlechtsspezifischen Besetzung von Arbeitsfeldern und Berufen öffnet ein weiteres großes Themenfeld. Für die Bundesrepublik und ihre Arbeitsverfassung ist die Geschichte weiblicher Teilzeitarbeit ein besonders aufschlussreiches und für die letzten vier Jahrzehnte noch zu entdeckendes Spezialgebiet.[35] Die geschlechterspezifische Verteilung von Sozialrechten beziehungsweise Anwartschaften gehört ebenfalls in diesen weiten Bereich.[36]
Die Perspektiven der Gendergeschichte auf die Geschichte der Arbeit ergeben sich nicht zuletzt aus den Dynamiken der gegenwärtigen Arbeits- und Geschlechterverhältnisse. Mit Ilse Lenz lässt sich die gegenwärtige Situation am treffendsten als „flexibilisierte Geschlechterordnung“ fassen. Damit ist gemeint, dass sich zum einen die Geschlechterkultur im Umbruch befindet: „Tendenziell wird Geschlecht [...] als Frage variierender persönlicher Lebensentwürfe aufgefasst, die sich allerdings weiterhin an der Geschlechterdifferenz orientieren. Weiblichkeiten oder Männlichkeiten erscheinen als persönlich formbar und gestaltbar“. Dabei hat sich Geschlechtergleichheit erfolgreich
„als rechtliche Norm etabliert. Gleichstellungsinstitutionen sind in Regierung, Verbänden und Unternehmen verbreitet. Im globalisierten Kapitalismus und Postfordismus wurden Arbeitsmarkt und Familien tiefgehend flexibilisiert und pluralisiert. Die Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt, auch in qualifizierten Berufen, ist rasch angestiegen. Zugleich wurde vor allem die Frauenbeschäftigung zunehmend flexibilisiert und teils prekarisiert.“[37]
Dies alles hat dazu geführt, dass die eigene Erwerbstätigkeit für die Mehrheit beider Geschlechter in der Bundesrepublik zur dominanten Lebenserfahrung geworden ist. Dabei ist der Unterschied immer noch erheblich, denn im Zeitfenster von 18 bis 60 Jahren machen, folgt man den Daten des Sozio-oekonomischen Panels, Erwerbsepisoden bei Frauen 56 Prozent aus, bei den Männern sind es 76 Prozent.[38] Darin schlägt sich vor allem die unterschiedliche Verteilung zwischen Voll‐ und Teilzeittätigkeiten beziehungsweise unregelmäßigen Tätigkeiten nieder: Bei den Frauen sind 44 Prozent der Erwerbsarbeitszeiten den Teilzeit‐ und den unregelmäßigen Tätigkeiten zuzurechnen; bei den Männern machen diese nur sechs Prozent aus. Die Kontinuität dieser markanten Unterschiede und die Dynamiken der Flexibilisierung geschlechtsspezifischer Arbeits- und Aufgabenteilungen stecken die zwei Pole ab, zwischen denen sich eine Zeitgeschichte von Arbeitswelten als Gendergeschichte bewegt.
Zum einen stößt man also auf die Beharrungskraft etablierter Geschlechterordnungen, eine Struktur langer Dauer, die bis in die jüngste Vergangenheit in den Arbeitswelten tiefgreifende Spuren hinterlassen hat. Zum anderen ist daran zu erinnern, dass der wachsende Wohlstand nach 1945 in der (west-)deutschen Gesellschaft die ökonomischen Schranken beseitigt hat, die bis dahin dem bürgerlichen Modell des männlichen Alleinverdieners und damit verbunden einem männlich grundierten Modell von Beruflichkeit und Karriere im Weg standen. Die Übernahme dieses Haushalts- und Familienmodells durch Facharbeiter- und Angestelltenhaushalte in der Zeit des Booms hat bis in die Gegenwart die Geschlechterdifferenzen bei Beschäftigungsstrukturen, nachfolgend aber auch bei Altersrenten und sozialpolitischen Versorgungslagen geprägt. Den männlichen Berufslaufbahnen standen und stehen bis heute weibliche Haushaltslaufbahnen gegenüber. Damit ist gemeint, dass die Berufsverläufe vieler Frauen primär den Zwangslagen und Chancen von Partnerwahl, Heirat und Kindererziehung folgten und Aufstiegschancen und berufliche Karrieren eine viel geringere Rolle als bei ihren Ehemännern spielten. Dies galt bis in die jüngste Vergangenheit quer durch die allermeisten Berufswelten.
Dabei ist daran zu erinnern, dass das bürgerliche Modell des männlichen Alleinernährers in der DDR nicht unbekannt, aber gesellschaftspolitisch verpönt war, so dass dort Frauen in ihrer Mehrzahl kontinuierlich berufstätig waren, ohne dass diese elementare Gleichheit in der Lohnarbeit zu einer Gleichheit der Geschlechter in den beruflichen Hierarchien und in der familiären Haushalts-, Erziehungs- und Betreuungsarbeit geführt hätte.[39] Trotz größerer Durchlässigkeit blieben auch in der DDR die Sektoren männlich beziehungsweise weiblich codierter Berufsfelder klar von einander getrennt.
In den bundesrepublikanischen Arbeitswelten nach 1990 sind die unterschiedlichen Modelle der beiden deutschen Geschlechterordnungen zusammengekommen und haben zu einem Nebeneinander ganz unterschiedlicher Tendenzen geführt. Zum einen hat die Wiedervereinigung in Verbindung mit den Prozessen der Deindustrialisierung dazu beigetragen, dass Berufstätigkeit über Einkommens- und Statusgrenzen hinweg für die meisten Frauen zur Gestaltungsnorm der eigenen Lebensführung, aber auch zum biografischen Alltagszwang aufrückte. Damit gewannen in vielen Berufen vor allem des Dienstleistungssektors, von Erziehung und Bildung bis zur medizinischen Versorgung und Pflege, Geschlechtergleichheit und -neutralität der Arbeitswelten immer größere Bedeutung. Faktisch verschoben sich damit die Genderprägungen von Rollenbildern und Karrierewegen in einem wachsenden Teil der Arbeitswelten. Vorreiter dieser Prozesse waren in der historischen Rückschau die Berufsfelder exekutiver Sekretariats- und Verwaltungsarbeit, von Sozialarbeit und Schule. Hier reichen die Anfänge bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück.[40] Ihnen sind in jüngster Zeit seit der Expansion des Bildungssystems und der sich langsam durchsetzenden Geschlechtergleichheit bei Bildungsabschlüssen schließlich auch die Bereiche der akademischen Professionen gefolgt. Der Wandel geschlechtsspezifischer Bewertungen und Prägungen von Berufen und Arbeitswelten gehört zu den Themen, die in besonderem Maße anschlussfähig sind an Problemstellungen gegenwärtiger Umbrüche.
Dabei markieren aber weiterhin zwei Tatbestände die Kraft traditioneller Ungleichheit in den geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen der deutschen Gesellschaft: Einerseits blieben die höheren Positionen in der Wirtschaft eine reine Männerdomäne, andererseits reproduzierte sich die geschlechtsspezifische Ungleichheit persönlicher Neigung und sachlichen Interesses für technisch-naturwissenschaftlich geprägte Berufe und Arbeitswelten weitgehend unbeeinflusst von den massiven Veränderungen in der industriell-technischen Produktion und entgegen dem Trend hin zur Chancengleichheit für Mädchen und Jungen in den schulischen Bildungssystemen. Beide geschlechtsspezifischen Grenzziehungen haben den Relevanzverlust und die Schrumpfung dezidiert männlich inszenierter industrieller Arbeitskulturen überlebt. Der Eintritt ins digitale Zeitalter hat tradierte geschlechtsspezifische Kodierungen von Arbeitswelten damit eher bestätigt als konterkariert.
V. Arbeitswelten, Klassenlagen und Ungleichheit
Die vielfältigen Verbindungen zwischen der Geschichte der Geschlechterordnungen und der Geschichte der Arbeitswelten haben bereits deutlich gemacht, dass in der hier vorgetragenen Perspektive Arbeitsgeschichte eine ganz wesentliche Dimension von dem ist, was landläufig als Gesellschaftsgeschichte gilt.[41] Dies gilt auch für die zweite Verknüpfung, die sich für eine Arbeitsgeschichte in nationalhistorischem Rahmen empfiehlt. Die Gestaltung der Arbeitswelten spielt nach wie vor eine entscheidende Rolle nicht nur bei den gesellschaftlichen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen den verschiedenen sozio-ökonomischen Berufsgruppen.
Die älteren sozialgeschichtlichen Traditionen sahen Arbeitsgeschichte als eine Art Hilfsdisziplin, um die erfahrungsgeschichtliche Verdichtung von Klassenlagen oder Schichtungsverhältnissen zu plausibilisieren. Darin waren sich konservative wie marxistische Interpreten weitgehend einig. Auf solcher Grundlage ließen sich sozialmoralische Milieus oder andere stabile kollektive Zusammengehörigkeiten konstruieren. Man denke nur an die große gesellschaftshistorische Erklärungskraft der drei sozial- und arbeitsrechtlichen Kategorien Arbeiter – Angestellte – Beamte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Nun hat die politische Geschichte Deutschlands im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts solche aus dem 19. Jahrhundert tradierten Gleichsetzungen von sozialrechtlichen mit politisch-kulturellen Lagerungen tiefgreifend gestört. Die Kategorien zur Beschreibung sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Differenz sind davon maßgeblich beeinflusst worden. Seit den 1930er Jahren wurden die Trennlinien zwischen sozio-ökonomischen Berufsgruppen oder gar übergreifende Klassendiskurse immer mehr in den Hintergrund gedrängt, wenn es um die Selbstbeschreibung der eigenen Gesellschaft ging. Die NS-Diktatur hat alle Mittel der politischen Ikonografie und Sprache mobilisiert, um die alten Trennlinien der Weimarer Klassengesellschaft zu überdecken, ohne deren wirtschaftlichen und sozialen Fundamente zu erschüttern. Die politische Inszenierung der „Volksgemeinschaft“ verband die Festigung und Vertiefung sozio-ökonomischer Ungleichheit mit einer wirkungsvollen Rhetorik nationaler Arbeit und klassenübergreifender Gemeinsamkeit. Die deutsche Gesellschaft verstand sich während des Zweiten Weltkriegs viel stärker als zwischen 1914 und 1918 als zunächst triumphierende, dann existentiell bedrohte (Zwangs-)Gemeinschaft. Die wachsende Präsenz von „Fremdarbeitern“ und deren rassisch abgestufte Zwangsarbeit spielte dabei eine wichtige Rolle.
Die Gesellschaftsbilder der Bundesrepublik Deutschland knüpften nahtlos an diese ambivalenten Erfahrungen der 1930er und 1940er Jahre an und drängten sozio-ökonomische Unterschiede, gar Klassenlagen weiter in den Hintergrund. Überdies neutralisierten politische und soziale Sprachregelungen sowie die amtlichen Kategorien in Westdeutschland Klassenunterschiede oder gar Klassenkonflikte, so gut es ging.[42] Nicht als realitätstaugliche Sozialstrukturanalyse, sondern als breitenwirksame Gesellschaftsimagination fungierte dann Helmut Schelskys „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ für die in ihren ökonomischen Unterschieden und Hierarchien zusammengerückte westdeutsche Arbeits- und Leistungsgesellschaft der Wiederaufbaujahre.[43] Typischerweise vernachlässigt die amtliche Statistik der Bundesrepublik Deutschland bis heute die soziale Dimension der Arbeits- und Berufswelten sträflich, und die sozialwissenschaftlichen oder sozialpolitischen Deutungsmuster vermittelten Gesellschaftsbilder, die den Ungleichheitseffekten, die aus den Arbeitswelten resultierten, nur geringe Aufmerksamkeit schenkten.[44]
Im „Arbeiter- und Bauernstaat“ der DDR wiederum waren sich diese beiden Klassen der besonderen ideologischen Wertschätzung sicher. Davon konnten vor allem die Mitglieder der industriellen Arbeiterschaft profitieren, wurde ihre Klasse doch zum politischen und kulturellen Bezugspunkt einer egalisierten Arbeitsgesellschaft. Dennoch bemühte sich auch die DDR-Führung darum, ein Gesellschaftsbild zu vermitteln, das soziale Unterschiede, die aus Hierarchien der gesellschaftlichen Arbeitsteilung resultieren, ebenso verwischte wie diejenigen, die sich aus der Teilhabe an den politischen Herrschaftsstrukturen ergaben. Daher war der amtliche Umfang der „Arbeiterklasse“ weit größer gefasst, als es den damit verbundenen Arbeitswelten und Positionen entsprach. Angesichts der ideologischen „Hofierung“[45] und des positiven Bilds dieser Klasse erklärten sich wiederum viele DDR-Bürger gern der „Arbeiterklasse“ zugehörig.[46] Auch im zweiten deutschen Teilstaat überformte eine übergreifende Gesellschaftsimagination die Wahrnehmung realer Differenzen in Berufs- und Arbeitshierarchien und sorgte in diesem Fall für eine „arbeiterliche Kultur“, die in der allgegenwärtigen Floskel der „Werktätigen“ ihren schlichtesten Ausdruck fand.[47]
In der jüngsten Vergangenheit hat die Relevanz von Arbeitswelten mit der Ausweitung lohnabhängiger Beschäftigung auf immer größere Teile der Bevölkerung eher zu- als abgenommen. Mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel seit den 1980er Jahren, beschleunigt dann im Zuge der Wiedervereinigung, sind neue sozio-ökonomische Berufsgruppen entstanden, gleichzeitig haben sich die prozentualen Anteile der verschiedenen Berufsgruppen und Arbeitsfelder angeglichen. Mit der Deindustrialisierung hat die Großgruppe der Industriearbeiterschaft als zahlenmäßig stärkste Gruppe permanent an Gewicht, dann aber auch an sozialpolitischem Einfluss und schließlich an politisch-kultureller Sichtbarkeit verloren. An ihre Stelle ist keine andere sozio-ökonomische Gruppe getreten. Entsprechend diffus sind auch die medialen Wahrnehmungen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit geblieben. Die Erkenntnisgewinne der Arbeitsgeschichte für eine realistische Gesellschaftsgeschichte der deutschen Gesellschaften seit 1918 sind deshalb vielfältig und groß: Sie kann nach den Verbindungen und Konflikten fragen, die zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen in den Arbeitswelten entstanden, deren Verbindungen beziehungsweise Vermischung mit sozialer Nähe oder Ferne aufgrund von Wohnquartieren, Partnerwahl und Lebensführung untersuchen und so wichtige Beiträge zur Analyse sozialer Hierarchiebildung und zu den Grenzen und Chancen sozialer Mobilität liefern. Ergebnisse solcher Studien können diskursgeschichtlichen Befunden über mediale Deutungen sozialer Ungleichheit und Differenz zur Seite gestellt werden. Sie können manche Überraschung bereithalten.
VI. Nationale Ordnungsmuster von Arbeit
Gleichzeitig macht die Arbeitsgeschichte im größeren Zusammenhang der Gesellschaftsgeschichte auf ein zentrales Ordnungsmuster aufmerksam, das gern bei der Konstruktion nationalhistorischer Gesellschaftsnarrative vergessen wird: die Existenz oder Nichtexistenz wirkmächtiger nationaler Ordnungsmuster von Arbeit.[48] Was ist damit gemeint? Seit dem 19. Jahrhundert gehört das Sprechen über Arbeit zum Kernbestand der politisch-sozialen Sprache in Deutschland.[49] Die verschiedenen politischen Ideologien und ihre Mobilisierungssprachen haben sich in Deutschland immer wieder der Wertsemantik von Arbeit bedient, um Anhängerschaft zu mobilisieren, Inklusionen und Exklusionen zu konstruieren und damit nationale beziehungsweise Klassen- oder gruppenspezifische Solidaritäten zu generieren.[50] Arbeitsideologien sind in den politischen Sprachen Deutschlands im 20. Jahrhundert omnipräsent, ihre subkutanen oder offenen Verknüpfungen mit spezifischen Arbeitswelten ausgesprochen aufschlussreich. Die historische Semantik von Arbeit ist die erste Dimension dieses Ordnungsmusters. Dazu gehören aber auch die grundlegenden Begriffe und rechtlichen Institutionen, die das Sprechen über Arbeit strukturieren. In Deutschland ist dies etwa die Kategorie des Berufs mit den vielfältigen sozial- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen, die sich daran knüpfen; dazu kommt die Dimension sozialer Anerkennung, die gerade auch durch Berufsarbeit vermittelt wird. Das individuelle und das kollektive Arbeitsrecht gehören zu den nur allzu häufig in der historischen Forschung marginalisierten Grundlagen dieses nationalen Ordnungsmusters.[51] Dies galt auch noch zu Zeiten der europäischen Integration, die gerade auch auf dem Feld des Arbeitsrechts diese nationalen Prägungen zu verändern begann.
Über die politischen Systemwechsel hinweg hat sich dabei in den Arbeitsordnungen ein starkes Element von Vergemeinschaftung erhalten. Die Ausbreitung lohnabhängiger Beschäftigung war in Deutschland mit der Fortschreibung von Arbeitssemantiken verknüpft, die zum einen den Dienstcharakter dieser Tätigkeiten – auch jenseits des verbeamteten öffentlichen Dienstes – betonten, zum andern aber im industriellen Sektor das gemeinsame Handeln von Kapital und Arbeit bei der Produktion nützlicher Industrie- oder Konsumgüter ins Zentrum rückten. Betriebsgemeinschaft und Gemeinwohlorientierung sind zwei typische Erscheinungsformen dieser spezifisch sozialharmonischen Grundierung von Arbeitssemantiken in Deutschland.[52] Die Übersetzung klassenantagonistischer Konzepte marxistischer beziehungsweise sozialistischer Herkunft in die Sprache demokratischer Mitbestimmung in der Arbeitswelt ist die zweite, pluralistische Variante dieses Ordnungsmusters.[53] Beide Varianten haben vor allem auf betrieblicher Ebene die Wahrnehmung und die Artikulation von Konflikten und Interessen bestimmt und tiefe Spuren in der rechtlichen Ausgestaltung von Arbeitsbeziehungen hinterlassen.
Schließlich gehört zu einer solchen Geschichte nationaler Arbeitsordnungen auch das weitere Feld arbeitszentrierter und arbeitsbezogener Sozialpolitik. Mit Thomas H. Marshall kann man für beide deutsche Staaten nach 1945 von einer ausgeprägten Industriebürgerschaft[54] sprechen, die bereits zu einer Sozialbürgerschaft ausgebaut worden war, als die Deindustrialisierung einsetzte. Seitdem erleben wir einen zähen Kampf zwischen denjenigen, die diese Sozialbürgerschaft beseitigen, und denjenigen, die sie ausbauen und den veränderten Bedingungen unserer Gegenwart anpassen wollen. Aber anders als in vielen anderen Ländern der ersten Welt gehört diese arbeitsbezogene Sozialordnung in den Augen der meisten Wählerinnen und Wähler zu einer der positiven Errungenschaften hiesiger Demokratie.
VII. Die Mikropolitik in Arbeitsorten und Betrieben
Lange schon interessieren sich Arbeitshistorikerinnen und -historiker für den Betrieb, aber trotzdem ist die Verbindung zur Unternehmensgeschichte weiterhin ausbaufähig. De facto hat sich eine Arbeitsteilung etabliert: Die einen nutzen die Unternehmensarchive und beschäftigen sich kritisch oder affirmativ mit Managementstrategien, die anderen gehen in die Gewerkschafts- und Bewegungs- oder Parteienarchive und interessieren sich für Streiks, Arbeitskonflikte und Tarifauseinandersetzungen. Aufgrund eigener Forschungserfahrungen hält der Autor dieser Zeilen diese Arbeitsteilung für bedauerlich. Ihre Folgen konnten nur überwunden werden, weil die Forschungsarchive der Industriesoziologen zahlreiche Sozialdaten bereithalten, die es erlauben, die Mikropolitik der Betriebe genauer zu erforschen und Interviews mit Managern, Betriebsräten oder Mitarbeitern neu zu lesen. Damit kann man dem ambitionierten Forschungsprogramm gerecht werden, das Thomas Welskopp vor geraumer Zeit formuliert hat, nämlich die Mikropolitik in den Betrieben zu erforschen.[55]
Der Betrieb oder besser im Plural vergleichend: Betriebe beziehungsweise Arbeitsstätten als Einheiten für die Untersuchung von Arbeitswelten scheinen mir ein ganz wichtiges Themenfeld für die künftige Forschung. Und dies gleich aus mehreren Gründen. Erstens veränderten sich seit den 1970er Jahren die Organisationsstrukturen von Betrieben erheblich.[56] Damit verschoben sich die sozialen Bezugspunkte und die politischen Konfliktfelder in diesen Sozialräumen beträchtlich. Auslagerung von Abteilungen, Vermarktlichung der Beziehungen innerhalb eines Unternehmens, aber auch zwischen Belegschaften und Management, Aufkündigung der alten sozialpatriarchalischen Betriebsordnungen in Großunternehmen wie in mittelständischen Betrieben – all dies sind Forschungsbefunde, die hellhörig machen sollten: Brach damit, wie dies jüngst Kolleginnen und Kollegen aus der Schweiz formuliert haben, die neue Ära eines global agierenden, in seinen räumlichen und organisatorischen Bindungen vom Betrieb befreiten, flexibleren Kapitalismus an?[57] Hat es die jüngste Zeitgeschichte der Arbeit also mit dem Ende einer primär betriebszentrierten Arbeitswelt zu tun?
Eigene Forschungsergebnisse stimmen den Autor skeptisch gegenüber dieser These. Denn es existieren in Deutschland (und anderswo) Gegentendenzen hin zu einer Aufwertung betrieblicher Arbeitszusammenhänge, insbesondere von kooperativen und partizipatorischen Betriebsordnungen. Dies geschah vor allem in jenen Bereichen industrieller Produktion oder qualifizierter Dienstleistungsarbeit, bei denen es um flexible Qualitätsproduktion ging. Zu vermuten ist, dass sich solche Gegentendenzen auch in Bereichen von Forschung und Entwicklung oder von Pflege und Gesundheit beobachten lassen. Angesichts der großen Bedeutung, die der Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beziehungsweise Belegschaften zukommt, ist es jedenfalls merkwürdig, wenn die Unternehmensgeschichte ohne Arbeitsgeschichte oder mit einer allein aus den Akten der Unternehmensleitung rekonstruierten Perspektive auskommen will.
Historische Betriebsstudien sind aber auch aus einem anderen Grund immer wichtiger geworden. Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu einer kleinen Gruppe von demokratischen Ländern, in denen die Demokratie nicht vor den Werkstoren Halt machte. Die Makrogeschichte der Mitbestimmung, der „anderen Demokratie“, ist bereits geschrieben worden, aber ihre jüngste Problemgeschichte harrt noch der genaueren Analyse.[58] Bekanntlich hat sich in den privatwirtschaftlichen Arbeitswelten, die auf dem Territorium der ehemaligen DDR entstanden, diese andere Demokratie mit ihren Kernelementen Flächentarifvertrag, gewerkschaftliche Organisation von Belegschaften und handlungsfähigen Betriebsräten nur mühsam und partiell etablieren können.[59] Dieser Bruch ist gesellschaftsgeschichtlich um so wichtiger, als die Betriebe für die Wirtschafts- und Sozialordnung der DDR eine ganz zentrale Rolle spielten. Die historische Untersuchung der Mikropolitik in den sozialistischen Betrieben ist gerade in vergleichender Perspektive nach wie vor von großem Interesse.
Bleibt der Hinweis, dass Unternehmensgeschichte in Zeiten der Globalisierung konkret auch meint, dass deutsche Unternehmen zunehmend international tätig sind oder in Zeiten des digitalen Finanzmarktkapitalismus Anlageobjekte global agierender Kapitalanleger unterschiedlicher nationaler Herkunft beziehungsweise Verankerung geworden sind. Daraus ergeben sich wiederum vielfältige Fragestellungen jenseits der klassischen Unternehmensgeschichte, die bislang vor allem nach Anlagestrategien, Kooperationsverhältnissen und politischen Verwicklungen privatwirtschaftlicher Investitionen gefragt hat.
Arbeitsgeschichtlich geht es darum, ob und wie multinationale Unternehmen die betrieblichen Sozialordnungen, Arbeitsteilungen, Machtstrukturen in ihren Filialen und Betrieben weltweit homogenisierend verändert haben, oder ob in ihren Betrieben weiterhin ganz unterschiedliche Arbeitsregime herrschten, die je nach lokalen Machtverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit zustande kamen. Die Gewerkschaftsfeindlichkeit von Volkswagen in Brasilien ist bekanntlich das Gegenteil Wolfsburger Harmonielehren, aber neben solchen eklatanten Disparitäten sind natürlich subtilere Abstufungen beziehungsweise Angleichungen zu beobachten. Zu denken ist an die vielfältige Umsetzung der Rezepturen japanischer Automobilkonzerne, die ihren Siegeszug rund um die Welt antraten.[60] Es wäre unredlich, die Schwierigkeiten solcher grenzüberschreitender Untersuchungen zu beschönigen. Nicht nur für Gewerkschaften war und ist der Weg zu internationalen Konzernbetriebsräten und grenzüberschreitenden Abstimmungen und Kooperationen steinig. Die Geschichte der europäischen Betriebsräte liefert hierzu einiges Anschauungsmaterial.[61] Auch für Forscherinnen und Forscher sind integrative Perspektiven auf Arbeitswelten multinationaler Unternehmen alles andere als einfach; sprachliche, kulturelle und rechtliche Differenzen sind zu beachten und zu meistern.
VIII. Wissensordnungen und Berufswelten
Die Geschichte von Arbeitswelten im 20. Jahrhundert ist aufs Engste verknüpft mit der Geschichte von Wissensordnungen und Bildungssystemen. Angesichts der Interdependenz von technologischen Innovationen und Umbrüchen in der Arbeitswelt ist es eigentlich verwunderlich, dass es sich überhaupt lohnt, auf diese offensichtliche Verknüpfung hinzuweisen. In der Forschungspraxis ist hier jedoch eine erhebliche Lücke entstanden. Dies mag daraus resultieren, dass man vorschnell der Vorstellung eines allgemeinen Arbeitsmarkts folgt, wenn es darum geht, die Zusammenhänge zwischen technologischem Wandel und Arbeitsmärkten auf der Makroebene zu untersuchen. Damit unterschätzt man die Bedeutung von Bildungstiteln und Berufsqualifikationen der Beschäftigten bei der konkreten Umsetzung von technologischen Innovationen in Produktion, Verwaltung oder Distribution. Beide spielen aber eine enorme Rolle, wenn es um die konkrete Dynamik von Arbeitswelten, also die Verteilung von (neuem) Arbeitswissen angesichts technologischer Innovationen und die konkrete Gestaltung dieser Innovationen in Produktion und Organisation geht.
Gerade die Arbeitswelten in Deutschland sind seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von beruflich definierten Organisationsmodellen und Hierarchien geprägt worden, deren Gewicht bis heute wirksam ist. Gemeint sind die anhaltende Geltung und der kontinuierliche Ausbau des sogenannten dualen Systems beruflicher Ausbildung[62] sowie die entsprechenden staatlichen Regelungen über Zugangsvoraussetzungen und Besoldungshierarchien im öffentlichen Dienst. In beiden deutschen Staaten hat sich der Erwerb eines Berufs- oder Bildungsdiploms zu einem allgemeinen Eintrittsticket für die meisten Arbeitsplätze entwickelt. Die rechtlich geschützten Berufsordnungen haben im Fall der Bundesrepublik auch die dritte industrielle Revolution überstanden und prägen nach wie vor viele, wenn auch längst nicht alle Arbeitsmärkte. Die sozial stabilisierende Wirkung dieser Berufsordnungen für die Einkommensverteilungen vor allem im mittleren Segment der Einkommenspyramide fällt in der Umbruchphase zwischen 1980 und 2005 auf. Soziale Stabilisierung meint in diesem Fall aber zugleich auch Konservierung von sozialen Abständen und Einengung sozialer Aufstiegschancen. Zu nennen sind an dieser Stelle nur zwei Beispiele für weitreichende gesellschaftspolitische Folgen dieser Berufsordnung: Zum ersten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg, beschleunigt seit den 1970er Jahren, die primär von Frauen ausgeübten Tätigkeiten in dieses übergreifende Berufssystem integriert, wenn auch mit markanten Schlechterstellungen und Ausnahmen. Zum zweiten deckte dieses Berufssystem gerade zentrale Bereiche der industriellen Produktion niemals vollständig ab. Vor allem Arbeitsmigrantinnen und -migranten sorgten damals wie heute für den Zustrom unqualifizierter Arbeitskräfte. Die technologischen Umbrüche im Zuge der Deindustrialisierung haben diese Arbeitsplätze zu einem erheblichen Teil verschwinden lassen, parallel schwoll der Anteil der Arbeitsmigranten bei den Arbeitslosen an. Erst in jüngster Zeit sind im Bereich einfacher Dienstleistungen wieder zahlenmäßig große Arbeitswelten jenseits der Berufsordnungen in Deutschland entstanden.
Trotz ihrer offensichtlichen Relevanz ist die Geschichte der Berufsausbildung ein Stiefkind der historischen Bildungsforschung geblieben. Sie ist bis heute noch nicht als Bestandteil eines umfassenderen Forschungsfelds definiert, das provisorisch als Geschichte von Wissensordnungen und deren Wandel bezeichnet werden soll.[63] Man denke nur an die komplexe Geschichte von Produktionstechnologien und Berufshierarchien beziehungsweise -monopolen. Vergleichende Untersuchungen zu den technologischen Umbrüchen in der westdeutschen, französischen und britischen Industrie haben vor Augen geführt, wie groß die Spielräume waren und wie unterschiedlich sie genutzt wurden.[64] Um es aber nochmals und apodiktisch zu formulieren: Es gibt keine kritische Geschichte moderner Arbeitswelten ohne Wissensgeschichte.
Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil Beschäftigte und ihre Arbeitsplätze in Deutschland seit mehr als 100 Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Expertise sind und das Wissen von Arbeitswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, Industrie- und Arbeitssoziologinnen und -soziologen, Arbeitsmedizinerinnen und -medizinern sowie Arbeitspsychologinnen und -psychologen in die konkrete Gestaltung dieser Arbeitsplätze und Arbeitsverhältnisse eingegangen ist.[65] Eindringtiefe und Gestaltungskraft dieser Expertinnen und Experten differieren enorm und nichts wäre falscher als die Hypothese, all diese Expertise sei gleichermaßen wichtig für die Arbeitswelten gewesen. Man denke nur an die unterschiedlichen Folgen arbeitsmedizinischer oder industriesoziologischer Analysen und Gestaltungsvorschläge in den Großprojekten der „Humanisierung der Arbeitswelt“ in den 1970er und 1980er Jahren.[66] Immer wieder lohnt es sich, den Spuren dieses Expertenwissens nachzugehen. Vielfach bieten die Archive der entsprechenden Institute und Institutionen und die dort gelagerten Daten, Interviews und Bildmaterialien den Historikerinnen und Historikern einzigartiges Quellenmaterial, dessen historisch-kritische Aufarbeitung sie erst noch erlernen müssen und dessen Sicherung für die historische Forschung noch in zarten Anfängen steckt.
IX. Fazit: Zeitgeschichte der Arbeit als Problemgeschichte
Die neue Arbeitsgeschichte hält keine neuen Großerzählungen für die deutsche Zeitgeschichte bereit. Ihre Bedeutung liegt meines Erachtens ganz woanders: Sie wirkt als Korrektiv gegenüber allen Versuchungen, die Geschichte unseres politischen Gemeinwesens und seiner gesellschaftlichen Bedingungen allein aus dem Horizont medialer Selbstthematisierungen und dem Zusammenspiel von Netzwerken, Strömen und Bewegungen zu deuten. Sie ist mit vier großen Problemfeldern verknüpft, denen eine kritische Zeitgeschichte nicht ausweichen darf: Erstens muss sie die Frage stellen, wie Arbeitswelten soziale Ungleichheiten in unserer Demokratie erzeugen oder abbauen. Entstehen in ihnen Zonen der Unfreiheit und der Furcht, wie dies jüngst Jan-Werner Müller für Arbeitsverhältnisse in den USA gefragt hat?[67] Sind sie Achillesferse oder Rückgrat demokratischer Beziehungsgleichheit? Die Frage nach dem Zusammenleben von Kapitalismus, Demokratie und Nation ist weiterhin aktuell, der Wandel der Arbeitswelten schafft eine Vielzahl neuer politischer, sozialer und kultureller Problemlagen. Aber aktuelle nationalhistorische Narrative haben solchen Fragen noch keinen festen Platz in ihrem Argumentationsgang zugewiesen. Hier besteht also noch Klärungsbedarf.
Zweitens muss eine kritische Arbeitsgeschichte der Frage nachgehen, ob und wie Arbeitswelten Orte sozialer Anerkennung und Inklusion sind. Wer sich für Arbeitsverhältnisse und Arbeitsplätze interessiert, hält an der Annahme fest, dass dieser Bereich unserer sozialen Existenz für Prozesse von Inklusion und Exklusion in Vergangenheit und Gegenwart von besonderer Bedeutung ist. Gegen die im Augenblick sehr populäre Debatte um eine rein ökonomisch definierte und politökonomisch relevante Ungleichheit von Einkommen und Vermögen ist daran zu erinnern, dass diese genuin soziale Dimension von Arbeit nicht vergessen werden darf. Drittens muss eine kritische Arbeitsgeschichte dafür sorgen, dass die so wichtige Perspektive der Wissensgeschichte rückgebunden wird an konkrete Fragen beruflicher Bildung und Weiterbildung, arbeitsbezogener Qualifikationen und an den Wandel gesellschaftlicher Verteilung von Wissen und Kompetenzen. Und viertens muss sie nach den strukturellen Zusammenhängen zwischen hiesigen und fremden Arbeitswelten in Zeiten wachsender Verflechtungen und sich verändernder internationaler Arbeitsteilungen eines globalen Kapitalismus fragen. Alle vier Perspektiven machen Arbeitsgeschichte zu einer histoire-problème par excellence und sorgen für Relevanz. Mit öffentlichem Interesse an ihren Ergebnissen darf sie ganz gelassen rechnen.
© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Aufsätze
- Deutsche Arbeitswelten zwischen globalen Problemlagen und nationalen Handlungsbezügen
- Emanzipatorischer Aufbruch und antisemitische Verfolgung
- Der Aufbau des Sozialismus
- Dokumentation
- Ablehnung und Anerkennung
- Gutachten des IfZ
- Ein Sozialdemokrat im Auswärtigen Amt
- Notizen
- Idyll und Verbrechen
- 15. Aldersbacher Schreib-Praxis
- VfZ-Online
- Kommentar im VfZ-Forum und Aufzeichnung des „Podiums Zeitgeschichte“ 2020
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