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Nuklearphysikalische-Verfahren zur Untersuchung von Inkunabeln – eine Erinnerung

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Veröffentlicht/Copyright: 3. Juli 2019

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Nuklearphysikalische-Verfahren zur Untersuchung von Inkunabeln – eine Erinnerung


Im neuen Grundriss der Inkunabelkunde von Wolfgang Schmitz (Rezension des Verfassers in Heft 1 2019) musste aus Platzgründen leider ein Abschnitt zu einem für die Geschichte der Inkunabelkunde wichtigen Thema aus dem Manuskript herausgenommen werden.[1] Schmitz verweist für dieses komplexe Gebiet auf ein im Erscheinen befindliches Werk von Christoph Reske.[2] Der Einblick in eine spezielle naturwissenschaftliche Inkunabelforschung der letzten Jahrzehnte wäre willkommen gewesen. Gemeint sind die Verfahren Particle Induced X-Ray EmissionPIXE (Teilcheninduzierte Röntgenspektroskopie) und Synchrotron X-Ray Fluorescence AnalysisSYXFA/SYRFA (Synchrotron-Röntgenfluoreszenz-Analyse). Diese Untersuchungen haben am Crocker Nuclear Laboratory in Davis, Kalifornien, mit PIXE zwischen 1980 und 1987 stattgefunden und wurden in Deutschland mit SYRFA in Hamburg und Bonn fortgesetzt.

Die Beschreibung der Verfahren, Vorschläge für zukünftige Untersuchungsobjekte und die Diskussion weiterer Analysemethoden und ihrer Förderung finden sich vor 30 Jahren in dieser Zeitschrift, in einem Bericht von 1988, der auch von Schmitz genannt wird.[3] Damals waren die am Crocker Historical and Archaeological Project (CHAP) der University of California, Davis, angestellten Untersuchungen bekannt geworden. Sie fanden an einem kreisförmig angelegten Teilchenbeschleuniger (Zyklotron) statt, der von dem amerikanischen Physiker Ernest Orlando Lawrence zur Vielfachbeschleunigung von Ionen im Jahre 1932 in Berkeley entwickelt worden war.[4] Nach einer Erneuerung der Anlage in Berkeley war das Zyklotron in der landwirtschaftlich ausgerichteten Universität Davis eingerichtet worden, wo ihm eine produktive zweite Karriere zuteilwurde. Hauptakteure der dort seit den siebziger Jahren stattfindenden Untersuchungen waren einmal der Nuklearphysiker Thomas A. Cahill, seit 1972 Direktor des Crocker Nuclear Laboratory der Universität Davis. Er arbeitete mit PIXE-Analysen auf dem Gebiet der Aerosole und der verkehrsbedingten Luftverschmutzung an den Überlandstraßen[5] und in den Großstädten Kaliforniens.[6] Die Proben aus den Schwebstoffen der Luft und aus dem Straßenstaub der Autobahnen wurden in Papierfilter gesaugt und diese als Träger am Zyklotron untersucht: zuerst im Vakuum, dann in Helium-Atmosphäre. (Die späteren Untersuchungen an den Inkunabeln fanden in normaler Luft statt.) Die University of California, Davis, hat auch eine historische Fakultät. Dort schrieb zur selben Zeit der Historiker Richard N. Schwab an einem sechsbändigen Verzeichnis der Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (Paris 1751–1780, mit Nachdrucken in der Schweiz und Italien) von Diderot und d‘Alembert, das die Druckgeschichte dieses Hauptwerkes der Aufklärung, seine verschiedenen Ausgaben, Varianten, Fälschungen und Nachdrucke behandelt.[7] Von den Papierfiltern der Schwermetallproben war es nur ein kurzer Schritt zur Elementen-Untersuchung in den bedruckten Papieren des 18. Jahrhunderts. Konsequent wurden dann die Experimente auch auf die älteren Drucke der Inkunabelzeit ausgedehnt.[8] Die Zusammenarbeit der beiden, in unterschiedlichen Disziplinen tätigen Forscher, führte ab 1980 zu einer Arbeitsgruppe unter dem Namen Crocker Historical and Archaeological Project (CHAP). Darin wirkten zwei Nuklearphysiker, ein Chemiker, zwei Historiker, ein Kunstgeschichtler, ein klassischer Philologe, ein Informatiker, die Rare Book Librarians aus Davis und Berkeley, der Buchrestaurierungsfachmann aus Berkeley und zwei Typografen aus der Bay Area zusammen.[9] Für die Planung der Untersuchung der 42-zeiligen Bibel Gutenbergs (B 42), die nun im großen Stil begann, war die Mitwirkung des Buchhistorikers und Typographen Adrian Wilson (1923–1988, Tuscany Alley Press, San Francisco) von Bedeutung. Ab 1983 konnte das Vorhaben durch die Verleihung des hochdotierten McArthur-Preises an Adrian Wilson noch zusätzliche finanzielle Absicherung erfahren.[10] Auch die Forschungen Paul Needhams spielten für das Untersuchungsprogramm eine wichtige Rolle.[11] Etwa seine Entdeckung, dass der Catholicon-Drucker zwei weitere Traktate mit zweizeiligen Klischees oder Matrizen (two line slugs) gedruckt habe, und dass es sich bei diesem Drucker um Gutenberg selber gehandelt haben müsse. Nach Gutenbergs Tod 1468 seien diese Matrizen mit dem Erbe von Gutenbergs Druckmaterial an Dr. Konrad Humery gelangt, der daraus die Nachdrucke von 1469 und 1472 veranstaltet habe.[12] Needham stützte seine Argumentation noch durch den Befund der drei Catholicon-Ausgaben des Britischen Museums.[13] Vorgeschlagen für zukünftige Analysen wurden auch die kleineren Drucke und die Unikate der Gutenberg-Zeit.[14] Bemerkenswert ist auch, dass die in Davis neben anderen Objekten untersuchte sog. Vinland-Karte, als Fälschung betrachtet wurde, wegen eines speziellen Titan-Gehalts in der Tinte.[15]

Der Nestor der deutschen Inkunabelforschung, Ferdinand Geldner, hat sich im letzten Lebensjahr noch für die Forschungen in Kalifornien interessiert.[16] Ansätze zu einer interdisziplinären Arbeitsgruppe gab es in Wolfenbüttel, nach dem Besuch von Richard Schwab im Oktober 1990 in Berlin beim Autor und bei Leonhard Hoffmann.[17] Auch Bruce Kusko folgte einer Einladung nach Wolfenbüttel. Adrian Wilson, dessen hochdotierter Preis der McArthur-Foundation die Rechenzeiten am Zyklotron von Davis zum großen Teil finanzieren half, fand in München kein Interesse an einer Beteiligung der Bayerischen Staatsbibliothek. Die damals geäußerten Bedenken, das Verfahren könne den Objekten schaden, verhinderte die Mitwirkung der Bibliothek mit der reichsten Inkunabelsammlung und damit bis heute die Bildung einer übergeordneten Arbeitsgruppe, welche die frühesten Gutenberg-Drucke systematisch untersucht hätte. Die Wiedervereinigung brachte dann im Bibliothekswesen neue und andere Probleme, das Geld floss nun erst einmal in den Osten.

Dennoch fand sich zwischen April 1994 und März 1996 ein fachübergreifend deutsches Team am Bonner Synchrotron-Beschleuniger ELSA zusammen.[18] Untersucht wurden die recto- und verso-Seite aus einer B42 und 21 weitere Einzelseiten aus den Jahren 1470–1500 aus dem Besitz von Prof. Wilfried Elfers in Mainz. Ziel war, die Messungen in Davis auszuweiten (to extend the former measurements of the Davis Group).[19] Diese wurden bestätigt, was die B42 betraf. Bei den weiteren 21 Beispielen waren die Metall-Anteile in den Druckfarben zum Teil so niedrig, dass Farbmischungen aus kohlenstoffhaltigen Materialien vermutet wurden, wie Ofen- oder Lampenruß (S. 353). Für die Unterscheidung von Offizinen der Jahre nach 1470 waren diese Ergebnisse nicht geeignet, für die Zeit Gutenbergs bestätigten sie aber die Verwendung einer nahezu gleichförmigen Druckfarbenmischung mit hohen Schwermetall-Anteilen.

Zwei Jahre später kam es erneut zu einem Anlauf mit dem Ziel, Catholicon-Drucke am Photonenstrahl des Bonner Synchrotrons zu untersuchen. Die Ergebnisse wurden von den Initiatoren nicht sehr geschätzt, weil sie primär nach einem Weg gesucht hatten, die Exemplare voneinander zu unterscheiden.[20] Sie konnten aber zur Herstellung der Catholicon-„Auflagen“ wichtige Beobachtungen machen, welche die Tests in Davis bestätigten.[21] Die Umstände der Untersuchung und die Ergebnisse wurden dennoch begrüßt.[22] Nach dem Tod von Martin Boghardt († 26.10.1998) und wenig später von Wolfgang v. Stromer († 8.9.1999) war es zu keiner weiteren SYRFA-Untersuchung mehr gekommen. Aber im Jahr 1990 hatte die Bayerische Staatsbibliothek von der Witwe Hanni Kraus des verstorbenen New Yorker Antiquars Hans Peter Kraus (1907–1988) dessen 1960 bei Sotheby’s für 12 500 Britische Pfund ersteigerten, im Jahr 1507 gedruckten Globensegmente Martin Waldseemüllers, mit dem „America“-Aufdruck, um zwei Millionen Mark gekauft. Das Blatt war eingeklebt in eine Ulmer Ausgabe der Cosmographia des Ptolemäus von 1486. Als im Vorjahr (2017) ein weiteres Exemplar dieses Blattes bei Christie’s in London versteigert werden sollte – der Schätzpreis betrug bis zu einer Million Euro – untersuchte Christie’s das Objekt: Es erwies es sich als identisch mit dem der BSB München. Das Ergebnis: Beides sind Fälschungen, unter anderem wegen der titanhaltigen Pigmente in der Tinte. Eine PIXE- oder SYRFA-Untersuchung hätte diesen Ankauf damals vermeiden können.[23]

Nach langer Pause wurden die kalifornischen B42-Untersuchungen im Jahr 2012 neu gewürdigt, diesmal von zwei katalanischen Autoren aus Barcelona.[24] Sie berufen sich auf die PIXE-Publikationen von Schwab, Cahill, Kusko (et alii), beziehen auch die Wasserzeichen-Forschung von Paul Needham mit ein und betonen, die Ermittlung der chemischen Elemente habe zum besseren Verständnis des zeitlichen Ablaufs des Druckes der B42 geführt. Aus den schon in Davis erkannten Varianten der Anteile von Kupfer und Blei ließen sich für die 46 Monate dauernde Produktion unterschiedliche Druckfarben-Mengen erkennen und damit der zeitliche Ablauf beim Druck der Lagen. Die katalanischen Autoren Rangel und Alabert bieten im Anschluss an Schwab (et alii, PBSA 81, 1987) eine mathematisch errechnete Tabelle zum Produktionsablauf der B42. Sie meinen, an einer Stelle der radikalen Änderung der Druckfarbenmischung sogar den Zeitpunkt des Bruches zwischen Fust und Gutenberg und damit Gutenbergs Ausstieg aus der Gesellschaft erkannt zu haben. Dies sei im 32. Monat der Produktionslinie geschehen (Dezember 1454/Januar 1455), während des Druckes von Blatt 85 der Bibel.

Die Gutenberg-Gesellschaft hat das Gedenken an Johannes Gutenbergs 550. Todestag mit drei wissenschaftlichen Konferenzen begonnen und pünktlich zum Johannistag 2018 den Band 93 des Gutenberg-Jahrbuchs als Festschrift publiziert. Weder das Programm der Konferenzen, noch die Festschrift lassen aber erkennen, dass weiterführende naturwissenschaftliche Verfahren derzeit im Interesse der von Mainz ausgehenden Inkunabelforschung stünden. Der Vorsitzende Stephan Füssel fand im Jahr 2016 im Staatsarchiv Würzburg das Original jener Urkunde, in der Dr. Konrad Humery am 26. Februar 1468 bestätigt, verschiedene Teile einer Druckerpresse von Johannes Gutenberg erhalten zu haben. Die Teile waren offenbar an Gutenberg verliehen. Gutenberg und Humery waren demnach bis zuletzt in einem gemeinsamen Unternehmen verbunden. Es stellt sich erneut die Frage: „Was hat (Gutenberg) [...] in den letzten Lebensjahren gedruckt, etwa das Catholicon?“.[25] Die Inkunabelkunde, die mit Gutenbergs Drucken beginnt, ist also noch lange nicht am Ende ihrer Erkenntnisse.

Online erschienen: 2019-07-03
Erschienen im Druck: 2019-07-01

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Inhaltsfahne
  4. Schwerpunkt Data Librarian
  5. Studienschwerpunkt „Data Curation“ im Master „Information Science“ der HEG Genf
  6. Data Librarian – ein neuer Studienschwerpunkt für wissenschaftliche Bibliotheken und Forschungseinrichtungen
  7. Bibliotheksinformatik als Studienrichtung an der HTWK Leipzig
  8. IT-Kernkompetenzen im Bachelorstudiengang „Informationswissenschaften“ an der Hochschule der Medien Stuttgart
  9. Bibliotheksinformatik studieren heißt: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans hinterher
  10. 90 Jahre IBI
  11. The Future of Information Studies: Reflections on Sociotechnical Imaginaries
  12. 90. Geburtstag des Instituts für Bibliotheks- und Informationswissenschaft (IBI) in Berlin – Ein Rückblick aus der Zukunft
  13. Neue Entwicklungen
  14. Aktuelle Entwicklungen an den österreichischen Bibliotheken 2017 und 2018
  15. Weitere Beiträge
  16. Die Sammlung ist tot, es lebe die Sammlung!
  17. Von der elektronischen Bibliothek zur innovativen Forschungsinfrastruktur
  18. Aspekte digitaler Infrastrukturen
  19. Shared Print – Wie Bibliotheken in den Vereinigten Staaten und Kanada Zugänglichkeit und Erhalt des gedruckten Kultur- und Wissenschaftserbes sichern
  20. Ein neues Schaufenster des Humanismus am Oberrhein – Die Humanistenbibliothek in Schlettstadt nach dem Umbau
  21. Rezensionen
  22. Lernwelt Öffentliche Bibliothek. Dimensionen der Verortung und Konzepte. Hrsg. von Richard Stang und Konrad Umlauf. Berlin; Boston: de Gruyter, 2018. 222 S., 99,95 €
  23. Ressourcen für die Forschung. Spezialsammlung in Regionalbibliotheken, hrsg. von Ludger Syré anlässlich des 60. Geburtstags der Arbeitsgemeinschaft der Regionalbibliotheken, Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann, 2018 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderband 123). 340 S., zahlreiche, z. T. farbige Abb., geb., ISBN 978-3-465-04362-1. 98 €
  24. Nuklearphysikalische-Verfahren zur Untersuchung von Inkunabeln – eine Erinnerung
  25. Cornelia Vonhof; Eva Haas-Betzwieser: Praxishandbuch Prozessmanagement in Bibliotheken und Informationseinrichtungen. Berlin: De Gruyter Saur, 2018. VIII, 299 S. ISBN 978-3-11-050002. 79,95 €
Heruntergeladen am 29.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2019-2060/html
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