Orientierung an der Zeit. Logik, Paradoxie und Theorie nach Nietzsche und Luhmann
-
Werner Stegmaier
Zusammenfassung
Die Abhandlung ist Teil eines Forschungsprojekts Luhmann meets Nietzsche. Orientierung im Nihilismus. Das Projekt folgt der These, dass die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns (1927-1998) philosophische Grundentscheidungen Nietzsches erneuert und für das 21. Jahrhundert plausibel macht. Nietzsche hatte eine Wirkung seiner Philosophie erst für das „Übermorgen“ erwartet, und Luhmann schätzte ihn für seine damals „inkongruenten Perspektiven“. Im Übrigen ignorierte er Nietzsche jedoch fast völlig, weil er nur „theoretisch-hilflose Verlegenheit“ bei ihm sah. Eben das macht eine Begegnung beider besonders interessant. Luhmann dachte Nietzsches „radikalen Nihilismus“ als „radikalen Konstruktivismus“ weiter und führte die Entscheidungen für einen methodischen Immoralismus („Niemand lügt so viel als der Entrüstete“), einen reflektierten Realismus der Beobachtbarkeit („bleibt der Erde treu“), für die Evolution nicht nur des Lebens, sondern auch aller zu seiner Bestimmung gebrauchten Unterscheidungen („Die Form ist flüssig“), für die Steigerung der Komplexität der Unterscheidungen durch Selbstbezüge („Selbstaufhebung“) und in letzter Konsequenz für die Entscheidbarkeit als solche („warum nicht lieber …?“) in einer Theorie zusammen, die sich von Paradoxien nicht blockieren lässt, sondern sie zu Denkmitteln macht. Wenn Nietzsche die Logik in die Zeit einließ, den Ursprung aller logischen Paradoxien, so Luhmann auch die Zeit in die Logik. Doch Nietzsche hielt die Theorie, auf der Luhmann bestand, durch seine Formen philosophischer Schriftstellerei bewusst in Grenzen. Und auch bei Luhmann bleibt die Theorie ein in sich zeitliches Orientierungsinstrument.
Abstract
This paper is part of the research project Luhmann meets Nietzsche. Orientation within Nihilism. The project claims that the sociological systems theory of Niklas Luhmann (1927-1998) renews Nietzsche’s fundamental philosophical decisions and that it makes them plausible for the 21st century. Nietzsche expected the impact of his philosophy only “the day after tomorrow”, and Luhmann appraised him for his “incongruent perspectives”. Apart from that he ignored Nietzsche almost entirely seeing in his philosophy only “theoretical-helpless predicaments”. Precisely this is what makes the encounter between both particularly interesting. Luhmann continued Nietzsche’s “radical nihilism” as a “radical constructivism”. He joined Nietzsche’s decisions for a methodical immoralism (“nobody lies as much as the outraged man”), for a reflective realism of observability (“remain true to the earth”), for the evolution not only of life but also of all defining distinctions of life (“The form is fluid”), for the increase of the complexity of distinctions via self-referentiality (“self-overcoming”) and in last consequence for decidability as such (“Why not rather …?”) in a theory, which is not blocked by paradoxes, but makes use of them as a means to thinking. While Nietzsche drew logic into time as the origin of all logical paradoxes, Luhmann drew time into logic. But Nietzsche kept theory, on which Luhmann insisted, consciously within limits through his forms of philosophical writing. But also for Luhmann, theory remains a temporary instrument for orientation.
© 2015 by Walter de Gruyter Berlin/Boston
Articles in the same Issue
- Titelei
- Inhalt
- Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
- Editorial
- Kontroverse zum Thema „Was heißt und wie kann man ,Werte schaffen‘?“
- 0.0 Einleitung
- 0.1–0.9 Selbstvorstellung der Teilnehmer(innen) der Kontroverse
- 1. Runde
- 1.1 Die Selbstüberschätzung des Philosophen und der Philosophie
- 1.2 Die Moral der anderen. Nietzsches Wertkritik
- 1.3 How hard is it to create values?
- 1.4 Der Journalist, die Presse, der informierte Leser. Nietzsche über Wertegeber, Werte und ihre Vermittlung im Medienzeitalter
- 1.5 „Ein Gott als Dienstbote“. Nietzsches Beitrag zu einer Ideen- und Kulturgeschichte der Dienstleistungsgesellschaft
- 1.6 Nietzsche’s Highest Value (Affirmation of Life) and its Limits
- 1.7 What we can learn from Plants about the Creation of Values
- 1.8 Wertschöpfung als kulturelle Praxis. Ein Beitrag Nietzsches zur Kulturphilosophie
- 1.9 On Creating Values
- 2. Runde
- 2.1 Die Vorzüge der Kritik und die Falle des Dekonstruktivismus
- 2.2 Aufwertung und Abwertung. Nietzsches Gegenhegemonie
- 2.3 What is it like to recognize values? (The hard problem of value 2)
- 2.4 Nietzsche über Werte. Zum kulturphilosophischen Aspekt der Rezeption
- 2.5 Nietzsches Ästhetik des Schaffens im Zeichen von Schwangerschaft und „Erfindlichkeit“
- 2.6 Why Nietzsche Opposes the Creation of Values
- 2.7 Are Values of Social or Individual Origin? And what is the Purpose of Values?
- 2.8 Normative Implikationen der Moralkritik. Kritische Bemerkungen zu Versuchen, Nietzsche als Metaethiker zu lesen
- 2.9 Defending the Creation of Values
- 3. Runde
- 3.2 Angriff als Verteidigung. Nietzsches Revolutionen
- 3.3 What Mary didn’t know about values (The hard problem of value 3)
- 3.4 Wie politische Interessen meinungsgesteuerte Werte werden. Nietzsches Kritik an massenmedialer Wertevermittlung im Kontext zeitgenössischer und aktueller Stimmen
- 3.9 Some Relevant Distinctions for Understanding the Creation of Values
- Abhandlungen
- Le rôle de Bacon et de Newton dans l’élaboration de la méthode de Nietzsche
- Die Moral eines freien Geistes
- What Zarathustra Whispers
- Nietzsche’s Science of Love
- Nietzsche on Objects
- Nietzsche, Selfhood, and the Limitations of the Transcendental Reading
- „Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen“. Zum Problem des Perspektivischen in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches I
- Die Spuren von Nietzsches Schrei ben. Arbeit mit der KGW IX
- Orientierung an der Zeit. Logik, Paradoxie und Theorie nach Nietzsche und Luhmann
- Diskussion
- Contesting Nietzsche’s Agon. On Christa Davis Acampora’s Contesting Nietzsche
- Abhandlung zur Geschichte und Edition von Nietzsches Werken
- The ‘Entstehung’ of the second Untimely Meditation
- Beiträge zur Quellenforschung
- Editorial
- Nachweise
- Nachweis aus Plutarch, Ueber die gemeinen Begriffe. Wider die Stoiker (1861)
- Nachweise aus Jacob Bernays, Die Dialoge des Aristoteles in ihrem Verhältniss zu seinen übrigen Werken (1863)
- Nachweise aus Emil Heitz, Die verlorenen Schriften des Aristoteles (1865)
- Nachweise aus Erwin Rohde, Afterphilologie (1872)
- Abhandlung zur Rezeptionsforschung
- Friedrich Nietzsche and Jakob Wassermann: Brothers in Spirit?
- Bericht
- Die gegenwärtige Nietzsche-Forschung in China. Die straussianische Lesart im Fokus
- Miszelle
- Ritschl als Kollege Nietzsches in Basel? Ein Brief Friedrich Ritschls an Wilhelm Vischer-Bilfinger
- Rezensionen
- Neuerscheinungen der biographischen Nietzsche-Forschung
- Neuerscheinungen zu Nietzsches Denken des Politischen
- Furcht, Gewalt und Bejahung eines ausgesetzten Lebens
- Nietzsche und Benjamin als Sternbild
- Siglen
- Register
- Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten für die Nietzsche-Studien
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- 1.2 Die Moral der anderen. Nietzsches Wertkritik
- 1.3 How hard is it to create values?
- 1.4 Der Journalist, die Presse, der informierte Leser. Nietzsche über Wertegeber, Werte und ihre Vermittlung im Medienzeitalter
- 1.5 „Ein Gott als Dienstbote“. Nietzsches Beitrag zu einer Ideen- und Kulturgeschichte der Dienstleistungsgesellschaft
- 1.6 Nietzsche’s Highest Value (Affirmation of Life) and its Limits
- 1.7 What we can learn from Plants about the Creation of Values
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- 2.1 Die Vorzüge der Kritik und die Falle des Dekonstruktivismus
- 2.2 Aufwertung und Abwertung. Nietzsches Gegenhegemonie
- 2.3 What is it like to recognize values? (The hard problem of value 2)
- 2.4 Nietzsche über Werte. Zum kulturphilosophischen Aspekt der Rezeption
- 2.5 Nietzsches Ästhetik des Schaffens im Zeichen von Schwangerschaft und „Erfindlichkeit“
- 2.6 Why Nietzsche Opposes the Creation of Values
- 2.7 Are Values of Social or Individual Origin? And what is the Purpose of Values?
- 2.8 Normative Implikationen der Moralkritik. Kritische Bemerkungen zu Versuchen, Nietzsche als Metaethiker zu lesen
- 2.9 Defending the Creation of Values
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- 3.2 Angriff als Verteidigung. Nietzsches Revolutionen
- 3.3 What Mary didn’t know about values (The hard problem of value 3)
- 3.4 Wie politische Interessen meinungsgesteuerte Werte werden. Nietzsches Kritik an massenmedialer Wertevermittlung im Kontext zeitgenössischer und aktueller Stimmen
- 3.9 Some Relevant Distinctions for Understanding the Creation of Values
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- What Zarathustra Whispers
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- Nietzsche, Selfhood, and the Limitations of the Transcendental Reading
- „Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen“. Zum Problem des Perspektivischen in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches I
- Die Spuren von Nietzsches Schrei ben. Arbeit mit der KGW IX
- Orientierung an der Zeit. Logik, Paradoxie und Theorie nach Nietzsche und Luhmann
- Diskussion
- Contesting Nietzsche’s Agon. On Christa Davis Acampora’s Contesting Nietzsche
- Abhandlung zur Geschichte und Edition von Nietzsches Werken
- The ‘Entstehung’ of the second Untimely Meditation
- Beiträge zur Quellenforschung
- Editorial
- Nachweise
- Nachweis aus Plutarch, Ueber die gemeinen Begriffe. Wider die Stoiker (1861)
- Nachweise aus Jacob Bernays, Die Dialoge des Aristoteles in ihrem Verhältniss zu seinen übrigen Werken (1863)
- Nachweise aus Emil Heitz, Die verlorenen Schriften des Aristoteles (1865)
- Nachweise aus Erwin Rohde, Afterphilologie (1872)
- Abhandlung zur Rezeptionsforschung
- Friedrich Nietzsche and Jakob Wassermann: Brothers in Spirit?
- Bericht
- Die gegenwärtige Nietzsche-Forschung in China. Die straussianische Lesart im Fokus
- Miszelle
- Ritschl als Kollege Nietzsches in Basel? Ein Brief Friedrich Ritschls an Wilhelm Vischer-Bilfinger
- Rezensionen
- Neuerscheinungen der biographischen Nietzsche-Forschung
- Neuerscheinungen zu Nietzsches Denken des Politischen
- Furcht, Gewalt und Bejahung eines ausgesetzten Lebens
- Nietzsche und Benjamin als Sternbild
- Siglen
- Register
- Hinweise zur Gestaltung von Manuskripten für die Nietzsche-Studien