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Gesundheit, soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit

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Published/Copyright: September 8, 2020

Zusammenfassung

Die COVID-19-Pandemie wirft wie in einem Brennglas Fragen von gesundheitlicher Bedrohung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit auf. Soziale und gesundheitliche Gerechtigkeit ist ein zentrales Public-Health-Thema und wird zunehmend mit Nachhaltigkeit verknüpft, insbesondere durch die UN-Nachhaltigkeitsziele. Der Beitrag gibt einen Überblick über diese Zusammenhänge, illustriert diese anhand der Pandemie und beschreibt Ansätze in Europa auf dem Weg zu mehr gesundheitlicher Gerechtigkeit.

Abstract

The COVID-19 pandemic puts a magnifying lens on questions of health threats, health equity and sustainability. Social and health equity is a central Public Health topic which is increasingly becoming connected with issues of sustainability, notably through the UN Sustainable Development Goals. The paper provides an overview of these links, illustrates them using the example of the current pandemic and describes European approaches towards increased health equity.

Die aktuelle COVID-19-Pandemie demonstriert klar die Bedeutung der Frage der sozialen Gerechtigkeit mit Blick auf die von der Infektion einerseits, von der Reaktion auf die Pandemie andererseits besonders Betroffenen: dies sind vielfach Menschen mit vorbestehenden sozialen oder gesundheitlichen Risiken. Soziale Gerechtigkeit bei der Gesundheit ist fraglos ein Dauerthema von Public Health, Medizin und gesundheitlicher wie pflegerischer Versorgung. Dies ist nicht zuletzt deswegen so, weil soziale Determinanten zu den stärksten Triebkräften für Gesundheit und Krankheit gehören. In den letzten Jahren wurde die Diskussion um die Bedeutung von (Un-) Gerechtigkeit für die Gesundheit vermehrt mit der Frage der Nachhaltigkeit von Interventionen und Maßnahmen zur Verbesserung und Aufrechterhaltung von Gesundheit wie auch des Gesundheits- und Sozialsystems verbunden. Besonders deutlich wurde dies mit den UN-Nachhaltigkeitszielen, die ein umfassendes Ziel- und Wertesystem der menschlichen Entwicklung formulieren und Gesundheit explizit in Ziel 3 und implizit in einer Vielzahl anderer Ziele adressieren. Die Verminderung der Ungleichheit wird als Ziel 10 formuliert und findet sich ebenso in weiteren Zielen wieder.

Ungleichheit und Gerechtigkeit in der Gesundheit

Der Begriff der sozialen Ungleichheit legt den Fokus auf existierende Unterschiede zwischen sozialen Gruppen, etwa mit Blick auf die Gesundheit oder Bildung. Aus den epidemiologischen und sozialwissenschaftlichen Befunden, wie bspw. den vielfach demonstrierten Unterschieden bei ursachenspezifischer Morbidität, Mortalität und Lebenserwartung, werden Interventionen begründet und abgeleitet, die zur Verringerung dieser Ungleichheiten führen sollen. Gesundheitliche Gerechtigkeit – health equity – knüpft hier an: gemäß der WHO-Kommission zu sozialen Determinanten der Gesundheit geht es bei gesundheitlicher Gerechtigkeit um die Abwesenheit von Ungleichheiten, die unfair sind und mit vernünftigen Mitteln verhindert werden können [1]. Um gesundheitliche Gerechtigkeit erreichen zu können, gilt es, an den sozialen Determinanten der Gesundheit anzusetzen. Sogar schon vorgeburtlich ist der Einfluss des Sozialstatus (via gestörtes intrauterines Wachstum) auf die Gesundheit des werdenden Kindes und späteren Erwachsenen belegt [2]. Dabei geht es nicht allein um oftmals sozial konfigurierte verhaltensbezogene Risikofaktoren wie Alkohol oder Rauchen der Mutter während der Schwangerschaft oder Fehlernährung in der frühen Kindheit. Umweltbedingungen und Lebensverhältnisse haben einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung und Ausprägung sozialer Unterschiede in der Gesundheit, sei es durch Benachteiligungen in Bezug auf Wohnraum oder gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen [3]. Niedriges Einkommen und geringe Bildungschancen gehören genau wie Beschränkungen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung zu den sozialen Determinanten, die unter einer Gerechtigkeitsperspektive vorrangig zu adressieren sind.

Intersektoralität

Damit wird eine intersektorale Herangehensweise nahegelegt, die im Sinne von „Health in all policies“ Gesundheit und ihre starke soziale Determinierung als querliegende Anforderung an gesellschaftliche Maßnahmen und Programme in unterschiedlichen Politikbereichen anerkennt und aktiv umzusetzen sucht. Die COVID-19-Pandemie macht diese intersektoralen Zusammenhänge deutlich: alle gesellschaftlichen Bereiche sind von der Infektion und den Reaktionen darauf betroffen, und Antworten auf diese gesundheitliche Krisenlage beziehen alle Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche ein. Gleichzeitig offenbart sich, dass Personengruppen mit geringeren finanziellen, sozialen und mentalen Ressourcen disproportional stark unter der Situation leiden – bestimmte Personengruppen wie Ältere und Menschen in Sammelunterkünften stehen unter besonderen Infektionsrisiken, und die Beschränkungen des „lockdowns“ treffen Menschen in schwierigen Lebensumständen besonders hart [4].

International dominiert hingegen nicht eine solidarische, Sektoren und Landesgrenzen übergreifende Reaktion auf die Pandemie, sondern an vielen Stellen eine ausgrenzende und nach innen gewandte Politik, die verschiedene Aspekte der Globalisierung – negative wie positive – kurzerhand aussetzte. Fortschritte auf dem Weg zu den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals, SDG), die seit 2015 als übergreifende internationale Entwicklungsagenda fungieren, werden damit ebenfalls in Frage gestellt. Die SDG stehen für soziale Gerechtigkeit und bieten damit direkte Bezüge zu gesundheitlicher Gerechtigkeit [1]. Gesundheit und Förderung des Wohlbefindens werden im Ziel 3 explizit mit einer Gleichheits- und Lebenslaufperspektive angesprochen (Original: ensure healthy lives and promote wellbeing for all at all ages), implizit finden sich aber in vielen der übrigen Ziele Anknüpfungspunkte. In den SDG verbinden sich die globalen Entwicklungsperspektiven, darunter auch die globale Gesundheit, eng mit Nachhaltigkeitsaspekten und der Klimawandel-Agenda. Es bestehen zumindest konkrete Vermutungen dazu, dass eine nicht nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise im „Anthropozän“ [5] die Entstehung der SARS-CoV-2-Pandemie begünstigt hat und damit auch im konkreten Fall die engen Zusammenhänge von Gesundheit und Nachhaltigkeit deutlich werden. Besondere Enge der Lebensverhältnisse in Mega-Cities und die von Menschen verursachte Veränderung des natürlichen Habitats von Tieren wären bspw. zu bedenken. Entsprechend wichtiger könnte ein nachhaltiger One-Health Ansatz [6] in der gesundheitspolitischen Diskussion der näheren Zukunft werden.

Synergieschaffung als Aufgabe

Wie lässt sich nun gesundheitliche Gerechtigkeit praktisch mit Nachhaltigkeit in Kontext setzen? Hinweise gibt z.B. das europäische INHERIT Projekt. Hier wurden Fallbeispiele systematisch analysiert, die das Potenzial für einen „Dreifachbonus“ (triple win) in Hinsicht auf Verbesserungen bei Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Gesundheit aufwiesen. Aus dem Projekt sollten sich konkrete Hinweise auf die Gestaltung von zukünftigen Interventionen ergeben. Aus den 15 heterogenen Fallstudien wurden 10 Kernlektionen abgeleitet, die viele schon aus der erfolgreichen Prävention und Gesundheitsförderung bekannte Aspekte wie Verknüpfung mit vorhandenen (politischen) Prioritäten, langfristige Finanzierung, und Partizipation umfasste. Dazu traten einige zusätzliche Aspekte wie etwa die Nutzung von positiven Rückkopplungsschleifen und die frühzeitige und kontinuierliche Entwicklung einer auf Synergie aller drei Ziele ausgerichteten Grundeinstellung bei Projektplanung und – durchführung. Die Ergebnisse des Projektes weisen auf das Potenzial wie auch die Notwendigkeit eines intersektoralen Ansatzes bei der Synergieschaffung zwischen Gesundheit, sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit hin [7].

Diskussion und Ausblick

Europa macht einige Fortschritte bei der Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklungsagenda, wobei es Hinweise gibt, dass der Gesundheitsbereich hierbei nicht die treibende Kraft ist: besser gelingt die Verbindung wirtschaftlicher und umweltbezogener Dimensionen der nachhaltigen Entwicklung [8]. Entsprechend fällt auch der Fortschritt der letzten Jahrzehnte in Bezug auf gesundheitliche Gerechtigkeit in der WHO-Region Europa geringer aus als erwartet [9]. Die politische Verpflichtung vieler Regierungen zur Verringerung von gesundheitlicher Ungerechtigkeit erfordert daher eine noch stärkere Umsetzung und eine bessere Abstimmung mit wichtigen Ko-Zielsetzungen im Rahmen des Konzeptes der nachhaltigen Entwicklung. Die COVID-19-Pandemie und ihre Folgen verleihen einer solchen Agenda weitere Dringlichkeit, aber auch neue Perspektiven, u.a. hinsichtlich der Möglichkeiten entschiedenen Handelns für übergeordnete Gesundheitsziele.

  1. Autorenerklärung

  2. Der Autor erklärt, dass er keine finanzielle Förderung für die Arbeiten am Manuskript erhalten hat. Der Autor erklärt, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.

  3. Author Declaration

  4. Author contributions: The author has accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript. Funding: Author states no funding involved. Conflict of interest: Author states no conflict of interest. Ethical statement: Primary data neither for human nor for animals were collected for this research work.

Literatur

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Online erschienen: 2020-09-08
Erschienen im Druck: 2020-09-25

©2020 Hajo Zeeb, published by De Gruyter, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

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  28. PHF 108 (03/2020) – Health in All Policies
Downloaded on 27.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/pubhef-2020-0028/html
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