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Andreas Heinecke – Wissenschaftlicher Dokumentar und Sozialunternehmer

Published/Copyright: November 10, 2023

 Foto: Anna Ziegler

Foto: Anna Ziegler

Nach 30 Jahren an der Spitze des Dialoghauses und der Dialogue Social Enterprise hat der bisherige Geschäftsführer Andreas Heinecke im März 2023 sein Amt an Svenja Weber übergeben. Heinecke wurde in den 1980er Jahren zu dem Format „Dialog im Dunkeln“ inspiriert, das ihn zu einem der größten Sozialunternehmer Deutschlands mit mehr als 130 Mitarbeitern machte. Alles begann, als er in seiner Heimatstadt Baden-Baden beim damaligen Südwestfunk (SWF) eine Ausbildung zum Wissenschaftlichen Dokumentar absolvierte. Eines Tages rief ihn sein Vorgesetzter Wolfgang Hempel, Hauptabteilungsleiter Dokumentation und Archive, zu sich. Ein Zeitungsjournalist habe bei dem Sender um Arbeit nachgefragt, allerdings gebe es ein Problem, so Hempel zu seinem Azubi: Der 28-Jahre alte Bewerber sei nach einem Autounfall erblindet. Ob er – Heinecke – sich vorstellen könne ihm das Handwerk eines Hörfunkdokumentars beizubringen und einen Ausbildungsgang für blinde Menschen aufzubauen. Nach anfänglicher Skepsis willigte Heinecke ein, ohne zu ahnen, dass dieser Auftrag zu einem Wendepunkt in seinem Leben werden sollte. Er machte sich an die Arbeit. Der Zeitungsjournalist – sein Name ist Matthias Wolf – lebte und lebt in Freudenstadt, hier richtete ihm Heinecke das ein, was man heute ein „Home-Office“ nennt, und brachte ihm das Basiswissen der Dokumentation bei. Nach zwei Jahren bestand Wolf die Abschlussprüfungen und Heinecke wurde beauftragt, das Ausbildungskonzept für blinde Menschen so weiterzuentwickeln, dass es von anderen Rundfunkanstalten übernommen werden konnte. Hempel sagte Heinecke damals seine weitere Unterstützung zu, sofern er einen Ausbildungsträger finden würde. Mit der „Frankfurter Stiftung Blindenanstalt“ gelang es Heinecke, eine geeignete Institution mit ins Boot zu holen.

Entscheidende Unterstützung kam auch von der damaligen Deutschen Gesellschaft für Dokumentation (DGD) und ihrem Lehrinstitut für Dokumentation (LID) in Frankfurt am Main. Hier war es vor allem Dr. Anni Anders, die Heineckes Ideen für blinde und sehbehinderte Menschen aufgeschlossen gegenüberstand, diese aufgriff, in den Lehrplänen umsetzte und so die Professionalisierung des Berufsstandes der Dokumentare voranbrachte. Heinecke entwickelte hier mit Mitstreitern Anfang der 1990er Jahre das erste elektronische Wörterbuch und eine erste elektronische Tageszeitung. Bereits 1988 war Heinecke von Baden-Baden nach Frankfurt am Main gezogen, wo er unter anderem an der Goethe-Universität seine Dissertation über „Das Ostjudentum im Werk von José Orabuena“ verfasste. In seiner Zweizimmer-Wohnung veranstaltete er in diesen Jahren erstmals einen „Dialog im Dunkeln“, bei dem sehende Menschen in die Welt von Blinden eintauchen, auch um beispielsweise zu erfahren wie es ist, Essen zu gehen ohne sehen zu können. Die Idee entwickelte sich zum Erfolgsrezept, die Nachfrage nahm stetig zu und heute finden die „Dialoge im Dunkeln“ auf mehreren Hundert Quadratmetern statt. Jeder Besucher bekommt einen Blindenstock und es wird ihm ein blinder Guide zugewiesen. Der führt ihn durch eine Lichtschleuse in einen vollkommen verdunkelten Raum, ab hier sieht der Gast nichts mehr. An unterschiedlichsten Stationen ist Vogelgezwitscher zu hören, an anderer Stelle spürt man Wind auf der Haut und mit den Füßen kann man Kies ertasten. In weiteren Räumen können die Besucher erleben, womit Blinde im Straßenverkehr konfrontiert werden, zu hören sind beispielsweise Presslufthämmer und andere typische Stadtgeräusche wie hupende Autos oder beschleunigende Motorräder. Auch den Besuch auf einem Wochenmarkt kann man nachempfinden, hier können verschiedene Obst- und Gemüsesorten ertastet werden. „Viele halten das nur sehr schwer aus“ erklärte Heinecke mit Blick auf einen Barbesuch, bei dem in völliger Dunkelheit gegessen und getrunken wird. Das Konzept von „Dialog im Dunkeln“ wurde bis heute in weltweit etwa 50 Ländern von Franchise-Unternehmern umgesetzt. Für diese Idee und ihre Umsetzung erhielt Heinecke zahlreiche Preise, unter anderem wurde er 1998 in New York mit dem „Stevie Wonder Vision Award“ ausgezeichnet, 2006 erhält er den Deutschen Unternehmerpreis und fünf Jahre später den Deutschen Gründerpreis (2011). Zudem wird er von den Veranstaltern des Weltwirtschaftsforums nach Davos eingeladen um seine Ideen zu präsentieren. Heinecke hat sich jetzt zwar in den Ruhestand verabschiedet, wer ihn kennt, weiß aber, dass der 67-Jährige nach wie vor akribisch und voller Elan weitere Projekte vorantreibt. So arbeitet er momentan an Konzepten, wie Menschen aus Behindertenwerkstätten in der Altenpflege eingesetzt werden können, außerdem beschäftigt er sich mit Inklusionsmanagement.

Dr. Ulrich Philipp, Rastatt

Published Online: 2023-11-10
Published in Print: 2023-11-07

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 8.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/iwp-2023-2033/html
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