Zusammenfassung
Keine westliche Regierung, kein Unternehmen, keine politische Institution kann es sich gegenwärtig leisten, ohne Transparenzversprechen aufzutreten. Wenn überhaupt können sie Informationen in Aussicht stellen. Das Wort Transparenz, das seit gut 20 Jahren eine ungeheure Karriere im politischen Diskurs erlebt hat, ist eine Metapher. Das Bild suggeriert, dass sich vor den Augen der Beobachter eine reine durchsichtige, hindernislose Welt entfaltet, dass nunmehr Einblick in Staatsgeheimnisse, in Unternehmensinterna, ja in die intime Welt der Menschen gewährt werde. Bisweilen scheint es so, als hätten Geheimdienste und Social Media einen solchen Durchblick längst erreicht. In einer solchen Lage ist es angebracht, daran zu erinnern, dass dieses Versprechen der Transparenz überhaupt die abendländische Geschichte begleitet. Bereits die Antike spielte mit dem Gedanken, dass eine völlige Durchsichtigkeit der Menschenherzen die Übel auf dieser Welt beseitigen könnte. Und seitdem arbeiten Kirchenmänner, Philosophen, Schriftsteller, politische Führer an der Verwirklichung dieses Versprechens, das im Kontext des Tagungsthemas nur paradox als „untrue fiction“ bezeichnet werden kann. Jeder weiß, dass es Transparenz nicht geben kann, jeder aber muss davon sprechen, es fordern, es anbieten: Wenn aber alles gewusst wird, ist es kein Wissen mehr.
Abstract
There is no government, no enterprise, no political institution in the West making public announcements without the promise of transparency. But actually they only can offer the prospect of improved information. The word “transparency” which experienced over the past twenty years an exceptionally successful career in political discourse is a metaphor. This linguistic image suggests in the eyes of the observers the opening of a pure, entirely translucid universe without any obstacle. Apparently, it offers deep insights into governmental secrets, company information, and even into the intimate world of people. In times it seems, as if secret services and social media have already achieved it. In view of this situation it is appropriate to recall that this promise of transparency is present in occidental discourse from its very beginnings. Greeks and Romans already have been entertaining the idea of resolving all evils in this world by making people’s hearts transparent. Since then churchmen, philosophers, writers, politicians are working on implementing this idea which in the context of the topic of the meeting can only paradoxically be described as “untrue fiction”. It is a matter of common knowledge that there is no transparency in this sense, but everyone is speaking about it, claiming and promising transparency. However, if everything is known it is no longer knowledge.
Résumé
De nos jours, aucun gouvernement occidental, aucune entreprise, aucune institution politique ne peut se permettre de se présenter sans promettre de la transparence. Mais en réalité, ils peuvent au maximum offrir des informations. Le mot « transparence », qui a connu depuis une bonne vingtaine d’années une carrière incroyable dans le discours politique, n’est qu’une métaphore. L’image suggère qu’un monde pur, sans obstacles et transparent s’ouvre devant les yeux des observateurs, que des secrets d’État, des données internes de firmes et même le monde intime de personnes sont maintenant dévoilés. Parfois, il semble que les services secrets et les médias sociaux y seraient déjà parvenus depuis longtemps. Dans une telle situation, il convient de rappeler que cette promesse de transparence fait partie de l’histoire occidentale depuis longtemps. Déjà l’Antiquité jouait avec l’idée que la transparence totale des cœurs des gens pourrait éliminer le mal dans ce monde. Et depuis lors, des ecclésiastiques, des philosophes, des écrivains et des dirigeants politiques travaillent à la réalisation de cette promesse, qui peut uniquement être décrite comme une « untrue fiction » dans le contexte du thème de la conférence. Tout le monde sait qu’il ne peut y avoir de transparence, mais tout le monde doit en parler, la revendiquer, l’offrir mais si tout est connu, il n’y a plus de connaissances.
I
Warum ist „Transparenz“ zu einem so großen Thema geworden? Das Wort ist ja nicht neu, es steht seit langem in unserem Lexikon zur Verfügung. Aber es hat eine erstaunliche Karriere gemacht, die sich in der Statistik des Google-Service Ngram-Viewers zeigt, der die Wortverwendungshäufigkeit in den von Google-Books gescannten Büchern berechnet. Für das Wort „Transparenz“ zeigt sich die in Abbildung 1 dargestellte Verwendungsfrequenz in deutschsprachigen Büchern seit dem Jahr 1800.

Verwendungshäufigkeit des Wortes „Transparenz“ in deutschsprachigen Büchern seit dem Jahr 1800 (Quelle: Google-Service Ngram-Viewer).
Dies ist natürlich nur eine Momentaufnahme. Die Kurve zeigt an, dass im Jahre 1960 das Wort „Transparenz“ alle 1 Millionen Mal in Büchern auftaucht und im Jahre 2000 alle 100.000 Mal. Die Verwendung hat sich in dieser Zeit also verzehnfacht. Nun gibt es guten Grund zu vermuten, dass sich der Wortgebrauch seit dem Jahr 2000 noch einmal vervielfacht hat.
Offensichtlich hat die gesteigerte Verwendung des Wortes „Transparenz“ mit dem Aufkommen der elektronischen, vor allem der Internetkommunikation zu tun und verweist auf ein ziemlich schlagartig erwachtes Bewusstsein, dass die Welt zu einem entscheidenden Teil aus unbekannten Daten und Informationen besteht. Dabei zeigt das Thema gleich zwei Seiten. In den USA und Kanada befassen sich die neueren „Transparency Studies“ vor allem mit der staatlichen und privaten Überwachung: Der kanadische Soziologe David Lyons erläutert ein Forschungsprojekt mit der Feststellung: „New Transparency makes visible the identities of individuals, workings of institutions and flows of information in ways never before seen.“[1] Dieses Konzept von „Transparenz“ verarbeitet die Vorstellung einer neuen Sichtbarkeit, keineswegs aber einer neuen „Durchsichtigkeit“. Die am Horizont auftauchende technische Möglichkeit „neuer Transparenz“ ließ den Wunsch unwiderstehlich werden, alle diese Daten und Informationen auch einzusehen.
Mit diesem Alltagsverständnis verbindet sich eine religiöse Hoffnung. „Openness is my religion“ verkündet der Google-CEO Eric Schmidt.[2] In dieser Erwartung und in der Forderung nach größerer, am besten vollkommener Transparenz steckt die religiöse, ins messianische reichende Vorstellung einer besseren Welt.[3] Daher müssen heute Regierungen, Unternehmen, Medien und längst auch Nicht-Regierungs-Organisationen wie Transparency International oder Wikileaks unablässig Transparenz versprechen und in Aussicht stellen: Das europäische Parlament hat eine Transparenz-Richtlinie erlassen. EU-Kommissionschef Juncker erklärt zu den TTIP-Verhandlungen in einem unsterblichen Satz: „Lasst uns transparenter sein, weil wir nämlich nichts zu verbergen haben.“[4]
Bereits die antike Literatur liefert ein Beispiel. In einer Fabel des Aesop, die in vielen Varianten überliefert ist, wird der Nörgler Momos als Schiedsrichter in einem Exzellenz-Wettbewerb zwischen den Göttern Poseidon, Athena und Hephaistos aufgerufen. Es ist ein Erfinder-Wettstreit: Poseidon hat ein Pferd konstruiert, Athena ein Haus und Hephaistos einen Menschen. Doch Momos lässt alle Vorschläge durchfallen. Vor allem an dem Menschen aus der Werkstatt des Hephaistos hat Momos zu bemängeln, dass er kein Fenster (θυρωτά) in der Brust trage, durch das man seine Gedanken und üblen Absichten ablesen könnte.[5]

Darstellung von Momos aus: Ex officina Christophori Plantini, 1565, S. 7.
Auf dieser Darstellung aus dem 16. Jahrhundert[6] zeigt Momos seinen eigens gefertigten Mensch-Prototypen, der eine solche Öffnung in der Brust aufweist. Der römische Schriftsteller Vitruv, Verfasser eines bedeutenden, dem Kaiser Augustus gewidmeten Werks über die Architektur, schreibt im Vorwort zum dritten Buch den gleichen Wunsch, das Innere anderer Menschen auslesen zu können, der größten moralischen Autorität der Antike zu, nämlich dem Philosophen Sokrates.[7]
Mit diesem Sokrates zugeschriebenen Wunsch nach durchsichtigen Menschen setzt die bis heute währende Geschichte der Transparenzversprechen ein. Im Mittelalter sind es Kirchenväter, die diese Transparenz der Menschen denkbar machen; im 17. Jahrhundert nimmt der Staatsmann und Pionier der neuzeitlichen Wissenschaft, Francis Bacon, diesen Gedanken auf.[8] Transparenz fordern sowohl der einflussreichste politische Denker der Neuzeit, Jean-Jacques Rousseau, als auch die Anhänger Robespierres nach 1793 oder die Chefs der russischen Revolution von 1917.[9] Auf eigene Weise stellen auch die Architekten und Architekturutopisten des 19. und 20. Jahrhunderts eine bessere Welt durch transparentes Bauen in Aussicht. Das Transparenzversprechen soll an drei Beispielen illustriert werden: Am christlich-theologischen Konzept der Seligen um 1300, an Charles Fouriers Utopie einer befreiten Gesellschaft um 1800 und an dem in die Gegenwart fallenden Versprechen der Neurosciences, mit den Mitteln der fMRT-Technik das alte Problem von Wahrheit und Lüge auf den Menschenlippen zu lösen.
II
Der Leitbegriff dieser Tagung true fiction / wahre Fiktion taucht bereits in der Fachsprache des Römischen Rechts vor zweieinhalb Jahrtausenden auf. Auch in der beginnenden Neuzeit pflegten Glossatoren wie Cinus da Pistoia die fictio iuris und gaben dafür die Definition „fictio est contra veritatem, sed pro veritate habetur“.[10] In römischer Zeit führten die Juristen fiktive Rechtskonstrukte ein, weil anders bestimmte traditionelle Regeln der Republik nicht mehr beachtet werden konnten. So verlangte eine alte Gewohnheit des römischen mos maiorum, dass zu einer Kriegserklärung eine blutige Lanze auf das feindliche Gebiet geworfen werde. Das Ritual entstammte der Zeit, als sich die Römer noch mit benachbarten Völkern in Latium stritten. Die expansive Kriegsführung Roms machte diese Vorschrift zum Problem. Um aber nicht die alte Gewohnheit aufzugeben, erklärte man ein Stück Boden in der Nähe des Tempels der Kriegsgöttin zum Feindesland und schleuderte das Zeichen dorthin. Diese Fiktionen entstammten ursprünglich einer neuen unblutigen Praxis des Opfers, wo dem Gott nicht mehr ein Mensch oder Opfertier dargebracht wurde, sondern ein Bild.[11] Um die Magie des Opfers zu sichern, halfen auch kleine sprachliche Tricks. So soll nach einer Erzählung in dem berühmten Wörterbuch Onomasticon des alexandrinischen Gelehrten Julius Pollux aus dem 2. Jahrhundert in Theben das Opfer eines Widders, τὁ μῆλον, durch einen Apfel, der gleichfalls τὁ μῆλον heißt, ersetzt worden sein. Man habe in einen Apfel vier Stäbchen als Beine und zwei als Hörner gesteckt. Diese Figürchen spielten auf diese Weise mit einer doppelten Ähnlichkeit, um die Fiktion zu motivieren: mit der sprachlichen Homonymie μῆλον sowie mit der Ähnlichkeit des Bildes. Das Opfer habe der Gott Herakles als ausreichende Huldigung betrachtet.[12]
Eine Rechtsfiktion in unseren Tagen ist die Redeweise, die abstrakte Einheiten wie Städte oder Unternehmen als „Körper“ oder „Körperschaften“ bezeichnet, um sie in Analogie zu Menschen als Rechtssubjekte zu betrachten. Demgemäß hat bereits früh das römische Recht die einprägsame Formel gefunden „fictio est figura veritatis“, und das heißt: Die Fiktion ist eine Gestalt der Wahrheit.[13] Ein Apfel mit sechs Hölzchen ist eine künstliche, aber wahrheitsfähige Gestalt des Widders. In dieser Tradition betrachteten auch die Gelehrten der Scholastik die sprachlichen Begriffe als fictiones intellectuales, denn das Wort oder der Begriff „Widder“ ist bekanntlich selbst kein Widder, sondern eine Klangfolge, die gegebenenfalls die Vorstellung eines gehörnten Tieres erlaubt.
Eine solche Rückkehr zu antiken oder mittelalterlichen dogmatischen Formeln ist bisweilen unvermeidlich, um für unsere semantisch ausgefransten Begriffe eine Referenz zu finden. Der Ausdruck true fiction deutet an, dass die Digitalisierung unseres Alltags über unzählbare Programme und Applikationen eine Art neuer unwirklicher Wirklichkeit etabliert. Diese fiktive Welt wird nicht mehr von uns selbst kontrolliert, sondern unterliegt komplexen Steuerungen, von denen wir zum Teil gar nicht mehr wissen, wie sie funktionieren.
Wort und Begriff Transparenz, die seit gut einem Jahrzehnt eine beispiellose Karriere im Diskurs der Wirtschaft, der Politik und der Medien erleben, entstammen dem Latein des Mittelalters.[14] Das Wort transparentia wurde in der Gelehrtensprache des 13. Jahrhunderts eingeführt. Das klassische Latein kennt diesen Ausdruck nicht. Der eben erwähnte römische Architekturtheoretiker Vitruv wählte noch das Wort „translucidus“, um die Momos-Idee eines Fensters in der Brust aufzugreifen. Der scholastische Kirchenlehrer Albertus Magnus beschrieb in seinem lateinischen Traktat über die Seele Transparenz als Eigenschaft eines Mediums, das unsichtbar ist und dafür Licht sichtbar machen kann. Dabei sprach der Kirchenvater nicht als Physiker, sondern als Theologe, der den aristotelischen Begriff der Psychä für die christliche dogmatische Lehre von der Seele umbauen wollte.
Aber warum gab es plötzlich ein Bedürfnis, dieses Wort zu erfinden? Es ging den Theologen darum, die körperliche Verfassung der Ewigen Seelen zu beschreiben. Diese Seelen, so legten sie klar, sind durchsichtig, aber zugleich leuchtend. Was aber ist ihre eigentliche Natur? Wenn wir sie einmal in ihrer seligen himmlischen Welt besuchen, könnten sie von uns sterblichen Seelen erkannt werden? Thomas von Aquin, die wichtigste theologische Autorität des Mittelalters, erläuterte dies in seinem Kommentar zu Aristoteles. Dort heißt es:
„Licht und Farbe geben dem Medium, das sie aufnimmt, Aktualität und Gestalt. So ließe sich auch sagen, dass Licht die Farbe des Transparenten ist, da doch in der Tat das Transparente durch etwas Lichtbringendes hervorgebracht wird, sei es nun Feuer oder etwas Entsprechendes oder ein (leuchtender) himmlischer Körper. Denn zugleich hell und leuchtend zu sein, ist das Gemeinsame des Feuers und der himmlischen Körper, so wie es das Gemeinsame von Luft, Wasser und himmlischen Körpern ist, transparent zu sein.“[15]
In diesem letzten Satz deutet sich noch einmal das Interesse an, warum das Wort Transparenz eingeführt werden musste. Thomas will die Frage beantworten, woraus die himmlischen Köper physikalisch bestehen, wie jene materia prima beschaffen ist, die sowohl die Substanz der sublunaren Welt als auch die der dort lebenden Geister ist. In den Supplementen zur seiner Summa Theologica erörtert Thomas dann die entscheidende Frage, ob die Seelen der Erlösten nach ihrer Auferstehung mit dem Auge der Unerlösten gesehen werden können: „Utrum claritas corporis gloriosi possit videri ab non glorioso oculo“.[16] Und Thomas erklärt beruhigend, dass tatsächlich die Seelen der Seligen mit den Augen der Unerlösten erblickt werden können. Sie sind transparent wie Glas, und in diesem glasartigen Medium ruht die Seele wie aus Gold. Mit dem Gold teilen sich die Seelen die Eigenschaft der Helligkeit und mit dem Glas die Qualität der Transparenz.
Die Bezeichnung transparent begleitet die Ankündigung, welchen körperlichen Zustand die Seligen nach ihrer Erlösung annehmen. Wir haben es hier zunächst mit dem metaphysischen Versprechen zu tun. Transparenz kommt aus der göttlichen Sphäre, und das Licht wie auch die Seelen, die das Licht aufnehmen und sichtbar machen, partizipieren an der himmlischen Herkunft der Transparenz. Das heißt: Die große Karriere des Transparenzbegriffs und seiner Versprechen setzt die gewaltige theologische Arbeit voraus, eine Vorstellung des Zustandes der Seligen bzw. der Erlösten zu geben.
Diese abstrakte, zugleich physikalische wie metaphysische Konzeption von der Transparenz, von der Leuchtkraft des Lichts oder der Gnade, macht eine schöne Stelle in Dantes Jenseits-Epos Divina Commedia anschaulich. Diese große Dichtung des ausgehenden Mittelalters ist der fiktive Bericht einer Jenseitsreise in drei großen Büchern, die das Inferno, das Purgatorio und schließlich das Paradiso vor die Augen des Lesers führen. Der Erzähler dieser Reise wird durch die drei Jenseitssphären jeweils von kundigen Führern geleitet. Im Grunde ist es eine Einführung in das historische, literarische, astronomische und theologische Wissen des Mittelalters überhaupt. Im dritten Gesang des Paradiso begegnet der Jenseitswanderer zum ersten Male einer dieser seligen Menschen, deren körperliche Beschaffenheit die Denker der Scholastik so beschäftigt hat: den Seelen Verstorbener im Mondhimmel:
Doch eine Vision ist mir erschienen,
Von deren Anblick ward ich so gefesselt,
(...)
So wie in glatten und durchsichtigen Gläsern
Oder in reinen, ruhigen Gewässern,
Die nicht so tief, dass man den Grund verlieret,
Sich unsre Angesichter widerspiegeln
So, dass auf weißer Stirne eine Perle
Nicht matter anzuschaun in unsern Augen;
Sah ich Gesichter, die bereit zu reden,
Weshalb ich in das Gegenteil des Irrtums
Verfiel, der einst Narziss mit Lieb entflammte.
Ich wandte sogleich, als ich bemerkte,
Da sie als Spiegelbilder mir erschienen,
Die Augen um, zu sehn, woher sie kämen.
Nichts konnt ich sehn; (...).“[17]
Der Wanderer glaubt, in den Gestalten vor sich reflektierte Bilder – Fiktionen – zu sehen, als ob er ins Wasser blickte; er wendet sich nach rückwärts, um die Originale anzuschauen, die in der Spiegelung nur kopiert scheinen. Aber er verfällt dem umgekehrten Irrtum des Narzissus, von dem Ovid erzählt, der im Spiegelbild eine reale Person wahrzunehmen glaubte. Der Jenseitswanderer hier sieht jedoch kein virtuelles Bild im durchsichtigen Wasser, sondern er erblickt eine echte substanzielle transparente Seele, merkt das aber nicht, bis ihn seine Begleiterin und Lehrerin Beatrice darauf aufmerksam macht: Nein, lieber Wanderer, wo du im Medium fiktive Bilder zu sehen glaubst, dort hast du tatsächlich metaphysische Wirklichkeit vor Augen!
Die von den christlichen Philosophen entwickelte Erläuterung zur Seinsart von Geistern ist nun darum interessant, weil damit ganz offensichtlich wird, dass das Wort oder auch das Wortfeld „transparens“ im gelehrten theologisch-philosophischen Diskurs des Mittelalters eigentlich geboren wird. Für die Thematik der fictio figura veritatis ist nun von Bedeutung, dass dieses Wort von Anbeginn an als Metapher gebildet wird. Die evidente Durchsichtigkeit von Luft und Wasser dient wie das griechische Wort διαφαίνω zur Kennzeichnung von immateriellen geistigen Substanzen. Zwar geht es dabei auch um Sichtbarkeit, aber diese Transparenz der unkörperlichen Materien, Götter, Geister, Seelen ist von vornherein metaphorisch. Auch in Dantes Paradiso erblickt der Jenseitswanderer die Seele in einem transparenten Medium: der himmlischen Sphäre. Diese transparente Unsichtbarkeit entspricht logisch der Formel der fictio veritatis.
III
Die politische Konzeption einer transparenten irdischen Wirklichkeit stammt von dem Schweizer Philosophen Jean-Jacques Rousseau.[18] Rousseau hat in seinen politischen Schriften und autobiographischen Bekenntnissen die moderne Gesellschaft wie ihre Subjekte unter das Gesetz von Aufrichtigkeit und Durchsichtigkeit gestellt. Sein Brief an d’Alembert über das Theater, der zuerst 1758 herauskam, überträgt das Transparenzversprechen auf das Politische. Der Brief ist eine Antwort auf den Aufklärungsphilosophen d’Alembert, der für die Republik Genf ein Theater vorgeschlagen hatte. D’Alembert betrachtete das Theater als ein Forum bürgerlicher Selbstdarstellung. Aber Rousseau hielt dagegen, indem er sagte: Nein, das Theater ist eine gefälschte Wirklichkeit, es ist Fiktion und nicht einmal eine figura veritatis. Wenn wir zu viel Theater sehen, werden wir auch in unseren Beziehungen Theater spielen. Aber gegen Ende seiner Polemik gegen das Theater und die Fiktionsgefahr fragt Rousseau dann: „Soll es denn in einer Republik keine Schauspiele geben?“ Doch, antwortet er selbst: Es soll Feste geben als Schauspiele, aber dieses Schauspiel wird das Volk sich selbst zeigen. Aus diesem Grundsatz heraus entwickelt Rousseau die Idee einer repräsentationslosen, aller Theatralität entkleideten Republik, die nur sich selbst bei festlichen Anlässen in Szene setzt.
„Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben. Oder besser noch: Stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, dass ein jeder sich im andern erkennt und liebt, dass alle besser miteinander verbunden sind.“[19]
Unter dem blumenbekränzten Baum verwandeln sich Zuschauer in Handelnde, sie heben die Trennung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, zwischen Bühne und Zuschauer auf. Sie sind zugleich Akteure des Politischen und seine Zuschauer oder Beobachter. Die Beobachtung ist aber nicht äußerlich, sondern jeder liest im Herzen des anderen. Eine alle und alles durchdringende rückhaltlose Mitteilung und damit eine absolute Transparenz umfangen die Teilnehmer an den republikanischen Festen.
Das Fest, wo sich die Leute selbst vollkommen durchsichtig darstellen, ist ein reiner Exzess der Mitteilung, ein Karneval der Kommunikation ohne Worte. Das Sprechen der Herzen, als sei das Momos-Fenster bereits allen eingebaut, ist die Bedingung dieser Durchsichtigkeit. Rousseau hat die Erfindung der Sprache als Unglück betrachtet. Alle Wörter sind opake Fiktionen der Dinge, und Rousseau hielt es für besser, wenn sich die Menschen wie in ihrer Urzeit nicht in Gesellschaften versammelt und das Reden erfunden hätten.[20] Das republikanische Fest ist nur ein Moment, ein messianischer Augenblick, da für kurze Zeit das Leben der Seligen politische Wirklichkeit geworden zu sein scheint.
Rousseaus Transparenztraum beeindruckte in der folgenden Zeit auch Revolutionäre und Sozialreformer. Nach der Französischen Revolution, die zeitweise in Transparenzterror ausartete, waren es die sozialen Utopien des 19. Jahrhunderts, die die neuen Gesellschaften unter das Gesetz der vollkommenen Verständigung bringen wollten. Ein ebenso treuer wie eigenwilliger Schüler Rousseaus war der Sozialist Charles Fourier (1772–1837). Fourier, der aus wohlhabendem Haus kam, verlor während der Französischen Revolution sein gesamtes Vermögen und verschrieb sich dann Anfang des 19. Jahrhunderts der Ausarbeitung seiner Theorie sozialer Harmonie.
Diese Harmonie, die Fourier zunächst in seinem Werk über die vier Bewegungen entwickelte, dachte er in Analogie zu Isaak Newtons Konzept der Gravitation und der wechselseitigen Beeinflussung der Gestirne.[21] Es ist eine geokosmische Utopie. Der Gravitation, der Bewegung der Gestirne, entsprechen nach Fourier in der Menschenwelt die Leidenschaften. Sie sind die sozialen Anziehungs- und Abstoßungskräfte. Die Entwürfe kollektiven Lebens, die er als Wirtschafts- und Liebesgemeinschaften in durchsichtiger Architektur einrichtete, nannte Fourier Phalanstères.
Die Phalanstères sollten ganz im Sinne Rousseaus die Gesellschaft von aller Maskierung, allem Trug, von allem Fiktiven befreien. Fouriers künftige, vollkommen gemeinschaftliche Lebensform hätte sich nach den Leidenschaften der Menschen zu richten. Denn der Keim des Betrugs in den modernen Gesellschaften läge darin, dass die Affekte unter das Joch der Moral gezwungen werden. In den Phalanstères jedoch würde das Gegen- und Zusammenspiel aller Leidenschaften die soziale Harmonie und Wohlstand herbeiführen. Fourier hätte wie Eric Schmidt sagen können „openness is my religion“[22] oder wie Marc Zuckerberg meinte, dass Privatheit keine „social norm“ mehr sei.“[23] Sein Versprechen lautete¸ dass der natürliche, der maskenlose, vom Theater sozialer Konventionen befreite Mensch der gute Mensch ist. Die Voraussetzung dafür, dass das wirklich funktioniert, besteht darin, dass alles unter den Augen aller geschieht. Die neue Gesellschaft findet ihr Heil darin, dass niemand seine Leidenschaften unterdrücken muss, sondern dass sich alle Beziehungen in völliger Freiheit, Aufrichtigkeit und Transparenz ausleben.
Dieses Zusammenspiel von Transparenz und maskenloser sozialer Kommunikation bildet den Traum und das dauernde Versprechen der Moderne. Die im 19. Jahrhundert entwickelte neue Bauweise aus Glas und Stahl favorisierten zumal die prominenten Architekten, von Mies van der Rohe, Peter Behrens bis Le Corbusier, über den Walter Benjamin sagte: „Le Corbusier macht (...) den Aufenthaltsort von Menschen vor allem zum Durchgangsraum aller erdenklichen Kräfte und Wellen von Licht und Luft. Was kommt, steht im Zeichen der Transparenz.“[24]
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert sind daran Architekten, Schriftsteller, Politiker und Künstler beteiligt. Ein großartiges Beispiel dafür liefert der Dichter Paul Scheerbart in seiner dem Architekten Bruno Taut gewidmeten Abhandlung zur Glasarchitektur von 1914.
Hier singt Scheerbart das Hohelied der modernen Beton- und Glasarchitektur, durchsichtiger Türen und Wände, transparenter öffentlicher Gebäude und Fabriken, Markthallen und Flughäfen, Eisenbahnen und Flussschiffen. Ihm reicht es aber nicht, dass sich alles bislang Opake durchsichtig macht; Scheerbart möchte auch, dass die Welt, die Parks, die Gebirge, die Flüsse und Nächte nachts beleuchtet werden und dies durchaus auch farbig. Wie die prima materia und die gloriosen Seelen im Jenseits Thomas von Aquins oder Dantes soll alles zugleich durchsichtig sein und leuchten. Alle diese Aussichten einer sich selbst in ihrem Wohnstil, in ihren urbanen Lebenswelten und schließlich auch in der sogenannten Natur vollendet sichtbar haltenden Gesellschaft sind auch nicht allein ästhetisch begründet, sondern vor allem sozial. Scheerbart erwartet von dieser neuen, hellen, diaphanen Welt einen neuen Menschen und eine radikale Umwandlung der urbanen und ländlichen Umwelten.[25]
IV
In einem Interview mit der Berliner Zeitung im Jahre 2007 stellt der Hirnforscher John-Dylan Haynes in Aussicht: „In einigen Jahren wird man an Hirnscans ablesen können, ob jemand zum Beispiel in einem El-Kaida-Ausbildungscamp gewesen ist oder ob einer schon einmal eine Bombenbau-Anleitung studiert hat.“[26]
Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) bietet seit rund zwei Jahrzehnten die Möglichkeit, kognitive, emotionale und auch kreative Prozesse am Cortex in vagen Mustern neuronaler Erregung lokal zu bestimmen. Längst bezeichnet das Wort „Brain-Reading“ ausgedehnte, medial aufmerksam verfolgte Forschungsaktivitäten[27] mit extremen Versprechen.
Es ist hier nicht der Ort, die seriösen und abwegigen Forschungen zu unterscheiden. Es gilt zu sehen, wohin das Transparenzversprechen heute die Wissenschaft treibt.
Nur ein Beispiel für die Technik, das Böse endlich durch Blicke in das Menscheninnere zu besiegen. Die US-amerikanischen Unternehmen Cephos und No Lie MRI bieten die fMRI basierte Lügendetektion bereits an. Auf ihrer Website kann man sich von solchen Bildchen in die Irre führen lassen, wonach Wahrheit und Lüge sich an Hirn-Scans auslesen lassen. Das Menü der No-Lie-MRI-Website lockt Government-Kunden mit dem folgenden Service:
„Für Entwicklungsländer, wo Regierungskorruption ein ernstes Problem darstellt, würde die genaue Lügendetektion eine gewaltige Hilfe sein, um korrupte Personen zu bekämpfen. Es trüge dazu bei, den Regierungen und Wirtschaftsunternehmen mehr Vertrauen zu schenken, Kapitelinvestitionen in größerem Umfang zu ermutigen und die Modernisierung in diesen Ländern anzuregen.“[28]
Der Wissenschaftler, der hinter dem No-Lie-service steht ist der Psychiater und Neuroscientist Daniel Langleben von der Universität Pennsylvania. Die Presse feiert ihn als „Pionier der neurowissenschaftlichen Lügenforschung“, und das amerikanische Public Radio meinte, dass er als der „Revolutionär der Lügendetektion in die Geschichte eingehen werde.“[29]
Die Geschichte, in die er eingehen soll, währt bereits zwölf Jahre, und bislang stehen Langleben und manche seiner Kollegen als Wissenschaftler da, die die gut betuchte Welt mit leeren Versprechen in die Irre führen. Das Wort Lügen-Forschung zeigt hier eine zweite Bedeutung an. In seiner Streitschrift Neuromythologie macht der Neurowissenschaftler Felix Hasler den Vorschlag, die Betreiber der Lügen-fMRI-Firmen einmal selbst in ihren Scannern zu befragen, ob sie an die Sinnhaftigkeit ihrer Methoden glauben.[30]
Der Transparenztraum ist nicht nur zur Beute von Wissenschaftlern geworden, sondern auch Richter, Geschäftsleute und Regierungsbeamte strecken die Hände nach den Werkzeugen aus, die der kleine Gott Momos bereits gerne geschmiedet hätte. Es ist der gefährliche Schulterschluss zwischen Regierungsmacht und Wissenschaft, über den bereits Immanuel Kant geseufzt hat. Kant glaubte noch daran, dass allein die Philosophische Fakultät nicht von der Begierde getragen ist zu herrschen: „Folglich kann die philosophische Fakultät ihre Rüstung gegen die Gefahr, womit die Wahrheit, deren Schutz ihr aufgetragen ist, bedrohet wird, nie ablegen, weil die oberen Fakultäten ihre Begierde zu herrschen nie ablegen werden.“[31]
Alle diese Transparenzkonzepte der Seele, der Bilder, der Sprache, der Gesellschaft liefern Beispiel für das messianische Verlangen der abendländischen Welt: eine medienlose mithin protoparadiesische unschuldige Welt einrichten zu können. Eine revolutionäre oder technische Erneuerung des Lebens und der Sprache würde die Menschengesellschaft wieder ihrem Ursprung zurückgeben. In dem ideologischen Gerede von openness und connecting all people schwingen diese alten Ideen noch mit. Ohne es zu wissen, hören die Propheten und Ideologen der Transparenz auf die von der antiken Philosophie, über die Kirchenväterliteratur, die Aufklärung, die politischen Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts geschleppte untrue fiction, dass die Durchleuchtung der Menschen und ihr endgültiges Transparentwerden jene Freiheit und moralische Reinheit gewähren könnte, wo sich alle Macht und zumal die Macht des Bösen verflüchtigen. Der Transparenztraum ist das unmögliche Versprechen, die Dichte, Materialität, Medialität und Technizität der Welt und damit das Böse zum Verschwinden zu bringen.
Manfred Schneider ist emeritierter Professor für Literatur, Ästhetik und Medien an der Ruhr-Universität Bochum. Er war Gastprofessor an Universitäten in Frankreich, Japan und den USA. Schwerpunkte seiner Arbeit: Gewalten der Literatur, Literatur und Recht, Medien und Politik. Sein Buch Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche erschien 2014. Weitere Bücher: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin 2010. Medienrevolutionen. Die Reformation im 16. Jahrhundert und die Aufstände in arabischen Ländern 2010/1011, Zürich 2014.
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
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- DGI-Forum Wittenberg 2015
- Privatsphäre als ethische und liberale Herausforderungen der digitalen Gesellschaft
- Untrue Fiction: Kurze Geschichte der Transparenzversprechen
- Perspektiven eines Open Web Index
- Selbst vermessen – fremd gesteuert? Konsequenzen der totalen Vernetzung
- Das Netz der Dinge
- DGI-Praxistage 2015
- Sagt ein Bild mehr als tausend Worte?
- Von Datenjournalisten lernen: Daten effektiv visualisieren und kommunizieren
- Informationsvermittlung: Ein Fall für visuelle Datenanalyse
- Herr Friedrich und sein digitaler Innovations-Assistent
- Informationsrecht
- Die Allgemeine Bildungs- und Wissenschaftsschranke im Urheberrecht rückt näher – Kreativität und Innovation werden die Gewinner sein
- Records Management
- Die neue eIDAS-Verordnung – Chance und Herausforderung für die öffentliche Verwaltung in Deutschland
- New Comer Forum
- Entwicklung einer Callimachus-Anwendung zur Datenpflege im Digitalen Archiv der Pina Bausch Foundation
- Informationsvisualisierung – Hype oder Trend?
- 日本の情報学 ・Informationswissenschaft studieren im „Land der aufgehenden Sonne“
- Tagungsberichte
- HochSchulen in gemeinsamer Verantwortung: Welche Wert- und Qualitätsmaßstäbe vermittelt unser Bildungssystem?
- Ein nutzerfreundliche Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft in Sicht
- Aus der DGI
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- Personalien
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- Buchbesprechungen
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