Freese, Anika; Völkel, Oliver Niels (Hrsg.): Gender_Vielfalt_Sexualität(en) im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. München: iudicium, 2022 (LiKuM – Literatur Kultur Medien, 4). – ISBN 978-3-86205-737-5. 237 Seiten, € 30,00 [Open Access unter https://www.iudicium.de].

Debatten über Gender in Zusammenhang mit gendergerechter Sprache, Geschlechtsidentitäten, Diskriminierung oder Diversität in der Gesellschaft werden im deutschsprachigen Raum schon seit Jahren lebhaft geführt und haben bereits einige gesellschaftliche Veränderungen bewirkt. Obwohl Einigkeit darüber besteht, dass es Ziel des DaF-/DaZ-Unterrichts sein muss, ein realitätsnahes Bild des Zielsprachenlands zu vermitteln und Lernende zu befähigen, sich an aktuellen gesellschaftlichen Diskursen zu beteiligen, fehlte es an konkreten Vorschlägen, wie man sich diesem lebensweltlich bedeutenden Themenkomplex in Unterrichtskontexten nähern kann. Die Forschung hat sich lange Zeit nur einzelnen Aspekten gewidmet (z. B. den Geschlechterbildern in Lehrwerken oder geschlechtsspezifischem Sprachenlernen), aber nicht Geschlecht und Gender (soziales Konstrukt, zu dem stereotypische Vorstellungen von Rollen und Verhalten gehören) als für das Lehren und Lernen von DaF/DaZ bedeutsame Kategorien in den Blick genommen und untersucht.

Der vorliegende Band füllt deshalb eine Lücke, denn die 14 darin vereinten Beiträge befassen sich mit unterschiedlichen Perspektiven auf Gender, Diversität und Sexualität(en) (und ihren gegenseitigen Verknüpfungen) im Kontext von DaF/DaZ. Hervorgegangen ist der Band aus einem von Freese und Völkel organisierten Online-Kolloquium im November 2020.

Es mag auf den ersten Blick erstaunen, dass das Inhaltsverzeichnis keine Untergliederung der Beiträge bietet. Möglicherweise haben die Herausgebenden bewusst auf Kapitel verzichtet, denn obwohl bei der Lektüre schnell klar wird, dass die Reihenfolge der Beiträge nicht willkürlich ist und zwischen mehreren aufeinanderfolgenden Beiträgen eine thematische Klammer erkennbar ist, unterscheiden sich die einzelnen Studien doch perspektivisch, methodisch und vom besprochenen Unterrichtskontext stark voneinander. Aber genau darin spiegelt sich eben die Komplexität und Vielschichtigkeit der Behandlung von Gender und Diversität im Bereich DaF/DaZ wider.

Um die folgende Besprechung übersichtlich zu gestalten und Lesenden einen schnelleren Zugang zu ihren Interessensschwerpunkten zu ermöglichen, gliedere ich die Beiträge in die vier von mir identifizierten Themenblöcke.

Themenblock 1: Reflexion über Sprache und Gender in Hinblick auf die Sprachvermittlung

Im ersten Beitrag des Bandes, „Die Kategorie ‚Geschlecht’ im DaF/DaZ-Unterricht“, präsentiert Bieker Möglichkeiten einer geschlechterreflektierenden Deutschdidaktik. Geschlecht wird nicht als natürlich gegebene, biologische Kategorie verstanden, sondern als soziale Wissenskategorie, die „sprachlich konstruiert wird und unweigerlich (Teile der) Identität generiert“ (31), weshalb dem Sprachunterricht eine besondere Rolle für die Geschlechterreflexion zukommt. Konkret bietet sie sieben Werkzeuge, mit denen Lehrkräfte sowohl über ihr eigenes Sprachhandeln nachdenken als auch Geschlechterreflexion im Unterricht initiieren können, z. B. Reflexion über die Doppeldeutigkeit von maskulinen Formen oder über Möglichkeiten, binäre Kategorisierungen zu erweitern. Diese Werkzeuge wurden für den Deutsch als Erstsprache-Unterricht entwickelt (s. Bieker & Schindler 2021), Bieker sieht aber in der dem DaF-/-DaZ-Kontext inhärenten sprach- und kulturvergleichenden Perspektive ein besonderes Potenzial, um den Konstruktionscharakter von Geschlecht bewusst zu machen.

Kegyes beschäftigt sich in „Genus, Geschlecht und Gender: Möglichkeiten und Grenzen im DaF/DaZ-Unterricht“ mit der Frage, wie Geschlechterbilder durch Lehrwerke konstruiert werden, und präsentiert Beobachtungen zu problematischen und asymmetrischen Geschlechtsdarstellungen auf verschiedenen für die Sprachvermittlung relevanten Ebenen (Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik etc.). Außerdem stellt sie vier konkrete Unterrichtseinheiten für das Niveau B1/B2 zur Reflexion über den Zusammenhang von Sprache und Geschlecht vor.

In dem Beitrag „Gendergerechte Sprache in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Einstellungen von Studierenden zu ihrem Gebrauch in Universität und Unterrichtspraxis“ von Peuschel und Schmidt werden die Ergebnisse einer Untersuchung mit Studierenden der Fächer DaF/DaZ vorgestellt. Die Forscherinnen konstatieren, dass gendergerechte Sprache häufig Skepsis, Überforderung oder Gleichgültigkeit hervorruft und schließen daraus auf die Notwendigkeit, eine Sensibilisierung für Sprache und Gender stärker in der Lehrkräfteausbildung zu verankern, um den Weg zu einer gendersensiblen DaF-/DaZ-Vermittlung zu ebenen.

Themenblock 2: Thematisierung von Sexualität und sexueller Vielfalt im DaF-/DaZ-Unterricht, teilweise durch Einsatz von literarischen Texten

Baar nimmt in seinem Beitrag „Vielfalt sichtbar machen: Sexuelle Lebensweisen im DaF/DaZ-Unterricht“ eine schulpädagogische Perspektive ein und plädiert für die Notwendigkeit der Thematisierung verschiedener Lebensformen, wie nicht heterosexueller Paarbeziehungen, um Diskriminierungspraktiken offenzulegen und die Bildung von Fremd- und Selbstakzeptanz zu fördern. Gerade für den DaF-/DaZ- Unterricht, dessen Aufgabe ohnehin in der Vermittlung der Pluralität und Heterogenität der deutschsprachigen Gesellschaft besteht, spielt diese Forderung seiner Meinung nach eine besondere Rolle.

Auch im Beitrag von Völkel mit dem Titel „Queering DaF/DaZ – queersensible Zugänge für den Sprachunterricht“ geht es um Einbeziehung sexueller Vielfalt. Er diskutiert Möglichkeiten eines DaF-/DaZ-Unterrichts, der heteronormative Vorstellungen hinterfragt (Queering) und Bedürfnisse von queeren Lernenden berücksichtigt (queersensibel). Dazu macht Völkel viele sehr konkrete Vorschläge für die Arbeit im Unterricht, etwa für die Sprachverwendung der Lehrpersonen (Vermeidung von Fremdpositionierung mit sprachlichen Korrekturen, durch die Lernende ungefragt als heterosexuell positioniert werden), für die Sprachvermittlung oder die Thematisierung von queeren Lebenswelten anhand von literarischen Texten.

Literatur im Unterricht ist auch das Thema der zwei darauffolgenden Beiträge. Hille schlägt in „An einem Tag für rote Schuhe. Ein queeres Textnetz im Unterricht Deutsch als Fremdsprache“ vor, Lernende mit Texten, „in denen andere als die nach heteronormativen Grundsätzen vielleicht erwartete Begehrensstrukturen, Geschlechtervorstellungen und -rollen inszeniert werden“ (110), an aktuelle gesellschaftliche Diskurse über Gender heranzuführen. Konkret sieht Hille ein großes Potenzial in der Arbeit mit Textnetzen (Texte, Diskursausschnitte, die sich auf verschiedene Weisen aufeinander beziehen) und veranschaulicht dies anhand eines Lektüremodells in fünf Phasen zu Texten von Kerstin Grether und Irmgard Keun.

Kocyba präsentiert in „‚von außen ist es nicht zu erkennen‘ – Gender und seine (literarische) Interpretation“ ein bereits von ihr erprobtes Unterrichtsmodell zur Arbeit mit der Erzählung Das Wasser des Flusses Lot. Durch die Irritation, die eine geschlechtlich nicht zu verortende Erzählfigur hervorruft, werden Lernende mit eigenen Rollenvorstellungen konfrontiert und an die soziale Konstruktion von Gender heranführt. Sehr speziell ist der Hintergrund ihrer Arbeit: Die Autorin will zeigen, wie in einem von Anti-Gender-Diskursen geprägten Land wie Ungarn eine Auseinandersetzung mit Gender im DaF-Unterricht gelingen kann.

Kochs Beitrag lenkt den Blick auf den deutschsprachigen Raum und betont die Relevanz des Themas Sexualität für erwachsene DaZ-Lernende. In ihrem Beitrag „Das Thema Sexualität im DaZ-Unterricht: Voraussetzungen, Umsetzung, Probleme und Lösungsstrategien“ präsentiert sie die Ergebnisse einer Befragung von sechs DaZ-Lehrenden zu ihren Erfahrungen mit der Thematisierung im Unterricht, die u. a. zeigen, dass Lehrende das Fehlen von geeigneten Unterrichtmaterialien zur Orientierung und Unterstützung beklagen.

Themenblock 3: Untersuchung und Einsatz von Bilderbüchern im Unterricht, Aufdeckung von Stereotypen und Diskriminierungsformen

Elsens Anliegen ist es aufzuzeigen, wie durch Sprache Geschlechterstereotype vermittelt werden. Dazu präsentiert sie in „Gender, Stereotype und Text am Beispiel von Bilderbüchern“ eine Analyse von Berufs- und Personenbezeichnungen in fünf Kinderbüchern der Reihe Wieso Weshalb Warum von Ravensburger. Ein Bezug zum DaF-/DaZ-Unterricht ist hier – anders als in den anderen Beiträgen des Bandes – nur indirekt gegeben: Kinderbücher als leicht zugängliches Material für Genderreflexion im DaF-Unterricht bzw. ihre Rolle zur Sozialisation von DaZ-Kindern.

Mit Sozialisation und dem Potenzial von Bilderbüchern nicht nur zur Sprach- und Leseförderung, sondern auch zur Vermittlung von Diversität beschäftigt sich Thiel unter dem Titel „‚Un-/Doing Differences‘. Diversität im Bilderbuch – Literarische Sozialisation und kulturelle Bildung“. Vorgestellt werden drei diversitätssensible Kinderbücher, die durch (Un-)Sichtbarmachung von Unterschieden zur Identitäts- und Persönlichkeitsbildung und zum plurikulturellen Lernen beitragen können.

Im Fokus von Conrads Text „Vokalbelarbeit als Freundschaft? Vorschläge für eine strukturierte Analyse intersektionaler Leitdifferenzen im mehrsprachigen Bilderbuch“ stehen zweisprachige deutsch-arabische Kinderbücher und die Entwicklung einer „mit Elementen intersektionaler und postkolonialer Theorien“ angereicherten Analysematrix, „um eine zunehmende Sensibilisierung von (DaF-/DaZ-) Lehrkräften für das Auffinden von Problemfeldern der Stereotypisierung in zweisprachiger Kinderliteratur zu ermöglichen“ (183). Am Beispiel der Analyse von Cornelia Funkes Buch Fabers Schatz zeigt Conrad auf der textinternen Mikrostruktur eine problematische Inszenierung von fremder Kultur und Sprache und von stereotypen Geschlechterbeziehungen, aber auch auf der textexternen Makrostruktur eine ungleiche Gewichtung der Sprachen Deutsch und Arabisch. Der Beitrag bietet jedoch ebenfalls Hinweise auf Bücher, die positiv auffallen.

Themenblock 4: Materialien für konkrete Bildungs- und Unterrichtskontexte und die Hintergründe ihrer Konzeption

Büchsel beschreibt in „Teilhabe durch Deutschlernen? Repräsentation von Vielfalt im Deutschunterricht“ die Hintergründe der Entwicklung des Lehrmaterials Vielfalt leben (Hueber 2018) durch eine auf Initiative der Berliner Volkshochschulen gegründeten Arbeitsgruppe. Ausgangspunkt war die Frage, was im teilhabeorientierten DaZ-Unterricht bis jetzt nicht vermittelt wird, aber für ein inklusives und realistisches Abbild der deutschen Gesellschaft nötig ist. Wichtiger Bestandteil des sehr innovativen Lehrmaterials ist neben der Auseinandersetzung mit verschiedensten Lebensformen und Anschauungen auch die Thematisierung von gesellschaftlichen Diskriminierungsformen bereits auf dem Sprachniveau A1/ A2.

Freeses Beitrag „Sensibilisierung von Germanistik-Studierenden für die Thematik Gender – Ein Workshop an der Universität Belgrad“ ist ein Bericht aus der Praxis über einen Gender-Workshop für Studierende. Der Workshop bestand aus einem Teil zur Klärung wichtiger Begriffe aus der Genderforschung, einem Teil zur Sensibilisierung zur Beziehung Sprache und Gender und einem weiteren zur Anwendung des erworbenen Wissens auf Gender-Fragen in den Berufsfeldern Übersetzung und DaF-Lehre. Neben theoretischen Überlegungen bietet der Beitrag eine ausführliche Beschreibung der Aufgabenstellungen und Materialien.

Der letzte Beitrag des Bandes, „Diversität und Gender im DaZ-Unterricht für erwachsene Migrant*innen“ von Hohenstein, Konstantinidou und Opacic, kommt aus der Schweiz und präsentiert den Entstehungskontext, die Erprobung und Evaluation von Unterrichtsmaterialien zur Förderung von Diversität, Gendersensibilität und (inter-)kulturellem Lernen. Ausgangpunkt war ein Projekt des Kantons Basel-Stadt zu Diversität und Gender im Zweitsprachenunterricht. Der Beitrag geht vor allem auf die theoretischen Grundlagen ein und nur kurz auf ausgewählte Einheiten. Dafür gibt es aber einen Link zur Webseite der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaft, unter dem alle didaktischen Sequenzen mit ausführlichen Erläuterungen zu finden sind.

Alle Beiträge sind theoretisch sehr fundiert und beziehen sich – je nach Schwerpunkt – auf aktuelle Entwicklungen der Genderlinguistik, der Gender Studies und Queer Studies, der Theorien zur Intersektionalität (Überschneidung verschiedener Diskriminierungskategorien) sowie auf literaturwissenschaftliche oder kulturwissenschaftliche Ansätze (insbesondere auf Altmayers Konzept der diskursiven Landeskunde). Gleichzeitig bieten alle Beitragenden DaF-/DaZ-Lehrenden konkrete Anregungen und Hinweise für die Praxis.

In der „Einführung in den Band“ von Freese und Völkel und in einigen Beiträgen findet der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER) und der 2020 erschienene Begleitband Erwähnung. Es wird angemerkt, dass die deutsche Fassung des Begleitbandes zwar genderneutrale Formulierungen verwendet, aber keine Lernziele in Hinsicht auf gendergerechte Sprachvermittlung oder Genderreflexion formuliert. Die Notwendigkeit zur Orientierung am Themenkomplex Gender und Diversität ergibt sich nur indirekt aus der Forderung des GER, dass die „Lernenden kommunikative Kompetenzen in lebensweltlichen Situationen entwickeln“ sollen (Freese & Völkel, 8; Freese, 203). Man darf nun aber hoffen, dass der hier vorgestellte Band Diskussionen anstößt, die zu einer konkreteren Einbeziehung gender- und diversitätsrelevanter Ziele in den Referenzrahmen und in institutionelle Curricula führen.