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Die Aufklärung vor Europa retten – und die postkoloniale Theorie vor Deutschland

  • Franz Knappik
Published/Copyright: November 20, 2025

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Dhawan Nikita. Die Aufklärung vor Europa retten. Kritische Theorien der Dekolonisierung. Frankfurt u. New York: Campus, 2024, 395 S.


In deutschsprachigen Medien von Neuer Zürcher Zeitung und Welt über Frankfurter Allgemeine Zeitung und Spiegel bis hin zur tageszeitung (taz) ist die Fundamentalkritik an de- und postkolonialer Theorie fast schon zum eigenen Genre geworden. Ein zentraler Vorwurf besteht dabei darin, diese Theorietraditionen – die in der Regel als homogene Masse präsentiert werden – seien gegenüber den Werten der europäischen Aufklärung und insbesondere dem universalistischen Verständnis von moralischen Normen feindlich eingestellt. In der Tat haben sich de- und postkoloniale Theoretiker:innen ja wiederholt sehr kritisch mit einflussreichen Denkern der Aufklärung auseinandergesetzt und unter anderem auf deren eurozentrische, rassistische und pro-kolonialistische Argumentationsmuster aufmerksam gemacht. Was folgt aber aus dieser Kritik? Lehnen de- und postkoloniale Theoretiker:innen das intellektuelle Erbe der Aufklärung als solches ab, reden sie einem Relativismus das Wort, wie inzwischen oft zu lesen ist?

Mit ihrem Buch Die Aufklärung vor Europa retten. Kritische Theorien der Dekolonisierung greift Nikita Dhawan, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden und eine der prominentesten in Deutschland tätigen postkolonialen Wissenschaftler:innen, in diese Debatte ein. Das ist schon allein deshalb sehr erfreulich, weil eine Kontroverse, die sonst oft von nicht sonderlich informiert wirkenden Autor:innen ausgetragen wird, hier auf dem Niveau und Kenntnisstand diskutiert wird, die der Sache angemessen sind. Und prompt gelangt Dhawan auch zu ganz anderen Einschätzungen als jenen, die durch die öffentliche Debatte geistern.

Zumindest postkoloniale Theorie in der Tradition von Edward Said und vor allem von Gayatri Spivak – der primären theoretischen Bezugsfigur des Buchs – ist für Dhawan durch ein viel komplexeres Verhältnis zur Aufklärung geprägt, als es oft wahrgenommen wird. Einerseits fordere postkoloniale Theorie in der Tat die kritische Auseinandersetzung mit den blinden Flecken und inneren Widersprüchen jener Tradition, die zwar emanzipatorische Ideale wie Menschenrechte, Demokratie und Freiheit hochhält, aber historisch eng mit Kolonialismus, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus verwoben ist – wie Dhawan in Kap. 1 entgegen beschönigenden Deutungstendenzen darlegt. Anderseits bestehe das Ziel dieser Kritik gerade darin, die Aufklärung zu retten – also ihre normativen Ideen aus ihrer Tendenz hin zur Rechtfertigung von Gewalt und Unterdrückung zu lösen und zur Grundlage einer wirklich emanzipatorischen Politik zu machen.

In diesem Projekt, das für Dhawan wichtige Affinitäten zur Aufklärungskritik der ersten Generation der Frankfurter Schule (insbesondere Theodor W. Adorno und Max Horkheimer) aufweist, unterscheide sich die postkoloniale Theorie wesentlich von den lateinamerikanischen dekolonialen Ansätzen à la Walter Mignolo oder Ramón Grosfoguel, die Dhawan in der Tat als radikale Ablehnung aller westlichen Einflüsse einschließlich der Positionen der europäischen Aufklärung versteht (Kap. 2). Dhawan kritisiert die dekoloniale Position als Romantisierung indigener Kulturen, die mit der Chimäre eines von westlichen Einflüssen unberührten Denkens operiere (134) und gegenüber unterdrückerischen Zügen in nicht-westlichen Kulturen, wie etwa der Rechtfertigung des Kastenwesens in klassischen indischen Texten, die Augen verschließe (174). Zugleich verteidigt Dhawan postkoloniales Denken auch gegen den seitens traditioneller Marxist:innen erhobenen Vorwurf, es überbewerte und essentialisiere kulturelle Unterschiede auf Kosten materieller Aspekte und gemeinsamer menschlicher Bedürfnisse (Kap. 3): Diese Kritik übersehe, wie reelle Unterschiede in Produktionsformen und sozialen Institutionen ganz verschiedene Formen von Verletzbarkeit hervorbringen können (170–171).

Dhawan gelangt so in den ersten drei Kapiteln des Buches zu einer differenzierten Verortung postkolonialen Denkens in einer komplexen Debattensituation, die sie auch immer wieder auf die gegenwärtige politische Konjunktur bezieht. So legt Dhawan dar, wie die derzeit populäre Polemik gegen postkoloniales Denken, ob wissentlich oder nicht, einer Agenda dient, die von rechtsextremen Akteuren in den USA ebenso wie in Deutschland ganz unverhohlen verfolgt wird (17 ff.). (Dhawan verweist u. a. auf die AfD, deren einschlägige Bundestagsanträge auf die Unterbindung post- und dekolonialer Forschung und auf Geschichtsrevision bezüglich der deutschen Kolonialverbrechen abzielen: 17 ff.)

Auf dieser Grundlage wendet sich Dhawan im zweiten Teil des Buches drei Themengebieten zu, die sie im Zusammenhang mit einer postkolonialen Haltung der kritischen Aneignung von Aufklärungsideen – oder „affirmativen Sabotage“, wie Spivak sie bezeichnet (362) – für besonders dringlich hält: Staat, Gewalt und Kunst. Kapitel 4 diskutiert die Kritik, die zivilgesellschaftliche Protestbewegungen und abolitionistische Positionen in den letzten Jahren am Staat – und damit aus Dhawans Sicht an einem zentralen Vermächtnis der Aufklärung (185) – geübt haben. Im Anschluss an Sara Ahmed wirft Dhawan dieser Kritik „Nicht-Performativität“ vor: Kritik und Protest untergraben sich hier aus ihrer Sicht selbst, da sie strukturelle Ausgrenzungen perpetuieren. Während sich „junge, urbane, klassenprivilegierte Subjekte stark von Fantasien radikaler Veränderung durch Hashtag-Aktivismus erregen lassen“ (215), bleiben subalterne Gruppen aus kritischer intellektueller Produktion und organisierten Kämpfen ausgeschlossen, solange ihr eigener, durch (post-)koloniale Subjektformierung erzeugter „Wille zum Gehorsam“ (223) nicht durch geeignete Maßnahmen der Bildung und Inklusion aufgebrochen werde. Derartige Entsubalternalisierung sei aber nicht ohne neu gestaltete staatliche Wirksamkeit möglich, wie Dhawan im Anschluss an Foucaults wenig beachtete Analyse von „Staatsphobie“ darlegt (240).

Kapitel 5 geht den Ambivalenzen nach, die das Verhältnis von Kritik und Gewalt kennzeichnen. Dhawan weist den ebenfalls derzeit populären Vorwurf, postkoloniales Denken verherrliche Gewalt, zurück, indem sie einige Stationen der Debatten über antikoloniale Gegengewalt bei Autoren wie Frantz Fanon, M. K. Ghandi und B. R. Ambedkar nachzeichnet. Zugleich verweist Dhawan auf die illegitime Gewalt, die oft von modernen Staaten im Namen von Aufklärungsidealen verübt wird. Auch hier plädiert sie aber für den Versuch, die Aufklärung zu retten – etwa durch die Bemühungen der Third World Approaches to International Law, das Völkerrecht (für Dhawan eine weitere wesentliche Errungenschaft der Aufklärung: 313) zu reformieren.

Abschließend kommt Dhawan in Kap. 6 auf das Thema der Entsubalternalisierung zurück, dem sie nun im Anschluss an Spivak eine ästhetisch-pädagogische Wendung gibt. In Anknüpfung an ein weiteres wichtiges Motiv der Aufklärung, das der Verbindung von ästhetischer und politischer Bildung, verortet sie bei Spivak, aber auch bei Adorno, Konzeptionen einer emanzipatorischen Ästhetik, die die Vorstellungskraft der Subalternen schule und dadurch die Voraussetzungen für Teilhabe an der öffentlichen Sphäre schaffe, zugleich aber selbst Ergebnis eines Prozesses sein müsse, in dem die Erzieher:innen von den Subalternen lernten (347).

Mit Die Aufklärung vor Europa retten hat Dhawan ein hochaktuelles, philosophisch reichhaltiges und intellektuell ambitioniertes Buch vorgelegt, das nicht nur Verzerrungen und Pauschalisierungen im öffentlichen Diskurs richtigstellt, sondern auch kritische Praxis im Zeitalter globaler Ungleichheit mit sensiblem Blick auf ethische und politische Komplikationen neu auslotet. Dhawan stellt zentrale Spannungsfelder – die postkoloniale Kritik der europäischen Aufklärung, die Unterschiede zu dekolonialen Ansätzen sowie die ambivalente Beziehung zur Kritischen Theorie – differenziert und kenntnisreich dar und verknüpft sie mit weiterreichenden gesellschaftlichen Problemstellungen, die auch und gerade in der deutschen Öffentlichkeit von großer Virulenz sind: etwa mit gegenwärtigen Debatten zu multidirektionalem Erinnern, Migrationspolitik und nicht zuletzt zur deutschen Unterstützung für die israelische Kriegsführung in Gaza samt den dadurch aufgeworfenen Fragen nach Doppelmoral im Umgang mit Organen und Normen internationalen Rechts (305 ff.), nach staatlicher und zivilgesellschaftlicher Repression kritischer (oftmals jüdischer) Stimmen (16) und nach inflationärem und instrumentalisiertem Gebrauch von Antisemitismus-Vorwürfen, die auch gerne gegen post- und dekoloniale Theorie ins Feld geführt werden – während Dhawan aufzeigt, wie postkoloniale Theoretiker:innen auch Kritiker:innen des Antisemitismus waren und sind und dass es wichtige Berührungspunkte zwischen postkolonialer Theorie und Holocaust-Studien gibt (93 ff.).

Ein besonderes Verdienst des Buches liegt in seiner sprachlichen Klarheit. Insbesondere die Positionen und Argumente von Autor:innen wie Adorno, Spivak oder Jacques Derrida, deren eigene Texte schwer zugänglich sind, vermittelt Dhawan auf transparente und nachvollziehbare Weise, ohne sie aber unangemessen zu vereinfachen. Das Buch ist daher nicht nur für ein akademisches Fachpublikum von Interesse, sondern auch für eine breitere Leser:innenschaft, die sich ein fundiertes Bild über aktuelle Kontroversen zu post- und dekolonialem Denken verschaffen möchte.

Zugleich bietet Die Aufklärung vor Europa retten mit seinem weitreichenden Anspruch und seinem reichen und pointierten Inhalt einen hervorragenden Ausgangspunkt für weitere fachliche Diskussion. In diesem Sinne möchte ich drei Ansatzpunkte für eine kritische Auseinandersetzung mit Dhawans Argumentation herausgreifen.

Erstens operiert Die Aufklärung vor Europa retten selbst – zwangsläufig – mit Vereinfachungen, die zugunsten eines (noch) stärker differenzierenden Bildes hinterfragt werden können.

So erweist sich die von Dhawan gezogene Trennlinie zwischen post- und dekolonialem Denken bei näherem Hinsehen als problematisch. Manche gewöhnlich als dekolonial eingeordneten Autoren setzen sich durchaus mit westlichen Denkern auseinander: Neben Nelson Maldonado-Torres, der sich u. a. auf Martin Heidegger und Emmanuel Lévinas bezieht, sei hier insbesondere Enrique Dussel genannt, der in seinen immens gelehrten Arbeiten die Traditionen des globalen Südens in einen kritischen Dialog mit Denkern wie Hegel, Schelling, Marx und der Frankfurter Schule brachte. [1] Dhawan hat sicherlich recht, dass unter dem Etikett „dekolonial“ auch reichlich krude Positionen vermarktet werden – man denke nur an Mignolos Einschätzung, China, Russland und Iran seien heute als Protagonisten der „Entwestlichung“ die Avantgarde internationaler Politik. [2] Doch die scharfe Gegenüberstellung von abgelehnter dekolonialer und befürworteter postkolonialer Theorie steht der Auseinandersetzung mit niveauvolleren lateinamerikanischen Beiträgen im Wege (auch in Bezug auf Indigenität – wie etwa die Arbeiten von Eduardo Viveiros de Castro zu indigenen Epistemologien und Ontologien [3]). Und nicht zuletzt verschleiert sie Binnendifferenzen auf der postkolonialen Seite – etwa zwischen den humanistischen Positionen Fanons und Saids und deren poststrukturalistischer Kritik bei H. K. Bhabha.

Ebenso lässt sich der homogene Begriff der „Aufklärung“ problematisieren, den Dhawan verwendet. Neuere Forschung hat nicht nur die großen Unterschiede hervorgehoben, die im „Aufklärungsdenken“ koexistieren – etwa zwischen radikaler und moderater Aufklärung [4] –, sondern auch gezeigt, dass Aufklärung ein globales Phänomen war. So entwickelten sich in den Kolonien eigene aufklärerische Traditionen; [5] Befreiungsbewegungen in Amerika und Asien dachten Ideen der Aufklärung weiter. [6] Umgekehrt wurde auch dafür argumentiert, dass westliche Denker:innen der Aufklärung wesentliche Impulse u. a. seitens asiatischer Kulturen [7] und indigener Gesellschaften in Amerika [8] empfangen haben. Angesichts dessen ist es fragwürdig, wenn Dhawan wiederholt verallgemeinernde Aussagen über „die“ Aufklärung trifft und diese Aufklärung ohne Einschränkung als „europäisch“ begreift.

Und schließlich ist es auch alles andere als ausgemacht, ob universalistische Konzeptionen von Menschenrechten eine ausschließliche Errungenschaft europäischen Aufklärungsdenkens sind. Viele Autor:innen verorten ähnliche Auffassungen in anderen Kulturen und Traditionen und identifizieren außereuropäische Einflüsse auf das heutige Menschenrechtsdenken. [9] Ähnliches gilt auch für andere Werte und Institutionen, die Dhawan als Errungenschaften der westlichen Aufklärung präsentiert, wie Toleranz, Säkularismus, Demokratie und (wohl am offensichtlichsten) den Staat. All das ist völlig kompatibel mit Dhawans Punkt, dass kritisches Denken in einer postkolonialen Welt die europäischen Beiträge auf diesen Gebieten nicht ignorieren darf; dasselbe sollte allerdings auch für die nicht-europäischen Beiträge gelten.

Ein zweiter Aspekt, der meines Erachtens weiterer Diskussion bedarf, ist Dhawans Konzeption von Subalternität. Dhawan folgt Spivak darin, das von Antonio Gramsci stammende Begriffspaar von „subaltern“ und „hegemonial“ als privilegiertes Werkzeug zur Analyse von Ungleichheiten und Ausschlussstrukturen zu verwenden. Hegemonie steht dabei für einen gewaltbewehrten Konsens, den Gruppen mittels Intellektueller in der Sphäre der Zivilgesellschaft herstellen; subaltern sind jene Gruppen, die keinen Zugang zur Zivilgesellschaft und intellektuellen Produktion haben – wie etwa Bauern:Bäuerinnen im Globalen Süden (218 ff.). Dieser Ausschluss besteht für Dhawan und Spivak aber nicht lediglich darin, dass subalterne Gruppen daran gehindert werden, in öffentlichen Debatten das Wort zu ergreifen oder an Wahlen teilzunehmen. Vielmehr sind subalterne Gruppen für Dhawan und Spivak einer ideologischen Subjektkonstituierung ausgesetzt, deren Resultat Subjekte sind, die „kein Verständnis von sich selbst als einem Subjekt politischer Rechte“ besitzen (220) und „sich nicht vorstellen können, ein Teil der abstrakten Idee ‚des Volkes‘ zu sein“ (215). Genau deshalb erfordert für Dhawan und Spivak Entsubalternisierung pädagogische Maßnahmen seitens privilegierter Gruppen, deren Erfolgsbedingungen Dhawan so beschreibt: „Die Förderung der kritischen Intelligenz verwandelt eigennützige Subjekte mit unreflektierten politischen Motiven in Bürger:innen, die in der Lage sind, über sich selbst hinaus zu denken“ (341).

Dhawan verfolgt hier im Anschluss an Spivak das nachvollziehbare Anliegen, nicht ein „vermeintlich subalternes Handlungsvermögen zu romantisieren“ (218), wo es möglicherweise keines gibt. Dennoch erscheint die pessimistische Sicht subalterner Subjekte, die Dhawan hier von Spivak übernimmt, sowohl politisch unglücklich – die verwendeten Begriffe stimmen exakt mit Charakterisierungen kolonisierter Gruppen überein, die Autoren wie Hegel benutzt haben, um die vermeintliche Notwendigkeit einer Erziehung durch Europäer zu rechtfertigen und Widerstandsakte der Kolonisierten herunterzuspielen [10] – als auch der Sache nach fragwürdig. So kritisiert beispielsweise Angela Davis in Bezug auf die Sklaverei in den USA die ideologische Vorstellung, Versklavte seien „gefügige“ (docile) Subjekte gewesen, [11] und argumentiert dafür, dass Widerstand auf den verschiedensten Ebenen eine zentrale Rolle im Leben der Versklavten gespielt habe. Dieser Widerstand sei dadurch ermöglicht worden, dass versklavte Frauen in der häuslichen Sphäre Räume geschaffen hätten, in denen versklavte Gemeinschaften aus eigenen Kräften ein Selbstverständnis als Subjekte mit Recht auf Freiheit hätten aufrecht-erhalten können. [12]

Ähnlich lässt sich im Fall von Indien dafür argumentieren, dass Spivaks Kategorie des „Subalternen“ Traditionen des Dalit-Aktivismus unsichtbar macht, in denen seit dem 19. Jahrhundert „Unberührbare“ für ihre Rechte (derer sie sich offenbar sehr wohl bewusst waren) eingetreten sind. Diese Traditionen – auf die sich Dhawan in ihrer Diskussion Ambedkars bezieht (263 ff.) – legen nahe, dass es vielen Mitgliedern dieser Gruppen gelang, unter schwierigsten Umständen Handlungsfähigkeit, Rechtebewusstsein und Selbstorganisation zum Zweck überindividueller Güter zu erlangen.

Wohlgemerkt kann man subalterne Handlungsfähigkeit und Rechtebewusstsein in solchen Fällen anerkennen, ohne sich darauf festzulegen, dass es eine eindeutige Identität des:der Versklavten oder des:der Dalit „mit vermeintlich klaren Absichten, Begehren und dem Wissen darüber, was im eigenen Interesse liegt“ (221) gab/gibt (wie Spivak es im Fall der Subaltern Study Group kritisiert). Dass Theoretiker:innen nur entweder eine solche transparente, homogene Subjektivität postulieren oder den Subalternen Handlungsfähigkeit und Freiheitsbewusstsein ganz absprechen können, scheint eine problematische Annahme zu sein, die der Argumentation Spivaks und Dhawans an dieser Stelle stillschweigend zugrunde liegt und zumindest weiterer Diskussion bedarf.

Drittens setzt sich Dhawan häufig dafür ein, das Erbe der Aufklärung „neu zu denken“ (27) – was dies aber konkret bedeuten könnte, bleibt weitgehend offen. Die wichtigsten Kandidaten, die Dhawan hierfür anführt, sind die bereits erwähnten Third World Approaches to International Law sowie Charles Mills’ kritische Aneignung von Kants Moralphilosophie in „Black Radical Kantianism“ (ein Text, der in einer weiteren derzeit populären Form der uninformierten Polemik, nämlich gegen Critical Race Theory, geflissentlich ignoriert wird). Darüber hinaus argumentiert Dhawan auch im Anschluss an Adorno (143) gegen die Erwartung, kritische Theorie müsse probate Lösungen für die sozialen Probleme unserer Zeit liefern (366). Wie das Überdenken des Erbes der Aufklärung genauer aussehen mag, kann nach ihrer Auffassung wohl erst dann sinnvoll erörtert werden, wenn wirklich inklusive Strukturen in der internationalen intellektuellen Arbeitsteilung geschaffen worden sind – ein Zustand, von dem wir, wie Dhawan völlig zu Recht anmahnt, noch weit entfernt sind (180). Nichtsdestoweniger gibt es ausgearbeitete Vorschläge etwa zu einem „dekolonisierten“ Universalismus, [13] und es wäre es interessant, mehr darüber zu erfahren, wie sich Dhawans Diskussion zu derartigen Positionen verhält.

Dies sind nur einige wenige der Diskussionspunkte und Anregungen, die Leser:innen aus diesem Buch mitnehmen können. Gerade durch die Kombination von Klarheit, intellektuellem Anspruch und politischem Mut ist Die Aufklärung vor Europa retten ein Buch, das eine breite Debatte verdient. Es ist ein wertvoller Beitrag zu einer Theorietradition, die allzu oft verzerrt dargestellt wird, und ein Anstoß, die von postkolonialer Theorie aufgeworfenen philosophischen Probleme weiterzudenken, mit und über die von Dhawan gesetzten Impulse hinaus.

Published Online: 2025-11-20
Published in Print: 2025-10-27

© 2025 Knappik, publiziert von De Gruyter

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 22.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/dzph-2025-0043/html
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