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Multiple Persönlichkeiten in Zeiten digitaler Publikationsformen

Ein Erfahrungsbericht zur „Open Researcher and Contributer ID“ (ORCID)
  • Claus Harringer

    Claus Harringer ist Lektor am Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Johannes Kepler Universität Linz.

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Published/Copyright: July 23, 2020

Hintergrund ORCID

Als der – auf talkshowtaugliche Lebensratschläge spezialisierte – Starphilosoph Richard David Precht seinen Bestseller „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ verfasste, hatte er mit dem Titel wohl kaum die verwirrende Welt der „Author IDs“ vor Augen. Dennoch formuliert er mit ihm genau die Frage, die sich aufdrängt, wenn man mit verschiedenen Systemen zur Identifizierung von Autor/innen wissenschaftlicher Texte konfrontiert wird.

Wissenschaftliche Autor/innen publizieren in unterschiedlichen Journalen und Verlagen, wechseln ihre Arbeitsplätze, Mitgliedschaften und manchmal auch ihre Namen (etwa heiratsbedingt, was Frauen nach wie vor stärker betrifft). Darum ist es sinnvoll, sie anhand eines (alpha)numerischen Codes identifizieren zu können, der eine Konstante im (heutzutage immer unbeständigeren) akademischen Lebenslauf darstellt und die verschiedenen Affiliationen und Publikationen bündelt. Letztere werden nämlich von unterschiedlichen Literatur- und Zitationsdatenbanken erfasst, was die Sache verkompliziert, da diese oft direkt miteinander konkurrieren.

Die Marktführer sind dabei Scopus (Elsevier) und Web of Science (Clarivate Analytics) und beide haben auch eigene Identifikationssysteme entwickelt. Clarivate Analytics verwendet(e) Researcher ID[1], seit April 2019 Publon, und Elsevier die Scopus Author ID. Auch die bibliographische Datenbank MEDLINE bzw. die Suchmaschine PubMed, die über 25 Millionen biomedizinische Journalartikel bzw. die Referenzen auf diese enthält, hat mit Pub Med Author ID Project ein eigenes Identifikationssystem entwickelt.[2]

Dass die Existenz mehrerer Parallelsysteme Probleme verursacht, sollte nicht verwundern: Bei Autor/innen, die in verschiedenen Journalen publizieren, führt das zu entsprechenden Parallelexistenzen. Darum wäre es grundsätzlich eine sinnvolle Sache, wenn es für alle Autor/innen, die wissenschaftlich publizieren, ein einziges System gäbe, anhand dessen sie eindeutig identifizierbar sind. Standardisierung ist zwar kein Allheilmittel (bei wissenschaftlichen Methoden, Theorien, Modellen etc. ist Pluralismus auf jeden Fall vorzuziehen), oft aber die praktikabelste Lösung.

Die EU-Kommission versucht z. B. seit Jahren, Hersteller von Mobiltelefonen zur Vereinheitlichung ihrer Ladegeräte zu bringen, um jährlich 51.000 Tonnen Elektromüll zu vermeiden. Aufgrund dieser Initiative hat sich USB-C als Standard durchgesetzt (nur nicht bei Apple-Geräten, da der Konzern diese Vorgabe als „innovationsfeindlich“ kritisiert). In diesem Fall brauchte es politischen Druck, damit die Beteiligten einen gemeinsamen Standard akzeptieren – das wissenschaftliche Publikationswesen wurde von externen Interventionen aber bislang leider verschont.

Zumindest scheint innerhalb der Branche ein gewisses Problembewusstsein zu bestehen, weshalb 2010 einige Großverlage (Elsevier, Springer, Nature) und Großforschungseinrichtungen (CERN) die Non-Profit-Organisation ORCID gründeten, die seit 2012 die ORCID-IDs (basierend auf der ISO-Norm 27729) vergibt.[3] Derzeit hat ORCID nach Eigenaussage 1.135 Mitgliedsorganisationen und bislang 8.338.415 ORCID IDs vergeben.[4] Selbst wenn alle Datenbankbetreiber, Journalverlage und akademische Institutionen weltweit sich beteiligen, besteht das große Problem natürlich darin, die bisher existierenden Identifikationssysteme in das ORCID-System zu überführen. Wenn das nicht gelingt, entsteht lediglich ein neues Element, das die Unübersichtlichkeit noch zusätzlich erhöht.

Praxistest ORCID

Die Registrierung (als Person oder Institution) auf der Seite (https://orcid.org/signin) ist schnell durchgeführt (30 Sekunden – 1 Minute): Es muss bei einem persönlichen Account lediglich Vorname (Nachname optional) und eine gültige E-Mail-Adresse angegeben werden, sowie ein einigermaßen sicheres Passwort gewählt und durch erneute Angabe bestätigt werden. Nach Auswahl der Sichtbarkeitseinstellungen (Everyone, Trusted parties oder Only me), Akzeptanz von Nutzungsbedingungen sowie Datenschutzrichtlinie und einem CAPTCHA-Häkchen wird eine Bestätigungs-Email verschickt. Nach Anklicken des darin enthalten Links ist der Account erstellt und die Übung im Selbstmanagement kann beginnen:

Abbildung 1 
Screenshot der OCRID-Überblicksseite.
Abbildung 1

Screenshot der OCRID-Überblicksseite.

Die persönlichen Merkmale können über die folgenden Felder eingetragen werden: Employment, Education and qualifications, Invited positions and distinctions, Membership and services, Funding. Jeweils verpflichtend sind Angaben zu den Items Organization, City und Country zu machen, optional kommen Region, Department, Role/Title, URL, sowie Duration hinzu. Das Feld invited distinctions fragt nach Distinction/award) anstelle von Role/Title, das Feld Membership nach Type.

Interessant ist das Feld Funding, da hier die fördernden Organisationen mit Hilfe eines sogenannten ÜberWizard importiert werden müssen. Dieser ÜberWizard basiert auf ÜberResearch, einer globe grants database, die 2015 von einem ehemaligen Elsevier Mitarbeiter namens Christian Herzog gegründet wurde und mit der Datenbanksuchmaschine Dimensions verkoppelt ist. Diese ist wiederum ein Produkt der Technologiefirma Digital Science, welche strategisch in Forschungs-Start-ups investiert und zur Holtzbrinck Publishing Group gehört (MacMillan Publishers, Zeitverlag, Joint Venture mit Springer Nature). Kurz: Angaben zu Förderungen sind nur über einen Account bei einem weiteren System möglich, das letztlich einer Verlagsgruppe gehört, die ihren Umsatz sowohl mit den Büchern von S. Fischer und Rowohlt als auch Onlineratgebern wie gutefrage.net und Netdoktor macht – aber eben auch vermehrt mit wissenschaftlichen Daten.

Das letzte Feld Works bietet die Möglichkeit, die eigenen Publikationen mit der ORCID-ID zu verlinken. Da es sich um das Kernstück von ORCID handelt, das letztlich über die Brauchbarkeit entscheidet, stelle ich das etwas detaillierter dar:

Die Eintragung der Publikationen wird durch sogenannte Link wizards, internationale Datenbanken für digitale Publikationen, erleichtert, die den Nutzenden in einer Auswahlliste zur Verfügung gestellt werden. Zunächst lassen sich die in Folge angeführten link wizards nach work type (All, Articles, Data, Book, sowie Student Publications) und nach der geographical area (All, Global, Europe, Asia, North America, South America, Australia) filtern. Hier die komplette Liste der wizards mit Kommentar in Klammer:

  1. Airiti (größte digitale Datenbank Chinas für akademische e-journals)

  2. BASE–Bielefeld Academic Search Engine (Suchmaschine für 150 Mio. wissenschaftliche Dokumente aus 7.000 Quellen)[5]

  3. Crossref Metadata Search (Suche nach 50 Mio. Dokumente in den Crossref Metadata records)

  4. DataCite (2009 von sechs Einrichtungen wie der British Library oder der TIB Hannover gegründete Non-Profit Organisation mit dem Ziel, Forschungsdaten besser zugänglich zu machen, indem sie deren Archivierung vernetzt und die Datensätze mit DOIs versieht)

  5. Deutsche Nationalbibliothek (DNB) (Zentralarchiv aller deutschsprachigen Veröffentlichungen)

  6. Europe PubMed Central (Open Access Repository für biomedizinische Forschung)

  7. ISNI (der „International Standard Name Identifier“, der an alle „schöpferisch aktiven“ natürlichen Personen – nicht nur Autorinnen und Autoren – vergeben werden kann.)[6]

  8. KoreaMed (Koreanische Assoziation von Medizin-Journalen)

  9. MLA International Bibliography (Fachbibliothek für moderne Philologien)

  10. Research Data Australia (Forschungsdatensammlung von über 100 australischen Forschungsorganisationen, Regierungsbehörden und Kultureinrichtungen)[7]

  11. ResearcherID (System zur Autorinnen- und Autoren-Identifikation, 2008 von Thomson Reuters entwickelt und ins „Web of Science“ implementiert)

  12. Scopus – Elsevier (Profile von Elsevier in der Datenbank Scopus, s. u.)

Da ich über lediglich eine indexierte Publikation verfüge, versuche ich die Integration über Scopus von Elsevier. Das funktioniert auf Anhieb tadellos[7]. Hier die Bildstrecke:

Abbildung 2 
Screenshot der Integration von Publikationen über Scopus von Elsevier.
Abbildung 2

Screenshot der Integration von Publikationen über Scopus von Elsevier.

Nach Rückkehr zur Überblicksseite sieht diese dann so aus:

Abbildung 3 
Screenshot der OCRID-Überblicksseite nach Integration der Publikation.
Abbildung 3

Screenshot der OCRID-Überblicksseite nach Integration der Publikation.

In dem Fall ging es relativ einfach – interessanterweise hat das System den englischen Titel des deutschsprachigen Textes hier erstgereiht. Was aber wäre, wenn zusätzlich zu den Scopus-Daten noch die des Konkurrenten Web of Science integriert werden müssten? Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen, ebenso wie über die Integrationsfunktion der anderen Datensätze. Im Falle von Web of Science wurde es zunächst so gehandhabt, dass die Autorinnen und Autoren selbst ihre ORCID-ID mit der ResearchID verlinken können – mittlerweile werden Web of Science monatlich aktualisierte ORCID-Daten übermittelt, die dann eingepflegt werden.[8] Das klingt zunächst sinnvoll – eine genauere Betrachtung legt aber Bedenken nahe: Web of Science hat die ResearchID April dieses Jahres in ein neues System namens „Publon“ überführt,[9] die Frage ist also, ob die Daten korrekt migriert wurden.

Das ist ein generelles Problem: ORCID ist darauf angewiesen, dass die Publikationsdaten korrekt sind. Wenn das nicht der Fall ist, stellt sich die Frage, wie zielführend Korrekturen im ORCID Tool selbst sind, oder ob man die Metadaten in den integrierten/verlinkten Datenbanken korrigieren müsste, da die Fehler ansonsten bei jeder Aktualisierung erneut auftreten. Auch hier kann ich nur von Scopus sprechen: Der Vorteil dieser Datenbank ist, dass jeder Autor und jede Autorin, mit zumindest einer indexierten Publikation auch ohne Zugangslizenz ein Profil bei Scopus erstellen kann. Darüber ist es z. B. möglich, Zusammenführungen (merging) von Profilen zu beantragen.[10] Die Suche nach Autor/innen ist generell frei zugänglich, wodurch sich Phantome wie Mehrfacheinträge recht leicht aufspüren lassen, v. a. jene, die durch unterschiedliche Affiliationen entstehen.

Wenn man in der frei zugänglichen Scopus-Suchfunktion nach Autorinnen- oder Autoren-Profilen[11] sucht, z. B. nach Pierre Bourdieu (Author last name: Bourdieu, Author first name: P.), bekommt man folgende Treffer:

Tabelle

Treffer der Scopus-Suche nach Pierre Bourdieu. (C. Harringer)

Author Documents h-index Affiliation City Country/Territory
1. Bourdieu, Pierre 84 34 École Pratique des Hautes Etudes Paris France Paris France
2. Bourdieu, Pierre 6 5 College de France Paris France
3. Bourdieu, Pierre 4 4 EPHE École Pratique des Hautes Etudes Paris France
4. Bourdieu, J.P. 1 1
5. Bourdieu, P. 1 0
6. Bourdieu, Pierre 1 1
7. Bourdieu, Plerre 1 1

Bei den ersten drei Einträgen kann man sicher sein, dass es sich um dieselbe Person handelt, die nur aufgrund wechselnder Affiliationen mehrfach „existiert“. Auch Treffer Nr. 5 & 6 müssten eigentlich dazugezählt werden und Treffer 7 dürfte dem geschuldet sein, was Terje Tüür-Fröhlich als „trivial error“[12] bezeichnet: Einem einzelnen Tippfehler, der dann ein Phantom erzeugt.

Ein Screenshot der ersten drei Einträge (s. Abb. 4) zeigt:

Autorinnen und Autoren müssen sich auf jeden Fall zuerst darum kümmern, dass die eigenen Publikationsdaten in den Ursprungsdatenbanken korrekt sind, bevor sie mittels der ORCID-Wizards integriert werden. Damit ist abschließend angesprochen, dass Glanz und Elend von ORCID nahe beisammen liegen: Sind die Daten korrekt, ist die Zusammenführung praktisch – man muss sich aber selbst darum kümmern. Im Falle Bourdieus müsste also jemand für den mittlerweile verstorbenen Soziologen und Philosophen ein Autorenprofil anlegen und sich um die Zusammenführung der Einträge bemühen, da ansonsten Zitierungen gesplittet werden (und damit verloren gehen) und der h-Index sinkt.

Letztlich bedeutet dies – frei nach U. Bröckling – einen weiteren Schritt zum unternehmerischen akademischen Selbst.[13]

Nachsatz

Es war problemlos möglich, eine ORCID-ID für Pierre Bourdieu auszustellen und zumindest alle Scopus-indexierten Publikationen dafür zu reklamieren (https://orcid.org/0000-0001-6386-4269):

Abbildung 4 
Pierre Bourdieu als Mitarbeiter der Johannes Kepler Universität Linz? ORCID iD macht es möglich!
Abbildung 4

Pierre Bourdieu als Mitarbeiter der Johannes Kepler Universität Linz? ORCID iD macht es möglich!

Hieran anknüpfend könnte man jetzt Pierre Bourdieu ins Editorial Board der IWP berufen oder zum Angestellten der Johannes Kepler Universität machen.

Dagegen hätte diese vermutlich wenig einzuwenden – andere Universitäten gehen zur Verbesserung ihre Metriken sogar den Weg der Scheinanstellung internationaler Topforschender mit beeindruckendem h-Index. Künftig genügt es vielleicht, sie virtuell einzukaufen. Die einzige Möglichkeit, derartigen Missbrauch zu minimieren, besteht in irgendeiner Form der Identitätsfeststellung. Damit verringert sich zwar die Zugänglichkeit des Systems enorm, was seinen Reiz deutlich mindert – geschieht dies aber nicht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich ungewollte Effekte zeigen.

Deskriptoren: Autor, Identifikation, Name, Name Authority File, ORCID

Über den Autor / die Autorin

Claus Harringer B. A., M. A.

Claus Harringer ist Lektor am Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Johannes Kepler Universität Linz.

Literatur

Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M.: SuhrkampSearch in Google Scholar

Tüür-Fröhlich, Terje (2016): The Non-trivial Effects of Trivial Errors in Scientific Communication and Evaluation. Preface: Volker Gadenne. Schriften zur Informationswissenschaft; Bd. 69. Glückstadt/D: vwh. ISBN-10: 3864881048; ISBN-13: 978-3864881046Search in Google Scholar

Online erschienen: 2020-07-23
Erschienen im Druck: 2020-07-03

© 2020 Claus Harringer, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 22.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/iwp-2020-2091/html
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