Home It’s Geopolitics, Stupid!? – Zehn Thesen über den Zusammenhang zwischen Geopolitik und Wirtschaft
Article Open Access

It’s Geopolitics, Stupid!? – Zehn Thesen über den Zusammenhang zwischen Geopolitik und Wirtschaft

  • Peter Eitel

    Senior Manager

Published/Copyright: June 8, 2024

1 Geopolitik: Eine Renaissance?

Spätestens seit dem Ende der Pandemie, insbesondere aber dem russischen Angriff auf die Ukraine, wird der Begriff Geopolitik häufig verwendet[1]. Für Länder wie Großbritannien, die USA oder China mag dies wenig überraschen. Dass der Begriff jedoch auch in Deutschland populär wurde, ist bemerkenswert. Bis zu diesen Zäsuren war er verpönt, und, wie man in Deutschland so schön sagt, „historisch belastet.“ Diese Situation hat sich grundlegend gewandelt. Interessant ist dabei, dass diesem Wandel kein kritischer Diskurs oder Prozess vorausging, sondern sich die Annahme des Begriffes Geopolitik relativ plötzlich und ohne erkennbare Reflexion ergab. Für das sonst so geschichtssensible Deutschland ist dieser Vorgang bemerkenswert[2].

Dieser Schwenk mag von denjenigen, die die kontinuierliche Relevanz der Geopolitik schon in der Vergangenheit betonten, als Genugtuung oder späte Rechtfertigung verstanden werden. Dennoch wirft die Entwicklung Fragen auf. So ist nicht klar, ob die plötzliche Annahme des Begriffes Ausdruck geballter geopolitischer Kompetenz in Deutschland ist oder vielmehr dem Gegenteil entspricht. Ohne ein klares Verständnis von Geopolitik läuft der Begriff Gefahr, zum inhaltsleeren Buzzword zu werden.[3]

Die Renaissance der Geopolitik in der deutschen Debatte beruht dabei auf drei Prämissen. Erstens, wir erleben ein Zeitalter der Rivalität über die zukünftige Weltordnung und wer diese dominiert – die USA oder China; zweitens, der geografische Schwerpunkt dieser geopolitischen Rivalität liegt im „Indo-Pazifik“[4]; und drittens, die Weltordnung, die wir bisher kannten, wird grundsätzlich infrage gestellt, was für die liberalen und demokratischen Staaten in Europa gravierende Anpassungsbedarfe mit sich bringt.[5]

2 Geopolitik in Deutschland: zwischen Buzzword und Unwort

Der Begriff Geopolitik ist in Deutschland schon längst in vielerlei Munde. In ihren Vorwörtern zur Nationalen Sicherheitsstrategie in Deutschland sprechen Kanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock jedoch ausdrücklich nicht von Geopolitik oder deren Rückkehr, sondern von einer Welt, die aufgrund der zahlreicher werdenden Machtzentren multipolarer geworden sei. Die zukünftige Ordnung sei noch im Fluss.[6] Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass es sich dabei um einen semantischen Kunstgriff handelt – vielleicht, um historisch bedingte Sorgen vor der Nutzung des Begriffes Geopolitik aus dem Weg zu gehen, vielleicht, um mit diesem öffentlichen Dokument Sorgen vor der Zukunft zu nehmen.[7] Hinter dem multipolaren Deckmantel versteckt sich aber die Anerkennung, dass die Welt von geopolitischer Rivalität fragmentiert und vor diesem Hintergrund hochgradig volatil ist. Auch faktisch beginnt die Bundesregierung geopolitisch zu agieren: Mit der lange debattierten und im Juli 2023 von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock veröffentlichten China-Strategie wurde erstmals eine konkrete Politik der deutschen Bundesregierung vorgestellt, die auf den Wettbewerb und die Konflikte zwischen den zahlreichen Machtzentren reagiert.[8]

3 Von Geopolitik zu geopolitischen Risiken für Unternehmer

Gerade im Kontext der China-Strategie wurde eine weitere Dimension der geopolitischen Debatte erkennbar: der Zusammenhang zwischen Geopolitik und Unternehmen.[9] Bereits die Nationale Sicherheitsstrategie verweist unter dem Stichwort „ökonomische Sicherheit“ auf die wirtschaftlichen Auswirkungen des Wandels in der Welt. Die China-Strategie geht hier weiter und benennt konkrete Schritte zur Identifikation kritischer Wirtschaftszweige, Infrastrukturen sowie Rohstoffe und kündigt an, das China-Geschäft weit genauer prüfen zu wollen als zuvor.[10] Wenngleich der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck davon spricht, dass eine neue Zeit der Geopolitik angebrochen sei,[11] bleibt offen, ob diese Ansage auf ein vertieftes Verständnis der Problematik hinweist. Eher sollte man davon ausgehen, dass das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Geopolitik weitgehend ungeklärt ist.

Geopolitik ist aber nicht nur eine Beschreibung eines politischen Kontextes oder politischer Handlungsprioritäten, sondern sie hat Konsequenzen – für Unternehmer entstehen daraus „geopolitische Risiken.“ Dass diese Unternehmenslenkern weltweit Kopfzerbrechen bereiten, zeigt auch die jährlich in 77 Ländern durchgeführte Umfrage unter CEOs der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC): Geopolitische Risiken rangieren auf dem zweiten und dritten Rang, je nach Land.[12]

Dabei ist unklar, worin diese Entwicklung begründet liegt: Weil Geopolitik möglicherweise in aller Munde ist oder vielmehr die Risiken, die sich aus der Rückkehr der Geopolitik für Unternehmen ergeben, noch schlecht verstanden werden und daher noch bedrohlich wirken? Oder ist es die quantifizierte Erfahrung, dass aus geopolitischen Risiken besonders kostenintensive Schäden und Anpassungszwänge entstehen können? Oder ist es vielleicht auch die zunehmende Erfahrung kostenintensiver regulatorischer Eingriffe im Kontext zwischenstaatlicher Rivalitäten, die aus unternehmerischer Sicht die Renaissance der Geopolitik verursacht?[13]

Faktum ist: Wir wissen es nicht genau. Denn der deutschsprachigen Debatte mangelt es an einer tiefergehenden, empirischen Analyse der Frage, wie die geopolitischen Risiken für Unternehmen einzuschätzen sind, beziehungsweise wie sie sich besser auf diese einstellen können. Sie bleibt somit im Anekdotischen verhaftet.

Bisher zu beobachtende Bemühungen von Unternehmen, sich auf Risiken und Möglichkeiten einzustellen, die sich aus geopolitischen Entwicklungen ergeben, lassen kein breites und umfassendes Verständnis der Zusammenhänge erkennen. Was ist gutes geopolitisch begründetes de-risking, und woran können sich Unternehmen orientieren, wenn sie ein solches etablieren wollen? Wer ist in einem Unternehmen verantwortlich für den Bereich geopolitischer Risiken? Welche Bedeutung haben diese im Verhältnis zu anderen konkurrierenden Risiken? Gibt es Schnittmengen? Wo bedarf es der Anpassung des unternehmerischen Risikomanagements?

4 Zehn Thesen zum Thema Geopolitik und Privatwirtschaft

Mithilfe der folgenden Ausführungen soll versucht werden, etwas Grund in diese Debatte zu bringen. Zu diesem Zweck werden zehn Thesen vorgestellt, die einen Beitrag zu einer systematischeren Diskussion über den Zusammenhang von Geopolitik, Politik und Privatwirtschaft leisten und die zu Widerspruch, Zuspruch oder auch Ergänzungen einladen sollen.

4.1 Geopolitik bleibt Geopolitik bleibt Geopolitik

Mit dem Begriff Geopolitik ist der Wettbewerb zwischen Staaten um die Kontrolle über Menschen und Gebiete zu verstehen. Dabei spielen bestimmte Orte eine größere Rolle als andere, da sie für die Kontrolle über bestimmte Räume, oder den Zugang zur Ressource, von besonderer Bedeutung sind. Die traditionellen Instrumente, die Staaten bei diesem Wettbewerb anwenden, sind das Militär, die Diplomatie, der Handel und Wirtschaft sowie die nachrichtendienstlichen Aktivitäten. Einhergehend mit dem technologischen Wandel der vergangenen drei Jahrzehnte sind Technologieführerschaft sowie die Fähigkeit zur Kontrolle von Datenströmen zu weiteren Dimensionen der Geopolitik geworden. Bei allem Neuen: Geopolitik hat sich auch im 21. Jahrhundert im Wesentlichen nicht geändert. Der erkennbare Trend zur Abschottung ökonomischer Räume durch Regulatorik, Compliance, Industriestandards, die staatlich vorgegebene Einschränkung des Zugangs zu kritischer Technologie, Rohstoffen und zum Waren- sowie Datenverkehr sind die Kernelemente der geopolitischen Auseinandersetzung – insbesondere zwischen den USA, Europa und China. Diese, aber auch der Krieg in Nahost machen deutlich, dass neben den „weicheren“ geopolitischen Instrumenten das Militär auch in Zukunft von zentraler Bedeutung sein wird. Russlands militärische Aggression gegen die Ukraine macht darüber hinaus deutlich, dass neben diesen „weicheren“ geopolitischen Instrumenten das Militär auch in Zukunft von zentraler Bedeutung bleiben wird.[14]

4.2 Wirtschaften ist längst politisch geworden. It’s (Geo)Politics, Stupid

Während in den vergangenen dreißig Jahren das Leitmotiv der Freiheit des Handels von staatlichen Eingriffen und die Herrschaft des Rechts bei strittigen Handelsfragen dominierte, so hat sich dieses spätestens seit den ersten extraterritorialen Sanktionen der USA grundlegend gewandelt, sodass sich von einem Paradigmenwechsel sprechen lässt. Er ist auch der Grund dafür, dass die Hoffnung, „die guten alten Zeiten“ würden wieder kommen, wohl bitter enttäuscht werden wird: Denn wir erleben, dass „die Politik“ zunehmend direkt eingreift – und damit die eigene Wirtschaft zum Instrument der Außenpolitik macht. Pikant ist, dass sich diese Tendenz unabhängig von der Regierungsform beobachten lässt. Dieser Paradigmenwechsel bedeutet also auch, dass die (Geo)politik die Unternehmen fest im Blick hat. Während für die internationalen Entwicklungen in den vergangenen dreißig Jahren das Prinzip Hoffnung galt, das mit hohen Wachstumsraten gepaart war, lautet der Leitsatz heute: Wenn sich ein Unternehmen nicht mit Geopolitik auseinandersetzt, wird sich diese mit dem Unternehmen auseinandersetzen. Daraus resultiert, dass die alte Forderung – die Politik sollte die Unternehmen besser verstehen – umgedreht werden muss: In diesem Umfeld gilt es für Unternehmen, die Politik besser verstehen zu lernen. Anders formuliert: Galt in der Blütephase der Globalisierung, während der Präsidentschaft von Bill Clinton, noch das Motto: „It’s the economy stupid!“, so heißt es im Zeitalter der geopolitischen Renaissance „it’s (geo)politics stupid“[15].

4.3 Es kommt auf das Zusammenspiel von Politik und Unternehmen an

Aber auch die Politik hat hierzulande immer noch nicht verstanden, wie die Wirtschaft „tickt.“ In großen Fragestellungen finden sich häufig unüberbrückbare Zielkonflikte.[16] Da diese aber nur mit einem Mindestmaß an Dialog in einer freiheitlich verfassten Gesellschaft gelöst werden können, gilt es für beide Seiten, ein neues Fundament für den Austausch zwischen Politik und Unternehmen über den Umgang mit einem grundlegend veränderten internationalen Umfeld auf die Beine zu stellen. Die Schaffung eines Geopolitischen Wirtschaftsbeirates böte einen solchen Ansatz. Ob dieser dabei helfen kann, die gemeinsamen Interessen von Politik und Wirtschaft zu formulieren, wäre zu diskutieren.[17] Das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Wirtschaft wird er genauso wenig auflösen wie die Konkurrenz zwischen Unternehmen. Letztlich gilt es zu akzeptieren, dass eine perfekte Lösung für alle nicht möglich sein wird. Bei allen Harmonisierungs- und Institutionalisierungsbemühungen wird immer auch ein „Durchwurschteln“ und „Leben in der Lage“ bleiben. Das ist kein Armutszeugnis, sondern vielmehr Ausdruck der Vielseitigkeit der deutschen Wirtschaft einerseits und auch Ausdruck einer Demokratie, die die Diskussion über dieses Spannungsverhältnis und eventuelle Zielkonflikte überhaupt erst ermöglicht.

4.4 Unternehmen müssen vom reaktiven zu einem proaktiven geopolitischen Risikomanagement übergehen

Die Annahme, insbesondere deutsche Unternehmen befassten sich unzureichend mit Geopolitik, trifft nur teilweise zu. Richtig ist, dass die meisten Unternehmen gezwungenermaßen einen Umgang mit geopolitischen Risiken finden, aber eben regelmäßig erst, nachdem das Risiko eingetreten und der Schaden entstanden ist. Weil ein Unternehmen nur geringe Einflussmöglichkeiten auf die internationale Politik hat, stehen die operativen Konsequenzen im Mittelpunkt. Daher kommt es nicht selten vor, dass die Folgen der „Geopolitik“ von ganz unterschiedlichen Abteilungen in einem Unternehmen betrachtet werden.[18] Die Renaissance der Geopolitik aber verlangt von Unternehmen, dass sie von einem reaktiven zu einem proaktiven Risikomanagement übergehen.[19] Dies bedeutet, dass neben der zunehmenden Bedeutung antizipatorischer Instrumente und Methoden, wie beispielsweise die unterschiedlichen Szenarientechniken, die vorhandene interne Expertise besser koordiniert und in den Entscheidungsprozess integriert werden muss. Schließlich müssen geopolitische Risiken als ein übergreifendes, strategisches Thema der Unternehmensleitung verstanden werden.

4.5 Geopolitische Risiken sind quantifizierbar – zumindest in der Rückschau

In vielen Unternehmen wird die Auseinandersetzung mit Geopolitik als ein weiteres Risiko, als Kostenfaktor betrachtet, und wird daher nur zögerlich angegangen. Die Eventualitäten geopolitischer Entwicklungen seien zu abstrakt, um sie in konkrete, betriebswirtschaftliche Maßnahmen zu übersetzen, so die Begründung. Überdies sei häufig unklar, welche unternehmerischen Konsequenzen Geopolitik hat – jedenfalls ließen sie sich nur schwer in Zahlen ausdrücken. Das ist nicht korrekt. Natürlich lassen sich die Kosten geopolitischer Risiken quantifizieren. So ist es möglich, die Kosten, die sich aus einer veränderten Regulatorik für den Handel mit China im Bereich der Chiptechnologie ergeben, zu errechnen. Sicher können deutsche Automobilzulieferer die Kosten für den plötzlichen Ausfall ukrainischer Zulieferer von Kupferkabeln beziffern. Leider lässt sich ein zukünftiger Schaden durch die Kenntnis vergangener, also bereits verbuchter Schäden nicht abwehren. Kann man ihn in Zukunft ausschließen? Ebenfalls nein. Dennoch hilft die Kenntnis der möglichen Größenordnung ebenso wie das Verständnis darüber, wo diese Kosten am ehesten entstehen können dabei, die Dinge ins Verhältnis zu setzen.[20] Auch lassen sich Alternativen dann quantitativ besser beurteilen. Betrachtet man also bekannte Schadenshöhen geopolitischer Risiken aus der Vergangenheit auf der einen und das absehbare Andauern eines dynamischen und volatilen internationalen Umfelds auf der anderen Seite, erscheinen die Kosten für eine systematische Befassung von Unternehmen mit dem geopolitischen Risiko verschwindend gering. Dies ist selbst dann der Fall, wenn ein negatives Ereignis in der Zukunft nicht optimal vorhergesagt oder verhindert werden kann. Gestärkt wird aber die Resilienz gegenüber geopolitischen Schadenseintritten durch die regelmäßige Auseinandersetzung mit der Frage „was wäre, wenn.“ Die Kosten bleiben auch deshalb gerechtfertigt, weil sie unmittelbar dazu beitragen, dass ein Unternehmen schneller auf eine unerwartete, geopolitisch motivierte Entwicklung reagieren kann.

4.6 Mittelfristig bleiben technische Lösungen ein Hilfsmittel, aber kein Allheilmittel

Der technologische Wandel insbesondere bei der Sammlung und Verarbeitung immer größerer Datenmengen hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Art und Weise der Entscheidungsfindung. Die hohen Erwartungen in Verbindung mit KI in nahzu allen Bereichen des unternehmerischen Handelns legt daher die Erwartung an ein solches tool auch für Geopolitik nahe. Im Idealfall sollte dieses tool unangenehme Überraschungen vor ihrem Eintritt erkennen und das Unternehmen auf alle Eventualitäten der Zukunft vorbereiten. Für eine solche KI-gestützte Vorhersagemaschine wären auch Kritiker der systematischeren Befassung mit geopolitischen Risiken in Unternehmen durchaus zu gewinnen. Aber eine solche Maschine gibt es nicht – und wird es wohl auch absehbar nicht geben. Auch wenn eine Vielzahl von Möglichkeiten existiert, um KI-gestützte geopolitische Risikoabwägungen vorzunehmen, und dies durchaus auch aus Gründen der Kosteneffizienz eine interessante Überlegung für Unternehmen sein kann, wird ein „gutes“ geopolitisches Risikomanagement immer nur in der reflektierenden Verbindung menschlichen und technologischen Kapitals möglich sein. So helfen natürlich schon lange technische Verfahren beim Monitoring relevanter Indikatoren oder der Validierung von Szenarien.[21] Es ist aber unbestritten, dass der Beginn einer systematischen Betrachtung in einer menschlichen Analyse der eigenen Risikoexposition liegt. Diese Analyse bildet die Grundlage für die – ebenfalls menschlich determinierte – Entwicklung von Szenarien über mögliche Entwicklungen ausgesuchter und priorisierter geopolitischer Risiken. Die Notwendigkeit menschlicher Analyse besteht darüber hinaus bei der Interpretation der Indikatoren und Information. Wenngleich auch dies in Zukunft immer mehr durch künstliche Intelligenz übernommen werden kann, ist zu erwarten, dass der Mensch als entscheidendes Glied in der Kette erhalten bleibt.

4.7 Schwarze Schwäne: Unternehmen brauchen ihre eigene CIA

Die US Central Intelligence Agency (CIA) wurde seinerzeit mit der Absicht gegründet, die USA vor feindlichen Überraschungen durch frühzeitige Aufklärung zu bewahren. Auch für Unternehmen geht es bei geopolitischen Risiken um die Früherkennung und die Abkehr unerwarteter Großschadensereignisse. Aus unternehmerischer Sicht sind geopolitische Risiken vor allem unerwartete Ereignisse politischen Ursprungs mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die eigene wirtschaftliche Tätigkeit. Die absehbar steigende Wahrscheinlichkeit derartiger Ereignisse für Unternehmen wird es gerade für international agierende Unternehmen erforderlich machen, eine eigene intelligence-Fähigkeit aufzubauen. Zahlreiche Unternehmen werden aus Sachzwängen zögern, in eine eigene intelligence-Struktur zu investieren. Zu groß und kostenintensiv erscheint eine solche Struktur. Dabei haben Unternehmen einen großen Vorteil, da sie über ein weltweites Netz an Standorten und Handelsbeziehungen verfügen. Die Tatsache, dass Unternehmen oftmals genau dort mit Mensch und Material vertreten sind, worüber viele Analysten und Experten nur aus dem Buch Auskunft geben können, stellt einen wesentlichen Kraftverstärker beim Aufbau einer verbesserten Sensorik für geopolitische Entwicklungen dar. Diese Ressource sollten Unternehmen nutzen. Sie hilft, Risiken zu kontextualisieren und auch aus einer lokalen Perspektive zu betrachten. Diese Vertretungen stellen für Unternehmen wertvolle Antennen für die Früherkennung möglicher krisenhafter oder negativer Entwicklungen dar. Das lokale Sensorium schlägt oftmals weit vor dem Ausbruch der eigentlichen Krise an, jedenfalls bevor diese in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert wird. Die wesentliche Frage ist dabei, wie sich dieses Potenzial effektiv nutzen lässt. Hierbei kommt der Koordinierung und Aufbereitung der globalen, lokalen und regionalen Informationsströme eines Unternehmens eine wesentliche Rolle zu. Unternehmen müssen den politischen Kontext ihrer betrieblichen Aktivitäten besser verstehen. Dies ist der sicherste Weg, um unangenehme politische Entwicklungen, ob groß oder klein, früher wahrzunehmen – wenngleich er keine Garantie gegen schwarze Schwäne darstellt. Ob diese Fähigkeit nun als eine eigene Abteilung oder als Stabsstelle im Sinne eines Chief Political Affairs Officer, oder Vice President Politics and International Politics gedacht wird, ist dabei zweitrangig. Wichtiger ist das Verständnis, dass die damit einhergehenden Aufgaben nicht durch möglichst häufige Teilnahme bei Empfängen erledigt ist, sondern Professionalität, Methodik und Expertise bedürfen.

4.8 Externe „geopolitische“ Expertise kann hilfreich und wertvoll sein.

Bei allem, was den Menschen (noch) von der Maschine unterscheidet, insbesondere seine Stärke bei der Interpretation widersprüchlicher Informationen und Formulierung möglicher zukünftiger Entwicklungen, gibt es doch eine Achillesferse: Der Mensch steht sich selbst im Weg.[22] Die kognitive Disposition des Menschen führt dazu, dass er sich selbst blinde Flecken schafft – durch individuelle, oftmals unbewusste Präferenzen oder durch gruppendynamische Idiosynkrasien. Gepaart mit häufig vorhandenem Entscheidungsdruck und konkurrierenden Prioritäten im Alltagsgeschäft werden einmal erarbeitete Szenarien selten überprüft und kritisch hinterfragt. Ein Mittel, den bei der geopolitischen Risikobetrachtung und Szenarienentwicklung immanenten bias zumindest zu kontrollieren, ist das Hinzuziehen externer Berater. Diese können helfen, ein „integriertes geopolitisches Risikomanagement“ zu entwickeln, das vom C-Level-Briefing über die Begleitung bei der Szenarienentwicklung und der Identifikation von Indikatoren bis hin zur Stärkung eines gemeinsamen Verständnisses geopolitischer Herausforderungen für das eigene Unternehmen reicht. Die für eine solche Beratung erforderliche Expertise an der Schnittstelle von „business operations“ und Geopolitik ist dabei rar gesät. Häufig fußen die Beratungsansätze ausschließlich in geopolitischen oder ökonomischen Indikatoren. Es ist jedoch gerade die Fähigkeit, die beiden Elemente gemeinsam zu betrachten, durch die externe Beratung einen nachhaltigen Mehrwert für Unternehmen schaffen kann.

4.9 Geoökonomie ist das unternehmerische Management von Risiken und Chancen, die sich aus dem geopolitischen Kontext ergeben

Zahlreiche Experten sprechen heute von geoökonomischen Risiken, wenn sie ökonomische Risiken meinen, die sich aus der Geopolitik ergeben.[23] Die Begründung für diese Verschiebung von Geopolitik zu Geoökonomie soll die Wesensveränderung der Geopolitik im 21. Jahrhundert unterstreichen. Im Gegensatz zum 19. und 20. Jahrhundert, in dem Geopolitik vor allem mit militärischen Mitteln oder hard power-Instrumenten betrieben wurde, sei das Mittel der Geopolitik im 21. Jahrhundert die Ökonomie. Dabei ginge es insbesondere um Technologie, Regulatorik und compliance. Mag dies auf den ersten Blick einleuchten, kommen auf den zweiten Blick Zweifel: Erstens spielen spätestens seit dem völkerrechtswidrigen, militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine „traditionelle“ Elemente der Geopolitik wieder eine Rolle. Aber auch zuvor – und in der Folge – hat die Anzahl bewaffneter Konflikte eher zu- als abgenommen. Zweitens ist eine Schwerpunktverschiebung nicht gleichbedeutend mit der Diskontinuität militärischer Mittel im Kontext der Geopolitik. Drittens verbleiben die Verfechter des Begriffes Geoökonomie in der staatszentrierten Perspektive, da sie die Ökonomie als Instrument staatlichen Handelns begreifen, aus dem sich Risiken für Unternehmen ergeben könnten. Und viertens ist, wie bereits zuvor argumentiert, die Nutzung wirtschaftlicher Maßnahmen ein ebenso traditionelles geopolitisches Instrument. Mithin wirkt die Begrenzung von Geopolitik auf eines seiner traditionellen Instrumente künstlich, und die Anwendbarkeit des Begriffes Geoökonomie ist auch aus politischer Perspektive zu kurz gesprungen. Anders verhält es sich, wenn man das Referenzobjekt der Geoökonomie ändert und private Unternehmen in den Mittelpunkt rückt. Wirtschaften bedeutet das Abwägen von Chancen und Risiken bei Knappheit der Mittel. Betrachtet man Geoökonomie als das unternehmerische Abwägen von Risiken und Chancen, die sich aus dem geopolitischen Kontext ergeben, rückt das Spannungsverhältnis geopolitischer Entwicklungen und unternehmerischen Handlungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt. Aus dieser Perspektive wäre Geoökonomie ein Fach der Betriebswirtschaftslehre, in dem Politikwissenschaft und Volkswirtschaft Hilfswissenschaften sind[24]; geoökonomische Expertise ist dann die Fähigkeit, Kenntnis und Kunst und geopolitische Entwicklungen in die unternehmerischen Entscheidungsprozesse zur Prävention möglicher Schadensereignisse und zur Mehrung des wirtschaftlichen Erfolges zu integrieren.

4.10 Nicht alles ist Geopolitik

Geopolitik und die sich daraus ergebenden Risiken stellen eine große Herausforderung für Unternehmen dar. Die aus diesen Risiken möglicherweise resultierenden Schäden sind auch für Unternehmen von solcher Größenordnung, dass eine systematischere Befassung damit ebenso sinnvoll erscheint wie mit den sich daraus ergebenden unternehmerischen Möglichkeiten. Doch für Unternehmen ist nicht alles Geopolitik: Diese wird immer nur eine Dimension sein, die es aus unternehmerischer Perspektive zu betrachten gilt. Klassische Wettbewerbsfaktoren werden von größerer Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens bleiben. Die Kunst wird darin liegen, die Auswirkungen geopolitischer Entwicklungen auf das eigene Unternehmen systematischer einordnen und in unternehmerische Praxis übersetzen zu können.

5 Schlussbemerkungen

So wenig davon auszugehen ist, dass es eine technische Lösung für das Problem der Unsicherheit der Zukunft geben wird, so wenig ist davon auszugehen, dass Politik und Unternehmen „an einem Strang“ ziehen. Zu unterschiedlich sind die Sphären Politik und Privatwirtschaft, zu komplex die Zusammenhänge zwischen den großen Megatrends und den alltäglichen Herausforderungen sowohl im politischen als auch unternehmerischen Alltag. In vielen Fällen potenzieren sich unangenehme Zielkonflikte sogar noch beim Versuch, Politik und Wirtschaft in besseren Einklang zu bringen.

Im Zeitalter der Renaissance der Geopolitik aber ist für Ostrichismus kein Platz. Weder wird es helfen, „den Kopf in den Sand zu stecken“, noch die Strategie des Steins – Nichtstun und hoffen – zu verfolgen. Blinder Aktivismus ist ebenso wenig ratsam. Diese Reaktionen aber scheinen umso wahrscheinlicher, je geringer die Kenntnis über geopolitische Risiken und ihre Bedeutung für Unternehmen ist. Für Politik und Wirtschaft bedeutet dies, dass ein besseres Verständnis der Zusammenhänge zwischen Geopolitik und Privatwirtschaft zu entwickeln ist. Dies böte auch ein geeignetes Fundament für einen zielgerichteten Dialog zwischen Wirtschaft und Politik.

Ohne dass hier schon operative Vorgaben gemacht werden sollten, wäre es empfehlenswert, wenn sich gerade international operierende deutsche Unternehmen aus der unternehmerischen Perspektive mit folgenden Aspekten eingehender befassen würden. Dies wäre (1) eine Übung, die man scanning the horizon nennt, bei der es darum geht festzustellen, worauf es für Unternehmen in den folgenden fünf Jahren ankommt und welche politischen Entwicklungen dafür im Auge zu behalten sind; (2) die Klärung der Frage, wer im Unternehmen für geopolitische Risiken verantwortlich ist; (3) die Befassung mit der Sicherheit von Rohstoffen und die Klärung der politischen Risiken, die sich mit Rohstoffabhängigkeiten verbinden können; (4) die Analyse von regulatorischen Risiken, die sich Infolge von Geopolitik ergeben können; (5) die Analyse von Risiken, die sich mit Lieferketten, insbesondere mit Blick auf kritische Rohstoffe und Zwischenprodukte, verbinden; (6) die Analyse von Risiken, die sich dem Zugang zu oder der Verweigerung von Daten verbinden; (7) die Auseinandersetzung mit Reputationsrisiken, die im Zuge von geopolitischen Auseinandersetzungen entstehen können; (8) die Bestimmung von Führungsgrundsätzen zum Umgang mit geopolitischen Risiken; (9) die Erschließung von unternehmerischen Opportunitäten, die sich unter Bedingungen einer Renaissance der Geopolitik ergeben können; (10) die Entwicklung systematischer Ansätze, geopolitische Risiken in bestehende Risikomanagementansätze zu integrieren.

Über den Autor / die Autorin

Dr. Peter Eitel

Senior Manager

Literatur

Ansoff, Harry Igor (1975): Managing strategic surprise by response to weak signals, Californian Management Review, 18 (2), 21–3310.2307/41164635Search in Google Scholar

Binder, Clemens/Stachowitsch, Saskia (2019): Die Rückkehr der Geopolitik? Möglichkeiten und Limitation geopolitischer Analysen. Wien: Österreichisches Institut für Internationale Politik (Arbeitspapier 105)Search in Google Scholar

Dorn, Florian/Flach, Lisandra/Fuest, Clemens/Schneckenhofer, Lisa (2022): Geopolitische Herausforderungen und ihre Folgen für das deutsche Wirtschaftsmodell. München: Verband der bayerischen Wirtschaft e. V.Search in Google Scholar

Eitel, Peter (2022): „One man’s surprise is another man’s analysis.“ Warum Regierungen überrascht werden und was man dagegen tun kann, Sirius – Zeitschrift für Strategische Analysen, 6 (3), 293–30210.1515/sirius-2022-3005Search in Google Scholar

Hofmann, Nils (2012): Renaissance der Geopolitik? Die deutsche Sicherheitspolitik nach dem Kalten Krieg. Wiesbaden: VS Verlag für SozialwissenschaftenSearch in Google Scholar

Mützenich, Rolf (2022): Zur Neuvermessung der Macht im internationalen Staatensystem, in: Hendrik W. Ohnesorge (Hrsg.): Macht und Machtverschiebung. Schlüsselphänomene internationaler Politik – Festschrift für Xuewu Gu zum 65. Geburtstag. Berlin/München: De Gruyter Oldenbourg, 405–42210.1515/9783110795028-024Search in Google Scholar

PriceWaterhouseCoopers (2023): PwC’s 27th Annual Global CEO Survey. Thriving in an age of continuous reinvention. Frankfurt u. a.: PricewaterhouseCoopers (www.ceosurvey.pwc)Search in Google Scholar

Strachan, Hew (2005): The lost meaning of strategy, Survival, 47 (3), 33–5410.1080/00396330500248102Search in Google Scholar

Wacker, Gudrun (2006): Chinas Aufstieg – Rückkehr der Geopolitik? Berlin: Stiftung Wissenschaft und PolitikSearch in Google Scholar

World Economic Forum (2023): Chief Risk Officer Outlook. Davos: WEFSearch in Google Scholar

Online erschienen: 2024-06-08
Erschienen im Druck: 2024-06-06

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Aufsätze
  4. Handlungsspielräume deutscher Sicherheitspolitik nach Russlands Angriff auf die Ukraine 2022
  5. Die „Zeitenwende“ und die Suche nach einem Paradigma für die postliberale internationale Ordnung
  6. Zermürbung durch Mehrfrontendruck: Wie die Achse der Autokratien die westliche Allianz in die Knie zwingen will
  7. Der lange Schatten der Standardisierung in Allianzen – technologische Pfadabhängigkeit, strategische Tiefe und globaler Rüstungsmarkt
  8. Die sicherheitspolitische Bedeutung von Weltraum und NewSpace im Ukraine-Krieg – politische Implikationen für die militärische und kommerzielle Raumfahrtnutzung
  9. Kurzanalyse
  10. It’s Geopolitics, Stupid!? – Zehn Thesen über den Zusammenhang zwischen Geopolitik und Wirtschaft
  11. Ergebnisse internationaler strategischer Studien
  12. Bilanz von Chinas Seidenstraßeninitiative
  13. International Institute for Strategic Studies: China’s Belt and Road Initiative. A Geopolitical and Geo-economic Assessment. London: IISS (Strategic Dossier), November 2022
  14. Bradley C. Parks/Ammar A. Malik/Brooke Escobar/Sheng Zhang/Rory Fedorochko/Kyra Solomon/Fei Wang/Lydia Vlasto/Katherine Walsh/Seth Goodman: Belt and Road Reboot. Beijing’s Bid to De-Risk Its Global Infrastructure Initiative. Williamsburg, Va.: AidData – a Research Lab at William and Mary, November 2023
  15. Lehren aus dem Ukraine-Krieg
  16. Jack Watling/Nick Reynolds: Russian Military Objectives and Capacity in Ukraine Through 2024. London: Royal United Services Institute, Februar 2024
  17. Sam Greene/Elina Beketova/Elena Davlikanova/Olya Korbut/Federico Borsari/Mathieu Boulègue/Lera Burlakova/Ben Dubow/Aura Sabadus/Katia Glod/Olena Pavlenko/Pavel Luzin/Oleksandr Moskalenko/Volodymyr Dubovyk/Vitalii Dankevych/SaraJane Rzegocki: Containing Russia. Securing Europe. Washington, D.C.: Center for European Policy Analysis (CEPA), Januar 2024
  18. Buchbesprechungen
  19. Carlo Masala: Bedingt abwehrbereit. Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende. C. H. Beck: München 2023, 207 Seiten
  20. Ed Conway: Material World. Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen. Hamburg: Hoffmann und Campe: 2024, 544 Seiten
  21. Mike Martin: How to Fight a War. London: Hurst & Company 2023, 249 Seiten
  22. Bücher von gestern – heute gelesen
  23. George Friedman: The Next 100 Years. A Forecast for the 21st Century. Anchor Books/Random House: New York 2010, 253 Seiten
  24. Bildnachweise
Downloaded on 11.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2024-2007/html
Scroll to top button