Niehr, Thomas; Kilian, Jörg; Schiewe, Jürgen (Hrsg.): Handbuch Sprachkritik. Stuttgart: Metzler, 2020. -- ISBN 978-3-476-04851-6. 439 Seiten, € 89,99.

Wolfgang Braune-Steininger

doi:10.1515/infodaf-2023-0044

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Niehr, Thomas; Kilian, Jörg; Schiewe, Jürgen (Hrsg.): Handbuch Sprachkritik. Stuttgart: Metzler, 2020. -- ISBN 978-3-476-04851-6. 439 Seiten, € 89,99.

Wolfgang Braune-Steininger

Published/Copyright: March 16, 2023

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From the journal Informationen Deutsch als Fremdsprache Volume 50 Issue 2-3

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Niehr, Thomas; Kilian, Jörg; Schiewe, Jürgen (Hrsg.): Handbuch Sprachkritik. Stuttgart: Metzler, 2020. -- ISBN 978-3-476-04851-6. 439 Seiten, € 89,99.

Das Herausgebertrio hat einen verdienstvollen Sammelband ediert, der die verschiedenen Facetten der Sprachkritik wissenschaftlich fundiert skizziert. Unter der Mitarbeit von über 50 Fachgelehrten ist ein Kompendium entstanden, das die nuancierten Ausprägungen der Sprachkritik nachvollziehbar veranschaulicht.

Nach der Einleitung eröffnet Leiss den ersten Themenblock Erkenntnistheoretische Grundlagen mit ihrer Studie über „Sprachphilosophische Grundlagen“. Dabei akzentuiert sie die Bedeutung der Erfindung des Buchdrucks. „Die Abwertung der Funktion von Sprache erfolgte parallel zur Erfindung und Ausbreitung des Buchdrucks“ (8). Vorab resümierend sagt sie: „Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Sprache im Zuge des Buchdrucks zunehmend auf ihre Ausdrucksfunktion reduziert wurde“ (8). Bein, der die „Sprachreflexion und -kritik in volkssprachlichen Diskursen des Mittelalters“ skizziert, weist bereits in seiner Einleitung auf die wegbereitenden Verdienste von Platon und Aristoteles hin. Heinz, der über „Kreativ-energetisches Sprachdenken und dessen sprachkritische Dimension“ referiert, streicht dabei die Bedeutung der sprachwissenschaftlichen Beiträge von Wilhelm von Humboldt, Johann Gottfried Herder und Friedrich Nietzsche heraus. Thierings Beitrag „Sprachliche Relativität“ definiert sehr eingängig: „Die Beschäftigung mit sprachlicher Relativität gründet auf dem konstruktiven Charakter von Sprachen und deren Einfluss auf die menschliche Kognition. Im Vordergrund steht die konstruktive Eigenschaft einer Sprache, die außersprachliche Welt zu kategorisieren“ (28).

Der zweite Themenblock, Wortkritik, vereint eine Vielzahl relevanter Beiträge zu diversen wortkritischen Phänomenen, etwa Kämpers Studie über die „Kritik am Sprachgebrauch im Nationalsozialismus: LTI und WdU -- Zwei frühe Beispiele für Sprachkritik nach 1945“, wobei die beiden wegweisenden Bücher Lingua Tertii Imperii von Klemperer und das Aus dem Wörterbuch des Unmenschen von Sternberger, Storz und Süskind im Vordergrund stehen. Mell, die sich mit der linguistischen Fachrezeption von LTI und WdU auseinandersetzt, formuliert eine weitreichende gesellschaftspolitische These: „Wenn Sprachkritik zu einer gesellschaftlichen Sprachkultiviertheit beitragen soll, kann sie nicht mehr ausschließlich Tätigkeit von Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern oder linguistisch informierten Sprachkritikerinnen und Sprachkritikern sein“ (64).

Gegenwärtige sprachkritische Aktionen problematisieren Ängsal („Wortkritik in der feministischen Sprachkritik“), Wengeler („Wortkritische Aktionen“) und Klug („Wortkritik im Zeichen der Political Correctness und aktuelle Formen antidiskriminierender Wortkritik“), deren resümierende These besonders nachhaltig ist: „Da es den meisten Menschen vermutlich nicht darum geht zu diskriminieren, wenn sie sprechen oder schreiben, ist die gesellschaftliche Relevanz einer antidiskriminierenden Sprachkritik, der es nicht um Verbote oder Gebote bestimmter Sprachformen geht, sondern um die Bewusstmachung diskriminierenden Potentials von Sprache, kaum zu unterschätzen“ (86).

Im dritten Themenblock, Text-/Stilkritik, exemplifizieren Dodd und Dreesen verdecktes Schreiben als Sprachkritik zu Zeiten des Nationalsozialismus und der DDR. Schiewe setzt sich mit dem Thema „Sprachkritik als Kulturkritik“ auseinander und erkennt dabei ein schwerwiegendes Problem: „Jede Kultur, und sei sie auch noch so ‚aufgeklärt‘ und demokratisch, birgt -- das hat wie kein anderer Adorno gezeigt -- den dialektischen Umschlag in mythisches Raunen und egoistische Ausgrenzung in sich“ (154). Seiner Schlussfolgerung ist daher unbedingt zuzustimmen: „Eine Sprachkritik, die auf Kooperativität als Zentrum einer kooperativen Ethik baut, muss deshalb ein notwendiger Bestandteil einer jeden Kultur und Kulturkritik sein, die jene Dialektik erkannt haben“ (155).

Besonders informativ sind die Beiträge von Lickhardt („Sprachkritik in der Literatur“), die markante literaturgeschichtliche Beispiele von Sprachskepsis präsentiert, Pappert und Scharloth, die die „Sprachrevolten“ der gesellschaftlichen Umsturzbewegungen 1968 und 1989 veranschaulichen, und Eroms, der populäre Stillehren kritisch sichtet. Ebenso intellektuell anregend ist Schäfers Besprechung diverser Stillehren: „Linguistische Wege zu gutem Stil“.

Die zahlreichen Studien im vierten Themenblock, Diskurskritik, problematisieren unter anderem die „Kontrastive Diskurslinguistik“ (Czachur), den „Rechtschreibdiskurs“ (Ewald), „Fremdwortdiskurse“ (Spitzmüller) und den „Altersdiskurs“ (Krüger). Niehr, der über den Migrationsdiskurs referiert, bietet konzise zusammenfassende Bemerkungen an: „Der Migrationsdiskurs der Bundesrepublik Deutschland ist ein Diskurs, der seit der Nachkriegszeit mit unterschiedlicher Intensität permanent geführt wird. Ihm liegt die kontrovers diskutierte Frage zugrunde, wie Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland geregelt werden soll“ (230).

Der fünfte Themenblock, Kritik am kommunikativen Handeln, präsentiert thematisch grundlegende Beiträge, wie etwa „Sprachkritik und Rhetorik“ (Kramer), „Sprachkritik, Sprachkultur und Sprachkultivierung“ (Janich) und „Jugendsprache und Jugendkommunikation“ (Könning). Fachsprachlich besonders relevant sind die Studien von Efing („Verwaltungssprache und Kommunikation mit Verwaltungsinstitutionen“), Niederhauser („Wissenschaftssprache und Wissenskommunikation“) und Spieß („Politiksprache und politische Kommunikation“). Bemerkenswert offen sind Janich und Schüler, die am Ende ihres Artikels „Werbekommunikation und Werbesprache“ resümierend sagen: „Werbesprachkritik ist methodisch noch genauer zu fundieren -- zum Beispiel über einen rhetorischen Zugang zu Werbung“ (350).

Im sechsten und abschließenden Themenblock, Sprachkritik in linguistischen Arbeitsfeldern, werden in mehreren Beiträgen Normierungen problematisiert, etwa in „Sprachkritik und Sprachnormen“ (Beuge), „Lexikalische und semantische Normen“ (Elsner) und „Stilnormen und Stilkritik“ von Fix, die couragiert folgendes Fazit zieht: „Es zeigt sich: Bei aller Komplexität der Textherstellung ist es doch möglich, Texte zu bewerten. Zu wissen, welche Gestaltung für Texte einer Textsorte in verschiedener Hinsicht angemessen ist, kann als Orientierung für die Herstellung eines adäquaten und wohlgeformten Textes und auch für dessen Rezeption und Bewertung dienen“ (396). Kilians differenzierte und anregende Studie „Didaktische Sprachkritik und Deutschunterricht“ beschließt einen Band, der in seiner thematischen Vielfalt und Ausdifferenziertheit beispielhaft ist.

Online erschienen: 2023-03-16

Erschienen im Druck: 2023-03-15

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