1 Unordnung und frühes Leid: der Werdegang
Am 5. Februar verstarb in München Knut Borchardt, der über Jahrzehnte wohl einflussreichste und am meisten diskutierte deutsche Wirtschaftshistoriker. Aufgewachsen in der Berliner Siemensstadt und ursprünglich am Theaterfach interessiert, studierte Borchardt in Berlin bei Bertolt Brecht. Zu seinen studentischen Aufgaben gehörte es nach eigenem Bekunden, versehen mit Dollars aus Brechts Tantiemen West-Zigaretten für seinen Lehrherrn zu besorgen. Eine von Borchardt kuratierte Ausstellung am Schiller-Archiv im Weimar wurde wegen Linksabweichlertums und einer zu klassenkämpferischen Einstellung am Abend vor der Eröffnung eingerissen; er selbst musste sich nach eigener Erzählung bei seinen Eltern in West-Berlin einfinden und erfuhr dort von vertraulichen Warnungen vor seiner bevorstehenden Verhaftung.
Dem besorgten und erzürnten Vater zuliebe folgte ein Studium der Betriebswirtschaftslehre in München, einen weiteren Fachwechsel hin zum eigentlich betriebenen volkswirtschaftlichen Studium mutete Borchardt den Eltern nicht zu. Zu seinen akademischen Mentoren gehörten Friedrich Lütge und Erich Preiser. Der Agrarhistoriker Lütge brachte ihn zur Wirtschaftsgeschichte; Preiser hat ihn bleibend geprägt mit seiner an Verteilungskonflikten ausgerichteten Konjunkturtheorie wie bei Michał Kalecki und Nicholas Kaldor. Borchardts Münchner Seminar, in das man als Studierender noch mehr oder weniger formal eintrat, war ebenso eine historische Deutschstunde wie eine beständige, intensive Auseinandersetzung mit der Dialektik von Verteilungskonflikt und Kapitalakkumulation. Einen etwaigen früh gehegten Glauben an Karl Marx hatte Borchardt im Theater am Schiffbauerdamm zurückgelassen, das Lebensthema des Klassenkonflikts jenseits der von ihm mit milder Skepsis betrachteten keynesianisch-neoklassischen Synthese begleitete ihn jedoch weiter.

Zur Wirtschaftsgeschichte gelangte Borchardt nicht auf direktem Weg; seine Qualifikationsarbeiten galten der europäischen Marktordnung und Wettbewerbspolitik. Frühen Einfluss erlangte er mit einer Denkschrift zur Lage der Wirtschaftswissenschaft im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die zur flächendeckenden Einrichtung wirtschaftshistorischer Lehrstühle für die wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge riet[1] – eine seitdem nicht immer befolgte Empfehlung, deren Grund nicht zuletzt im Phänomen wiederkehrender Krisen und langer Wellen der Regulierung liegt[2].
Borchardt wurde 1962 an die damalige Wirtschaftshochschule Mannheim berufen und 1966 ihr erster Rektor nach der Umgründung zur Universität. Im Seminar beschrieb er die Mannheimer Jahre als unruhige Zeit, in der ihm aber seine Kenntnis marxistischer Denkweise zugutegekommen sei. Noch in späteren Jahren ließ sich Borchardt mit sportlicher Freude auf Diskussionen über das marxistische Geschichtsbild ein, fand dazu allerdings selten Gelegenheit. Die K-Gruppen zogen lieber in die Vorlesungen anderer, nicht einschlägig erprobter Professoren, die im rhetorischen Florettfechten weniger Treffer landen konnten.
Im Jahr 1969 folgte Borchardt einem Ruf zurück nach München auf Lütges Lehrstuhl, wo er in Rückkehr zu einer älteren Tradition auch am allgemeinen volkswirtschaftlichen Lehrprogramm teilnahm.[3] In München wirkte Borchardt bis zu seiner gesundheitsbedingten vorzeitigen Entpflichtung 1991. Von 1970 bis ins hohe Alter gehörte er als aktives Mitglied dem Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums an, dessen Arbeit nicht allein von seiner analytischen Tiefenschärfe, sondern zudem seinem Bestreben nach sprachlicher Genauigkeit profitierte. Zu seinen vielfachen Auszeichnungen zählen der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1987), das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse (1989), der Bayerische Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst (1999) sowie Ehrendoktorate der Universitäten Innsbruck und Mannheim.[4]
2 Das Brot der frühen Jahre
Borchardts erste Veröffentlichungen galten der frühen industriellen Revolution in Deutschland, genauer gesagt deren Ausbleiben. In einer Auseinandersetzung mit der damals populären Kapitalmangelthese begründete Borchardt die Langsamkeit des Strukturwandels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den deflationären Nachwirkungen der Napoleonischen Kriege und regional segmentierten, noch weitgehend agrarisch geprägten Kapitalmärkten.[5] Hier wird bereits Borchardts Stil sichtbar: ein dichtes analytisches Narrativ, das der Leserschaft einiges abverlangt sowie durch Vorwegnahme und detaillierte Diskussion aller denkbaren Einwände der Kritik nur wenig Ansatzpunkte lässt. Ebenfalls typisch ist ein ausführlicher Fußnotenapparat, der keine relevante Veröffentlichung unerwähnt lässt und den Text gelegentlich fast zur Nebensache macht.
Zur selben Zeit brachte Borchardt einen Übersichtsaufsatz über die Literatur zur industriellen Revolution in Großbritannien heraus, eine kommentierte Bibliographie von mehr als sechzig Druckseiten, die bei heutiger Lektüre den Eindruck bestärkt, dass alle wesentlichen Fragen zum Gegenstand bereits vor zwei Generationen intensiv diskutiert wurden[6]. Es folgten kleinere Einzeluntersuchungen zur deutschen Wirtschaftsgeschichte während der Industrialisierung, ein bekannt gewordener englischsprachiger Handbuchbeitrag und ein kurzes Lehrbuch.
Borchardts Obsession mit der Kenntnisnahme und Verarbeitung des Forschungsstandes führte zum Aufbau eines umfangreichen Zettelkastens im heimischen Studierzimmer – eigentlich einem Bibliotheksraum mit rollender Regalleiter an einer Schiene –, dessen Gehalt und Gliederung es mit mancher Fachbibliothek aufnehmen konnte und bei Doktoranden und externen Fragestellern ebenso mythenumwoben wie gefürchtet war. Anfragen oder Textentwürfe wurden mit detaillierten Glossaren beantwortet, wobei oft genug die zurückgereichten Kommentare so umfangreich waren wie der vorgelegte Text. Ich selbst erinnere mich an vergeblich bleibende Versuche besorgter Mitarbeiter in späteren Jahren, die Einreichung schriftlicher Anfragen an den gesundheitlich gefährdeten Chef zu begrenzen, um seiner Überarbeitung Einhalt zu gebieten.
3 Krise und Rekonstruktion
Schon in den Schriften zur Industrialisierung ist erkennbar, dass Borchardts tieferes Interesse dem Wachstumsprozess und seinen Störungen galt. Zwei Studierende aus der Mannheimer Zeit griffen in ihren Dissertationen die damals neue Rekonstruktionsthese auf und wendeten sie auf die frühe Nachkriegszeit an: Mathias Manz (1968) und Werner Abelshauser (1975). Der ungarische Planökonom Ferenc Jánossy (1966) hatte als einer der wenigen das Ende der raschen Nachkriegserholungen und das Einschwenken auf einen langsameren Wachstumstrend vorhergesagt. Das Buch war implizit eine Kritik an den sowjetischen Plankonzepten. Es war aber auch auf die westlichen Länder anwendbar, in denen sich seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre unverkennbare Tendenzen zur Verlangsamung des Nachkriegswachstums zeigten. Superwachstum in Nachkriegsdeutschland, so die Ergebnisse der Arbeit von Manz und der in Bochum fertiggestellten Arbeit von Abelshauser, setzte tatsächlich schon vor der Währungsreform von 1948 ein.
Knut (Borchardt 1976, 1982) hat diesen Befund auf die säkularen Wachstumsverluste der deutschen Volkswirtschaft seit dem Ersten Weltkrieg ausgeweitet und brachte eine Grafik, nach der das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zu Anfang der siebziger Jahre auf den kontrafaktisch fortgeschriebenen Trend von 1900 bis 1913 einschwenkt (Abb. 1).

Reales Pro-Kopf-BIP in Deutschland/Westdeutschland 1901–1995
Quelle: Ritschl und Spoerer 1997, S. 49.
Abb. 1 zeigt eine bis 1995 fortgeschriebene Version der damaligen Darstellung Borchardts. Als wäre sie magisch von einer kontrafaktischen Trendlinie angezogen, kehrt die Wirtschaftsleistung pro Kopf in Deutschland ab den siebziger Jahren ungefähr wieder dahin zurück, wohin sie sich ohne Krieg, Zerstörungen, Gebietsveränderung, Flucht und Vertreibung entwickelt hätte. Solche Wachstumsanalysen mit kontrafaktischen deterministischen Trends sind in der neueren Literatur gang und gäbe, waren aber damals ungewöhnlich und neu. Ihre Verwendung bietet natürlich Angriffsflächen für alle Arten von Kritik, die vom Verweis auf Indexprobleme bis hin zur Frage nach der Sinnfälligkeit kontrafaktischer Steady states reichen kann.
Interessant ist aber, bei allen Messproblemen, dass die starken Auslenkungen im Gefolge der Weltkriege nicht durch Veränderungen der Kapitalintensität erklärt werden können, ebensowenig die nachherige Konvergenz zum Wachstumsgleichgewicht; der höchste Erklärungsanteil liegt in Variationen des Solow-Residuals[7]. Bemerkenswert an der Trendlinie in Abb. 1 ist nicht allein ihre Robustheit gegenüber den massiven Strukturbrüchen, sondern der augenfällige Unterschied zwischen der mehrfach unterbrochenen, gescheiterten Rekonstruktion nach dem Ersten Weltkrieg und dem nun nicht mehr ganz so wundersamen Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg. Für Borchardt war dieses Ergebnis der Startschuss zu einer Reihe von Veröffentlichungen, in denen er sich mit der Malaise des gescheiterten Nachkriegsaufschwungs nach dem Ersten Weltkrieg befasste.
4 Weimars kranke Wirtschaft
In zwei Aufsätzen formulierte Borchardt (1979, 1980a) eine doppelte These zum wirtschaftlichen Scheitern der Weimarer Republik. Zum einen sei die Regierung Brüning während der Weltwirtschaftskrise, insbesondere der großen deutsche Bankenkrise von 1931, vom Zugang zu Krediten abgeschnitten gewesen. Ihre, wie man heute sagen würde: „Austeritätspolitik“ war demnach nicht die Konsequenz falscher Denkweise oder gar sinistrer reparationspolitischer Absichten, sondern Brüning befand sich nach Borchardts Diagnose in einer fiskalpolitischen Zwangslage. Handlungsspielräume für eine bessere Politik ließen sich nicht ausmachen.
Zum anderen wies die Weimarer Volkswirtschaft schon vor der Weltwirtschaftskrise eigene Krisensymptome auf. Dazu zählten insbesondere ein starker Anstieg der realen Lohnstückkosten, mühsam kaschierte Ungleichgewichte in den öffentlichen Haushalten sowie eine niedrige gesamtwirtschaftliche Investitionsquote. Beides würde bei flexiblen Wechselkursen wenig Sorge bereiten, in der Zwangsjacke des Goldstandards aber waren dies Warnzeichen, die auf eine kommende Krise hindeuteten. Eine Abwertung oder Freigabe der Parität sah Borchardt (1980b) allerdings als unrealistischen, faktisch nicht gangbaren Ausweg.
5 Wie ist die Borchardt-These überhaupt möglich?
Im einem einfachen Mundell-Fleming-Modell ohne Kreditbeschränkungen kann es keine fiskalpolitische Zwangslage geben und damit keine Borchardt-These. Bei festen Wechselkursen und hoher Kapitalmobilität sind Geldmenge und Goldreserve endogen; heimische Geldpolitik bleibt wirkungslos. Auslastung und Beschäftigungsgrad der Volkswirtschaft sind über die Fiskalpolitik steuerbar und finanzieren sich durch Kapitalimporte gleichsam von selbst; Austeritätspolitik ist kontraproduktiv. Selbst wenn Kapitalzuflüsse stocken sollten, ließe sich doch durch einen Übergang zu flexiblen Wechselkursen die Zwangslage beheben und ein Aufschwung einleiten. Diese Lehrbuchsätze sind Borchardt in der nach ihm benannten Kontroverse immer und immer wieder vorgehalten worden, beginnend mit Holtfrerich (1982).[8] In einem Währungskrisenmodell der ersten Generation ergeben sich dieselben Schlussfolgerungen (Ferguson und Temin 2003). Eine Simulation der Borchardt-These in einem Mundell-Fleming-Ansatz mit passend kalibrierten Parametern bestätigt den Befund (Ho, Lon und Yeh 2022).
Differenzierter fällt die Antwort aus, wenn die deutsche Finanzkrise von Juli 1931 als Zwillingskrise von Banken und Währung interpretiert wird (Schnabel 2004).[9] Die Kreditkrise sowohl des Finanzsystems als auch des öffentlichen Sektors in Deutschland wird dann als „Sudden stop“ erklärbar (Accominotti und Eichengreen 2016). Allerdings mag immer noch gelten, dass eine Abwertung hätte Entlastung bringen können. Stattdessen ging die deutsche Politik den vorsichtigeren Weg, mit dem Ausland Stillhalteabkommen über die kurzfristigen Auslandsschulden abzuschließen, die langfristigen Auslandskredite dagegen weiter zu bedienen und zunächst nur wenig in die Kapitalmobilität einzugreifen. Die Stillhalteabkommen auf kurzfristige Schulden vom Sommer 1931 sind der Auslöser für das britische Abgehen vom Goldstandard im September 1931 gewesen (Accominotti 2012). Man wollte eine spekulative Attacke auf die Bank von England abwenden. Das führt mit Dringlichkeit zurück zur Frage, warum Deutschland nicht bereits in der Bankenkrise vom Juli 1931 abgewertet hat oder auch im September der Bank von England nicht in die Abwertung gefolgt ist.
6 „Den Young-Plan zerreißen“: die vermiedene Alternative zu Brüning
Auf der Suche nach einer harten Budgetrestriktion, die sowohl einen harten Schuldenausfall als auch eine Abwertung verhindert haben mag (zur Analogie zwischen beiden im Standardmodell souveräner Staatsverschuldung vgl. Na et al. 2018), wird man im Zusammenspiel zwischen Deutschlands hoher Kreditaufnahme im Ausland während des Dawes-Plans von 1924–1929 und den verschärften Zahlungsbedingungen des Young-Plans von 1930 fündig. Der Transferschutz für private Investitionen unter dem Dawes-Plan führte zu hohen Kapitalzuflüssen. Der Young-Plan von 1930 galt ihrer Begrenzung; es ging darum, die Reparationszahlungen nicht zu gefährden. Die Summe aus dem Barwert der Reparationen und den Auslandschulden lag 1930 bereits bei etwa 80 Prozent des deutschen BIP (Ritschl 2012), stieg bis 1931 auf gut 100 Prozent und verringerte sich nach der Streichung der Reparationen im Lausanner Abkommen von 1932 auf etwa 45 Prozent des BIP. Die Kombination erstrangiger Reparationen im Young-Plan und eines nochmals ebenso hohen Schuldendienstes auf Auslandskredite führte in eine Schuldenkrise, als in der Weltwirtschaftskrise die Exporteinnahmen wegbrachen und selbst eine scharfe Deflationierung keine ausreichenden Exportüberschüsse erzeugte.
Der Young-Plan war mit einer Goldklausel und der erneuten Androhung von Sanktionen bewehrt. Hierzu gehörte insbesondere die militärische Wiederbesetzung des Rheinlands, das seit 1918 unter alliierter Verwaltung stand. In Umsetzung des Young-Plans wurde es 1930 geräumt, blieb aber entmilitarisiert und konnte jederzeit wieder besetzt werden. Solche „Supersanktionen“ zur Durchsetzung von Schuldenforderungen sind im 19. Jahrhundert üblich gewesen und waren meist erfolgreich (Mitchener und Weidenmier 2010). Die Politik Brünings bestand darin, alle Revisionen der deutschen Zahlungen im Rahmen des Young-Plans anzustreben, so dass sie insbesondere für Frankreich nicht als ein Zerreißen des Young-Plans, sondern als legitime Prozedur zu dessen Erfüllung erschienen (Ritschl 2002, S. 164 ff.). So wurde eine Expertenkommission bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich einberufen, die im Dezember 1931 eine weitgehende Schuldenentlastung Deutschlands vorschlug. Die Anwendung dieses Berichts verzögerte sich auf Drängen Frankreichs, das seine Parlamentswahlen im März 1932 nicht gefährden wollte, und danach abermals wegen der deutschen Wahlen zum Reichspräsidenten im April. Sie war jedoch richtungsweisend für die Beschlüsse der Lausanner Konferenz zur faktischen Streichung der Reparationen.
Borchardt (1990) selbst hat zu Reparationen und Auslandsschulden im Zusammenhang mit seinen Thesen nur spät und dann kurz Stellung genommen. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass der Gegenstand historisch belastet war, insbesondere durch Hjalmar Schachts zeitgenössische und spätere Versuche, das Reparationsthema einseitig als Ursache der Bankenkrise von 1931 hinzustellen und damit die von ihm nach seiner Rückkehr als Reichsbankpräsident 1933 verantwortete Zahlungseinstellung auch auf die kommerziellen Auslandsschulden – ein gigantischer „Debt default“ lateinamerikanischen Zuschnitts – zu rechtfertigen. Dabei waren die Reparationen allein nicht hoch genug, um eine Schuldenkrise auszulösen. Zu ihrer nachhaltigen Bedienung wäre ein Leistungsbilanzüberschuss von kaum 2 Prozent des BIP von 1930 erforderlich gewesen. Virulent wurde das Problem durch die Schuldenaufnahme während der Phase des Dawes-Plans, die nochmals etwa denselben Betrag an Schuldendienst erforderte, und durch den scharfen Einbruch der Exporterlöse ab 1930.
Gegnerschaft zum Young-Plan gab es auf beiden Flügeln des Reichstags in einer Querfront aus extremer Linken und extremer Rechten. Schon Ende 1929 war ein Volksbegehren gegen den Young-Plan angestrengt worden, fiel aber durch. Bei den Septemberwahlen von 1930 erreichte die NSDAP aus dem Stand 18 Prozent der Stimmen. Auch die Kommunisten gewannen stark hinzu. Beide forderten lautstark das Ende der Erfüllung des Plans, hatten aber noch nicht die Unterstützung des konservativen Bürgertums. Das änderte spätestens sich mit dem Auftritt Hjalmar Schachts bei der Harzburger Front, einem Bündnis antidemokratischer Nationalisten und Rechtsextremisten gegen die Weimarer Republik, im Oktober 1931, kurz nach dem britischen Abgehen vom Goldstandard. Dort erklärte er Deutschland für bankrott, drohte das Ende der Reparationen an und umriss das wirtschaftliche Programm einer Regierung der äußersten Rechten unter Einschluss der NSDAP. Dieses Extremprogramm hatte Brüning zuvor in geheimen Unterredungen mit Schacht abgelehnt: den Young-Plan zu zerreißen, erneute Sanktionen zu riskieren und das Land in ein Bündnis von „Mob und Elite“, eine gewaltsame Diktatur mit der extremen Rechten zu führen. Hierin, im Zerreißen des Young-Plans 1931 und einer Vabanque-Politik gegenüber den Alliierten wie bei der Ruhrbesetzung 1923 mit allen Konsequenzen, liegt die eigentliche historische Alternative zur Zwangslage der deutschen Politik in der Krise der frühen dreißiger Jahre.
Knut Borchardt hätte das so wohl nicht schreiben wollen. Darum sei es hier nachgeholt.
7 Max Weber ohne Charisma
Knut Borchardt hat sich nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Lehrbetrieb noch einmal einer neuen Aufgabe zugewandt, der Mitwirkung an der kritischen Max-Weber-Gesamtausgabe unter der Ägide der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Unter seiner Herausgeberschaft (Borchardt 1999, 2000) sind zwei Bände zu Webers zuvor weitgehend unbeachteten Börsenschriften erschienen, von ihm mit ausführlichen und penibel recherchierten Kommentaren versehen, die einer historisch nicht spezialisierten Leserschaft die sinnvolle Lektüre überhaupt erst möglich machen. In diesen letzten Arbeiten schließt sich der Kreis. Selbst eine charismatische Führungsfigur wie von Max Weber beschrieben, blieb Borchardt dennoch zeitlebens Skeptiker. Er ließ sich nicht mit großen Parolen und einfachen Erklärungen abspeisen und scheute weder die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit noch die Mühen der Ebene.
Literaturverzeichnis
Abelshauser, W. (1975), Wirtschaft in Westdeutschland 1945–1948, Stuttgart, DVA.10.1524/9783486703511Suche in Google Scholar
Accominotti, O. (2012), London merchant banks, the Central European panic, and the Sterling crisis of 1931, Journal of Economic History 72(1), S. 1–43.10.1017/S0022050711002427Suche in Google Scholar
Accominotti, O. und B. Eichengreen (2016), The mother of all sudden stops: Capital flows and reversals in Europe, 1919–32, Economic History Review 69(2), S. 469–92.10.1111/ehr.12128Suche in Google Scholar
Borchardt, K. (1960), Denkschrift zur Lage der Wirtschaftswissenschaft, Stuttgart, Franz Steiner.Suche in Google Scholar
Borchardt, K. (1976), Wachstum und Wechsellagen 1914–1970, in: H. Aubin und W. Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Stuttgart, Klett-Cotta, S. 685–740.Suche in Google Scholar
Borchardt, K. (1979), Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre, Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, C.H. Beck, S. 85–132.Suche in Google Scholar
Borchardt, K. (1980a), Wirtschaftliche Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik, in: K.-D. Erdmann und H. Schulze (Hrsg.), Weimar, Selbstpreisgabe einer Demokratie: Eine Bilanz heute, Düsseldorf, Droste.Suche in Google Scholar
Borchardt, K. (1980b), Zur Frage der währungspolitischen Optionen Deutschlands in der Weltwirtschaftskrise, in: K. Borchardt und F. Holzheu (Hrsg.), Theorie und Politik der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, Hans Möller zum 65. Geburtstag, Stuttgart, Fischer, S. 165–81.Suche in Google Scholar
Borchardt, K. (1982), Trend, Zyklus, Strukturbrüche, Zufall: Was bestimmt die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts?, in: K. Borchardt (Hrsg.), Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 100–24.10.13109/9783666357084Suche in Google Scholar
Borchardt, K. (1990), A decade of debate about Bruening‘s Economic Policy, in: J. v. Kruedener (Hrsg.), Economic Crisis and Political Collapse. The Weimar Republic 1924–1933, Oxford, Berg.Suche in Google Scholar
Borchardt, K. (1999)(Hrsg.), Max Weber-Gesamtausgabe Band I/5,1: Börsenwesen. Schriften und Reden 1893–1898, Tübingen, Mohr (Siebeck).Suche in Google Scholar
Borchardt, K. (2000)(Hrsg.), Max Weber-Gesamtausgabe Band I/5,2: Börsenwesen. Schriften und Reden 1893–1898, Tübingen, Mohr (Siebeck).Suche in Google Scholar
Dagher, J. (2018), Regulatory cycles: Revisiting the political economy of financial crises, IMF Working Paper 18/8.10.5089/9781484337745.001Suche in Google Scholar
Eichengreen, B. und A. Ritschl (2009), Understanding West German growth in the 1950s, Cliometrica 3(3), S. 191–219.10.1007/s11698-008-0035-7Suche in Google Scholar
Ferguson, T. und P. Temin (2003), Made in Germany: The currency crisis of 1931, Research in Economic History 31, S. 1–53.10.1016/S0363-3268(03)21002-8Suche in Google Scholar
Hesse, J.-O. (2007), Hochschulreformgeschichte als Disziplingeschichte – das Besipiel der Wirtschaftswissenschaften, in: A. Franzmann und B. Wolbring (Hrsg.), Zwischen Idee und Zweckorentierung, Vorbilder und Motive der Hochschulreform seit 1945, Berlin, Akademie-Verlag.10.1524/9783050086378.121Suche in Google Scholar
Ho, T., Y. Lon und K. Yeh (2022), The Borchardt hypothesis: A cliometric reassessment of Germany’s debt and crisis during 1930–1932, Journal of Economic History 82(3), S. 691–726.10.1017/S0022050722000262Suche in Google Scholar
Holtfrerich, C.-L. (1982), Alternativen zu Brünings Politik in der Weltwirtschaftskrise?, Historische Zeitschrift 235, S. 605–31.10.1524/hzhz.1982.235.jg.605Suche in Google Scholar
Jánossy, F. (1966), Das Ende der Wirtschaftswunder. Wesen und Erscheinung der wirtschaftlichen Entwicklung, Frankfurt/M., Verlag Neue Kritik.Suche in Google Scholar
Manz, M. (1968), Stagnation und Aufschwung in der französischen Besatzungszone von 1945 bis 1948, Dissertation, Universität Mannheim.Suche in Google Scholar
Mitchener, K. und M. Weidenmier (2010), Supersanctions and sovereign debt repayment, Journal of International Money and Finance 29(1), S. 19–36.10.1016/j.jimonfin.2008.12.011Suche in Google Scholar
Na, S. et al. (2018), The twin Ds: Optimal default and devaluation, American Economic Review 108(7), S. 1773–819.10.1257/aer.20141558Suche in Google Scholar
Ritschl, A. (2012), The German transfer problem, 1920–33: A sovereign-debt perspective, European Review of History – Revue européenne d’histoire 19(6), S. 943–64.10.1080/13507486.2012.739147Suche in Google Scholar
Ritschl, A. (2002), Deutschlands Krise und Konjunktur, 1924–1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin, Akademie-Verlag.10.1515/9783050079837Suche in Google Scholar
Ritschl, A. und M. Spoerer (1997), Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktstatistiken 1901–1995, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, S. 11–37.10.1524/jbwg.1997.38.2.27Suche in Google Scholar
Schnabel, I. (2004), The German twin crisis of 1931, Journal of Economic History 64(3), S. 822–71.10.1017/S0022050704002980Suche in Google Scholar
Straumann, T. (2019), Debt, Crisis, and the Rise of Hitler, Oxford, Oxford University Press.Suche in Google Scholar
Vonyó, T. (2012), The bombing of Germany. The economic geography of war-induced dislocation in German Industry, European Review of Economic History 16(1), S. 97–118.10.1093/ereh/her006Suche in Google Scholar
© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Editorial
- 150 Jahre Verein für Socialpolitik
- Unsere Welt in Zahlen
- Mitglieder des Vereins für Socialpolitik
- Aus aktuellem Anlass
- Der Verein für Socialpolitik von seinen Anfängen bis Ende des Ersten Weltkriegs – ein Überblick
- Zwischen „Urkatastrophe“ und Neugründung: Der Verein für Socialpolitik 1919–1960
- Die Auflösung des Vereins für Sozialpolitik
- Das sich wandelnde Selbstverständnis des Vereins für Socialpolitik im Spiegel seiner Jahrestagungen 1950 bis 2000
- Reformen und Aufbruch – Der Verein für Socialpolitik von 1990 bis 2010
- Aus dem Verein für Socialpolitik
- Beste Bedingungen für junge Ökonominnen und Ökonomen?
- Wissenschaft im Überblick
- Berufliche Bildung als Innovationstreiber: Ein lange vernachlässigtes Forschungsfeld
- Das Gespräch
- „Wir wissen nicht wirklich, wie die auf digitalen Märkten entstehende Wohlfahrt zu verbuchen ist“
- Beitrag aus der Forschung
- Gibt es die Marktwirtschaft noch?
- Hemmnisse beim Data Sharing: Empirie und Handlungsempfehlungen
- Nachruf
- Knut Borchardt – Brecht-Schüler, Skeptiker, Krisenhistoriker
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Editorial
- 150 Jahre Verein für Socialpolitik
- Unsere Welt in Zahlen
- Mitglieder des Vereins für Socialpolitik
- Aus aktuellem Anlass
- Der Verein für Socialpolitik von seinen Anfängen bis Ende des Ersten Weltkriegs – ein Überblick
- Zwischen „Urkatastrophe“ und Neugründung: Der Verein für Socialpolitik 1919–1960
- Die Auflösung des Vereins für Sozialpolitik
- Das sich wandelnde Selbstverständnis des Vereins für Socialpolitik im Spiegel seiner Jahrestagungen 1950 bis 2000
- Reformen und Aufbruch – Der Verein für Socialpolitik von 1990 bis 2010
- Aus dem Verein für Socialpolitik
- Beste Bedingungen für junge Ökonominnen und Ökonomen?
- Wissenschaft im Überblick
- Berufliche Bildung als Innovationstreiber: Ein lange vernachlässigtes Forschungsfeld
- Das Gespräch
- „Wir wissen nicht wirklich, wie die auf digitalen Märkten entstehende Wohlfahrt zu verbuchen ist“
- Beitrag aus der Forschung
- Gibt es die Marktwirtschaft noch?
- Hemmnisse beim Data Sharing: Empirie und Handlungsempfehlungen
- Nachruf
- Knut Borchardt – Brecht-Schüler, Skeptiker, Krisenhistoriker