Home Ed Conway: Material World. Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen. Hamburg: Hoffmann und Campe: 2024, 544 Seiten
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Ed Conway: Material World. Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen. Hamburg: Hoffmann und Campe: 2024, 544 Seiten

  • Jakob Kullik

    Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand der Politikwissenschaft

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Published/Copyright: June 8, 2024

Rezensierte Publikation:

Ed Conway: Material World. Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen amburg: Hoffmann und Campe: 2024, 544 Seiten 1


In unserer modernen durchdigitalisierten Welt vergessen wir leicht, dass die zahllosen smarten Geräte nicht im luftleeren – immateriellen – Raum existieren, sondern stofflicher Natur sind. Auch wenn nicht wenige Menschen den Großteil ihres Lebens auf sozialen Medienplattformen verbringen und die Ankunft des Metaverse herbeisehnen – die (roh)stoffliche Realität, die die schöne Digitalwelt erst ermöglicht, lässt sich nicht verdrängen. Im Gegenteil: ohne die Nutzbarmachung zahlreicher Bodenschätze und deren Umwandlung in Technologien, Verfahren und Gerätschaften wäre nichts von alldem möglich. Doch das Bewusstsein für die elementare Bedeutung von Rohstoffen für die menschliche Zivilisationswerdung ist wenig ausgeprägt. Und wenn jenseits von Expertenkreisen Rohstoffe auf der Tagesordnung stehen, dann nicht selten unter dem Eindruck aktueller Versorgungskrisen (Öl, Gas) und neuer rohstoff-geoökonomischer Konkurrenzen (Mikrochips, Seltene Erden). Unterdessen sind einige Rohstoffe dauerbekannt. Plakative Phrasen wie „Der Kampf ums schwarze Gold“, „Blutdiamanten“, „Konfliktmineralien“ oder „arktisches Rohstoff-Eldorado“ exemplifizieren die meist oberflächlichen Betrachtungsweisen. Dabei sind es oft wenig spektakuläre Rohstoffe wie Salz, Sand oder Eisen, die die Ermöglichungselemente unseres Wohlstands und Fortschritts darstellen. Immer deutlicher wird, dass die große öko-industrielle Energiesystemtransformation nicht weniger Rohstoff-Wissen verlangt, sondern mehr – deutlich mehr!

Die drängenden Rohstofffragen der Gegenwart und der Zukunft beschränken sich nicht auf die geologisch-technologische Sphäre und das gesellschaftsübliche Nachhaltigkeitsdenken (Stichwort: „Fair Trade“). Mit ihnen gehen auch „schmutzige“ Fragen von Machtpolitik, Verfügungsgewalt und planetarer Verteilungsgerechtigkeit einher. Diese zahlreichen wie komplexen Aspekte verständlich und unterhaltsam zusammenzudenken, ist das Verdienst von Ed Conways Buch Material World. Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen. Der Untertitel zeigt, dass sich der Autor bewusst auf sechs Schlüsselrohstoffe beschränkt. Diese sind Sand, Salz, Eisen, Kupfer, Öl und Lithium. Wie jede Auswahl ist auch diese – sprichwörtlich – nicht in Stein gemeißelt. Geologen und Rohstoffwissenschaftler mögen andere Kandidaten präferieren. Doch die Auswahl überzeugt, denn Conway gelingt es, die fundamentale Bedeutung dieser sechs Rohstoffe für die Menschheit aufzuzeigen und deren Gebrauchsgeschichte(n) zu verknüpfen: „Unser Bedarf an Stahl und Kupfer hat sich in den letzten Jahren vervielfacht. Wir leben also auch in der Eisenzeit – von einer Kupfer-, Salz, Öl- oder Lithiumzeit gar nicht zu reden“ (S. 28). Weiterhin reicht die Ökonomen-Brille nicht aus, um die komplexen Rohstoffwelten zu ermessen. „Den Preis von etwas zu kennen, ist schön und gut, aber der Preis ist nicht gleichbedeutend mit der Wichtigkeit. Ausgangspunkt für dieses Buch war mein Versuch, solche Fragen zu beantworten: Mir ging es weniger um den Marktwert von Substanzen als vielmehr um unsere Abhängigkeit von ihnen“ (S. 16). Mit dieser Differenzierung trifft Conway ins Schwarze, nicht nur aus rohstoffwissenschaftlicher, sondern vor allem aus versorgungsstrategischer Sicht. Denn die alte Abhängigkeitsfrage erlebt in Zeiten von geopolitischer Großmächtekonkurrenz und angespannten Lieferketten ein Revival. Vieles deutet darauf hin, dass sie längerfristig bedeutsam bleiben wird. Conways Buch bietet hierzu eine wertvolle Grundlage, welche Rohstoffe man stärker im Blick behalten sollte und welche Teile der komplexen Lieferketten (choke points) vulnerabel sind.

Die einzelnen Rohstoff-Kapitel sind stets ähnlich aufgebaut. Conway nimmt den Leser mit auf zahlreiche Reisen an die Orte, wo die Rohstoffe gefördert und weiterverarbeitet werden. Das ist bester Geo-Journalismus. Der Leser erfährt nicht nur viel über die Geologie der Lagerstätten, sondern spürt es, wenn der Autor in Bergwerke einfährt, vor gigantischen Erdlöchern steht und die weiten lithiumhaltigen Salzwüsten Lateinamerikas bestaunt (Kapitel zu Salz, Kupfer, Lithium). Sehr aufschlussreich sind ebenfalls die zahlreichen Informationen zu den Rohstoffen in den alltäglichen Gebrauchsgegenständen, die wir für selbstverständlich erachten, ohne die jedoch nichts funktionieren würde. Eine an strategischen Fragen interessierte Leserschaft wird sich eher an der Geschichte rohstoffbasierter Wirtschaftskonflikte und den damit einhergehenden Machtfragen zwischen Großmächten erwärmen können. Jeder Rohstoff bietet hierzu reichhaltig Stoff. So lässt sich am auf den ersten Blick unspektakulären Element Sand (Siliziumdioxid oder kurz Silizium) gut zeigen, dass ohne diesen körnigen Stoff keine Glasindustrie denkbar wäre. Und ohne Glas gebe es keine optischen Geräte, die für medizinische wie militärische Zwecke unentbehrlich sind. Sand und Glas haben Wirtschaftsgeschichte geschrieben und Kriegstaktiken beeinflusst: „Dass die Vorherrschaft bei optischen Geräten von Großbritannien an Deutschland überging – dass also eine wirtschaftliche Supermacht ihre technologische Führungsposition abgab –, war einer jener Momente, wie sie in der materiellen Welt häufig vorkommen. Großbritannien war vielleicht im 18. Jahrhundert der weltweit führende Glashersteller, den Titel hatten in der langen Geschichte der Glasmacherei aber bereits viele Reiche oder Städte innegehabt: Murano bei Venedig, Rom, Syrien, Ägypten“ (S. 65).

Unweigerlich denkt man an gegenwärtige Entwicklungen, allen voran an den Kampf um die Dominanz auf den Märkten für Batterien, Halbleiter und das Elektroauto der Zukunft. Im Zentrum dieser Zukunftstechnologien stehen die Elemente Kupfer und Lithium, aber auch Öl wird sobald nicht verschwinden, da es sowohl bei den vermeintlich grünen erneuerbaren Energietechnologien eine Rolle spielt als auch bei zahlreichen weiteren Anwendungen (erdölbasierte Chemikalien, Plastik etc.) gebraucht wird. Wer also vom baldigen Ende des fossilen Zeitalters redet, der irrt. Ob nun Kupfer oder Lithium das neue Öl sind, wird die Zukunft zeigen. Fest steht, dass in der derzeitigen Übergangsphase die fossilen Rohstoffe auf Jahrzehnte bedeutend bleiben werden, gleichzeitig aber auch die neuen kritischen Mineralien massiv an Bedeutung gewonnen haben. Zwei weitere Aspekte stechen hervor. Der Autor zeigt nicht nur die sichtbaren Zusammenhänge der globalen Rohstoffwirtschaft auf, also Bergwerke, Raffinerien und Fabriken, sondern auch die kaum bekannten Player auf diesen Märkten. Jeder kennt Apple, Tesla und Microsoft, aber nur die wenigsten dürften die Namen der Unternehmen gehört haben, die die Vor- und Zwischenprodukte herstellen, bevor man auf einem nagelneuen iPhone herumtippt oder in einem E-Auto sitzt. Diese Unternehmen sind trotz ihrer geringeren Bekanntheit nicht weniger wichtig. „In der materiellen Welt finden wir die wichtigsten Unternehmen, von denen kaum jemand spricht, Firmen wie CATL, Wacker, Codelco, Shagang, TSMC und ASML. […] Die weltbekannten Marken sind völlig auf die unbekannten Firmen aus der materiellen Welt angewiesen, um ihre Produkte herzustellen und dafür zu sorgen, dass ihre klugen Ideen – nun ja – materialisiert werden“ (S. 23). Dadurch erhellt Conway die Rohstoffwelt und deren globale Verästelungen.

Doch die Sichtbarmachung der Unternehmensbeziehungen hinter den bekannten Markennamen hat noch einen weiteren – versorgungsstrategischen – Vorteil. Einige wenige rohstoffverarbeitende Unternehmen haben nämlich eine kaum für möglich gehaltene marktbeeinflussende Position. Die im Buch vorgestellten Firmen zeigen, dass Lieferketten schneller reißen können als gedacht und dadurch Engpässe auftreten, die man nur aus Katastrophenfilmen kennt. In den USA gibt es nur zwei Unternehmen, die hochreinen Quarz verarbeiten und damit den Weltmarkt dominieren. Würden beide Unternehmen ausfallen, wäre die weltweite Computerindustrie gelähmt. „Ohne hochreinen Quarz gibt es keine Czochralski-Tiegel, ohne die gibt es keine monokristallinen Silizium-Wafer, und das bedeutet das Ende der Computerchipherstellung. Die Menschen würden sich darauf einstellen und einen neuen Prozess oder eine andere Substanz finden. Aber für ein paar Jahre wäre es die Katastrophe“ (S. 124–125). Und wenn man bei Silizium (Sand) bleibt, ist ein weiterer, vermutlich ebenfalls kaum bekannter Aspekt zu nennen. Im politischen Diskurs um die strategische Bedeutung von Taiwan als führendem Chip-Produzenten der Welt geht oft unter, dass es nicht nur um China, die USA und die kleine Inselrepublik geht. Das Netz an Hightech-Produzenten reicht viel weiter: „Das geistige Eigentum dafür stammt von ARM, einem Unternehmen, das im englischen Cambridge ansässig ist. Die TSMC-Fabs würden nicht ohne Maschinen aus den Niederlanden und Japan funktionieren, ebenso nicht ohne Chemikalien aus Deutschland und ohne diverse Einzelteile aus anderen Ländern. Nur eine Handvoll Firmen sind in der Lage, perfekte Silizium-Wafer herzustellen und keine davon ist mit ihrer Zentrale in den Vereinigten Staaten oder China ansässig. […] Wenn Politiker ein Loblied auf die heimische Wirtschaft singen und von Autarkie reden, verraten sie damit nicht zuletzt ein ziemliches Unwissen über die Abläufe in der materiellen Welt“ (S. 138).

Und so ist Ed Conways voluminöses Buch (500 Seiten) nicht nur eine Fundgrube für alltägliches wie strategisches Rohstoffwissen, sondern auch eine nüchterne Darstellung der eigentlich gut funktionierenden globalen Arbeitsteilung, die in letzter Zeit von vielen zunehmend kritisch gesehen wird. Ob der „Mineralienwettlauf des 21. Jahrhunderts“ (S. 463) zu mehr Kooperation oder Protektionismus führt, an den dessen Ende die globalen Rohstoffmärkte zerreißen werden, wird sich zeigen. Sollte es dazu kommen, sollte man vorher Ed Conways Buch gelesen haben, um zumindest zu wissen, welche Folgen dies haben kann und wie abhängig die Menschheit von diesen sechs – und zahlreichen weiteren – Rohstoffen ist.

Über den Autor / die Autorin

Jakob Kullik

Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand der Politikwissenschaft

Online erschienen: 2024-06-08
Erschienen im Druck: 2024-06-06

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

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  2. Editorial
  3. Aufsätze
  4. Handlungsspielräume deutscher Sicherheitspolitik nach Russlands Angriff auf die Ukraine 2022
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  7. Der lange Schatten der Standardisierung in Allianzen – technologische Pfadabhängigkeit, strategische Tiefe und globaler Rüstungsmarkt
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  14. Bradley C. Parks/Ammar A. Malik/Brooke Escobar/Sheng Zhang/Rory Fedorochko/Kyra Solomon/Fei Wang/Lydia Vlasto/Katherine Walsh/Seth Goodman: Belt and Road Reboot. Beijing’s Bid to De-Risk Its Global Infrastructure Initiative. Williamsburg, Va.: AidData – a Research Lab at William and Mary, November 2023
  15. Lehren aus dem Ukraine-Krieg
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  18. Buchbesprechungen
  19. Carlo Masala: Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende. C. H. Beck: München 2023, 207 Seiten
  20. Ed Conway: Material World. Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen. Hamburg: Hoffmann und Campe: 2024, 544 Seiten
  21. Mike Martin: How to Fight a War. London: Hurst & Company 2023, 249 Seiten
  22. Bücher von gestern – heute gelesen
  23. George Friedman: The Next 100 Years. A Forecast for the 21st Century. Anchor Books/Random House: New York 2010, 253 Seiten
  24. Bildnachweise
Downloaded on 9.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2024-2013/html
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