Kant als Vordenker eines gemäßigten Anarchismus?
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Robert König
Reviewed Publication:
Welsch Martin: Kantischer Anarchismus. Frankfurt am Main: Klostermann, 2025, 94 S.
Zum Begriff „Anarchie“ existieren allerlei stereotypische Assoziationen. Sie reichen häufig von Vorstellungen der Gewalttätigkeit oder Chaotik über unreflektierten Hedonismus und Egozentrismus bis hin zu Vorwürfen von unrealistischen Utopien oder Nihilismen. Philosophisch beflissene Menschen würden wegen solcher Klischees daher vielleicht am allerwenigsten den Namen Immanuel Kants mit dem Konzept „Anarchie“ verbinden. Dennoch weist Martin Welsch mit seiner jüngst erschienenen Schrift Kantischer Anarchismus auf eine mögliche Lesart von Kants politischem Denken hin, die sowohl Kant aus anarchistischer Perspektive zu gewinnen sucht als auch den Anarchismus mit kantischen Mitteln ins Bild setzt und so aus der Perspektive transzendentalphilosophischer Gesellschaftstheorie etabliert. So bietet sich eine Alternative zum üblicherweise staatsrepublikanisch gefassten Kant an.
Welsch schließt mit diesem Ansatz schon im Untertitel seines Buches ausdrücklich an das Nachlasswerk seines 2023 verstorbenen Lehrers Hans Friedrich Fulda an. Fulda liefere aus seiner Sicht eine „bahnbrechende Kant-Interpretation“ (8). Neben ihrer Kurzdarstellung und Kontextualisierung in der ersten Hälfte des Buches denkt Welsch sie in der zweiten Hälfte mit seinen eigenen Ansätzen weiter. Er nennt Fuldas gesellschaftstheoretische Kant-Lektüre in diesem Zusammenhang „Kantischer Anti-Etatismus, ja Kantischer Anarchismus“ (ebd.). Diese Begriffe sollen so verstanden werden, dass vom Standpunkt Kants aus der „Staat nicht unter allen Umständen als notwendig“ (8–9) anzusehen sei, aber dieser kantische Anarchismus „sich durchaus mit dem Staat arrangieren kann, dies indes radikal staatskritisch, radikal staatsskeptisch“ tue (9). Das schlage sich von Kant her etwa in einer permanenten Institutionenkritik und Zurückweisung ewiggeltender, verfestigter Strukturen von Staatlichkeit nieder. Welsch schlägt mithin, von Fulda ausgehend, einen gemäßigten, aufgeklärten Anarchismus vor, der sich mit der Fluidität demokratischer Grundordnungen in Einklang bringen lassen kann und soll.
Sein Buch rückt zu diesem Zwecke eine immer wieder bei Denker:innen des Anarchismus zu findende Kernidee ins Zentrum, die er mit Fulda auch bei Kant verortet: die Zurückweisung der Hobbes’schen Idee eines kriegerischen, ungeordneten Naturzustandes, dem per Vertragsabschluss durch den Staat Abhilfe zu schaffen sei. Bei so etwas handle es sich auch mit Kant „nur um eine Fiktion“ (21), der er eine alternative Idee von Vergesellschaftung und Staatlichkeit entgegensetze. Hierbei zeige sich, so Welsch, dass mit Fuldas Kantlektüre nicht etwa von einer völligen Staatsverneinung bei Kant ausgegangen werden könne. Vielmehr sei menschliches Zusammenleben sehr wohl „in Richtung Staat offen“ (20), der Staat aber nicht eine notwendige Konsequenz menschlicher Vergesellschaftung. Gehe man von Kant aus, so laufe der Entstehung von Staatlichkeit ein grundlegenderes Prinzip apriorisch voraus: das öffentliche Recht (21 ff.). Dieses bilde als „Pflicht zur Kooperation“ (22, Hervorh. im Orig.) unter Menschen die eigentliche Grundlage des Gemeinschaftshandelns. Dieses kooperative, öffentliche Handeln könne unter Umständen zu Staaten führen, müsse dies aber nicht tun. Kants Lehre vom öffentlichen Recht sei viel eher „von Grund auf partizipativ“ (23, Hervorh. im Orig.), woraus sich eine stetige Zurückweisung des „unbedingten Gehorsams gegenüber der Staatsgewalt“ (22) ergebe. Weder ein Hobbes’scher Krieg aller gegen alle noch ein bereits vorhandener, ewiger Staat, sondern das unbedingte und partizipative öffentliche Recht als das „gewusste Kooperieren“ (27) bilde das Fundament der Vergesellschaftung. Das öffentliche Recht sei imperativisch ein „unmittelbar gewisser Sollsatz“ (26), der das menschliche Zusammenleben mit Kant in jeder Ausprägung apriorisch anleite. Es sei das Fundament einer fluiden „öffentlichen Rechtspraxis“ (ebd.), die sich als „kooperativ, synergetisch und koordiniert“ (27–28) nicht einer vorliegenden Idee fixierter Staatlichkeit unterordne. Hiermit gelingt es Welsch en passant ebenso, einen vorurteilsfreieren, angemesseneren Begriff von „Anarchie“ zu geben, der auf Selbstverwaltung, gleichberechtigte Beteiligung und transzendentales Gestaltungshandeln aufbaut. Daraus folge bei Kant auch die Unbedingtheit allseitig garantierter Menschenrechte (29–31).
An solch eine Kant-Lektüre schließt sodann konsequent die Frage an, wie es dazu kommen konnte, dass die traditionelle Kant-Exegese einen solch herrschaftsfreien Begriff des öffentlichen Rechts bisher nicht aufgefunden hat. Welsch attestiert von Fulda her in der bisherigen Kant-Literatur eine Tendenz zur Auslegung „des öffentlichen Rechts als Hobbes’sche Gehorsamspflicht“ (43), die teilweise in stark autoritäre und gar totalitäre Selbstverständnisse münde. Ihren Ursprung habe diese Tradition im Südwestdeutschen Neukantianismus und ziehe sich bei unterschiedlichen Autor:innen bis heute als Fehlinterpretation durch. Welsch liefert zur Untermauerung dieser These in seiner Kurzdarstellung nur einzelne Versatzstücke. Eine umfassende Aufarbeitung würde „eine eigene Studie für sich beanspruchen“ (40), was auf künftige Arbeiten hoffen lässt. Immerhin ruft er von Fulda her mit dem gemäßigt anarchistischen Ansatz eine „grundstürzend neue Kant-Interpretation“ (ebd.) aus.
Welschs These zum Grund der Missverständnisse über Kant lautet, dass es in Kants eigenem staatstheoretischen Denken einige „Dunkelseiten“ (49 ff.) gebe, die gewisse autoritärere Auslegungen begünstigen. So seien die von ihm kritisierten Tendenzen der „neueren und neuesten Rechtslehre-Forschung nicht schlicht erfunden“, sondern bezögen sich auf „inhumane und freiheitsverneinende Positionen als Forderungen reiner praktischer Vernunft“ (50) bei Kant selbst. Deren Skizzierung widmet sich die zweite Hälfte des Buches. Besonders interessiert seinen Verfasser dabei die „Allgemeine Anmerkung“ zur Entwicklung des Staatsrechts in der Metaphysik der Sitten nach § 49. Die dortigen, laut Welsch geradezu „rabiaten, ins Exzentrische, ja Absurde gehenden Ausführungen Kants stehen Fuldas Vorhaben entgegen […,] den authentischen, unverstellten Kant als reine Ressource des praktisch-politischen Denkens zu rehabilitieren“ (51). Diese sich aus Kant selbst ergebende Problematik wird also nicht etwa zum Behufe von Welschs eigener Lektüre der Rechtslehre ausgelassen, sondern klar adressiert und als Forschungsaufgabe definiert. Der teils zustimmend-autoritäre, teils übervorsichtig-verschweigende Umgang mit den dunklen Seiten Kants hänge laut dem vorliegenden Buch seit 1945 mit der Erfahrung des nationalsozialistischen Terrors zusammen. Man fand sich in der Not, auch mit den „Dunkelseiten“ Kants umgehen zu müssen, und wählte neben der nach 1945 ebenso weiter lebendigen Tradierung eines eher autoritären Kant-Bildes auch den Weg der Überbetonung seiner Lehre über Menschenwürde, Menschenrechte und gewaltengetrennte Republik. Es helfe aber gegen die autoritären Auslegungen nicht, so Welsch, jene dunklen Seiten Kants in der Metaphysik der Sitten wegzuschweigen, die einen unbedingten Gehorsam gegenüber der Obrigkeit fordern, die Todesstrafe für Widerständler:innen einführen wollen und die Bevölkerung aufrufen, selbst die schändlichsten Maßnahmen der Herrschenden geduldig zu ertragen. Ein solches Wegschweigen wirft er bestimmten populären Lesarten der Kant-Tradition vor, die Kant viel zu sehr als „Denker der allgemeinen Menschenwürde und Menschenrechte“ und damit als „heller“ (55) als er insgesamt war, dargestellt hätten. Deshalb sei mit den „‚dunklen‘ Seiten“ (57) auch vermehrt umzugehen, nicht aber, um Kant zurückzuweisen oder zu einem Vordenker des Totalitarismus zu machen, sondern gerade, um seine menschenrechtlichherrschaftsfreien Grundlagen konturierter herauszustellen. Es gehe, so Welsch mit einem Adorno-Zitat, in dieser Absicht gerade darum, „der Kantischen ‚Philosophie dort sich zu stellen, wo sie am wehesten tut‘“ (61).
An dieser Stelle bezieht sich Welsch nun auf seine eigenen bisherigen Arbeiten zu Kant und kontextualisiert sie in der Tradition seines Lehrers Fulda, die er nicht nur fortgeführt, sondern durch sich auch ergänzt sieht: denn Fulda selbst habe diese kritische Perspektive auf Kant zwar gehabt, aber nicht umfassend ausgeführt.
Gerade in der Konfrontation mit Kants demokratiepolitisch und freiheitsrechtlich problematischen Seiten liege mit Welsch nämlich ein „von der Leserschaft selbst zu vollziehender Entwicklungsprozess […] als schrittweise Aufhebung freiheitsverneinender Vernunftpositionen in freiheitsbejahende via apriorischer Weiterbestimmung historisch gegebener freiheitswidriger Begriffe“ (65, Hervorh. im Orig.). Weiter: „Die Befolgung des Postulats des öffentlichen Rechts“ – nämlich als anarchistischer Kooperationsimperativ – „treibt das Postulat somit selbst immer wieder in Krisen“ (67). Diese Krisen seien also die aufzusuchende treibende Kraft einer beständig mutualistischen und nicht top-down dominanzgeleiteten Revision des öffentlichen Rechts in der Vergesellschaftung von Menschen. Das öffentliche Recht sei damit nicht ein für allemal abgeschlossen, sondern beständig „ergebnisoffen“ (ebd., Hervorh. im Orig.) – auch sich selbst und seinen eigenen Dunkelseiten gegenüber. Seine Krisen fordern deshalb „ein Verfahren der historischen Kritik und einer damit verschränkten Transformation“, die ineins hiermit auch „als Verfahren der Ideologiekritik“ (68, Hervorh. im Orig.) zu verstehen sei. So etwas geschehe nicht als irgendeine bestimmte „Herrschafts-Praxis, sondern in herrschaftsfreier (mit Fulda: anarchistischer) kollektiver, öffentlicher Vernunftausübung“ (ebd., Hervorh. im Orig.). Alle Vergesellschaftung befinde sich unablässig in einem „anarchischen ‚Vorstadium des Politischen‘“ (ebd.), das ganz kantisch einen erkenntnis- und handlungskritischen Prüf- und Requalifizierungscharakter habe.
Solch eine Kant-Lektüre lasse mit Welsch daher auch die Theorie zu einem „freiheitswidrigen Freiheitsgebrauch“ (69, Hervorh. im Orig.) zu, die die Dunkelseiten Kants verständlich mache. Das öffentliche Recht kann als ergebnisoffen unentwegt missbraucht werden, um autoritäre Strukturen einzuführen und sich selbst abzuschaffen. Welsch spricht bei dieser ständigen öffentlichen Auseinandersetzung mit freiheitswidriger Freiheit von einer „freiheitsbejahenden Position radikaler Volkssouveränität“ (ebd., Hervorh. im Orig.), die zugleich und potenziell ständig freiheitsverneinende Fehltritte tun kann und deshalb, ganz im Modus der Aufklärung, unter dem ständigen Imperativ steht, selbst für die Freiheit zu sorgen, so gut sie kann. Das betreffe, so Welsch, auch den Umgang mit Kant selbst, der sich in einem nächsten Schritt einer Relektüre seines aus anarchistischer Sicht sehr problematischen Strafrechtsverständnisses stellen müsse (80 ff.). Denn angesichts des „extrem rigorosen Strafrechts mit seinen offen deklarierten Strafexzessen“ (80, Hervorh. im Orig.) müsse ebenfalls die Möglichkeit einer freiheitswidrigen Freiheitskonzeption bei Kant geprüft werden. Diese Aufgabe wird gemeinsam mit den autoritären Passagen in Kants Staatsrecht als die künftig zu bearbeitende Aufgabe ausgegeben, an der sich zeigen können soll, ob Anarchist:innen wirklich, wie Fulda schrieb, ihre „helle Freude“ an den Gedanken Kants haben können (50).
Welsch legt mit seiner Skizze zu einem kantischen Anarchismus ausgehend von seinem Lehrer Fulda eine bedeutende und bedenkenswerte Perspektive auf den Kantianismus vor. Die rechts- und gesellschaftsphilosophischen Aspekte werden gemeinsam mit den komplexen Zusammenhängen ihrer wechselhaften Forschungsgeschichte in den letzten 250 Jahren in einer Weise dargestellt, die sich aufgrund ihrer Kürze freilich weder erschöpft noch zu einer umfassenden systematischen Exegese führt. Doch gibt der Autor einen reflektierten, umsichtigen und willkommenen Ansatzpunkt für einen anderen, herrschaftsfrei operierenden Kant, den die ihn häufig auf Republikanismus oder gar Autoritarismus reduzierende Forschungstradition meist übersieht. In diesem Kontext wünschen sich vielleicht v. a. mit Kant weniger bekannte Leser:innen in den Anfangspassagen des Buches eine stärkere Einführung in Kants Begriff des öffentlichen Rechts, auf dem immerhin die Gesamtargumentation ruht. Dies tut dem Gedankengang Welschs aber keinen Abbruch, da auch von Fulda her ausreichend herausgestellt wird, wie das Grundargument einer anarchisch-kooperativen Gestaltung der Vergesellschaftung vor staatlichen Herrschaftsformen bei Kant zu denken sei.
Der erwähnten Kürze schuldet sich womöglich auch die etwas selektive Auswahl der kritisierten Kant-Literatur: denn es gab auch in der Vergangenheit gerade im Neukantianismus jene, die bereits einen mehr anti-autoritären Kant vorgetragen haben. Man denke hier etwa an Teile aus den Arbeiten Hermann Cohens oder Max Adlers. Dennoch gelingt es Welsch, die unterschiedlichen Tendenzen der Forschung so weit in ihren Hauptlinien zusammenzufassen, wie es für die vorliegende Kurzschrift nötig ist, um den Leser:innen ein Gefühl für die vielschichtige Problematik zu geben. Dass er sowohl den historischen als auch den systematischen Ansatz zusammenflicht, lässt auf die vertiefte Auseinandersetzung mit der Thematik schließen, die Welsch auch in seinen bisherigen Forschungsarbeiten bereits veröffentlicht hat.
Der provokante Zugang, Kant einen potenziellen Vordenker des Anarchismus zu nennen, ist in jedem Falle zu bejahen, wenn „Anarchie“ dabei angemessen verstanden wird. Auch hierzu trägt Welschs Schrift bei, indem sie das Konzept der Herrschaftsfreiheit positiv als kooperatives Gestaltungshandeln menschenwürdiger und einbezogener Subjekte versteht, anstatt es nur negativ als Zurückweisung autoritärer Tendenzen zu lesen. Hierbei wird von künftigen Publikationen auch die Einbeziehung der Tugendlehre neben der von Welsch bisher behandelten Rechtslehre von Kant her geleistet werden müssen: denn es ist gerade der kategorische Imperativ und das ihm gemäß verfahrende Subjekt, das bejahend und gestalterisch an seiner Welt unter „Pflicht zur Kooperation“ (22) teilnimmt. Eine weiter zu diskutierende Frage nach der Lektüre von Kantischer Anarchismus wäre also, in welchem Verhältnis die Metaphysik der Sitten zur Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und zur Kritik der praktischen Vernunft in Fragen der Herrschaftsfreiheit steht. Möglicherweise deutet sich auch in dieser Hinsicht ein alternatives Paradigma der Kant-Rezeption an, zu dem in Zukunft lehrreiche Debatten und Arbeiten zu erwarten sind.
© 2025 König, publiziert von De Gruyter
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