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Die Paradoxie und paradoxe Objekte

  • Sebastian Sunday Grève
Published/Copyright: November 20, 2025

Abstract

A new theory of paradox is presented and defended. According to this theory, something is a paradox if and only if a subject cannot believe it, or something about it, despite having tried. Three rival theories are criticised and rejected. Section 1 rejects the theory according to which a paradox is an inconsistent set of individually plausible propositions. Section 2 rejects the Quinean account according to which a paradox is an apparently absurd conclusion that is apparently sustained by an argument. Section 3 rejects the theory according to which a paradox is a question or pseudo-question that suspends us between too many good answers. Section 4 introduces the proposed alternative theory and shows how it improves on previous accounts. Section 5 elaborates the account in the direction of philosophical logic. Section 6 addresses the identity and proper individuation of paradoxes. Section 7 gives a concluding reflection on the epistemic value of finding things paradoxical.

Der Denker, der ohne Paradox ist, ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft.

Søren Kierkegaard

Der Zweck der Philosophie besteht darin, mit etwas so Einfachem zu beginnen, dass es nicht der Rede wert erscheint, und mit etwas so Paradoxem zu enden, dass niemand es glauben wird..

Bertrand Russell

Eine Paradoxie ist etwas, das nicht zu glauben ist – so wie die Etymologie des Wortes ‚Paradoxie‘ schon vermuten lässt. Genau das ist die Essenz einer Paradoxie. Wenn etwas eine Paradoxie ist, dann ist es nicht zu glauben; und wenn etwas nicht zu glauben ist, dann ist es eine Paradoxie. So einfach ist das. Manchen wird es schwerfallen, das zu glauben. In der Hinsicht könnte diese Schilderung selbst nicht zu glauben sein und es sich folglich selbst um eine Paradoxie handeln. Glücklicherweise sind manche Paradoxien wahr.

Selbst wenn Paradoxien im Grunde genommen nicht zu glauben sind, müssen sie natürlich nicht jenseits jeden Glaubens sein. Ob etwas nicht zu glauben ist, hängt normalerweise vom Subjekt ab, dessen Glaube oder Unglaube in Frage steht. Berücksichtigt man diese Klarstellung, so ist es hilfreich, als vorläufige Definition davon auszugehen, dass etwas, das nicht zu glauben ist, einfach das ist, wovon man nicht überzeugt sein kann. Diese Definition wird später weiter erläutert. Vorerst ist nur festzuhalten, dass die genannte Subjektivität keinen objektiven Widerspruch erfordert, um als Paradoxie zu gelten, anders als im Fall kanonischer Beispiele wie der russellschen Paradoxie der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten (was sowohl zu bedeuten scheint, dass die Menge sich selbst enthält, als auch, dass sie sich nicht selbst enthält), oder der Lügnerparadoxie (die normalerweise bedeutet, dass eine gegebene Aussage wahr ist, gdw sie unwahr ist). Die Frage, warum kanonische Paradoxien zu dieser Eigenschaft neigen, wird ebenfalls an gegebener Stelle behandelt werden.

Zwei offensichtliche Einwände gegen die vorgeschlagene Theorievariante sind ihr zu allumfassender und zu subjektiver Anschein: Spezifischer gesagt, könnte sie so erscheinen, als ob sie zu viele Dinge – vielleicht auch zu viele Arten von Dingen – als Paradoxien klassifizieren würde, und es könnte auch so wirken, als ob sie mehr oder weniger alles, wovon ein Subjekt, aus welchen Gründen auch immer, nicht überzeugt ist, so einordnen würde. Tatsächlich ist die Definition weder zu umfassend noch zu subjektiv. Um das zu erkennen, hilft es, zunächst die Fehler anderer Paradoxietheorien zu verstehen. Die nächsten drei Abschnitte (1–3) untersuchen knapp den mengen-, den argument- und Sorensens fragebasierten Ansatz, bevor drei weitere Abschnitte (4–6) kurz meine überzeugungsbasierte Alternative beschreiben und verteidigen. Ein abschließender Abschnitt (7) bietet eine kurze Zusammenfassung und ein Fazit.

1 Mengenbasierte Theorien

Eine Theorie, die sich in letzter Zeit großer Beliebtheit erfreut, beschreibt Paradoxien als inkonsistente Mengen einzeln plausibler Aussagen. [1] Diese Theorie funktioniert offensichtlich bei Paradoxien gut, die normalerweise in einer Art Dilemmaform dargestellt werden, so das Schiff des Theseus, Kants Antinomien oder Nāgārjunas Tetralemmata über die Bewegung [2]. Es ist auch einfach einzusehen, wie die Theorie auf viele andere Fälle angewendet werden kann. Man nehme die weithin bekannte Paradoxie des Barbiers, der all jene und nur jene rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Nach dem mengenbasierten Ansatz lässt sich die Barbier-Paradoxie so darstellen:

a1: Es gibt einen Barbier, der x rasiert, gdw x nicht x rasiert.

a2: Entweder rasiert der Barbier x oder nicht.

a3: Entweder rasiert der Barbier den Barbier oder nicht.

a4: Wenn der Barbier den Barbier rasiert, dann rasiert der Barbier den Barbier nicht.

a5: Wenn der Barbier den Barbier nicht rasiert, dann rasiert der Barbier den Barbier.

Schwierigkeiten ergeben sich bei jeder mengenbasierten Theorie aus der offenbaren Vielfalt von Mengen von Aussagen, die vernünftigerweise als Darstellung derselben Paradoxie gelten können. Beispielsweise kann man argumentieren, dass a2 und a3 unnötig sind; oder dass a1 allein ausreichen würde, da sie sowohl (anscheinend) plausibel als auch (vertretbar) inkonsistent ist. Wie sollte entschieden werden, welche, wenn überhaupt eine, die maßgebliche Paradoxie ist und welche nicht? Diese Schwierigkeit ist kein unüberwindbares Hindernis, es gibt aber noch ernsthaftere Probleme mit dem mengenbasierten Ansatz.

Ein besonders großes Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass dieselbe Menge von Sätzen zutreffenderweise mehr als einer Paradoxie zugeordnet werden kann. Beispielsweise lässt sich dieselbe inkonsistente Menge, die sowohl geozentrische als auch heliozentrische Thesen enthält – gegensätzliche astronomische Modelle, in denen entweder die Erde oder die Sonne den Mittelpunkt bilden – zwei verschiedenen Paradoxien zuordnen. Bevor Kopernikus und Galilei den Heliozentrismus als Grundanschauung im Westen etablierten und damit die eineinhalb Jahrtausende währende Vorherrschaft des ptolemäischen Geozentrismus beendeten, galt der Heliozentrismus weithin als paradigmatische Paradoxie. [3] Die Entwicklung der Astronomie hätte aber auch einen anderen Weg einschlagen können: Wäre, zum Beispiel, der frühe Heliozentrismus von Aristarchos im antiken Griechenland weithin akzeptiert worden und wäre er als Grundanschauung an die Römer weitergetragen worden, dann hätte stattdessen der Geozentrismus – mit prominenten und fähigen Fürsprechern wie Aristoteles, Ptolemäus und anderen – zu einer paradigmatischen Paradoxie werden können.

Betrachten wir folgende inkonsistente Menge von Aussagen, um das klarer zu machen:

Geozentrismus: Die Erde ist der Mittelpunkt unseres Planetensystems.

Heliozentrismus: Die Sonne ist der Mittelpunkt unseres Planetensystems.

Diese Menge von Aussagen mag zutreffend und entsprechend dem mengenbasierten Ansatz als Paradoxie bezeichnet werden. Tatsächlich kann es sich dabei jedoch um zwei verschiedene Paradoxien handeln – nämlich entweder um die geozentrische oder um die heliozentrische Paradoxie –, je nachdem, welche der beiden Thesen ein Subjekt (oder eine Gruppe von Subjekten) für plausibler hält. Wer den Geozentrismus für plausibler hält, wird natürlich die Negation des Geozentrismus – was hier auf Heliozentrismus hinausläuft – als paradoxe Schlussfolgerung betrachten, womit sich die heliozentrische Paradoxie konstituiert. Aber jemand, der den Heliozentrismus für plausibler hält, wird natürlich die Leugnung des Heliozentrismus – was hier auf Geozentrismus hinausläuft – als paradoxe Schlussfolgerung verstehen, woraus sich die geozentrische Paradoxie ergibt. [4]

Eine der Ursachen der mengenbasierten Theorie war ein Wunsch nach einem Grad an Objektivität, der angeblich höher wäre als der des dominierenden argumentbasierten Ansatzes, den man von Quine übernommen hatte. Quine hatte bekanntermaßen vorgeschlagen, dass „eine Paradoxie […] schlicht jeder Schluss [ist], der zunächst absurd klingt, der aber durch ein Argument gestützt wird“. [5]

Beispielsweise war Quine der Ansicht, dass die Barbier-Paradoxie derart als wahre Aussage formuliert werden könne, dass es keinen Barbier gibt, der all jene und nur jene rasiert, die sich nicht selbst rasieren (d. h. die Negation von a1). So argumentierte Quine, dass die Barbier-Paradoxie ein Beispiel für das sei, was er als „veridische Paradoxie“ bezeichnete, also als einen unplausiblen Schluss, der dennoch wahr ist. Darüber hinaus sind die folgenden zwei Aspekte vor allem mit Blick auf die beiden später erläuterten Kritikpunkte an der quineschen Sichtweise erwähnenswert. Erstens enthält Quines Lösungsvorschlag für die Barbier-Paradoxie die Negation von a1 als Ergänzung der obigen Darstellung; wir können sie a6 nennen. Zweitens nimmt Quine an, dass a6 tatsächlich die absurdeste Aussage ist, die in der Paradoxie enthalten ist; im Sinne seiner Definition von Paradoxien identifiziert er die Barbier-Paradoxie daher mit a6 und damit mit einer Aussage, bei der andere vielleicht argumentieren würden, dass sie nicht einmal Teil derselben Paradoxie ist.

Die quinesche Darstellung von Paradoxien als eine Art unplausibler Schluss scheint aus mengenbasierter Sicht aus den folgenden zwei Gründen problematisch zu sein: [6]

Erstens erlaubt die quinesche Theorie die Identifikation von Paradoxien auf Grundlage der eigenen (subjektiven) Präferenz für eine bestimmte Auflösung. Im Falle des Barbiers könnte man beispielsweise ebenfalls argumentieren, dass a4 oder a5 – und nicht a1, wie Quine glaubte – negiert werden sollten, um die Paradoxie aufzulösen. Das wiederum könnte zu einem anderen paradoxen Schluss führen, etwa, dass aus a1 nicht logisch a4 und a5 folgen oder einfach die Negation von a4 oder die Negation von a5. Im Gegensatz zur quineschen Schilderung würde es einer solchen Person aber offenbar um dieselbe Paradoxie gehen, selbst wenn es derartige Uneinigkeiten im Hinblick auf die richtige Auflösung der Paradoxie gäbe und, in Folge davon, hinsichtlich des gewählten Schlusses zur Wiedergabe der Paradoxie in Form eines Arguments.

Zweitens erlaubt die quinesche Theorie die Identifikation von Paradoxien anhand der eigenen (subjektiven) epistemischen Einstellung, insbesondere anhand dessen, für wie plausibel man einzelne Aussagen hält. Selbst wenn Einigkeit über die Auflösung einer bestimmten Paradoxie besteht, können Menschen dennoch hinsichtlich der Plausibilität relevanter Aussagen durchaus unterschiedlicher vernünftiger Meinung sein und damit unterschiedliche Aussagen als paradoxe Schlüsse wählen. Im Gegensatz zur quineschen Theorie scheint es ihnen dabei aber um dieselbe Paradoxie zu gehen.

Auf den zweiten Punkt könnte ein Anhänger von Quine antworten, dass er nicht universell gilt. Wie wir gesehen haben, kann dieselbe inkonsistente Menge, die sowohl den Geozentrismus als auch Heliozentrismus enthält, zutreffend mehr als einer Paradoxie zugeordnet werden: Wer den Geozentrismus für plausibler hält, wird seine Negation natürlich als paradoxen Schluss betrachten (woraus sich die heliozentrische Paradoxie ergibt), wohingegen jemand, der den Heliozentrismus für plausibler hält, natürlich dessen Negation als paradoxe Schlussfolgerung empfindet (woraus sich die geozentrische Paradoxie ergibt). Intuitiv ist die geozentrische Paradoxie nicht dieselbe wie die heliozentrische Paradoxie, obwohl beide mit derselben inkonsistenten Menge von Aussagen wiedergegeben werden können. Das beschreibt die quinesche Theorie richtig.

Bezüglich des ersten Kritikpunkts könnte ein Anhänger von Quine vernünftigerweise meinen, dass die richtige Auflösung einer gegebenen Paradoxie, sofern es sie gibt, möglicherweise mit neuem Wissen über das wahre Wesen der betreffenden Paradoxie einhergeht. Der Quine-Anhänger könnte weiter argumentieren, dass die quinesche Theorie unter bestimmten Bedingungen tatsächlich die Identifizierung einer Paradoxie auf Basis der eigenen (subjektiven) Präferenz für eine Auflösungsvariante erlaubt; dieselbe Regel ermöglicht aber die Identifizierung einer Paradoxie auf Grundlage der (objektiven) Entdeckung einer Auflösungsmöglichkeit, was zu einem Genauigkeitsgrad führt, den die mengenbasierte Theorie nicht zulässt.

Daher haben Anhänger der argumentbasierten Schilderung von Paradoxien im Sinne Quines nicht nur plausible Argumente gegen die Hauptkritikpunkte der Befürworter der mengenbasierten alternativen Theorie, sondern sie verfügen auch über eine effektive Gegenkritik durch das Argument über Geozentrismus und Heliozentrismus. Wie wir dennoch sehen werden, hat der argumentbasierte Ansatz aber noch schwererwiegende Probleme.

2 Argumentbasierte Theorien

Nur wenige philosophisch arbeitende Logiker haben Paradoxien als bloße Argumente verstanden. [7] So, wie es verschiedene Mengen von Aussagen gibt, die vernünftigerweise dieselbe Paradoxie ergeben, kann dieselbe Paradoxie in Form verschiedener Argumente mit unterschiedlichen Prämissen dargestellt werden. Wahrscheinlich ist dies der Grund, warum die meisten Quine gefolgt sind und Paradoxien als Schlüsse von Argumenten und nicht als Argumente im eigentlichen Sinne verstanden haben, obwohl – wie die beiden vorigen Kritikpunkte zeigen – argumentiert werden kann, dass dieselbe Paradoxie auch in Form verschiedener Schlüsse vorliegen kann. [8]

Möglicherweise liegt ein größeres Problem der quineschen Sichtweise aber darin, dass manche Paradoxien anscheinend gar nicht als Argument und auch nicht als Schluss auftreten.

Zum einen lässt sich die Paradoxie vom Schiff des Theseus nicht natürlicherweise als Argument mit paradoxem Schluss darstellen. Vielmehr wird sie normalerweise als Dilemma wiedergegeben. Plutarch berichtet, dass die Athener jahrhundertelang ein Schiff aufbewahrt hätten, auf dem einer ihrer größten Helden, Theseus, einst im Triumph aus Kreta zurückgekehrt sein soll, wo er ein gefährliches Ungetüm getötet habe. Die Instandhaltung des Schiffes über einen so langen Zeitraum führte allerdings dazu, dass die meisten, wenn nicht alle Teile des Schiffs ersetzt werden mussten: So berichtet Plutarch, dass „[d]as Schiff […] daher für die Philosophen zu einer ständigen Veranschaulichung zur Streitfrage der Weiterentwicklung [wurde]; denn die einen behaupteten, das Boot sei nach wie vor dasselbe geblieben, die anderen hingegen, es sei nicht mehr dasselbe“. [9] Nehmen wir nun zusätzlich an, jemand hätte alle Originalteile, die im Laufe der Zeit ersetzt worden waren, eingesammelt, gesäubert und wieder zusammengesetzt. Daraus ergibt sich ein Dilemma. Welches ist das Schiff des Theseus? Ist es das ‚offizielle‘, das vom Volk Athens aufbewahrt und instandgehalten worden ist, oder ist es jenes, das aus allen Originalteilen, die im Laufe der Zeit ausgetauscht worden waren, wieder zusammengebaut worden ist? [10]

Andere bekannte Paradoxien, die normalerweise nicht als paradoxe Schlüsse wiedergegeben werden, sind die Lügnerparadoxie, Moores Paradoxie und New-combs Problem. Normalerweise kulminiert Newcombs Problem in einer Entscheidungsfrage. [11] Moores Paradoxie wird am häufigsten als einzelner Aussagesatz dargestellt, etwa ‚es regnet, aber ich glaube nicht, dass es regnet‘, oder manchmal in der deutlicheren Alternative: „Es kann wahr sein, dass es sowohl regnet als auch, dass ich nicht glaube, dass es regnet, dennoch kann ich nicht wahrheitsgemäß behaupten, ‚es regnet, aber ich glaube nicht, dass es regnet‘.“ [12] Ebenso wird die Lügnerparadoxie normalerweise in nur ein oder zwei Sätzen wiedergegeben, etwa ‚diese Aussage ist eine Lüge‘ oder ‚die folgende Behauptung ist falsch; die vorhergehende Behauptung ist wahr‘. Übrigens stellt Quine seine eigene Variante der Lügnerparadoxie nicht als paradoxen Schluss dar, sondern in Form eines bloßen Satzes, nämlich: „‚Liefert nach Anfügung zu seinem eigenen Zitat eine falsche Aussage‘ liefert nach Anfügung zu seinem eigenen Zitat eine falsche Aussage.“ [13]

Darüber hinaus werden andere bekannte Paradoxien üblicherweise in Form völlig alleinstehender Fragesätze abgebildet, darunter die Paradoxie von der Henne und dem Ei (was war zuerst da?) und die Allmachtsparadoxie (zum Beispiel: ‚Kann Gott einen Stein erschaffen, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht hoch-heben kann?‘).

Verteidiger der quineschen Theorie würden vermutlich zugeben, dass manche Paradoxien nicht natürlicherweise als Argumente und nicht einmal als Aussagen formuliert werden. Das könnten die Verteidiger wohl auch damit erklären, dass es schwierig ist, das genaue Wesen einer Paradoxie zu kennen. Wenn wir beispielsweise versuchen würden, das Schiff des Theseus in Argumentform zu beschreiben, wüssten wir unter Umständen nicht, welcher der unterschiedlich möglichen paradoxen Schlüsse die Paradoxie korrekt darstellt – dass etwa keines der beiden Schiffe das Schiff des Theseus ist oder dass es beide sind –, wobei selbst eine unvollständige Disjunktion möglicher Kandidaten die Paradoxie richtig wiedergeben mag, wenn das unser Wissensstand zu dem Zeitpunkt wäre. So scheint die Hypothese, dass jede Paradoxie als Schluss wiedergegeben werden kann, der in Quines eigenen Worten „zunächst absurd klingt, […] aber durch ein Argument gestützt wird“, also prima facie haltbar. Insbesondere scheint die Darstellung als Schluss für alle Arten paradoxer Aussagen und Sätze möglich zu sein, darunter jene aus dem alten China (,Eier haben Federn‘, ,Feuer ist nicht heiß‘, ,Die Augen sehen nicht‘) ebenso wie Fragen und Imperative (‚sag niemals nie‘, ‚missachte diesen Befehl‘). [14] Sie scheint auch für alle Paradoxien möglich, die grundsätzlich als subsententiale Ausdrücke wiedergegeben werden (‚die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten‘, ‚der quadratische Kreis‘). [15]

Noch wichtiger ist, dass Anhänger von Quine vermutlich außerdem auf der gewichtigeren metaphysischen Behauptung beharren würden, dass alle Paradoxien genau als das dargestellt werden können, was sie gemäß Quine wirklich sind. Das ist allerdings falsch. Auch wenn alle Paradoxien als scheinbar absurde Schlüsse wiedergegeben werden können, die durch ein Argument gestützt werden, folgt daraus nicht, dass eine Paradoxie wesentlich das ist, was wiedergegeben wird. Der Fehler liegt darin, dass es Paradoxien gibt, deren Darstellung als Argument entweder zu einem Schluss führt, der nicht scheinbar absurd ist, oder zu einem Argument, das den Schluss nicht stützt. Beispielsweise ist das vermutlich für jeden überwältigenden Stil der Fall, hinter dem sich eine logisch ungültige Argumentation versteckt. Mark Sainsbury hat daher versucht, Quines ursprüngliche Theorie durch eine überarbeitete zweite Bedingung zu verbessern, nach der der scheinbar absurde Schluss nicht tatsächlich durch ein Argument gestützt sein muss, sondern es ausreicht, wenn der Schluss nur scheinbar gestützt wird; genauer gesagt, wenn er sich aus einem „scheinbar annehmbaren Gedankengang aus scheinbar annehmbaren Prämissen ab[leitet]“ [16]. Es ist aber alles andere als selbstverständlich, dass alles, was eine scheinbar absurde Schlussfolgerung zu stützen scheint, richtiger-weise als eine von „Prämissen“ ausgehende „Ableitung“ gedacht werden kann. So sehr Sainsbury der ursprünglichen Absicht von Quine treu bleibt, so sehr scheinen beide Ansätze ungerechtfertigt viel Idealisierung zu betreiben. Warum sollten wir annehmen, dass alle oder auch nur alle interessanten Paradoxien in erster Linie das Ergebnis logischen Denkens sind? Unter Umständen ist Rhetorik einflussreicher als Logik; sind Erzählungen einflussreicher als Argumente; vermag letztlich alles, was an die Gefühle statt an die Vernunft appelliert, uns insgesamt eher zu überzeugen.

Im Gegensatz zu den philosophischen Lieblingsfällen wird das anhand von Beispielen besonders deutlich, die nicht rein sprachlicher Natur sind. Betrachten wir René Magrittes berühmtes Gemälde, das eine Pfeife zusammen mit den Worten „Ceci n’est pas une pipe“ („Dies ist keine Pfeife“) zeigt (Abb. 1). Magrittes Gemälde trägt den Titel „La trahison des images“ („Der Verrat der Bilder“) ein passender Name, da es tatsächlich konstitutiv für die Paradoxie zu sein scheint, dass Betrachtern ein gemaltes Bild einer Pfeife visuell präsentiert wird, das ihnen das intuitive Bezugsobjekt des Demonstrativpronomens („ceci“, „dies“) liefert. Wenn das stimmt, dann können bloße Worte diese doxastische (überzeugungsbasierte) oder prädoxastische Situation nicht nachbilden. Dafür reichen beispielsweise weder die Worte ‚eine Pfeife ist keine Pfeife‘ noch ‚ein Bild einer Pfeife ist keine Pfeife‘ aus. Es scheint daher, dass diese Paradoxie nicht einfach ein Schluss sein kann, der durch ein Argument gestützt wird.

Abbildung 1 René Magritte „La trahison des images“ (1929) (Original im Los Angeles County Museum of Art)
Abbildung 1

René Magritte „La trahison des images“ (1929) (Original im Los Angeles County Museum of Art)

Dasselbe gilt noch mehr in rein nichtsprachlichen Fällen, wie etwa für die bekannten visuellen Paradoxien, die durch Lionel und Roger Penrose sowie den Künstler M. C. Escher popularisiert worden sind und bei denen es sich um sogenannte unmögliche Figuren handelt. Berühmte Beispiele sind der unmögliche Würfel, das Penrose-Dreieck und die Penrose-Treppe (Abb. 2). Diese Bilder erzeugen eine besondere Art der optischen Täuschung, bei der das, was Betrachtern als dreidimensionales Objekt erscheint und durch ein zweidimensionales Bild dargestellt wird, nicht nur nicht das repräsentierte Objekt, sondern tatsächlich unmöglich ist. Was sich dem Subjekt darstellt, kann tatsächlich nicht existieren. Insbesondere handelt es sich beim unmöglichen Würfel um keinen Würfel und beim Penrose-Dreieck um kein Dreieck. Doch selbst wenn das Subjekt davon weiß, ändert das in der Regel nichts an der bildlichen Erscheinung: Der unmögliche Würfel erscheint weiter als Würfel, das Penrose-Dreieck weiter als Dreieck. [17] Diese doxastischen Situationen können durch bloße Worte nicht reproduziert werden. Es scheint also so, als ob die Paradoxie nicht einfach ein Schluss sein kann, der durch ein Argument gestützt wird. [18]

Abbildung 2 Penrose-Treppe („fortlaufende Stufenfolge“, Penrose/Penrose 1958)
Abbildung 2

Penrose-Treppe („fortlaufende Stufenfolge“, Penrose/Penrose 1958)

Der Psychologe Roger Shepard hat eine auditive Paradoxie entwickelt, die nach demselben Muster funktioniert. Shepard zeigte, dass eine speziell entwickelte Sequenz von Klängen, heute als Shepard-Skala bekannt, bei Zuhörern die Illusion einer unendlich langen Tonleiter erzeugen kann. Diese Paradoxie ist also das auditive Äquivalent zur Penrose-Treppe. Wie bei visuellen Paradoxien ändert selbst das Wissen eines Subjekts um die Täuschung in der Regel nichts daran, wie sie wahrgenommen wird; die Tonleiter klingt weiterhin unendlich lang. Damit ist diese auditive Paradoxie ein weiteres Gegenbeispiel zur quineschen Theorie. [19]

Dasselbe Argument gilt für Paradoxien, die auf anderen Sinnen basieren, darunter Tastsinn, Geschmack, Gleichgewicht und Propriozeption. [20]

Der argumentbasierte Ansatz scheitert also sogar in überarbeiteter Fassung, der zufolge eine Paradoxie ein scheinbar absurder Schluss ist, der scheinbar durch ein Argument gestützt wird, weil es Paradoxien gibt, deren Darstellung als Argument zu einem Ergebnis führt, das entweder kein scheinbar absurder Schluss ist oder das scheinbar nicht durch ein Argument gestützt wird. Wie leicht zu erkennen ist, könnte derselbe Einwand möglicherweise auch gegen den mengenbasierten Ansatz erhoben werden, nach dem es sich bei einer Paradoxie um eine inkonsistente Menge einzeln plausibler Aussagen handelt. Das müssen wir hier aber nicht machen, da jene Theorie bereits durch das Geozentrismus-Heliozentrismus-Argument entkräftet worden ist. Was also eine Theorie des Wesens von Paradoxien angeht, erweisen sich sowohl der argumentbasierte als auch der mengenbasierte Ansatz als unzureichend.

3 Sorensens fragebasierte Theorie

Einen interessanten alternativen Ansatz stellt Roy Sorensen in seinem Buch A Brief History of the Paradox (2003) vor. Sorensen schreibt, dass „Paradoxien […] Fragen (oder in manchen Fällen Pseudofragen)“ sind, „die uns zwischen zu vielen guten Antworten schwanken lassen“. [21] Er schreibt auch: „Ich verstehe Paradoxien als eine Art Rätsel“. [22] An anderer Stelle im Buch erklärt er das Verhältnis zwischen diesen beiden Behauptungen so: „Paradoxien sind Rätsel, die das Publikum mit guten Antworten überladen […] ein Rätsel nimmt die Gestalt einer Frage an.“ [23] Folglich bezeichnet er seine Darstellung zugleich als „meine Rätseltheorie der Paradoxien“ und als „meine fragebasierte Theorie“. [24]

Es ist Sorensens erklärte Absicht, eine Theorie des Paradoxen zu liefern, die umfassender ist als die argument- und mengenbasierten Ansätze, nicht zuletzt, um das Penrose-Dreieck und andere visuelle Paradoxien miteinbeziehen zu können. Er würde also vermutlich argumentieren, dass die Begriffe Frage oder Antwort ausreichend weit gefasst werden sollten, vielleicht eher als Rätsel. Das deutet er an einer Stelle auch an. [25] Vielleicht könnten die betreffenden Begriffe ausreichend erweitert werden. Das würde aber auch zur nur wenig hilfreichen Vermengung der ursprünglichen Frage ‚Was ist eine Paradoxie?‘ mit mehreren genauso schwierigen weiteren Fragen führen: ‚Was ist eine Frage?‘, ‚Was ist eine Antwort?‘, ‚Was ist eine gute Antwort?‘, ‚Was sind zu viele gute Antworten?‘ und ‚Was ist ein Rätsel?‘.

Sorensens fragebasierter Ansatz wird daher mit demselben Dilemma wie die mengen- und argumentbasierten Theorien konfrontiert. Diese Theorien lassen sich alle plausibel als die These verstehen, dass, obwohl manche Paradoxien normalerweise nicht in der benötigten Form dargestellt werden – verschiedentlich spezifiziert als Argument, Schluss, Frage, Rätsel oder inkonsistente Menge von Aussagen –, alle Paradoxien auf diese Weise genau als das dargestellt werden können, was sie wirklich sind. Obwohl die Hypothese, dass jede Paradoxie nach den Erfordernissen der Theorie dargestellt werden kann, vielleicht zutrifft, ist die damit verbundene metaphysische Behauptung, dass Paradoxien im Wesentlichen das sind, als was sie somit dargestellt werden, aber falsch, weil nicht alle Paradoxien abgedeckt werden, es sei denn, für die jeweiligen Theoriebestandteile (Argument, Schluss, Frage, Rätsel oder Aussage) wird eine eigene substanzielle Theorie entwickelt, deren mögliche Form oder Plausibilität bestenfalls ungewiss ist.

4 Ein überzeugungsbasierter Ansatz

Die in diesem Aufsatz vertretene Theorie, nach der eine Paradoxie etwas ist, das nicht zu glauben ist, vermeidet diese Art von Schwierigkeit. Die Hauptschwierigkeit besteht hier nun darin, zu verstehen, wieso die Simplizität der Theorie nicht zu übermäßiger Inklusivität führt.

Die Frage von Subjektivität ist eine damit eng verbundene Schwierigkeit. Klassifiziert die Theorie alles, was jemand nicht glaubt, als Paradoxie? Das wäre keine wohlwollende Interpretation. Die bloße Tatsache, dass jemand etwas, x, nicht glaubt, sollte nicht so verstanden werden, dass x im intendierten Sinne des Wortes nicht zu glauben sei. Vielmehr soll die Formulierung ‚nicht zu glauben‘ nicht nur implizieren, dass jemand von etwas nicht überzeugt ist, sondern natürlich auch, dass ein Subjekt einen hinreichenden Versuch gemacht hat, davon überzeugt zu werden. In diesem Sinne ist, wie zu Beginn des Aufsatzes angedeutet, etwas, das nicht zu glauben ist, etwas, wovon man nicht überzeugt sein kann. Mit anderen Worten: Das Subjekt ist daran gescheitert, es zu glauben. Oder auch: Es ist nicht davon überzeugt, obwohl es das versucht hat.

Es ist verlockend zu denken, dass ein Versuch notwendig ist, von einer bestimmten Aussage überzeugt zu sein (d. h. von etwas, von dem man logisch überzeugt sein kann und das wahr sein kann). Aus psychologischer Perspektive scheint das aber nicht zu stimmen. Beispielsweise scheint die Paradoxie vom Schiff des Theseus, wenn sie wie üblich als Dilemma präsentiert wird – wie etwa in der vorigen Erzählung, die mit der Frage ‚Welches ist das Schiff des Theseus?‘ endet –, nicht zu erfordern, dass das Subjekt eine bestimmte Aussage kennt, von der es zwar nicht überzeugt ist, von der überzeugt zu werden es aber gezielt versucht hat. Dies gilt auch für viele andere Paradoxien, die sich nicht einfach so wiedergeben lassen, dass sie eindeutig einer Aussage entsprechen; und es gilt auch für die vielen sprachlichen und nichtsprachlichen Paradoxien, die normalerweise anders als durch Aussagesätze dargestellt werden. Entsprechend lässt sich die Konzeption von Paradoxien als etwas, das nicht zu glauben ist, wie folgt formulieren:

Etwas, x, ist eine Paradoxie gdw

  1. ein Subjekt s entweder von x oder von etwas an x nicht überzeugt ist und

  2. s das versucht hat.

Das Verhältnis des Versuchs – genauer gesagt, des hinreichenden Versuchs, von etwas überzeugt zu sein – ist zugegebenermaßen vage. Dies stellt aber kein Problem dar. Die Theorie ist bewusst relativ umfassend angelegt. Wichtig ist, dass man nach dieser Definition etwas paradox finden kann – mit anderen Worten, sich bewusst werden kann, dass es etwas gibt, wovon man trotz eines hinreichenden Versuchs nicht überzeugt ist –, auch wenn man nicht genau sagen kann, wovon man nicht überzeugt ist. Die Definition enthält damit eine psychologisch akkurate Beschreibung der Verwirrung, die ein Subjekt üblicherweise empfindet, wenn es zum ersten Mal einer Paradoxie begegnet.

Im Hinblick auf den möglichen Einwand, dass die vorgeschlagene Darstellung zu subjektiv sei, ist wichtig zu beachten, dass die Subjektivität von Paradoxien per se nicht bestritten wird, also dass Paradoxität (d. h. die Eigenschaft, dass etwas paradox ist) wesentlich von einem angemessen zugehörigen Subjekt abhängt, das das Vermögen hat, von etwas überzeugt zu sein. Das wird beispielsweise in den wichtigsten mengen- und argumentbasierten Theorien durch die zentrale Verwendung von Begriffen wie Plausibilität (‚eine Paradoxie ist eine inkonsistente Menge einzeln plausibler Aussagen‘), Absurdität (‚jeder Schluss, der zunächst absurd klingt, der aber durch ein Argument gestützt wird‘) oder scheinbare Annehmbarkeit (‚ein scheinbar annehmbarer Schluss, der durch einen scheinbar annehmbaren Gedankengang aus scheinbar annehmbaren Prämissen abgeleitet ist‘) deutlich.

Auch im Hinblick auf den möglichen Einwand, dass die Darstellung zu inklusiv sei, ist wichtig festzuhalten, dass die Stufung von Paradoxien – also: dass Paradoxität in unterschiedlichen Stärkegraden auftritt – nicht bestritten wird. Etwas kann mehr oder weniger paradox sein als etwas anderes oder im Verhältnis zu verschiedenen Subjekten und Zeiten. So gilt die Lügnerparadoxie beispielsweise häufig als paradoxer als die Barbier-Paradoxie; Einsteins Relativitätstheorie und ihre Folgen werden den meisten Nichtphysikern tendenziell paradoxer erscheinen als den meisten Physikern; und der Heliozentrismus gilt vielen Menschen als nicht mehr so paradox wie früher oder als überhaupt nicht mehr paradox. Die vorgeschlagene Theorie berücksichtigt die Stufung von Paradoxität auf die gleiche Art und Weise wie Quine oder Sainsbury, allgemein vielleicht im Sinne der Schwierigkeit, davon überzeugt zu sein. Konkreter gesagt erklären Quine und Sainsbury die Stufung von Paradoxien damit, dass etwas mehr oder weniger absurd bzw. mehr oder weniger scheinbar unannehmbar ist; in der vorgeschlagenen Theorie wird sie dadurch erklärt, dass etwas mehr oder weniger nicht zu glauben ist (genauer gesagt, durch den Schwierigkeitsgrad, der mit hinreichenden Versuchen, von etwas überzeugt zu sein, verbunden ist).

Es ist weitgehend aussichtslos, strengere Bedingungen für eine Paradoxie durch eine enger angesetzte Subjektgruppe wie Sorensens „vernünftige, intelligente Menschen“ [26] oder durch ein bestimmtes Maß an Paradoxität zu schaffen. Eine solche Bedingung würde der Anzahl von Haaren ähneln, die ein nicht kahlköpfiger Mensch verlieren müsste, um kahlköpfig zu werden: Entweder gibt es eine solche Bedingung nicht oder wir wissen überhaupt nicht, was sie ist. Indem man nicht derart beschränkt, was als Paradoxie gilt, ergibt sich eine einfachere, möglicherweise aber auch extrem inklusive Theorie. Allerdings muss eine solche extreme Inklusivität nicht zu weit angesetzt sein, selbst wenn sie zu einer überraschenden Anzahl oder Vielfalt potenziell paradoxer Sachverhalte führt. Statt dieses Problem auf andere Weise zu lösen, neigen andere Paradoxietheorien dazu, es zu vertuschen, indem sie festsetzen, was genau Paradoxien seien; die einflussreichsten drei Vorschläge dazu sind Schlüsse, Aussagen und Fragen. Wie wir gesehen haben, scheint keine dieser Setzungen besonders vielversprechend darin, zu erfassen, was eine Paradoxie nun ausmacht.

Die Zahl und Vielfalt an Paradoxien, die die vorgeschlagene unbeschränkte Theorie mit sich bringt, sollte nicht überraschen. Aus paradigmatischen Paradoxiefällen ergibt sich nicht nur eine große Vielfalt von Sachverhalten, die paradox sein können, sondern tatsächlich ist auch die Standardverwendung der Wörter ,paradox‘, ,Paradox‘, ,Paradoxie‘ und ,Paradoxon‘ in der deutschen sowie ihrer stammverwandten Wörter in vielen anderen Sprachen genauso unbeschränkt, wie es die Theorie erwarten würde. [27] Neben vielen Repräsentationsarten und Repräsentationsmitteln sprechen wir bei allen möglichen Dingen davon, dass es sich bei ihnen um eine Paradoxie handle und dass sie paradox seien – darunter Handlungen, Erfahrungen, Früchte und Menschen –, und es steht uns grundsätzlich frei, diese Eigenschaft einer beliebigen Zahl von Sachverhalten relativierend zuzusprechen. So können wir beispielsweise Sachen sagen wie: ‚Ich/du/wir/sie finden diesen Mann paradox/halten ihn für ein Paradoxon.‘ Gemäß der unbeschränkten Theorie könnte eine solche Äußerung von uns grundsätzlich jedes Mal in wortwörtlichem Sinne zu nehmen und wahr sein.

Die resultierende Darstellung muss lediglich auf sprachpragmatischer Ebene qualifiziert werden. Obwohl wir von allen möglichen Dingen wortwörtlich und wahrheitsgemäß sagen können, dass es sich bei ihnen um Paradoxien handelt, tun wir es nur selten, selbst dann, wenn es zutrifft. In der Praxis neigen wir dazu, die Ausdrücke ,Paradoxie‘ und ,Paradoxon‘ und in geringerem Maße auch den Terminus ‚paradox‘ für bestimmte besondere Fälle und Anlässe zu verwenden. Diese Bezeichnungen werden in der heutigen Sprache daher eher als Auszeichnungen gebraucht. Wir neigen dazu, Paradoxien nur dann als ‚Paradoxien‘ oder als ‚paradox‘ zu bezeichnen, wenn sie diese Bezeichnungen besonders verdient haben, d. h. nur dann, wenn sie zu einem erheblichen Maße paradox sind.

Philosophen mit einem generellen Interesse an Paradoxien sollten daher nicht in erster Linie die Frage danach stellen, was eine Paradoxie ist, sondern danach, was eine Paradoxie philosophisch interessant macht.

5 Die logische Form paradoxer Objekte

Wenn die vorgeschlagene Theorie zutrifft, dass eine Paradoxie im Wesentlichen etwas ist, das nicht zu glauben ist, dann muss sich jede Antwort auf die Frage, was eine Paradoxie interessant macht, grundsätzlich mit den folgenden drei konstituierenden Dimensionen von Paradoxität beschäftigen: dem Objekt, das nicht überzeugt; dem Subjekt, dessen Überzeugung oder Mangel an Überzeugung in Frage steht; und der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt selbst. Ich beginne in umgekehrter Reihenfolge und mit besonderem Augenmerk darauf, was Paradoxien aus philosophischer Perspektive interessant macht.

Hinsichtlich der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt gilt erstens natürlich das Prinzip des Paradoxitätsgrades: je paradoxer, desto besser. Das Maß an Paradoxität richtig zu bestimmen, ist schwierig, allgemein besteht tendenziell aber ausreichende Übereinstimmung über die verhältnismäßige Paradoxität bei verschiedenen Fällen. [28]

Zweitens zielt das Hauptinteresse von Philosophen nicht auf die Subjekte, sondern auf die Objekte, die an Paradoxien beteiligt sind. Zwar gibt es auch die wichtige Tradition der therapeutischen Philosophie – im Westen reicht sie wohl bis auf Sokrates zurück und schließt moderne Figuren wie Nietzsche und Wittgenstein ein –, und man kann diese sinnvollerweise als eine Tradition beschreiben, die sich primär mit dem Subjekt und nicht dem Objekt von Paradoxien beschäftigt. [29] Doch scheint hier die Ausnahme nur die Regel zu bestätigen. Normalerweise ist eine Paradoxie, die sich vor allem aus einer Besonderheit beim Subjekt ergibt, für Psychologen von größerem Interesse als für Philosophen. Das ist auch der Grund, warum sich Philosophen allgemein nicht so sehr für das interessieren, was wirklich Kinderparadoxien zu sein scheinen, wie etwa die Tatsache, dass man das Ende eines Regenbogens nicht erreichen kann. Prinzipiell sind Philosophen am meisten an Fällen interessiert, die so beschaffen sind, dass selbst die intelligentesten Subjekte sie für paradox halten.

Drittens sind nicht alle Objekte für Philosophen gleichermaßen interessant. Insbesondere Paradoxien, die in anderen wissenschaftlichen Disziplinen zutage getreten sind, interessieren die Angehörigen der betreffenden Disziplinen tendenziell mehr als Philosophen, z. B. das Easterlin-Paradox, das Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon, das französische Paradox, Helianthus paradoxus (dt. ,die paradoxe Sonnenblume‘, Pecos-Sonnenblume), das hispanische Paradoxon, das Informationsparadoxon bei schwarzen Löchern, das Lek-Paradoxon, die paradoxe Embolie, das olberssche Paradoxon, das Plankton-Paradoxon, Pseudis paradoxa (der Paradoxe Frosch), Pulsus paradoxus (der paradoxe Puls) und das Zwillingsparadoxon. Prinzipiell interessieren sich Philosophen vor allem für Fälle, die nur ein Minimum an Allgemeinwissen verlangen, um als paradox zu gelten. [30]

Wenn wir auf der richtigen Spur sind, scheint es für die aktuelle Untersuchung am vielversprechendsten zu sein, ein Verständnis paradoxer Objekte zu entwickeln. Offensichtlich bietet keine der zuvor kritisierten Theorien eine annehmbare allgemeine Erklärung paradoxer Objekte, und die alternativ vorgeschlagene Theorie ist bislang nicht detailliert genug. Nützliche Details lassen sich allerdings aus Quines ursprünglicher Theorie ableiten. Der Kern dieser Theorie lässt sich richtigstellen, wenn man ihn enger auslegt als ursprünglich intendiert: indem man ihn nämlich nicht als Theorie von Paradoxien als solchen ​oder gar paradoxer Objekte allgemein versteht, sondern als Theorie insbesondere der logischen Form paradoxer Objekte (wobei wir mit ‚logischer Form‘ einfach nur das meinen, was paradoxe Objekte in der Logik angemessen darstellt). Die daraus folgende, überarbeitete Fassung von Quines Theorie besagt schlichtweg, dass die logische Form eines paradoxen Objekts ein Schluss ist. Die psychologische Qualifikation von Quines ursprünglicher Theorie – dass eine Paradoxie etwas sei, das „zunächst absurd klingt, […] aber durch ein Argument gestützt wird“ – ist in diesem Zusammenhang irrelevant. [31]

Für die Analyse paradoxer Objekte ist die quinesche logische Form besser geeignet als die der anderen zuvor besprochenen Beschreibungsarten. Dies liegt vor allem an der höheren Genauigkeit ihrer logischen Reduktion, wodurch sie eine höhere Trennschärfe hat (mehr dazu später). Beispielsweise ist die Darstellung der logischen Form paradoxer Objekte, die sich aus der mengenbasierten Theorie durch Weglassen der psychologischen Qualifikation, dass relevante Aussagen ‚einzeln plausibel‘ sein müssen, ableiten lässt, eine inkonsistente Menge von Aussagen. Die geringere Trennschärfe eines solchen theoretischen Konstrukts haben wir zuvor schon anhand der Barbier-Paradoxie und der geozentrischen und heliozentrischen Paradoxien gezeigt. [32]

Im selben Abschnitt haben wir jedoch bereits ebenfalls gezeigt – auch anhand der Barbier-Paradoxie –, dass Quines Theorie einige scheinbare Ähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen paradoxen Schlüssen nicht erklären kann, auch dann nicht, wenn es intuitiv um dieselbe Paradoxie zu gehen scheint. Wie wir sehen werden, kann sie genauso wenig die scheinbare Einheit von Paradoxien erklären, die sich beobachten lässt, wenn es um das geht, was manchmal als Paradoxienfamilie bezeichnet wird und nicht bloß um eine Paradoxie wie etwa die Lügnerparadoxie. Leitet man aus Quines ursprünglicher Theorie lediglich eine Theorie der logischen Form paradoxer Objekte ab, kann ihre Unterscheidungskraft für die Analyse paradoxer Objekte vollumfänglich genutzt werden, während ihre darüber hinausgehenden Beschränkungen hinsichtlich der Metaphysik von Paradoxien im Allgemeinen ausgeklammert bleiben. [33]

6 Typen, Individuen und Elemente

Paradoxien lassen sich hinsichtlich ihrer Subjektivität außerordentlich fein individuell klassifizieren, auch in Bezug auf ein bestimmtes Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das Interesse an Paradoxien geht meistens aber darüber hinaus.

Paradoxien werden normalerweise nach ihren paradoxen Objekten klassifiziert, wobei von ihrer natürlichen Subjektivität entweder abstrahiert oder ein Ideal davon gedacht wird. Daher ist das, was als ‚Paradoxie‘ bezeichnet wird – auch im Falle kanonischer Instanzen –, oft entweder ein Paradoxientyp mit einem ideellen oder anderweitig konstruierten Subjekt oder ein paradoxes Objekt in völliger Abstraktion von jeglicher Subjektivität.

Eine Identität von Paradoxien impliziert eine Identität paradoxer Objekte, und eine Identität paradoxer Objekte impliziert die Identität der logischen Form paradoxer Objekte. Eine solche Folgebeziehung gilt jedoch nicht umgekehrt. Grund dafür ist, dass Paradoxien, wie bereits erläutert, doxastische (überzeugungsbasierte) Phänomene und als solche im Wesentlichen subjektiv sind. Daher ist es nicht nur möglich, dass das, was für ein Subjekt paradox ist, für ein anderes nicht paradox ist, sondern auch, dass die logische Form eines gegebenen paradoxen Objekts für dasselbe Subjekt nicht paradox sein mag – ein Subjekt kann also etwas paradox finden, aber nicht dessen logische Form –, weil das paradoxe Objekt so beschaffen sein kann, dass das, was es paradox macht, in der logischen Analyse verloren geht. Beispielsweise kann eine Paradoxie im Wesentlichen intuitiv sein, wie im Falle des Penrose-Dreiecks oder der Shepard-Skala. Anders gesagt kann eine gegebene Paradoxie im Wesentlichen durch eine bestimmte – d. h. sprachliche, visuelle oder sonstige – Repräsentation des paradoxen Objekts bestimmt sein, sodass das, was es paradox macht, bei der logischen Analyse verloren geht.

Die Identität der logischen Form paradoxer Objekte ist also eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Identität paradoxer Objekte. Eine Untersuchung der logischen Form kann zwar helfen, paradoxe Objekte zu unterscheiden, vermag aber nicht, eine Identität festzustellen. Hierzu muss ein gegebenes paradoxes Objekt näher untersucht werden – was macht es in einem gegebenen Fall oder einer Reihe von Fällen paradox? –, und ein mögliches Ergebnis dieser Untersuchung wäre eine doxastische Äquivalenz zwischen paradoxem Objekt und seiner logischen Form, d. h. dass die logische Form des paradoxen Objekts selbst paradox ist.

Nehmen wir zum Beispiel die mögliche Uneinigkeit, die wir zu Beginn dieses Aufsatzes anhand der Paradoxie des Barbiers erörtert haben, der all jene und nur jene rasiert, die sich nicht selbst rasieren: Ein Subjekt hält die paradoxe Schlussfolgerung aus der Menge von Aussagen a1 bis a5 (wie zuvor) für die Negation von a1 – d. h., ‚es ist nicht der Fall, dass es einen Barbier gibt, der x rasiert, gdw x nicht x rasiert‘ – und ein anderes Subjekt hält die paradoxe Schlussfolgerung für die Negation der Verknüpfung von a4 und a5 (d. h., „es ist nicht der Fall, dass zugleich ‚wenn der Barbier den Barbier rasiert, dann rasiert der Barbier den Barbier nicht‘ und ‚wenn der Barbier den Barbier nicht rasiert, dann rasiert der Barbier den Barbier‘“). Nehmen wir an, dass beide Subjekte in dieser Form korrekt festgestellt haben, was sie für paradox halten und welche logische Form es hat. Was in diesem Fallpaar paradox ist, unterscheidet sich also hinsichtlich der logischen Form: Was für den einen paradox ist, unterscheidet sich in seiner logischen Form von dem, was für den anderen paradox ist. Anders gesagt gibt es hier zwei unterschiedliche logische Formen eines paradoxen Objekts. Daraus folgt, dass unabhängig von jeglicher Subjektivität zwei verschiedene paradoxe Objekte und damit zwei verschiedene Paradoxien vorliegen.

Es ist verlockend zu meinen, es handle sich hier um Versionen derselben Paradoxie. Dieser Versuchung sollte man allerdings widerstehen. Dies würde nämlich zu einer falschen Beschreibung der vorliegenden Uneinigkeit führen. Denn bei ihr geht es eigentlich um das wahre Wesen eines bestimmten Paradoxientyps. Der Ausdruck ‚Version‘ sollte stattdessen solchen Fällen vorbehalten sein, bei denen unterschiedliche paradoxe Objekte mit derselben logischen Form vorliegen, wie beispielsweise unterschiedlichen Argumenten für denselben paradoxen Schluss. Natürlich ergibt sich die betreffende Meinungsverschiedenheit nur dann, wenn es sich um zwei verschiedene Analysen dessen handelt, was oberflächlich und nicht unvernünftigerweise als dieselbe Paradoxie erscheint. Dieser Anschein lässt sich damit erklären und begründen, dass auf einer bestimmten Untersuchungsebene eine Beschreibung der verschiedenen paradoxen Objekte existiert – wie etwa ein gemeinsames Vielfaches –, unter der sie gleich sind, wie, zum Beispiel mit Bezug auf den obigen Fall die Beschreibung ‚Barbier-Paradoxie‘ oder auch ‚Paradoxie vom Barbier, der all jene und nur jene rasiert, die sich nicht selbst rasieren‘. Dies zeigt, dass es sich auf dieser Beschreibungsebene tatsächlich um denselben Typ von Paradoxie handelt.

Auch die Einheit sogenannter Paradoxienfamilien lässt sich auf diese Weise erklären. Betrachten wir die sogenannten Paradoxien des Haufens (sorites). Zum Beispiel: ‚Ein Reiskorn ergibt noch keinen Haufen. Wenn ein Korn keinen Haufen ergibt, dann zwei Körner auch nicht. Wenn zwei keinen Haufen ergeben, dann auch nicht drei. Und so weiter. Eine Million Reiskörner ergeben also keinen Haufen.‘ Ein weiteres Beispiel: ‚Wenn ein Mann mit nur einem Haar auf dem Kopf eine Glatze hat, dann haben alle Männer eine Glatze.‘ Was unterschiedliche Sorites-Paradoxien mit unterschiedlichen paradoxen Objekten eint, ist, dass es eine Beschreibung der verschiedenen paradoxen Objekte gibt, nach der sie gleich sind. Auf ähnliche Weise eint die verschiedenen Lügnerparadoxien mit unterschiedlichen paradoxen Objekten eine Beschreibung ihrer unterschiedlichen paradoxen Objekte, in der sie gleich sind. Die Frage, was genau eine angenommene oder mutmaßliche Paradoxienfamilie zusammenhält, ist schwer zu beantworten. Beispielsweise dürften jeweils ‚Wahrheit‘ und ‚Vagheit‘ keine hinreichend präzisen Antworten im Falle der Lügner- und Sorites-Paradoxien sein. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass es sich bei beiden Paradoxien insgesamt um Paradoxienfamilien handelt. Im Gegensatz dazu ist auch von der Allmachtsparadoxie behauptet worden, dass es sich bei ihr eigentlich um eine Paradoxienfamilie handle; so ist etwa das zuvor genannte Beispiel – ‚kann Gott einen Stein erschaffen, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht hochheben kann?‘ – auch als Paradoxie vom Stein bekannt. Bei der Allmachtsparadoxie handelt es sich vermutlich aber um keine so große Familie, wie man denken könnte, und vielleicht ist sie auch gar keine. Denn bei näherer Betrachtung scheint es so, als ob die meisten, wenn nicht alle typischerweise so bezeichneten Dinge – einschließlich der Paradoxie vom Stein – korrekterweise als Versionen derselben Paradoxie analysiert werden könnten, da die These zumindest vertretbar ist, dass sie alle auf denselben paradoxen Schluss hinauslaufen: dass es nämlich kein allmächtiges Wesen geben kann.

Jede philosophische Theorie darüber, was eine vermeintliche Gruppe von Paradoxien potenziell vereint oder differenziert, fußt naturgemäß auf der Dialektik einer Analyse paradoxer Objekte verschiedener Paradoxienkandidaten einerseits und ihrem gegenseitigen Vergleich andererseits. [34] Man kann sogar plausibel mutmaßen, dass metaphysische Studien bestimmter Paradoxien generell in dieser Weise Fortschritte machen. Somit zielt die Untersuchung eines gegebenen paradoxen Objekts einerseits auf etwas, das in der endgültigen Analyse doxastisch gleichwertig ist – das also selbst paradox ist – und daher auch als dessen ‚paradoxes Element‘ bezeichnet werden könnte. Andererseits sucht man beim Vergleich verschiedener paradoxer Objekte nach der adäquatesten Beschreibung, nach der sie gleich sind – wie nach ihrem kleinsten gemeinsamen Vielfachen –, was man als ihr ‚paradoxes Produkt‘ bezeichnen könnte.

Das paradoxe Element ist offensichtlich von besonderem Interesse. Tatsächlich ist es die Essenz einer gegebenen Paradoxie. Es sind also Paradoxie A und Paradoxie B objektiv identisch gdw ihr paradoxes Element dasselbe ist.

7 Fazit

Ich habe mit einer Kritik an traditionellen Theorien zum Wesen von Paradoxien begonnen. Nachdem ich diese traditionellen Ansätze zurückgewiesen hatte, schlug ich stattdessen eine überzeugungsbasierte Theorie vor. Dieser Theorie zufolge ist eine Paradoxie im Wesentlichen etwas, das nicht zu glauben ist. Die Theorie besagt genauer, dass es sich bei etwas um eine Paradoxie handelt, gdw ein Subjekt, trotz gegenteiliger Versuche, davon oder von etwas daran nicht überzeugt ist. Wohl genau darauf deutet die Etymologie des Wortes ‚Paradoxie‘ hin. Allerdings nennen wir normalerweise nicht alles, was eine Paradoxie ist, auch so. Vielmehr haben die Wörter ‚Paradoxie‘ und ‚paradox‘ im heutigen Sprachgebrauch so etwas wie eine auszeichnende Bedeutung, was zum Teil vom Grad an Paradoxität abhängt. Trotzdem habe ich meinen Vorschlag manchmal als die ‚unbeschränkte‘ Theorie bezeichnet: denn aus der Definition von Paradoxien als etwas, das nicht zu glauben ist, folgt, dass alles potenziell eine Paradoxie ist. Ich denke nicht, dass das etwas Schlechtes ist. Im Gegenteil: Einer der größten Vorzüge dieser Theorie besteht darin, dass sie zulässt, dass Paradoxien grundsätzlich überall und in allem zu finden sind. Diesen besonderen Vorzug der Theorie möchte ich hier noch kurz erläutern.

Russell erklärte die Paradoxie bekanntlich zum „Zweck“ der Philosophie („the point of philosophy“). Nämlich führte er aus: „Der Zweck der Philosophie besteht darin, mit etwas so Einfachem zu beginnen, dass es nicht der Rede wert erscheint, und mit etwas so Paradoxem zu enden, dass niemand es glauben wird.“ [35] Russell dachte also, ein guter Philosoph sei jemand, der das Vertraute oder Triviale fremdartig erscheinen lassen könne. Darüber hinaus hielt Kierkegaard die Paradoxie für eine psychologische Voraussetzung: „[D]er Denker, der ohne Paradox ist, ist wie ein Liebhaber ohne Leidenschaft.“ [36] Deleuze sagte ähnlich: „Die Philosophie manifestiert sich nicht im gesunden Menschenverstand, sondern im Paradox. Das Paradox ist Pathos oder Passion der Philosophie.“ [37] Alle drei hätten David Lewis zweifellos zugestimmt: „Wenn der Anbieter von Paradoxien gute Arbeit leistet, gibt es für uns etwas zu lernen.“ [38] Zusammengenommen bedeutet all dies, Paradoxien nicht nur zu einem wichtigen Zweck von Philosophie zu erklären, sondern auch zu einem unverzichtbaren Ursprung derselben und der höheren Bildung allgemein. In dieser Doppelrolle, so würde ich behaupten, liegt der grundlegende epistemische Wert, etwas paradox zu finden.

Philosophie hat stets bedeutende Arbeiten umfasst, die diesen doppelten Wert der Paradoxie als sowohl einen Zweck als auch einen Ursprung der Philosophie entweder implizit oder explizit anerkannt haben. Ich habe oben bereits mehrere relevante Beispiele jeweils aus den chinesischen, indischen und griechischen Traditionen zitiert sowie eine Reihe aus der heute vorherrschenden englischsprachigen. Viele einflussreiche Paradoxien von Philosophen des 20. Jahrhunderts verdienen in diesem Zusammenhang Erwähnung, darunter – meiner Ansicht nach – Adornos und Horkheimers Paradoxie der Aufklärung (,Aufklärung fällt in Mythologie zurück‘), Deleuzes Paradoxie der Wiederholung, Husserls Paradoxie der Subjektivität, Luhmanns Paradoxie der Menschenrechte, McTaggarts Paradoxie der Zeit, Poppers Paradoxie der Toleranz und viele andere mehr.

Ich möchte abschließend betonen, dass die vorgeschlagene Theorie nicht in jeder Hinsicht unbeschränkt ist. Ein Einwand, der mir gegenüber mehrfach gemacht worden ist, besagt, dass die Theorie zu implizieren scheine, dass die meisten Dinge logisch notwendigerweise Paradoxien sein müssten, da die meisten Dinge aus logischer Sicht nicht zu glauben sind. Das Problem bei diesem Einwand liegt darin, dass er die Bedeutung von ‚nicht zu glauben‘ missversteht. Ich vermute, der Einwand ergibt sich daraus, dass es allzu leicht ist, die Subjektivität von Paradoxien zu ignorieren. Aufgrund der Subjektivität von Paradoxien sollte – und muss eigentlich auch – der Ausdruck ‚nicht zu glauben‘ in diesem Zusammenhang so verstanden werden, dass ein Subjekt einen hinreichenden Versuch unternommen hat, von etwas überzeugt zu sein. Es stimmt, dass beispielsweise Äpfel logisch nicht zu den Sachen gehören, von denen man überzeugt sein kann. Dennoch kann es sich bei einem Apfel um eine Paradoxie handeln, und der Apfel kann – obwohl er es nicht muss – im maßgeblichen Sinne des Wortes nicht zu glauben sein, nicht zuletzt, weil Äpfel, wie alles andere, zweifellos zu den Dingen gehören, worüber man von etwas überzeugt sein kann.

Nehmen wir beispielsweise an, jemand habe noch nie einen rotfleischigen Apfel gesehen (vgl. Abb. 3). Bei der ersten Begegnung mit dem Apfel ist man vielleicht unsicher, was man davon halten soll. Man untersucht die seltsame Frucht eingehend und findet sie paradox: Äußerlich sieht sie wie ein ‚normaler‘ Apfel aus, innerlich aber nicht, und sie riecht und schmeckt nach süßen Beeren. Kurz gesagt: Der Apfel ist nicht zu glauben. Worin aber das Problem besteht, mag noch nicht bekannt sein. Geht es darum, ob es sich überhaupt um einen Apfel handelt, oder vielleicht darum, ob die Frucht wirklich so ist, wie sie zu sein scheint (aussieht, schmeckt etc.)? Die genaueste Beschreibung des paradoxen Objekts mag zu diesem Zeitpunkt daher lauten: ‚dieser Apfel‘. Das kann man durchaus als metonymische Beschreibung bezeichnen, so als fragte man nach ‚einer weiteren Tasse‘, obwohl man eigentlich um Kaffee bittet. Dennoch ist es so, dass eine Formulierung wie ‚dieser Apfel‘ die genaueste Beschreibung des paradoxen Objekts zu einem bestimmten Zeitpunkt (t1) sein mag. Das heißt, zum Zeitpunkt t1 könnte das paradoxe Element – ​d. i. die letzte Analyse des paradoxen Objekts, die selbst paradox ist – einfach der Apfel selbst sein. Es ist nämlich möglich, dass die doxastische Situation zum Zeitpunkt t1 so angelegt ist, dass die Paradoxie im Wesentlichen intuitiv ist, ähnlich wie das Penrose-Dreieck oder die Shepard-Skala. Insbesondere könnte die doxastische Situation zum Zeitpunkt t1 so angelegt sein, dass es für die Paradoxie grundlegend ist, dass einem Subjekt die seltsame Frucht sinnlich präsentiert wird, um ihm das intuitive Bezugsobjekt von Demonstrativausdrücken wie ‚dieser Geschmack‘ oder ‚jenes Aussehen‘ zu liefern. Es ist also möglich, dass bloße Worte die betreffende doxastische Situation, die zum Zeitpunkt t1 auftritt, nicht reproduzieren können, sodass der Apfel ein notwendiger Bestandteil dieser Situation und damit der Paradoxie ist.

Abbildung 3 Rotfleischiger Apfel (Schnitt durch einen Redlove-Apfel, Quelle: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)
Abbildung 3

Rotfleischiger Apfel (Schnitt durch einen Redlove-Apfel, Quelle: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

Mit der Zeit wird das Subjekt die Paradoxie wahrscheinlich genauer untersuchen wollen. Normalerweise sind Fälle, die mittelgroße Trockenwaren [39] – einschließlich Äpfel – betreffen, dahingehend sehr dynamisch, dass der Grad der Paradoxität schnell und in Echtzeit abnehmen wird. Wir sollten aber bedenken, dass es auch Fälle wie die paradoxe Sonnenblume (H. paradoxus) und den paradoxen Frosch (P. paradoxa) gibt, die ihre Ehrentitel wohl verdient haben.

Aus dem Englischen von Peter Hintz

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Published Online: 2025-11-20
Published in Print: 2025-10-27

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 22.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/dzph-2025-0035/html
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