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Editorial

Veröffentlicht/Copyright: 29. November 2025

Angesichts eines befürchteten Rückgangs amerikanischer Sicherheitsgarantien widmet sich SIRIUS in diesem Jahr in zwei Doppelheften der Leitfrage: Sicherheit ohne USA? Der erste Teil befasste sich mit nuklearen Fragestellungen – ein Feld, in dem die Sicherheit Europas in besonderem Maße von der Glaubwürdigkeit der von den USA bereitgestellten erweiterten Abschreckung abhängt. Der nun vorliegende zweite Teil richtet den Blick auf die maritime Dimension europäischer Abhängigkeiten von den Vereinigten Staaten und erweitert zugleich die Perspektive auf den Indo-Pazifik. In dieser Region wurden europäische Interessen, insbesondere die Sicherung kritischer Handels- und Versorgungsrouten, lange Zeit maßgeblich durch Washington geschützt. Im Zentrum steht die Frage, ob und wie Europa künftig seine Fähigkeit zur Durchsetzung maritimer Sicherheitsinteressen wahren kann – so ist die Aufrechterhaltung freier Seewege beispielsweise eng mit der wirtschaftlichen Resilienz des Kontinents verknüpft. Auch nukleare Fragen bleiben im Heft präsent, etwa mit Blick auf die Konsequenzen möglicher Strategieänderungen der USA in der Region und deren Auswirkungen für Europa: Welche Folgen hätte ein amerikanischer Rückzug für Verbündete wie Japan und Südkorea? Und wie würde ein nachlassendes Engagement Washingtons die sicherheitspolitische Dynamik zwischen den Kernwaffenstaaten Indien und Pakistan verändern? Hintergrund vieler Beiträge ist Chinas Bestreben, bestehende US-Allianzen zu schwächen und sich als regionale Hegemonialmacht zu etablieren – gestützt auf ein rasant wachsendes konventionelles und nukleares Arsenal.

Den Ausgangspunkt des zweiten Doppelhefts von SIRIUS bildet der Aufsatz von Sebastian Bruns und Christian Jentzsch. Die Autoren zeigen, dass derzeit kein Militärbündnis so stark maritim geprägt ist wie die NATO. Zugleich durchlaufen die Vereinigten Staaten – als führende Bündnismacht und (noch) größte Seemacht der Welt – eine Phase strategischer Neuorientierung, deren Folgen ihre Alliierten unmittelbar betreffen. Anhand der historischen Entwicklung der kollektiven Seemacht NATO zeichnen Bruns und Jentzsch nach, wie sich die maritime Dimension der Allianz auf strategischer Ebene gewandelt hat und welche Rolle die USA dabei einnahmen. Heute, so ihr Befund, rücken Abschreckung gegenüber der Atommacht Russland und die kollektive Verteidigung erneut ins Zentrum der Aufgaben. Die Marinen der NATO sehen sich damit vor die Aufgabe gestellt, erneut das Einsatzspektrum der 1980er Jahre abdecken zu müssen – erweitert um hybride Szenarien.

Der Aufsatz von Sarah Kirchberger analysiert die seit 2024 deutlich gestiegene Präsenz europäischer Marinen im Indo-Pazifik. Auffällig sei dabei, dass nun auch Staaten, die – anders als Frankreich und Großbritannien – traditionell in der Region kaum militärisch aktiv waren, Kriegsschiffe entsandt haben. Im Fokus der europäischen Seestreitkräfte standen neben Hafenbesuchen und der Präsentation eigener Marinetechnologien vor allem gemeinsame Übungen und Patrouillen. Kirchberger betont, dass die verstärkte Präsenz nicht nur nationale Einzelinteressen widerspiegelt. Vielmehr seien die europäischen Staaten bereit, auch unter Bedingungen knapper Ressourcen die für sie zentrale „regelbasierte internationale Ordnung“ zu stützen. Zudem bergen die Einsätze das Potenzial, durch Kooperation, Erfahrungsaustausch und Harmonisierung von Verfahren die europäische Handlungsfähigkeit auf See insgesamt zu stärken. Auch wenn die außenpolitischen Effekte einzelner Operationen begrenzt bleiben mögen, können diese Missionen in ihrer Gesamtheit sowohl zur Wahrung europäischer Interessen im Indo-Pazifik beitragen als auch die sicherheitspolitische Bedeutung europäischer Marinen erhöhen. Die Vereinigten Staaten haben zuletzt allerdings deutlich gemacht, dass sich europäische Staaten aus ihrer Sicht im Indo-Pazifik weniger stark engagieren sollten.

Maximilian Ernst analysiert in seinem Aufsatz Chinas Staatskunst im indisch-pazifischen Raum, die auf einer Mischung aus Kooperation und Zwang basiert. Er zeigt, wie China ökonomische Anreize in Form von Handel und Investitionen gezielt mit diplomatischem Druck, Sanktionen sowie hybriden oder militärischen Maßnahmen kombiniert, um gegnerische Koalitionen zu spalten und seine Kerninteressen durchzusetzen. Angesichts der zunehmenden Verflechtung mit dem euro-atlantischen Raum werden auch europäische Staaten zunehmend in den Wirkungsbereich dieser sogenannten „Keil-Strategien“ geraten. Ernst macht deutlich, dass Chinas Vorgehen, auch wenn es von außen diffus erscheinen mag, einer klaren Strategie folgt: Trotz wechselnder Maßnahmen bleibt das Ziel Chinas konsistent auf die Schwächung der US-Allianzen ausgerichtet.

Der Aufsatz von Wolfgang Rudischhauser blickt auf Chinas rapide nukleare Aufrüstung und hinterfragt, ob diese Entwicklung mit der vom Land proklamierten Politik des Erstschlagsverzichts vereinbar ist. Er zeigt, welche Risiken von China als drittgrößter Atommacht für die regionale und strategische Stabilität ausgehen, und warnt davor, dass ein neues Wettrüsten vor allem durch Fehlwahrnehmungen und Überreaktionen begünstigt werden könnte. Für Europa und Deutschland sieht Rudischhauser die Chance, auf Basis der Erfahrungen mit der Entspannungspolitik im Kalten Krieg zu zeigen, wie Transparenz und Vertrauensbildung zur Stabilität beitragen können.

Die Kurzanalyse von Michito Tsuruoka beleuchtet die Abhängigkeit Japans von den Vereinigten Staaten sowie die Belastungen für die US-Japan-Allianz unter der zweiten Trump-Administration. Für Tokio bildet das seit über siebzig Jahren bestehende Bündnis das Fundament der Außen- und Sicherheitspolitik; einen realistischen „Plan B“ gegenüber China ohne Washington gibt es nicht. Trotz verstärkter Verteidigungskooperationen mit Partnerstaaten wie Australien, Südkorea und den Philippinen zur Sicherung der Stabilität im Indo-Pazifik bleibt für Japan seine bisherige „strategy of anchoring“ zentral: Das Land muss den USA signalisieren, mehr Verantwortung für die regionale Sicherheit zu übernehmen, und so Washington ein langfristiges Engagement in der Region erleichtern. Tsuruoka weist darauf hin, dass Diskussionen über einen Plan B in Europa – anders als in Japan – auch wegen der beiden Nuklearmächte Großbritannien und Frankreich denkbar sind.

Eric J. Ballbach argumentiert in seinem Aufsatz, dass eine konventionelle Abschreckungsstrategie für Südkorea angesichts der wachsenden nuklearen Bedrohung durch Nordkorea und der unsicheren US-Sicherheitsgarantien von zentraler Bedeutung ist. Im Mittelpunkt steht dabei das sogenannte „Drei-Achsen-System“, das präventive Schläge, eine mehrschichtige Raketenabwehr und gezielte Vergeltungsmaßnahmen kombiniert. Südkoreas Verfolgung einer konventionellen Abschreckungsstrategie gegen nukleare Bedrohungen bringt jedoch eine Reihe strategischer Probleme mit sich: Sie reichen von Glaubwürdigkeitsproblemen über hohe Anforderungen an das Militär bis hin zu einem konstanten Anpassungsdruck. Hinzu kommt ein strategisches Dilemma, da Südkorea sein Bündnis mit den USA mit den komplexen Beziehungen zu China ausbalancieren muss.

Der Aufsatz von Mansoor Ahmed analysiert die Verschiebungen im militärischen Kräfteverhältnis zwischen Indien und Pakistan – insbesondere in den Streitkräftedispositiven sowie den damit einhergehenden militärischen Doktrinen und dem Ausbau technologischer Fähigkeiten. Seit der offenen Nuklearisierung im Jahr 1998 modernisieren beide Staaten kontinuierlich ihre konventionellen und nuklearen Streitkräfte. Doch Indiens lange Zeit deutliche Überlegenheit im konventionellen Bereich relativierte sich spürbar seit der Ladakh-Krise 2020; zugleich erschwert die Ablösung russischer Waffensysteme die Aufrechterhaltung seiner lokalen Vormachtstellung gegenüber Pakistan. Absehbar ist vielmehr, dass eine gestärkte konventionelle Abschreckung Pakistans das indische „Two-Front-Dilemma“ weiter verschärfen wird. Indien, das nicht nur territoriale Konflikte mit Pakistan, sondern auch mit China austrägt, sieht sich von beiden Staaten zunehmend militärisch unter Druck gesetzt. Dabei präsentieren sie sich Indien gegenüber immer stärker als ein von der dynamisch wachsenden chinesischen Rüstungsindustrie gestütztes „Reinforced One-Front Theatre“. Die Folge ist eine weiter zunehmende Abhängigkeit Indiens von seinem Arsenal an Dual-Use-Raketen und seiner nuklearen Latenz.

Im Zentrum von Beatrice Heusers Kommentar steht die Frage, wie Europa seine Sicherheit ohne die USA in einer Phase zunehmender globaler Rivalitäten und eines wiedererstarkten ideologischen Wettbewerbs gewährleisten kann. Heuser weist darauf hin, dass ein Blick auf die letzten 250 Jahre zeigt, dass die vergangenen 70 Jahre enger transatlantischer Kooperation die Ausnahme waren. Für die Zukunft empfiehlt sie daher eine Doppelstrategie: Erstens sollen die europäischen Staaten die EU und die NATO institutionell so reformieren, dass sie auch bei Blockaden einzelner Mitglieder handlungsfähig bleiben und somit die kollektive Selbstverteidigung sichern können. Zweitens empfiehlt sie, flexible „mini-laterale“ Koalitionen mit gleichgesinnten Partnern weltweit zu bilden, um insbesondere den Schutz des Völkerrechts zu gewährleisten.

Der Bericht von Joshua Lehmann blickt auf die diesjährige Land Warfare Conference zurück, die vom Royal United Services Institute (RUSI) ausgerichtet wurde. Er beschreibt die Debatte vor Ort als von einem bedenklichen Tech-Optimismus geprägt. Lehmanns Bilanz fällt nüchterner aus und mahnt zur Vorsicht: Künstliche Intelligenz, Drohnen und andere neue Technologien sind zweifellos wichtig. Für hochintensive Konflikte bleibt jedoch die Masse entscheidend: ausreichend Personal, Gerät und Munition, ergänzt durch die Fähigkeit, diese zu transportieren und schnell wieder aufzufüllen.

Der Besprechungsteil dieses Doppelheftes befasst sich mit zwei unterschiedlichen Themenfeldern. Ulrich Blum rezensiert eine Dissertation, die der Frage nachgeht, inwieweit das Völkerrecht als Instrument der Machtausübung genutzt wird. Kåre Dahl Martinsen bespricht ein Buch, das analysiert, wie Russland und China die wirtschaftlichen Abhängigkeiten des Westens als strategisches Instrument politischer Einflussnahme einsetzen.

Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine Lektüre, die Einsichten eröffnet und zum Weiterdenken anregt.

Die Herausgeber

Online erschienen: 2025-11-29
Erschienen im Druck: 2025-11-27

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Heruntergeladen am 28.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2025-2030/html
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