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„Wir wissen nicht wirklich, wie die auf digitalen Märkten entstehende Wohlfahrt zu verbuchen ist“

Ein Gespräch über faire Kritik an der Ökonomik, gesellschaftliche Normen und soziales Kapital, das BIP als Wohlfahrtsindikator sowie Wettbewerb und Kartellrecht
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Veröffentlicht/Copyright: 18. April 2023

PWP: Frau Professor Coyle, viele Ökonomen schreiben Aufsätze, aber keine Bücher. Sie tun beides.

Coyle: Nun, ich habe schon immer gerne geschrieben. Als Teenager träumte ich davon, eines Tages Philosophin zu sein, in einem Café zu sitzen und Bücher zu schreiben.

PWP: Sie haben vor kurzem ein Buch mit dem so auffälligen wie überraschenden, auf Tolkiens Werk „Herr der Ringe“[1] verweisenden Titel „Cogs and Monsters“[2] veröffentlicht. Müsste es nicht „Cogs and Dragons“ heißen, also „Zahnräder und Drachen“?

Coyle: Das funktioniert aber nicht so gut, oder? Und während „Drachen“ Tolkien wohl eher entsprechen würde, ist „Monster“ historisch korrekter, wie mir scheint.

PWP: Der Untertitel ist weniger geheimnisvoll. Aber er hat es in sich: „What Economics Is, and What It Should Be“. Sie sind ziemlich kritisch gegenüber unserem wissenschaftlichen Feld und Berufsstand.

Coyle: Ja, aber ich konzentriere mich ganz auf die faire Kritik an der Ökonomik. Das ist das übergreifende Thema meines Buches. Ich habe es für ein Publikum geschrieben, das zum Teil aus normalen Bürgern und zum Teil aus Wissenschaftlern besteht; für diejenigen, welche die Ökonomik kritisieren, und für Ökonomen, die sich über diese Kritik Gedanken machen. Es gibt einige sehr hartnäckige Standardkritiken an der Ökonomik, die völlig daneben sind und mich auf die Palme bringen, wie: Ökonomen verwenden zu viel Mathematik. Oder: Ökonomen treffen unrealistische Annahmen über das menschliche Verhalten. Als ob das irgendeinen Unterschied für die Erkenntnisse machte, die wir auf diesem akademischen Feld gewinnen können. Aber es gibt drei Kritikpunkte, die begründet sind.

PWP: Welche?

Coyle: Eine Kritik bezieht sich auf die sozio-demographische Zusammensetzung unseres Berufsstandes. Es wäre für jede Disziplin ein Problem, wenn sie so einseitig besetzt und verzerrt wäre wie die Ökonomik. Für die Legitimität einer Sozialwissenschaft, insbesondere einer mit beträchtlichem politischem Einfluss, ist dies meiner Meinung nach sogar ein erhebliches Problem. Diese Einseitigkeit kann die Disziplin daran hindern, die richtigen Fragen zu stellen. Wenn man darüber nachdenken will, welche Probleme man analysieren und die Politik anpacken sollte, dann braucht man Diversität, unterschiedliche kulturelle Stile und soziale Hintergründe. Aber die Ökonomik ist derzeit ein weißer, männlicher, wohlhabender, ziemlich stark angelsächsisch dominierter Berufsstand. Und das ist wirklich nicht hilfreich.

PWP: Und die zweite Kritik?

Coyle: Die zweite Kritik bezieht sich auf die wohlfahrtsökonomische Blindheit, die sich eingeschlichen hat. Wir haben uns angewöhnt zu sagen, dass wir nur so etwas wie Klempner, Zahnärzte oder Ingenieure sind. Wir befassen uns mit praktischen Problemen, wir gehen die Daten suchen, wir finden eine Lösung, und dann wird das effiziente Ergebnis herauskommen. All dies erscheint natürlich als eine Analogie zur technischen Effizienz, aber das Konzept der Effizienz in der Ökonomik ist die Pareto-Effizienz, die auf Ideen über Nutzenfunktionen beruht. Es geht also ausschließlich um die wirtschaftliche Wohlfahrt, und wir erkennen das nicht an. Dies ist einer der Gründe für die politische Herausforderung, der sich inzwischen die ökonomischen Technokraten oder „Experten“ gegenübersehen.

PWP: Worin besteht diese Herausforderung?

Coyle: Sie offenbarte sich zum Beispiel während der Kampagne zum Brexit-Votum, in dem berühmten Zitat der Frau, die schrie: „Es ist euer verdammtes BIP, nicht unseres.“[3] Wir haben nicht über institutionelle Fragen nachgedacht – denn wenn man über Pareto-Effizienz nachdenkt, schiebt man Institutionen per Definition beiseite. Natürlich haben einige Leute über Institutionen nachgedacht, aber das stand politisch üblicherweise nicht im Zentrum. Wir müssen wieder ernsthaft über Wohlfahrt nachdenken und versuchen, den schmalen Grat zu beschreiten: zwischen Adam Smiths unparteiischem Beobachter mit einer objektiven Betrachtung der Fakten und der gleichzeitigen Anerkennung, dass es bei all diesen politischen Fragen letztlich Werturteile gibt. Wir können nicht sagen, dass wir nur die Fakten darlegen und die Politiker dann die Werturteile fällen müssen. Es muss schon ein Teil der Analyse sein, welche Werte die Gesellschaft mitbringt und was wahrscheinlich politisch durchsetzbar ist. Wenn man sagt, dass etwas das Beste sei, das „Optimum“, die Politiker es aber nie verwirklichen werden, dann hat man einfach in der Analyse etwas falsch gemacht. Das ist das zweite Element.

PWP: Und das dritte?

Coyle: Der dritte Kritikpunkt bezieht sich auf die digitalen Fragen. Wenn wir uns in einer Wirtschaft befinden, die sich seit einiger Zeit strukturell völlig wandelt, wie es bei uns der Fall ist, in der steigende Skalenerträge, Netzwerkeffekte, Kipppunkte auf den Märkten und Nicht-Rivalität als Folge neuer digitaler Technologien allgegenwärtig sind – dann kann man seine Analyse nicht einfach mit dem üblichen Maßstab beginnen, mit dem Standard-Wettbewerbsgleichgewicht. Wir haben zahlreiche Instrumente zur Verfügung, die uns helfen, die Struktur der jetzigen Wirtschaft zu analysieren, die Funktionsweise dieser digitalen Märkte und die Art und Weise, wie Menschen Entscheidungen treffen. Wir müssen sie nutzen und dafür zunächst einmal versuchen zu verstehen, wie die Wirtschaft wirklich funktioniert. Dann müssen wir um diese Fakten herum konzeptionelle Instrumente und Lehrmethoden entwickeln – und zwar so, dass sie es den Ökonominnen und Ökonomen im öffentlichen Dienst in zehn Jahren ermöglichen, sich eingehender mit den erheblichen Koordinationsproblemen zu befassen, mit denen wir auf den digitalen Märkten konfrontiert sind.

PWP: Sie stehen, wie viele andere auch, der Annahme des Homo oeconomicus kritisch gegenüber, auch wenn Sie der Meinung zu sein scheinen, dass sie nicht störend genug ist, um den Ansatz als Ganzes zu verwerfen. Aber wie können wir uns von seiner Engführung befreien – vor allem, wenn wir, nicht zuletzt aus normativen Gründen, den zugrunde liegenden methodologischen Individualismus nicht ganz aufgeben wollen?

Coyle: Nun, wir sollten zum Beispiel mehr über gesellschaftliche Normen und soziales Kapital nachdenken. In der Ökonomik können wir mehr Erkenntnisse aus der soziologischen oder politikwissenschaftlichen Literatur einbringen, wie es zum Beispiel die erste weibliche Wirtschafts-Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom getan hat. Wir sollten eine viel breiter gefächerte institutionelle Perspektive einbringen. Oder man kann mit der Spieltheorie beginnen und den üblichen Ansatz der individuellen Nutzenmaximierung über Bord werfen. Anschließend kann man dann davon ausgehend wieder zum individuellen Nutzen zurückkehren, wenn man das möchte. Es gibt viele Instrumente und viele Wege.

PWP: Aber bedeutet das nicht, dass die Ökonomik sich bereits mit der Kritik auseinandergesetzt hat? Dass das Problem eigentlich längst gelöst ist?

Coyle: Ich höre oft, dass sich die akademischen Grenzen völlig verändert haben, und das stimmt sowohl für die Makroökonomik als auch für die Mikroökonomik. Aber die Art von Ökonomik, die in der Welt der Politik Anwendung findet, hat eine lange Lebensdauer, ebenso wie jene, die gelehrt wird. Ich glaube, dass wir dabei ansetzen müssen, wie Ökonomik gelehrt wird. Wenn Sie sich die Ministerien und Behörden anschauen – und zwar in jedem Land, nicht nur im Vereinigten Königreich –, dann stellen Sie fest, dass sich die Leute dort auf das stützen, was sie vor etwa zehn Jahren in den Lehrbüchern gelesen haben. Und das ist veraltet. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Im Vereinigten Königreich gibt es eine Kampagne dafür, dass die Geschäfte im Winter ihre Türen schließen, damit sie nicht unnötig die Stadt heizen.

PWP: Das klingt doch vernünftig.

Coyle: Wir alle gehen jeden Tag an diesen offenen Ladentüren vorbei, aus denen die Warmluft herausströmt. Die Ladenbesitzer wollen ihre Türen nicht schließen, weil sie befürchten, dass sie die Impulskäufe verlieren. Ich habe mit einem Ökonomen im zuständigen Ministerium gesprochen und versucht, ihn dazu zu überreden, eine Regulierung einzuführen. Aber ich habe nicht geschafft, ihm klarzumachen, dass es sich hierbei um ein Koordinationsproblem handelt. Er sagte immer wieder, dass die Ladenbesitzer Geld für den Strom sparen, wenn sie die Türen schließen. Also könnten wir den wirtschaftlichen Anreiz einfach wirken lassen. Er hat nicht verstanden, dass kein Geschäft in der Lage sein wird, hier als Erstes voranzugehen. In ähnlicher Weise bieten im Vereinigten Königreich viele Banken ein gebührenfreies Konto an. Das ist eine Marktzutrittsschranke, weil es den etablierten Banken einen großen und unbeweglichen Pool an kostengünstigem Geld verschafft. Auch hier handelt es sich um ein Koordinierungsproblem: Keine Bank kann als Erste für solche Konten Gebühren erheben. Auf jeden Fall scheint mir offensichtlich zu sein, dass wir durchaus über die wirtschaftlichen Konzepte und Instrumente verfügen, um Koordinationsprobleme zu verstehen. Aber das ist nicht die Art, wie die politische Welt über diese Dinge nachdenkt. Das heißt, dass die wichtigste Aufgabe jetzt darin besteht, die Ökonomen im öffentlichen Dienst auf den neuesten Stand zu bringen.

PWP: Solche Vorbehalte gegen moderne ökonomische Erkenntnisse in den Ministerien sind überraschend für ein Land, in dem es sogar ein „Nudge Unit“ gibt, gegründet von einem ehemaligen Premierminister.

Coyle: Es ist überraschend, ja, aber die falschen Vorstellungen sind wirklich schwer zu ändern. Übrigens ist das sogenannte Nudge Unit ziemlich umstritten. Die Menschen bezweifeln seine Wirksamkeit, und wenn sie glauben, dass es wirksam ist, gefällt ihnen das nicht immer – weil diese Nudges, oder „Anstupser“, wie Manipulation wirken können.

PWP: Bedeutet Nudging nicht immer Manipulation?

Coyle: Ja, es ist Manipulation. Und in der ganzen Nudging- Literatur wird davon ausgegangen, dass ein Experte die Präferenzen der Menschen besser kennt als sie selbst, was problematisch ist. Ich bin kein Fan davon.

PWP: Aber wenn Sie für eine Verordnung plädieren, die Ladenbesitzer dazu zwingt, die Tür zu schließen, tun Sie auch so, als wüssten Sie es besser als sie.

Coyle: Es handelt sich nicht um eine Frage des Anstupsens. Es geht nicht darum, dass die Ladenbesitzer irrational handeln; sie reagieren rational auf die Anreizstruktur. Es gibt keine psychologische „Verzerrung“.

PWP: Aber es gibt eine Diskrepanz zwischen individueller und kollektiver Rationalität.

Coyle: Ja, aber wie ich schon sagte, ist das nur ein Koordinationsproblem.

PWP: Apropos individuelle Präferenzen: Einer der blinden Flecken der Standard-Mikroökonomik ist, dass die Präferenzen als gegeben angenommen werden. Dahinter verbirgt sich allerdings ein wichtiges Stück Demut: Wir Ökonomen sind der Meinung, dass uns die Präferenzen nichts angehen. Aber ist es nicht auch interessant zu untersuchen, wie sich die Menschen gegenseitig beeinflussen, also die Präferenzen zu endogenisieren?

Coyle: Dem stimme ich zu. Ich denke, der Prozess der Präferenzbildung ist wirklich wichtig. Und natürlich wäre er für die Politik von enormer Bedeutung. Aber wir haben keine Ahnung, wie wir das berücksichtigen sollen. Ich habe kürzlich über dieses Thema im Zusammenhang mit den sozialen Medien nachgedacht, wo ja offensichtlich alle möglichen unangenehmen Gedanken und Verhaltensweisen geäußert werden. Meine Hypothese ist, dass diese Gedanken und Verhaltensweisen nicht etwa schon immer da waren. Vielmehr scheinen die Menschen das Gefühl zu haben, dass sie irgendwie die Erlaubnis erhalten haben, sich zum Beispiel Verschwörungstheorien zuzuwenden, einfach weil diese öffentlich geworden sind. Sie denken, dass sie in Ordnung sind. Und auf diese Weise verändert das Medium selbst die Gedanken und Verhaltensweisen der Menschen, indem es die öffentliche Norm verändert.

PWP: Welche Rolle spielen die öffentlichen Medien in dem Prozess, den Sie gerade beschrieben haben? Sie waren lange Mitglied des BBC Trust, sind aber sicherlich trotzdem eine kritische Beobachterin.

Coyle: Ich bin in der Tat kritischer geworden, und zwar wegen der Art und Weise, wie die öffentlichen Medien den Wettbewerb auf dem Medienmarkt gestalten. Aber mein Urteil zur BBC ist insgesamt positiv: Ihre Präsenz hat den Wettbewerb im Rundfunk in vielen Dimensionen garantiert, nicht nur in einer einzelnen. Alle anderen öffentlichen Medien sind von ihren Erlösen getrieben, was bei der BBC nicht der Fall ist. Bei der BBC spielen die Qualität und die Bandbreite der Programme eine Rolle, und dies hat die anderen gezwungen, auch in diesen Dimensionen zu konkurrieren. Dies ist eine Erklärung für die Stärke des gesamten Sektors im Vereinigten Königreich. Ich habe auch einmal das analoge Argument ausprobiert, dass ein öffentlich-rechtliches soziales Medium mit einem anderen Geschäftsmodell, das nicht von Klicks für Werbung getrieben wird, ebenfalls eine gute Innovation sein könnte.[4] Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber es erscheint mir möglich.

PWP: Um auf die Kritik an der Ökonomik als Disziplin zurückzukommen: Sie teilen viele der Vorbehalte gegen das BIP, und in einem Großteil Ihrer Arbeit befassen Sie sich mit einer besseren Messung von Wohlstand und Wohlfahrt. Was also können wir messen, und was wollen wir messen?

Coyle: Wo soll ich anfangen? Nun, ich hatte begonnen, mich für das neue Denken über Nachhaltigkeit im weitesten Sinne zu interessieren, nicht nur im Sinne des Umweltschutzes. Wie ich dann schließlich in meinem Buch „The Economics of Enough“[5] gesagt habe, besteht die Herausforderung darin, dass wir nur die Ströme der Wirtschaftstätigkeit messen und keinen Sinn für Bestände, also für die Bilanz haben. Und dann drängte mich mein Verleger, ein Nachfolgebuch über das BIP zu schreiben, und so habe ich mich mit der Geschichte des BIP befasst und bin schließlich in die Debatte „Beyond GDP“ eingestiegen. Die Fragen nach der Messung des Wohlstands und nach der Nachhaltigkeit sind offensichtlich miteinander verknüpft, und sie sind eine der Triebfedern der Bewegung „Beyond GDP“. Es wird oft behauptet, die Verwendung des BIP zur Messung der Wirtschaftstätigkeit habe keinerlei Auswirkungen auf die Wohlfahrt. Hierauf gibt es zwei Antworten. Die erste lautet: Sobald man das nominale BIP mit einem Preisindex deflationiert, der ein Konstrukt mit konstantem Nutzen ist, ist das reale BIP ein Wohlfahrtsmaß; es ist nur kein sehr gutes. Aber man redet tatsächlich über Wohlfahrt. Die zweite Antwort ist, dass Politiker auf der ganzen Welt die Veränderung des BIP als Maßstab für ihren Erfolg verwenden. Wenn es kein gutes Maß für den Erfolg ist, muss man über ein besseres Wohlfahrtsmaß nachdenken. Und das führt uns zu den tieferen Fragen, was überhaupt Fortschritt in menschlichen Gesellschaften darstellt und wie man ihn konzeptualisieren und messen kann. Das ganze Thema ist auch mit den digitalen Fragen verknüpft.

PWP: Wie das?

Coyle: Die beiden Themen konvergieren gewissermaßen. Für mich begannen die digitalen Fragen zunächst als ein separates Thema, ausgehend vom Wandel darin, wie wir unsere Konsumzeit und allgemein unsere Zeit verbringen, vom Wandel in unserer Produktionstätigkeit, in unseren Geschäftsmodellen – dieser ganze große Wandel war in den Statistiken völlig unsichtbar, und wir haben nicht wirklich ganz erfasst, was da vor sich ging. Ich habe mich mit diesen beiden Komplexen an Messfragen beschäftigt, und dann haben sie sich in meinem Kopf allmählich aufeinander zubewegt und verbunden. Es sind im Grunde alles Fragen des „Beyond GDP“. Bei dem einen Fragenkomplex geht es um die Messung von Vermögenswerten, einschließlich der Messung von Naturkapital. Aber im weiteren Sinne haben wir eine Vielfalt an Vermögenswerten, die wir in der Wirtschaft für wichtig halten – sind sie alle dasselbe? Ist das Naturkapital, das in gewisser Weise greifbar ist, wirklich dasselbe wie das immaterielle Sozialkapital? Kann man, um eine Bilanz zu erstellen, eine vollständige, überlappungsfreie Menge von Vermögenswerten konzipieren? Wie bewertet man diese? Reicht es aus, Tauschwerte zu verwenden, wie wir es bisher in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung getan haben? Sollten wir auch Schattenpreise oder Wohlfahrtswerte veröffentlichen, und wenn ja, wie wollen wir diese konstruieren und welche Methoden sollten wir verwenden, um sie zu schätzen?

PWP: Das sieht nach einem umfangreichen Arbeitsprogramm aus.

Coyle: Auf jeden Fall. Ich beschäftige mich jetzt darüber hinaus auch mit kulturellem und künstlerischem Kapital, das in immateriellem Vermögen und geistigem Eigentum aufgeht, einschließlich Daten. Mich hat ein australischer Aktivist besucht, der sich für das Konzept des integrativen Reichtums interessiert[6]. Für ihn gibt es keinen Unterschied zwischen Naturkapital und kulturellem Kapital. Wenn das so ist, frage ich mich, ändert das etwas daran, wie ich über meine eigenen Bemühungen zur Erstellung dieser nationalen Statistiken nachdenken muss? Sollten wir den Wert von Stonehenge in die nationale Bilanz aufnehmen, und wenn ja, wie? Auf jeden Fall ist das Nachdenken über Fragen der Vermögensbewertung eine Möglichkeit, über Nachhaltigkeit und „Beyond GDP“ nachzudenken. Wollen wir wirklich separate Maße für das Wohlergehen? Ich bin ein wenig skeptisch, dass wir das wollen, aber ich denke, es lohnt sich, diese Frage zu stellen und sich damit zu beschäftigen.[7]

PWP: Und was ist mit dem zweiten Teil Ihrer konvergierten Agenda, den digitalen Herausforderungen?

Coyle: Die digitalen Herausforderungen, über die ich nachdenke, betreffen die Frage, ob wir unsere Preisindizes falsch berechnen. Wir haben eine Arbeit über Telekommunikationsdienste[8] angefertigt, und die Bandbreite der Indizes, die man erhalten kann, reicht von den damals offiziell veröffentlichten Zahlen, die deflationiert zehn Jahre gleich geblieben sein sollten, bis zum Einheitswertindex, der über zehn Jahre einen Rückgang von 90 Prozent aufwies – und man kann die Deflatoren ja auf verschiedene Weise konstruieren. Es verbergen sich darin einige wirklich tiefgreifende ökonomische Fragen darüber, wo man den wirtschaftlichen Wert zuordnen will, der durch die digitale Transformation und die Tatsache, dass wir Daten über das Telefon nutzen, entstanden ist. Sind es die Telekommunikationsnetze und die von ihnen angebotenen Dienste? Wahrscheinlich nicht, obwohl sie großartige Innovationen hervorgebracht haben. Ist es die Infrastruktur, sind es die Anbieter von Inhalten oder die Dienstanbieter, die auf den Daten Pakete aufbauen? Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas anderes als die Einnahmen in diesem Bündel von Wirtschaftstätigkeiten zu messen verstehen. Wir wissen nicht wirklich, wie die auf digitalen Märkten entstehende Wohlfahrt zu verbuchen ist. Das also ist meine Agenda.

PWP: Was könnten die Kriterien für die Entscheidung sein, wie die Wohlfahrt zuzuordnen ist? Und ist nicht der Tauschwert ein recht zufriedenstellender Ansatz, wenn man bedenkt, dass Wert immer darauf beruht, dass jemand etwas ausdrücklich wertschätzt?

Coyle: In Tauschwerten stecken gute Informationen. Aber es ist eine einfache ökonomische Erkenntnis, dass bei einem nicht-rivalisierenden Gut, wie im Fall vieler immaterieller Güter, eine Divergenz zwischen dem Tauschwert und dem Wohlfahrtswert besteht. Diese Divergenz birgt ihrerseits interessante Informationen, zum Beispiel für politische Entscheidungsträger. Es lohnt sich also, über den Wohlfahrtswert von Daten oder geistigem Eigentum nachzudenken. Das könnte uns Aufschluss darüber geben, ob wir einige politische Maßnahmen ändern sollten. Vielleicht sollten wir eine Open-Data-Politik verfolgen und den Zugang zu Daten für alle erleichtern, weil wir darin einen enormen Wohlfahrtswert sehen. Ich würde die Tauschwerte nicht wegwerfen, aber ich denke, sie vermitteln ein sehr unvollständiges Bild.

PWP: Und wie gehen Sie vor, um diesen breiteren Wohlfahrtswert zu schätzen?

Coyle: Work in progress … Im Moment probiere ich Verfahren wie diskrete Auswahlexperimente oder Erhebungen zur erklärten Präferenz („Stated preference surveys“) aus.

PWP: Die Umfragen zu den angegebenen Präferenzen ergeben nur einen Durchschnitt, richtig?

Coyle: Der Tauschwert im BIP ist ebenfalls nur ein Durchschnittswert. Wir leben ohnehin in einer Welt der Durchschnittswerte, und es ist klar, dass ihnen eine große Heterogenität zugrunde liegt. Man kann in beiden Welten über die Verteilung nachdenken.

PWP: Moment – das BIP ist kein Durchschnitt, es ist ein Aggregat, eine Summe.

Coyle: Nun, wenn ich sage, dass es sich um einen Durchschnitt handelt, dann meine ich damit, dass er das Ergebnis auf dem Markt unabhängig von der Verteilung zeigt. Und übrigens werden auch viele BIP-Daten auf der Grundlage von Umfragen erhoben und erstellt. Auf jeden Fall liefern diskrete Auswahlexperimente oder Erhebungen über erklärte Präferenzen einige nützliche Erkenntnisse. Was sie jedoch nicht leisten, ist, uns eine Budgetbeschränkung zu geben. Zurzeit ist ein Arbeitsstrang in Mode, in dem ich auch einen Artikel verfasst habe, zu Umfragen zu den erklärten Präferenzen für digitale Gratisgüter[9]. Einige geben recht hohe Werte für diese Güter an. Das wirft zwei Fragen auf. Die erste Frage lautet: Wenn man das für digitale Gratisgüter macht, warum dann nicht auch für öffentliche Parks oder andere öffentliche Dienstleistungen? Wo liegt die Produktionsgrenze? Und die zweite Frage lautet eben: Wie sieht die Budgetbeschränkung aus? Wenn man so etwas macht, muss man irgendwie eine Art Budgetbeschränkung formulieren. Ich könnte sagen, Facebook ist mir 100 Pfund pro Jahr wert, und die Suche im Internet ist mir 3.000 Pfund pro Jahr wert, und so weiter, aber ich kann nicht mehr als 24 Stunden am Tag mit diesen Diensten verbringen. Wie kann ich also diese Beschränkung formulieren?

PWP: Die Zeit scheint in der Tat ein ziemlich faszinierendes zusätzliches Element in dieser ganzen Bewertungsübung zu sein. Können wir den Wert der für verschiedene Aktivitäten aufgewendeten Zeit messen? Die Menschen verbringen heutzutage so viel Zeit im Internet – sind wir sicher, dass das eine gute Sache ist?

Coyle: Nein, wir sind uns dessen nicht sicher, oder? Es ist viel über die Zeit in der Produktion nachgedacht geworden, vor allem in der Tradition der Arbeitswerttheorie nach Adam Smith oder Karl Marx, aber nicht so sehr in Bezug auf die Zeit, die man in der Dienstleistungswirtschaft für den Konsum braucht. Dies wird in der Regel einfach nicht als Teil des mikroökonomischen Optimierungsproblems betrachtet. Gary Beckers Theorie der Haushaltswahl ist in diesem Zusammenhang natürlich relevant und einflussreich, aber es ist leider nicht üblich, über diese zeitlichen Einschränkungen des Konsums nachzudenken.[10]

PWP: Was bedeutet das also? Ist das Unternehmen hoffnungslos?

Coyle: Nein, aber es hält mich auf Trab … Und es ist eine praktische Frage geworden. Die Bewegung „Beyond GDP“ hat jetzt ein echtes politisches Momentum. Diese Kritik gibt es schon seit langem. Die Umweltbewegung begann in den siebziger Jahren, die „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome[11] waren ein Meilenstein. Aber ich denke, dass man nach der Krise und nach der Pandemie in der Welt der Politik – insbesondere in einigen kleinen Ländern, aber auch allgemeiner – wie auch in der Welt der Statistik versucht, für das derzeitige System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und den statistischen Prozess der Vereinten Nationen einige dieser Änderungen zu verwirklichen. Es besteht echter Druck, zumindest einige Teilantworten auf die Frage zu finden, wie man hier Verbesserungen erreichen kann.

PWP: Viele neue Indizes sind jetzt im Umlauf, mit Elementen wie der Lebenserwartung. Es fragt sich, wie sich das auf die politische Rechenschaft auswirkt, die „Accountability“.

Coyle: Auf jeden Fall. Es stellt sich die Frage, wie man Tradeoffs bewertet. Das Schöne an der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ist ja, dass Tauschwerte zur Bewertung von Tradeoffs verwendet werden können. Das bringt eine gewisse analytische Präzision mit sich. Ich denke, es ist einfach eine unbeantwortete Frage, wie diese jüngste Entwicklung die politische Rechenschaft beeinflussen und verändern wird. Aber es ist ziemlich klar, dass die Unzufriedenheit mit dem bloßen Rückgriff auf das BIP-Wachstum inzwischen so groß ist, dass sich dies in vielen Ländern ändern wird. Im Vereinigten Königreich haben wir damit begonnen, neben den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen auch Umweltgesamtrechnungen zu veröffentlichen, und ich denke, die Vereinigten Staaten werden irgendwann etwas Ähnliches tun.

PWP: Es könnte in der Tat sinnvoll sein, sich auch Dinge wie den Gesundheitszustand der Menschen anzusehen.

Coyle: Ja, und wenn man das täte, würde man auch die Fragen aufgreifen, die sich die Menschen zum Kapitalismus immer lauter stellen: Wir haben Lebensmittelkonzerne, die uns durch den Verkauf von übermäßig verarbeiteten Lebensmitteln umbringen; wir haben Finanzdienstleistungsunternehmen, die uns alle abzocken; wir haben Social-Media-Unternehmen, die enormen Online-Schaden und Elend im Leben der Menschen verursachen; wir haben Pharmaunternehmen, die schwere Suchtabhängigkeiten schaffen. Das ist es, was viele Menschen sagen. Und ehrlich gesagt ist sie nicht wirklich überraschend, diese Unzufriedenheit mit der Welt, welche die Wirtschaft und die Wirtschaftswissenschaften geschaffen zu haben scheinen – unabhängig davon, ob es sich um eine gerechte Schuldzuweisung handelt oder nicht.

PWP: Viele dieser Indikatoren wie Gesundheit und Lebenserwartung sind zwar sinnvoll, um das Wohlbefinden zu messen, aber es erscheint als ziemlich entmutigende Aufgabe, ein ganzes Armaturenbrett solcher Indizes zu überwachen und dabei immer noch über dasselbe zu sprechen, gerade auch im Vergleich zwischen Ländern. Alles wird komplexer.

Coyle: Ich stimme zu. Deshalb denke ich, wir sollten beim BIP bleiben und gleichzeitig versuchen, es zu verbessern. Das ist auch der Grund, warum ich den Vermögensansatz mag. Die Idee einer Bilanz geht mit ökonomischer Präzision einher, und die Menschen verstehen das. Es gibt Gewinn- und Verlustrechnungen, und es gibt eine Bilanz. Ich denke, in der Unternehmenswelt finden sich Belege dafür, dass die Menschen mit zwei oder drei Konzepten und Indikatoren für Erfolg umgehen können. Und wenn man sich für die Gesundheit interessiert, geht man eben über das BIP hinaus und betrachtet Gesundheitsindikatoren.

PWP: Wenn es um Sozialkapital geht, scheinen die Dinge noch komplizierter zu sein. Das fängt schon auf der individuellen Ebene an: Wie messe und bewerte ich die Tatsache, dass mein soziales Netzwerk zum Beispiel durch die Entfremdung von zwei Freunden verarmt ist?

Coyle: Auch hier stimme ich zu. Ich habe meine Meinung über Sozialkapital geändert. Anfangs dachte ich, Sozialkapital sei eine Form von immateriellem Kapital wie andere auch, aber inzwischen stimme ich eher mit meinem Kollegen Partha Dasgupta überein, dass es ein Aktivposten ist, der die Prozesseffizienz in der Gesellschaft verbessert, und nicht ein Aktivposten, den man in gewisser Weise kapitalisieren kann.[12] Abgesehen davon wissen wir aus vielen Untersuchungen, dass es durchaus einen großen Unterschied für die wirtschaftlichen Ergebnisse macht. So verworren das Konzept auch ist, so sinnvoll ist es, darüber nachzudenken, wie man Sozialkapital messen kann.

PWP: Was für eine Agenda. Es scheint, dass uns Ökonomen die Arbeit nicht ausgehen wird.

Coyle: Nein, die Welt hält uns auf Trab. In vielerlei Hinsicht.

PWP: Lassen Sie uns noch ein wenig über Wettbewerb sprechen. Sie haben ja viele Jahre in der britischen Wettbewerbskommission gearbeitet, bevor diese mit dem ehemaligen Office of Fair Trading zusammengelegt und in die Competition & Markets Authority (CMA) umgewandelt wurde.

Coyle: Und ich habe es geliebt, als Mitglied in der Wettbewerbskommission mitzuarbeiten. Ich habe mehr darüber gelernt, wie Märkte funktionieren, als ich in den Jahren meines Studiums gelernt hatte. Der damalige Vorsitzende war Paul Geroski. Er war wunderbar. Jedes Mal, wenn wir eine Anhörung hatten, war das wie eine Meisterklasse in Ökonomik. Diese Fülle an Details darüber, wie verschiedene Märkte funktionieren – das alles war sehr lehrreich. Ich bin jetzt wirklich an allem und jedem interessiert. Ich habe mir damals Dämmmaterial aus Steinfasern angesehen, Videospiele, alles Mögliche, die ganze Bandbreite der Wirtschaft. Das war einfach faszinierend.

PWP: Da Sie sich mit digitalen Fragen befassen und über Erfahrung in Wettbewerbsfragen verfügen – wie beurteilen Sie Recht und Praxis des Wettbewerbs auf diesen Märkten?

Coyle: Wettbewerbsrecht und Wettbewerbspraxis haben diese Themen nur langsam aufgegriffen. Im Jahr 2007 hatten wir bei der Wettbewerbskommission einen Fall im Videospiel-Einzelhandel. Zwei große Einzelhändler wollten fusionieren. Sie verkauften neue Spiele wie auch Spiele aus zweiter Hand. Der Markt für neue Spiele wuchs schnell, da es auch andere Anbieter wie Supermärkte und Online-Händler gab, so dass es keine Probleme gab. Was wir technisch gesehen brauchten, war, dass die Erkenntnisse aus der Analyse mehrseitiger Plattformen, wie in dem Rochet-Tirole-Papier[13], in die Wettbewerbspolitik einfließen. Aber das hat eine Weile gedauert und war damals noch zu neu. Wir mussten darüber nachdenken, wie wettbewerblich der Markt ist, indem wir uns die Preisgestaltung auf beiden Seiten ansahen. Unsere Gruppe war in zwei Richtungen gespalten. Zwei von uns waren der Meinung, dass die Fusion wegen der Dominanz auf dem Markt für Gebrauchtspiele nicht zustande kommen sollte, und die anderen beiden waren der Meinung, dass sie durchgeführt werden könnte. Ich hatte den Vorsitz inne, und so gab ich meine Stimme ab und wir genehmigten die Fusion. Zwei Jahre lang schossen die Gewinne des fusionierten Unternehmens in die Höhe – und dann ging es in Konkurs. Ich weiß also nicht, wer Recht hatte. Auf jeden Fall glaube ich, dass das Wettbewerbsrecht und die Wettbewerbspraxis nur langsam begriffen haben, wie digitale Märkte funktionieren.

PWP: War das die Schuld der Menschen oder des Rechts? Die Menschen, die im Amt sind, haben ja in der Regel eine Vorliebe für den Status quo, und das ist überall so. Sie können nicht tun, was das Recht nicht von ihnen verlangt.

Coyle: Nun ja, ich denke, die Reformen hätten schneller durchgeführt werden müssen, als es der Fall war. Das Vereinigte Königreich war früher ein Vorreiter in diesen Fragen, ist aber jetzt im Rückstand, weil unsere Regierung so chaotisch war und die Gesetze nicht schnell genug verabschiedet wurden. Abgesehen davon trifft die CMA aber in diesen Tagen einige durchaus recht mutige Entscheidungen in ihren Marktermittlungen. Als Institution hat sie Biss. Doch es bedarf der Gesetzgebung, denn es gibt politische Macht, insbesondere wenn die großen Online-Plattformen beteiligt sind. Sie haben ihren Sitz im Ausland, sind riesig, werden hoch geschätzt und von einem Großteil der Bevölkerung genutzt. Es ist also ein ziemlich großer politischer Schritt, diese Fragen der Online-Marktmacht anzugehen.

PWP: Apropos große Plattformen – sind Sie zufrieden mit dem European Digital Markets Act, dem DMA – er gilt zwar nicht mehr in Großbritannien, aber vielleicht haben Sie dort ja etwas Ähnliches?

Coyle: Die britische Regierung hat gesagt, sie werde trotz des Brexits alle Bestimmungen analog umsetzen, und ich denke, sie sollte das auch tun. Ich glaube nicht, dass genug unternommen wird, aber der DMA ist trotzdem ein großer Schritt. Es braucht immer noch Mut, um zu sagen, dass Apple, Google usw. kein Monopol bei den Betriebssystemen haben dürfen und dass wir sie sonst vielleicht zur Interoperabilität zwingen müssen. Es war großartig, zum Thema Technologien zu arbeiten. Wir hatten den Informatiker Derek McAuley im UK Digital Competition Expert Panel[14]. Er stellte klar, dass die Entscheidung der Instant-Messaging-Plattformen, Interoperabilität nicht zu ermöglichen, eine strategische Entscheidung der Plattformen war, keine technische. Technisch war Interoperabilität durchaus machbar.

PWP: Wettbewerbsfragen und Industriepolitik sind eng miteinander verknüpft, und so lassen Sie uns zu den aktuellen Herausforderungen dort kommen. In einer Zeit geopolitischer Spannungen und Kriege ist ein gewisses Maß an Deglobalisierung vielleicht ineffizient, aber dennoch klug, meinen Sie nicht? Könnte es daher eine gute Politik sein, bestimmte strategisch wichtige Industrien zu fördern, abgesehen davon, dass die Regierungen vielleicht erst einmal nicht das offensichtlich Falsche tun sollten, wie in Deutschland mit Uniper – der Schaffung eines nationalen Champions auf dem Gasmarkt, den die Regierung dann in der durch Russlands Angriff auf die Ukraine verursachten Gaskrise verstaatlichen musste[15].

Coyle: Ich stimme Ihnen zu, wir können uns nicht mehr wie früher auf offene Weltmärkte verlassen. Wir haben inzwischen gelernt, dass die Abhängigkeit einfach zu groß werden kann. Aber wenn man über eine adäquate Industriepolitik nachdenkt, besteht die Herausforderung darin, zu wissen, wo die wirklichen Engpässe liegen. Und das Problem ist ohnehin, dass die Existenz offener Märkte Teil unserer wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit ist. Wenn Sie etwas nicht in, sagen wir einmal, China kaufen können, können Sie es dann woanders kaufen? Ich werde Ihnen ein Beispiel geben. Im Vereinigten Königreich gibt es jetzt ironischerweise einen Mangel an CO2, das für die Lebensmittelverarbeitung und auch für die Bierherstellung verwendet wird. Wie sich gezeigt hat, gibt es bei uns nur ein einziges Unternehmen, das Düngemittel herstellt, und CO2 ist ein Nebenprodukt davon. Dieses eine Unternehmen lieferte früher etwa zwei Drittel des gesamten erforderlichen CO2 an die Lebensmittelverarbeitung und die Brauereien des Landes. Und dieses Unternehmen hat jetzt wegen der hohen Gaspreise den Betrieb eingestellt. Wer hätte das gedacht? Ich muss zugeben, dass ich noch nie von diesem Unternehmen gehört hatte. Ich will damit sagen, dass es in der Wirtschaft Engpässe gibt, von denen wir einfach nichts wissen. Deshalb wissen wir auch nicht über sämtliche unverzichtbaren Güter Bescheid, die künftig vielleicht besser als staatliche Dienstleistung produziert werden sollten. Ich denke, Mikrochips sind eines dieser Güter, und ich bin dafür, in ihre Herstellung in Europa zu investieren. Auch wenn das viel Geld kosten wird. Aber Effizienz ist nicht alles.

PWP: Die Chipherstellung in Europa wird tatsächlich kommen.

Coyle: Ja, und das ist gut so. Aber was ist mit Photovoltaik-Modulen? Der chinesische Markt ist so groß, dass die Volksrepublik mit den Produktionskosten weit niedriger liegt als wir. Steht hier die nationale Sicherheit auf dem Spiel? Könnten wir diese Module auch anderswo bekommen, wenn China beschließen sollte, uns nicht mehr zu beliefern? Wenn wir uns mit den Einzelheiten einer solchen Politik befassen, wie wir es jetzt tun müssen, dann stellen wir schmerzlich fest, dass wir darüber einfach noch nicht genug nachgedacht haben. Es ist eine schwierige Aufgabe.

PWP: Erzählen Sie uns zum Schluss noch ein bisschen von dem Institut, das Sie mit leiten, dem Bennett Institute for Public Policy an der Universität Cambridge.[16] Es ist ein ziemlich neues Projekt – worin besteht es?

Coyle: Es handelt sich um eine Neugründung, die erst 2018 ins Leben gerufen wurde. Es ist ein akademisches Unternehmen, das sich sehr auf die Forschung konzentriert, aber auch einen Masterstudiengang „Public Policy“ anbietet. Wir engagieren uns auch stark in der Politik. Die Universität Cambridge hatte eine Spende bekommen, um ein Institut für Public Policy einzurichten. Sie hatten den Politikwissenschaftler Michael Kenny als Eröffnungsdirektor vorgesehen, und neben ihm wollten sie jemanden aus einer anderen Disziplin haben, zum Beispiel aus der Ökonomik – das war dann ich. Unsere Anfangsfinanzierung ist in eine Stiftung geflossen, was uns Nachhaltigkeit verleiht. Aber wir gewinnen auch Forschungsgelder. Das Institut ist Teil der politikwissenschaftlichen Abteilung der Universität; wenn wir wachsen und viele Disziplinen übergreifend forschen, werden wir vielleicht noch eine eigene Abteilung. Aber im Moment noch nicht.

PWP: Wie würden Sie die Arbeit des Instituts beschreiben?

Coyle: Sie ist motiviert durch das Bestreben, herauszufinden, wie man die Dinge besser machen kann. Der wichtigste Grundsatz ist die Interdisziplinarität, denn keine Disziplin allein kann große Probleme lösen. Wir stellen sicher, dass unsere Forschung wissenschaftlich präzise, aber auch für politische Entscheidungsträger relevant ist. Das ist das Konzept. Was wir dann tatsächlich tun, ist ein bisschen vom Zufall getrieben; es hängt von unseren eigenen individuellen Forschungsinteressen ab und davon, welche Forschungsergebnisse erfolgreich sind. Wir haben vier Themenblöcke festgelegt, die recht breit gefächert sind, so dass wir verschiedene Forschungsarbeiten darunter zusammenfassen können.

PWP: Was sind das für Themenblöcke?

Coyle: „Place“, „Progress“, „Productivity“ und „Decision-Making“. Wie gesagt, sehr breit gefächert. Ich arbeite jetzt oft mit Informatikern und Ingenieuren zusammen – ich denke, dass diese Art von Interdisziplinarität unerlässlich ist. Auch wenn man zum Klimawandel arbeitet, müssen Ökonomen, Ingenieure und Umweltschützer miteinander reden. Interdisziplinarität ist einerseits wichtig, aber andererseits innerhalb der gegebenen Universitätsstrukturen wirklich schwer zu erreichen. Mein eigener Schwerpunkt am Institut ist ein zweifacher: Einerseits ist es die Technologie, die mich seit langem interessiert, andererseits aber auch die Frage, über die wir gerade gesprochen haben: Was bedeutet es für die Politik, die Dinge zu verbessern? Das impliziert eine Hinwendung zu den grundlegenderen Fragen der Wohlfahrtsökonomik. Dieser Bereich wurde in den siebziger und achtziger Jahren gelehrt, ist aber inzwischen aus dem Curriculum verschwunden. Tony Atkinson hat einen fantastischen Aufsatz über das seltsame Verschwinden der Wohlfahrtsökonomik geschrieben[17]. Wir sollten sie wiederentdecken. Wir müssen expliziter über Wohlfahrt nachdenken, darüber, was wir wollen, über die Werte, die die Politik leiten sollten.

Diane Coyle wurde von Justus Haucap und Karen Horn interviewt. Die Bilder von Diane Coyle wurden von Nick Saffell aufgenommen, Karen Horn wurde von Johannes Ritter fotografiert.

Zur Person

Diane Coyle: Daten, Technologie, Wohlfahrt

Diane Coyle, 1961 in der englischen Stadt Bury nahe Manchester geboren, liebt seit jeher das Schreiben. Vor allem deswegen folgte sie nach dem Schulabschluss der Empfehlung ihres älteren Bruders, „Philosophy, Politics and Economics“ (PPE) in Oxford zu studieren: „Ich malte mir aus, dass ich einmal wie Simone de Beauvoir in einem Pariser Straßencafé sitzen und Bücher schreiben würde.“ Einer der Tutoren am Brasenose College in Oxford überzeugte sie davon, dass die Ökonomik ein wichtiges Fach ist, wenn man verstehen will, was in der Welt vor sich geht, und wenn man ein soziales Gewissen hat und danach strebt, die Dinge ein wenig zu bessern. Folglich spezialisierte sie sich auf die Ökonomik, als sie mit einem Stipendium für die Promotion in die Vereinigten Staaten ging, an die Harvard University.

Dort hieß es zunächst mehr Rechnen als Schreiben: „Ich musste mich erst einmal vertieft mit Matrix-Algebra und Analysis und dann mit Ökonometrie befassen“, erzählt sie, denn da klafften nach dem PPE-Studium noch Lücken. Trotzdem ist Coyle froh über ihre Wahl: Sich auch in Philosophie und Politikwissenschaft auszukennen, gebe ihr bis heute eine wertvolle inhaltliche Breite. Auch mit der Nutzung von Computern musste sie sich erst vertraut machen: In den siebziger Jahren hatte man damit noch nicht viel Erfahrung. „Der Computer hat die Art und Weise, wie wir unser Fach betreiben können, radikal verändert“, kommentiert sie. Das Problem sei nur, dass viele Leute, die Datensätze aus dem Internet nutzten, sich nicht damit befassten, wie diese konstruiert seien – was mitunter zu Fehleinschätzungen ihrer Aussagekraft führe.

An der Harvard University arbeitete Coyle zusammen mit Benjamin M. Friedman and Mark Watson an makroökonomischen Zeitreihenanalysen. In ihrer aus drei Essays bestehenden Dissertation testete sie Arbeitsmarktmodelle und versuchte, dem mit den vorherrschenden Real-business-cycle-Modellen nicht zu erklärenden prozyklischen Muster der Produktivität auf die Spur zu kommen.[18] Es zeigte sich, dass das Muster keineswegs einheitlich war, sondern sich je nach Branche stark unterschied. Die aggregierten gesamtwirtschaftlichen Daten zeigten insofern ein irreführendes Bild. Mit dieser Erkenntnis, die ihr Interesse für die Arbeit an sinnvollen ökonomischen Messmethoden weckte, bewegte sich Coyle wieder ein wenig von der Makroökonomik fort, in Richtung Mikroökonomik.

Nach ihrer Promotion 1985 kehrte Coyle wieder nach England zurück: Auf Dauer war der „American way of life“ doch nichts für sie; sie sehnte sich nach Europa, nach zuhause. Und als sich ein Stellenangebot der „Treasury“ auftat, des britischen Finanzministeriums, griff sie zu – „ich war 24 Jahre alt, hatte keine Ahnung, was ich tun wollte, und hier war ein Job, mit dem sich Geld verdienen ließ.“ Auch da gab es wieder viel Spannendes zu lernen, diesmal auf dem Feld der Statistik, der Datenquellen und der Messmethoden. Es war eine interessante Zeit, mit Margaret Thatcher als Premierministerin und Nigel Lawson als Finanzminister. „Der Monetarismus tat seine letzten Atemzüge.“ Die Innovationen am Finanzmarkt waren rasant, und die Regierung hatte sich entschieden, die City zu deregulieren. „Eine meiner Aufgaben war es, Briefings für die Staatssekretäre zu schreiben und ihnen zu erklären, was Derivate sind“, erzählt Coyle. Außerdem ging es darum, neue Zielgrößen für die monetären Aggregate zu definieren – die alten ließen sich nicht mehr halten. „Ich nahm lineare Kombinationen von kurzfristigen Geldanlagen und minimierte ihre Wachstumsraten – ich glaube, ich erfand M4.“

Inhaltlich empfand Coyle das alles aber letztlich nicht als befriedigend, und so wechselte sie nach nur zwei Jahren in die Privatwirtschaft, zu dem Prognoseinstitut Data Resources Inc. (DRI). Dort setzte sich das Lernen fort – über Daten, aber auch über die Vorhersagen selbst: „Es gibt einen gewissen Druck, sich nicht allzu weit von dem zu entfernen, was alle anderen sagen. Wenn man falsch liegt, sieht man sehr dumm aus. Aber wenn man falsch liegt und alle anderen auch, dann ist das nicht weiter schlimm.“

Nach zwei weiteren Jahren wagte Coyle eine Neuausrichtung ihrer noch jungen Karriere und wandte sich rigoros ihrer Lieblingstätigkeit zu, dem Schreiben: Sie absolvierte zunächst ein sechsmonatiges Praktikum beim Magazin „The Economist“, arbeitete dann vier Jahre beim Finanzmagazin „Investor’s Chronicle“ und acht Jahre bei der Tageszeitung „The Independent“. Dabei interessierte sie sich immer mehr für die neu entstehende Branche der Informationstechnologie, von der sie große Umwälzungen erwartete, und schrieb darüber gleich ein ganzes Buch[19]. Insgesamt waren es 13 Jahre im Journalismus. Auch hierin sieht sie in der Rückschau wesentliche Lehrjahre: Sie habe ein großes Netzwerk aufbauen können und tiefe Einblicke in die Mechanismen der Politik gewonnen.

Außerdem habe sie gelernt, wie man komplizierte Dinge möglichst einfach ausdrücke und verständlich erkläre. „Es ist mit dem Schreiben wie mit der Lehre“, sagt sie: „Wenn man nicht herüberbringen kann, was man will, dann hat man es wahrscheinlich selbst nicht ganz begriffen.“ Das Bemühen um Verständlichkeit ist ihr bis heute wichtig: „Die Ökonomik ist ein einflussreiches Fach; es berührt das Leben von uns allen. Wir stehen deshalb in der Pflicht, gut mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren.“ Kommunikation ist für sie dabei eine Technik nicht nur der Verlautbarung, sondern auch des Zuhörens: Nur so könne man erfahren, was die Menschen umtreibe, und nur so könne man Missverständnisse erkennen und aufklären.

Nach der Jahrtausendwende erfand sich Coyle dann abermals beruflich neu. Sie machte sich mit „Enlightenment Economics“[20] selbständig, einer privaten Beratungsfirma zu Fragen der IT-Märkte. Zu den Kunden ihrer Firma zählen vor allem internationale Organisationen und Großunternehmen. Außerdem nahm Coyle in etlichen wichtigen öffentlichen Institutionen Einsitz. Unter anderem wurde sie 2001 in die britische Wettbewerbsbehörde berufen, die Competition Commission, und 2018 in das UK Digital Competition Expert Panel. Außerdem war sie viele Jahre Mitglied im BBC Trust, dem Rundfunkrat der öffentlich-rechtlichen British Broadcasting Corporation (BBC). Sie gehörte außerdem unter anderem der nationalen Infrastrukturkommission an, einem Beratungsgremium zu Migrationsfragen sowie dem Industriestrategierat. „All diese Erfahrungen waren unglaublich lehrreich“. Viel Freude macht ihr neben all dem das jährliche „Economics Festival“ in Bristol[21], eine Veranstaltung für die breite Öffentlichkeit, die sie 2011 mit gegründet hat und seither mit konzipiert.

Die mit diesen Ämtern verbundene öffentliche Sichtbarkeit, ihre Expertise und ihre zwar kritischen, aber konstruktiven ökonomischen Positionen führten Coyle dann allmählich wieder in die akademische Welt zurück. Die Universität Manchester holte sie 2014 an Bord, weil es dort, wie sie sich erinnert, unter den Studenten an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät Unmut gab: „Sie sahen sich nicht angemessen darauf vorbereitet, die Finanzkrise zu verstehen, und verlangten eine realitätsnähere Ökonomik.“ Coyle entwickelte eine Lehrveranstaltung zur Wirtschaftspolitik, die viele der Kritikpunkte an der vorherrschenden Ökonomik gerade auch aus der jungen Generation aufnahm – und machte später aus dem Stoff ein Buch mit dem Titel „Markets, State, and People“[22]. Anfang 2018 wechselte sie von Manchester an die University of Cambridge, als Co-Direktorin des neu gegründeten, an der politikwissenschaftlichen Fakultät angesiedelten, aber interdisziplinär arbeitenden Bennett Institute for Public Policy.

Die Feder – oder vielmehr die Tastatur ihres Laptops – ruht dabei so gut wie nie. Neben ihren aktuellen Forschungsarbeiten publiziert Coyle auch weiterhin regelmäßig Zeitungs- und Blogartikel – und Bücher, zuletzt „Cogs and Monsters“[23], abermals mit Kritik an einer nicht mehr zeitgemäßen Ökonomik. Für ihre Leistungen ist Coyle vielfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem königlichen Orden „Commander of the Most Excellent Order of the British Empire“ (CBE) sowie mit den Ehrendoktorwürden mehrerer britischer Universitäten.

Published Online: 2023-04-18
Published in Print: 2023-04-06

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 13.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/pwp-2023-0006/html
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