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Vom Startbetrieb in den pandemie-bedingten Notbetrieb – wie kann aus widrigen Bedingungen eine neue Zukunftsausrichtung entstehen?

  • Rahel Zoller EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 10. Juli 2021
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Zusammenfassung

Nur wenige Monate nach ihrer Gründung musste die Bibliothek LIV aus dem Startbetrieb in den durch die Corona-Pandemie verursachten Notbetrieb wechseln. Der Artikel befasst sich mit den Auswirkungen des Notbetriebs auf die Mitarbeiter*innen und Nutzer*innen, geht auf die Anpassung und Entwicklung von Serviceangeboten ein und stellt Fragen, wie die Arbeit und die Errungenschaften im Notbetrieb als Basis für die zukünftige Ausrichtung und als Anregung für Innovationen genutzt werden kann.

Abstract

Just a few months after LIV‘s foundation, the library had to switch from startup to emergency operation mode due to the coronavirus pandemic. The article looks at the consequences for staff and users addressing adaptation and development strategies to provide services, and shows how new practices and operational procedures during the emergency could serve as innovative stimuli for future developments and directions.

Vom Startbetrieb in den Notbetrieb

Nach rund sechs Jahren Projektlaufzeit konnte die Bibliothek LIV[1] zum 1. Oktober 2019 ihren Betrieb aufnehmen und den in nur zwei Wochen bezogenen Neubau eröffnen. Das Kürzel LIV steht für lernen. informieren. vernetzen und beschreibt mit einem griffigen Namen die Hauptaufgaben, die sich die gemeinsame nichtrechtsfähige Einrichtung der Hochschule Heilbronn (HHN) und der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW), in Kooperation mit der German Graduate School of Management and Law gGmbH und TUM Campus Heilbronn gGmbH, auf die Fahnen geschrieben hat.

Die Zentralbibliothek der LIV befindet sich im Neubau auf dem Bildungscampus Heilbronn, an dem die Trägerhochschulen HHN und DHBW, vertreten durch die Studienakademie Heilbronn (DHBW HN) und das Center for Advanced Studies (DHBW CAS), sowie die Kooperationspartner ansässig sind. Darüber hinaus gehören drei weitere Bibliotheken zur Organisation LIV, die an den anderen Standorten der Hochschule Heilbronn, am Campus Heilbronn-Sontheim, am Campus Künzelsau sowie am Campus Schwäbisch Hall gelegen sind.

Zeitgleich mit der Inbetriebnahme eines Neubaus musste also im Oktober 2019 auch eine neue Organisation, deren Strukturen zwar auf dem Papier definiert waren, die aber sehr vielen Anforderungen und Erwarten gerecht werden musste, mit Leben gefüllt und die Mitarbeiter*innen-Teams der ursprünglichen Einrichtungen zusammengeführt und für die neuen komplexen Aufgaben befähigt werden.

Nach drei Monaten Startbetrieb und der ersten Weihnachts- und Jahreswechselzeit gab es Ende Januar / Anfang Februar 2020 erstmals Zeit und Ruhe, um einen Blick auf gut drei Monate Startbetrieb zu werfen. Neben vielen neuen Prozessen, etlichen Ecken, Kanten und zu behebenden Baumängeln gab es zu diesem Zeitpunkt – der Prüfungszeit an der HHN – ein mehr als volles Haus am Bildungscampus, das eine sehr positive Resonanz erfuhr; mehr als einmal musste beobachtet werden, wie Nutzer*innen sich im Treppenhaus oder auf den Fußböden niederließen, da die großzügig konzipierten, mehr als 650 Arbeitsplätze belegt waren.

So ganz unbelastet konnte dieses Fazit und die weitere Planung aber nicht passieren, liefen doch in den täglichen Nachrichten schon die ersten bedrohlichen Informationen über das neuartige SARS-CoV-2-Virus und seine Ausbreitung. Immer häufiger fiel das Stichwort Pandemie, dessen tatsächliche Bedeutung damals wohl noch niemand erfassen konnte. Im Laufe des Februar 2020 kamen die gefühlten Einschläge immer näher, gleichzeitig vermochte sich aber noch niemand vorzustellen, was die Pandemie für uns alle und den Bibliotheksbetrieb bedeuten würde.

Mitten in den Planungen zu der Neustrukturierung der E-Lizenzen, die Aufnahme der Projekte im Rahmen des BigDIWA-Programms[2], die Abstimmung von Finanzprozessen, und vielen Aufgaben mehr, fiel, parallel zur Tagung der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin, am 16. März 2021 die Entscheidung der Trägerhochschulen, ihren jeweiligen Betrieb vor Ort soweit als möglich zurückzufahren, die Mitarbeiter*innen ins mobile Arbeiten zu schicken und den Lehrbetrieb (zu diesem Zeitpunkt waren davon nur DHBW HN und DHBW CAS betroffen, da an der HHN vorlesungsfreie Zeit war) so gut wie möglich auf digitale Formen umzustellen. Die kommissarische Co-Leitung der LIV hatte bereits am Morgen des 16. März 2020 entschieden, die Nutzer*innen beim Betreten des Gebäudes am Bildungscampus um einen möglichst kurzen Aufenthalt zu bitten und aufzufordern, von der Nutzung der Arbeitsplätze abzusehen. Die drei anderen Standorte waren, wie in der vorlesungsfreien Zeit gewohnt, nur sehr gering frequentiert, so dass dort an diesem Tag keine einschränkenden Maßnahmen ergriffen wurden.

Das Vorgehen der HHN, die den größten Anteil der LIV-Mitarbeiter*innen stellt, war maßgeblich vom Infektionsschutz geprägt und sah vor, dass Personal nur zur Sicherung von Leib und Leben, sowie vor Betriebsschäden vor Ort zu sein hatte und um einen minimal notwendigen Notbetrieb zur Sicherstellung des Lehr- und Studienbetriebs zu gewährleisten. Damit verbunden war auch die Schließung aller zu LIV gehörenden Bibliotheken für den Publikumsverkehr. Im Rahmen dieser Vorgaben wurde am 17. März 2020 ein Notbetrieb aufgesetzt, der zuerst nur vorsah, Medien in dringenden Fällen per Post an die Nutzer*innen zu senden, sowie Rückgaben zu bearbeiten. Die Hauptliteraturversorgung sollte über E-Medien erfolgen, wozu das Budget kurzfristig umstrukturiert und Beschaffungskriterien gelockert wurden. Zu allen geplanten Vorgängen wurden Anleitungen erstellt, Bedingungen definiert, Textbausteine vorbereitet, die Website um entsprechende Informationen ergänzt und kleine Mitarbeiter*innen-Teams gebildet, die ohne gegenseitigen Kontakt an drei Tagen pro Woche in der Zentralbibliothek bzw. an ein bis zwei Tagen wöchentlich an den anderen Standorten für die Notbetriebstätigkeiten zuständig waren.

Auswirkungen auf die LIV-Mitarbeiter*innen

Zeitgleich begannen die Bibliotheksleiter*innen damit, alle Mitarbeiter*innen auch von Zuhause aus arbeitsfähig zu machen. Hierbei kam der LIV zugute, dass alle Mitarbeiter*innen-Arbeitsplätze im Vorjahr bewusst mit Notebooks, Docking-Stations, je zwei Monitoren sowie Headsets für die Telefone ausgestattet worden waren. Ursprünglich mit dem Gedanken, kollaboratives Arbeiten in Besprechungsräumen und Projektszenarien unkompliziert zu ermöglichen, waren damit alle in der Zentralbibliothek ansässigen Mitarbeiter*innen, und damit mehr als Zweidrittel des Teams bereits ausreichend für das mobile Arbeiten ausgestattet. Die Mitarbeiter*innen der anderen Standorte konnten teilweise mit schon länger für die allgemeine Nutzung vorhandenen älteren Notebooks ausgestattet werden, einige erklärten sich für den Übergang bereit, auf Privatgeräte zurückzugreifen. Als sich abzeichnete, dass der Notbetrieb nicht nur wenige Wochen dauern würde, wurde der für die zweite Jahreshälfte geplante, zyklusmäßig anstehende Austausch der PCs an den Standortbibliotheken vorgezogen und ebenfalls auf Notebooks mit Docking-Stations, etc. konzipiert. Aufgrund der pandemie-bedingten Lieferverzögerungen dauerte es jedoch bis in den Spätsommer, bis alle Geräte bereitgestellt werden konnten.

Neben der reinen Hardware-Ausstattung ging es nun auch darum, alle Mitarbeiter*innen zum Zugriff auf zentrale Dateiablagen, Programme, etc. zu befähigen und in beratenden Gesprächen sowie durch die Bereitstellung von Büromöbeln und –material aus Hochschulbeständen dabei zu unterstützen, zu Hause arbeitsfähig zu werden. Hierzu wurden u. a. Arbeitszeiten (von Eltern mit Betreuungsaufwand) flexibilisiert, Erreichbarkeitszeiten definiert und Schichtpläne für die Betreuung von Funktionsmailkonten und Notbetriebsbestellungen erarbeitet.

Während sich ein Teil der Mitarbeiter*innen spontan im Homeoffice wohlfühlte, taten sich andere sehr schwer damit, sozial isoliert zu arbeiten, sich selbst zu motivieren und ihre Tätigkeiten auf reines Arbeiten am Bildschirm reduziert zu sehen. Der zum Teil ersatzlose Wegfall von manuellen Tätigkeiten, wie beispielsweise das Einstellen von Medien oder die Katalogisierung von Neuerwerbungen, bei denen man nach Erledigung buchstäblich sieht, was „weggeschafft“ wurde, verunsicherte viele Mitarbeiter*innen zusätzlich zur drastischen Pandemieentwicklung und den Einschränkungen der Freizeitaktivitäten massiv. Nach den ersten Wochen der Schließung machte sich bei den Kolleg*innen auch der Wegfall des direkten Kundenkontakts bemerkbar. Im Alltag selbstverständlich bestehende Bindungen an die Bibliothek, die Hochschulen und die eigenen Aufgaben begannen zu bröckeln, die Frage nach Sinn und Motivation wurde unterschwellig immer häufiger.

Um dem entgegenzuwirken, entschied sich die Bibliotheksleitung, nach ausführlicher Diskussion teilweise auch intuitiv, diverse Gegenmaßnahmen einzuleiten und neue Aufgaben zu stellen, die die Bindung wieder stärken bzw. sogar verbessern sollten und den Sinn der Tätigkeit, auch im mobilen Arbeiten, wieder in den Fokus rücken sollten: nämlich, kurzgefasst, die Informationsversorgung der Nutzer*innen.

Daraus ergaben sich zwei Hauptstränge, an denen schwerpunktmäßig gearbeitet wurde. Zum einen der Ausbau der Notbetriebsangebote sowie die intensive Arbeit am bestehenden Prozessmanagement, die aufgrund der Zusammenlegung der Bibliotheken lange geruht hatte, und den zugehörigen Standards, Leitfäden und Anleitungen, die das tägliche Arbeiten vereinfachen und vereinheitlichen sollen.

Diese Arbeitsschwerpunkte – auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll – die je nach Mitarbeiter*in mit mehr oder weniger konkreten Arbeitsschritten, Meilensteinen und Deadlines verteilt wurden, halfen der Belegschaft dabei, einen strukturierten Tagesablauf zu entwickeln, zu sehen, was man geschafft hatte und auch wieder einen engeren Kontakt zu den Kolleg*innen zu entwickeln, da ein Großteil der Aufgaben in Gruppenarbeiten zu erledigen war. Mittlerweile hatten sich die Hochschulen für Videokonferenz-Tools entschieden und allen Zugänge zur Verfügung gestellt, so dass nicht mehr mit ständig überlasteten Telefonkonferenzen oder instabilen freizugänglichen Tools gearbeitet werden musste.

Ergänzt wurden die neu gestellten Aufgaben durch regelmäßige Team-Meetings per Videokonferenz, an denen plötzlich alle Mitarbeiter*innen fast ohne Einschränkungen und vorherigen umfangreichen Organisationsaufwand (Bibliotheksschließungen, Vertretung durch Hilfskräfte, Fahrtzeiten, …) teilnehmen konnten – zaghaft wurden die ersten Pandemie-Vorteile benannt – und die Aufforderung, sich in Webinaren, Online-Fortbildungen und gegenseitigen internen Schulungen weiterzubilden. Davon machten die LIV-Mitarbeiter*innen regen Gebrauch. Für 2020 können insgesamt 327 Stunden Fortbildungsstunden bzw. 2,72 Fortbildungstage pro mindestens einmal teilnehmendem Mitarbeitendem verzeichnet werden.

Durch regelmäßige, zeitnahe und transparente Information über die Abstimmung mit den Hochschulleitungen sowie durch persönliche Einschätzungen der Lage und Entwicklung gelang es der Bibliotheksleitung, den Mitarbeiter*innen (Planungs-)Sicherheit und Ruhe für die aktuell anstehenden Aufgaben zu vermitteln.

Arbeit am Prozessmanagement und zugehörigen Dokumenten

Die Arbeiten an den in der ehemaligen HHN-Bibliothek bereits etablierten Prozesssteckbriefen sowie den internen Standards, Leitfäden und Anleitungen hatte verschiedene Effekte. So gelang es zum einen, alle Mitarbeiter*innen, egal ob alteingesessen oder erst nach dem Beginn des Lockdown ins Team gekommen, auf einen gemeinsamen Stand zu bringen und ein gemeinsames Verständnis von Vorgehensweisen und Anwendungen zu entwickeln. Zum anderen wuchs die Zufriedenheit mit jedem überarbeiteten Dokument, von dem der „digitale Staub gewedelt“ und das auf die Bedingungen der gemeinsamen Bibliothek angepasst werden konnte. Missverständnisse wurden aus dem Weg geräumt, bevor sie entstehen und Konflikte hervorrufen konnten. Parallel dazu wuchs das Gemeinschaftsgefühl und es ließen sich die Stadien klassischer Teamentwicklung, wie Storming und Norming beobachten.

Ausbau des Notbetriebs, digitale Umsetzung regulärer Dienstleistungen und Erprobung neuer Angebote

Waren anfänglich fast alle davon ausgegangen, dass nach Ostern wieder Normalität einkehren würde, zeichnete sich alsbald ab, dass der Notbetrieb zumindest zur mittelfristigen Einrichtung werden würde.

Damit fiel die Entscheidung, diesen weiter auszubauen. Die Zusendung der Medien per Post bzw. die Bereitstellung im Medienausgabeschrank am Bildungscampus wurde auf alle Bibliotheksnutzer*innen ausgedehnt, das Schulungs- und Beratungsangebot auf digitale Formate umgestellt, die Möglichkeit von Anschaffungsvorschlägen für E-Books verstärkt beworben und die kurzzeitig ausgesetzte Beschaffung von Printmedien wiederaufgenommen, papierbasierte Prozesse in digitale bzw. zumindest improvisierte digitale Formen umgewandelt und neue Formate ausprobiert. Auch die Arbeit an Projekten wurde in improvisierter Form wiederaufgenommen.

Die vermehrte Bereitstellung und postalische Zusendung von Medien erforderten eine Umstrukturierung des Notbetriebs vor Ort und eine ständige Anpassung der Parameter und Bedingungen – immer auch in Abhängigkeit der jeweils gültigen Corona-Verordnungen. So war beispielsweise in Baden-Württemberg um Weihnachten 2020 kein Click & Collect mehr zulässig, weshalb die Bereitstellung am Medienausgabeschrank eingestellt werden musste.

Besagter Medienausgabeschrank am Bildungscampus, eine der innovativen Neuerungen im Neubau, ermöglicht der LIV eine absolut kontaktlose Bereitstellung von Medien, die den Nutzer*innen rund um die Uhr zur Verfügung steht. Der Medienausgabeschrank lässt sich mit einer DHL-Packstation vergleichen. Es handelt sich dabei um ein von der Firma EasyCheck[3] entwickeltes Self-Service-Shelf, mit über 200 verschieden großen Fächern. Im Bibliothekssystem bereitgestellte Medien werden über die Administrationsoberfläche einem Fach zugewiesen, welches wiederum einem Nutzer*innenausweis zugeordnet ist. In dieses Fach können mehrere, auf einen Ausweis bereitgestellte Medien, gelegt werden. Bei Bedarf kann auf ein Fach in einem anderen Format gewechselt werden.

Der / die Nutzer*in selbst authentifiziert sich mit dem persönlichen Ausweis (derzeit noch per Barcode, zukünftig auch über die RFID-Karte möglich) am Schrank und bekommt das zugewiesene Fach angezeigt, welches dann automatisiert entriegelt wird. Mit der Entriegelung erfolgt die Verbuchung auf das verknüpfte Bibliothekskonto, per RFID erfolgt die Entsicherung der Tags und die entliehenen Medien können entnommen werden. Wird ein Medium doch nicht (mehr) benötigt, kann eine sofortige Rückgabe über den nebenan befindlichen Rückgabeautomaten erfolgen.

Beide Geräte stehen in einem 24 Stunden an 7 Tagen der Woche zugänglichen Bereich der Bibliothek und können ohne Authentifizierung betreten worden; für ausreichende Sicherheit am Campus sorgen regelmäßige Kontrollgänge eines Wach- und Sicherheitsdienstes.

Die Schulungsangebote im Informationskompetenzbereich konnten relativ unproblematisch auf digitale Veranstaltungen umgestellt werden. Da diese historisch bedingt meist innerhalb von Lehrveranstaltungen stattfinden, schalten sich die schulenden Kolleg*innen in die jeweiligen Videokonferenzen zu und halten Ihre Vorträge live oder präsentationsbasiert in diesem Rahmen ab.

Für komplexere Einzelanfragen entwickelten sich selbstverständlich individuell vereinbarte Beratungsgespräche per Videokonferenz, die nach ersten Versuchen auch offensiv in Mailings und auf der Website beworben wurden.

Da die LIV-Mitarbeiter*innen immer wieder den fehlenden Kundenkontakt bemängelten und sich Hinweise häuften, dass die Bearbeitung von Mailanfragen zunehmend arbeitsintensiver und komplexer wurde und sich häufig über mehrere Tage hinweg zog, bei Fallkonstellationen, die in mündlicher Form eigentlich Routinesache seien, entstand der Gedanke, die physische Theken- und Kontaktsituation im Eingangsbereich der Bibliotheken in digitaler Version abzubilden. Die „virtuelle Theke“, bei der zu festgelegten Zeitfenstern an drei Tagen pro Woche ohne Voranmeldung LIV-Mitarbeiter*innen über einen Videokonferenzlink zur Beantwortung von Fragen und Beratung bei Unterstützungsbedarf zur Verfügung stehen würden, war geboren. Leider wurde dieses Angebot nur von sehr wenigen Nutzer*innen in Anspruch genommen, auch verstärkte Informationsmaßnahmen führten nicht zu einer besseren Auslastung. Nach rund drei Monaten wurde das Angebot daher eingestellt. Die Vermutungen, warum es nicht angenommen wurde, reichen von Hemmungen, sich online vor anderen zu blamieren, über ungeeignete Uhrzeiten bis hin zur Videokonferenzmüdigkeit.

Bereits davor entstand über den Sommer 2020 ein ausführliches Konzept für digitale Bibliothekseinführungen mit der Hauptzielgruppe Erst- und Zweitsemester. Für diese wurden Videoaufnahmen der verschiedenen Bibliotheken angefertigt und in aufwändige Präsentationen, die in den Terminen live vorgetragen wurden, eingebunden. Diese Präsentationen sind je nach aktuellem Regelstand anzupassen und damit pflegeaufwändig, erhalten aber durchweg positives Feedback, da die Bibliotheken hierdurch für die neuen Studierenden persönlicher und greifbarer werden. Diese Veranstaltungen ermöglichen einen direkten Kontakt und Austausch zwischen LIV-Mitarbeiter*innen und Nutzer*innen, was von allen Beteiligten sehr positiv bewertet wird. Diese Einführungsveranstaltungen wurden sowohl mit Ausrichtung auf einzelne Standorte sowie auch in allgemeiner Form angeboten und im Wintersemester 2020/2021 sehr gut besucht; zunehmend auch von Studierenden in höheren Semestern und Mitarbeitenden der Hochschulen.

Da die Teilnehmerzahlen zu Beginn des Sommersemester 2021 deutlich nachgelassen haben, entwickelte das dafür zuständige Team kurzfristig eine neue Idee und modifiziert dafür aktuell das Format zu einem rund 20 bis 30 Minuten dauernden Onlineformat mit dem Arbeitstitel „Recherche-to-go“, bei dem jeweils auf ein oder zwei spezielle thematisch zusammenpassende Rechercheinstrumente, Datenbanken oder andere elektronische Angebote eingegangen werden soll. Um nicht wieder aufgrund fehlender Resonanz eine Enttäuschung zu erleben, läuft die Entwicklung des Konzepts parallel zu ersten improvisierten Veranstaltungen, einer Befragung der Nutzer*innen via Instagram, der Abstimmung mit Studierendenvertretungen und Gesprächen mit Lehrenden.

Zugang zum Medienbestand und den Lernplätzen

Nach den Lockerungen im Frühsommer 2020, Abstimmungsgesprächen mit den Hochschulleitungen und der Erarbeitung eines Hygienekonzepts konnte die Zentralbibliothek am Bildungscampus Heilbronn Mitte Juli 2020 mit starken Einschränkungen und unter Einsatz eines Wach- und Sicherheitsdienstes wieder geöffnet werden. Nachdem anfangs nur der Zugang zum Buchbestand gewährt werden konnten, wurde zum Herbst auch ein kleiner Teil der Arbeitsplätze wieder zugänglich gemacht. Selbstverständlich nur nach Voranmeldung sowie unter Einhaltung der Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen.

Aufgrund plötzlich stark ansteigender Infektionszahlen im Stadtkreis mussten diese Öffnungsschritte jedoch relativ bald wieder zurückgenommen werden. Eine erneute Öffnung der Zentralbibliothek wurde erst im Frühjahr 2021, nach entsprechenden Änderungen an den Corona-Verordnungen des Landes wieder möglich. Dabei zeigt sich, dass der Bedarf nach Arbeitsplätzen bei den Studierenden besonders hoch ist.

Die Bibliotheken an den anderen Standorten konnten aus baulichen Gründen bisher nicht wieder geöffnet werden.

Nutzer*innenrückmeldungen

Wie den beschriebenen Vorgehensweisen zu entnehmen ist, orientiert sich das Serviceangebot im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten (Umsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen in den Hochschulen, jeweils gültige Corona-Verordnungen des Landes Baden-Württemberg, Personal- und Finanzressourcen, etc.) an den Bedarfen der Bibliotheksnutzer*innen.

Hierzu wurden sämtliche Rückmeldungen im Rahmen des etablierten Kund*innenreaktionsmanagements erfasst, ausgewertet und die Nutzung der Angebote betrachtet. Die Einbindung in die Hochschulstrukturen sowie zahlreiche Gespräche mit insbesondere in der Lehre tätigen Mitarbeiter*innen waren ebenfalls hilfreich, um die Angebote weiterzuentwickeln.

Der allergrößte Teil des erhaltenen Feedbacks drückt Dankbarkeit für die unkomplizierte und schnelle Beantwortung von Fragen sowie die Versorgung mit Literatur aus. Negatives Feedback bezieht sich entweder auf Probleme mit dem Medienversand (meist durch externe Dienstleister verschuldet), sowie auf die Schließung bzw. stark eingeschränkte Öffnung der Bibliotheksräume. Dabei wird besonders der Bedarf nach Lernplätzen und einer ruhigen Lernumgebung benannt. Als Grund für diesen Bedarf wird häufig die persönliche Wohnsituation benannt, die kein ruhiges Arbeiten zulässt, wie auch das Gefühl bzw. die Erfahrung, dass konzentriertes Arbeiten in den Bibliotheksräumen erleichtert wird, da Ablenkungen reduziert sind und die Atmosphäre als disziplinfördernd wahrgenommen wird.

Unterstützung benötigen die Nutzer*innen schwerpunktmäßig nicht nur bei der Recherche, sondern bei technischen Aspekten, wie der korrekten Authentifizierung zur Nutzung von E-Medien, die im Falle der LIV durch verschiedene Lizenzierungsstände der beteiligten Hochschulen besonders komplex ist.

Umgang mit den Erfahrungen und Erkenntnissen aus dem Pandemie-Betrieb

Neben den beschriebenen Aspekten wurden zahlreiche weitere kleinere Maßnahmen wie zum Beispiel Aussetzung von Leihfristen, die Verbesserung der Rückgabemöglichkeiten, etc. ergriffen, die schon gar nicht mehr als neu oder außergewöhnlich erlebt werden. Nach über einem Jahr ist der Pandemie-Betrieb schon fast ein wenig zur „Normalität“ geworden.

Nutzer*innen wie Mitarbeiter*innen haben sich gezwungenermaßen mit den Einschränkungen arrangiert und auch Vorteile in der veränderten Situation entdeckt sowie Gefallen an einzelnen Maßnahmen gefunden.

Dennoch wird eine Frage immer wieder gestellt: Wann wird der ursprüngliche Normalbetrieb wiederaufgenommen? Die Beantwortung dieser Frage ist zum momentanen Zeitpunkt nicht seriös möglich. Auch wie der Übergang dorthin aussehen kann, fällt noch in die Rubrik „Kaffeesatzleserei“. Unberechtigt sind diese Fragen aber natürlich nicht! Deshalb ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, zu überlegen, wie die Normalität nach der Pandemie aussehen soll. Welche der ursprünglichen Angebote werden vielleicht gar nicht mehr benötigt? Welche der neu entstandenen Formate sollen fortgeführt werden? Welche, auf die Schnelle digitalisierten Prozesse (bspw. papierlose Entlastungsbestätigung für die Exmatrikulation, Benutzeranmeldungen, …) können übernommen werden, welche sind noch zu optimieren oder gibt es welche, die generell noch entwickelt werden müssen? Gibt es (digitale) Dienstleistungen, für die jetzt erst Bedarf entstanden ist bzw. im Laufe der Öffnungsschritte entstehen wird?

Dazu sind, neben den technischen Voraussetzungen, überwiegend zwei Dimensionen zu betrachten. Zum einen die Nutzer*innen, auf die das Angebot selbstverständlich ausgerichtet sein soll, zum anderen auf die Mitarbeiter*innen, die das Angebot ermöglichen und dessen Qualität maßgeblich mitbestimmen. Die also genauso motiviert sein wie eine positive Bindung an die LIV aufweisen sollten, um sich bestmöglich zu engagieren, ohne Raubbau an den eigenen Ressourcen zu betreiben.

Es ist davon auszugehen, dass sich die Arbeits- bzw. Lernumstände für beide Personengruppen nicht wieder zu 100 Prozent wie vor der Pandemie gestalten. Digitale Lehrveranstaltungen, mobiles Arbeiten und andere Maßnahmen haben neue Möglichkeiten und Perspektiven eröffnet, die sicher von Teilen der Betroffenen gerne beibehalten werden wollen.

Wie lassen sich diese neuen Wünsche und Ansprüche mit alt Gewohntem vereinbaren? Welche rechtlichen Grundlagen müssen dafür geschaffen werden? Welche Ressourcen sind dafür notwendig?

Deshalb wird es in den kommenden Wochen Schwerpunkt der LIV-Leitung und des LIV-Teams sein, sich mit diesen und weiteren Fragen zu befassen. Folgende Hauptfragen sollen in Workshops diskutiert und ggf. mit weiteren Maßnahmen untersucht werden:

  • Wie wird sich das Verhalten der Nutzer*innen entwickeln?

  • Welche Dienstleistungen, Services und Prozesse wollen wir beibehalten bzw. reduzieren?

  • Wo soll der Fokus der LIV in der nächsten Zukunft liegen?

  • Wie kann ein „virtueller Lernraum“ geschaffen und angeboten werden, der eng mit der LIV und ihren Angeboten verknüpft ist und die Vorteile aufweist, die Nutzer*innen am physischen Lernraum schätzen?

  • Welche der komplexen Strukturen hinter LIV haben das Vorgehen in der Pandemie erschwert und welche Möglichkeiten haben sich aus der Vielzahl der Beteiligten ergeben? Was davon soll wie weiterentwickelt werden?

Damit soll die Pandemie nicht als Last, sondern als Chance begriffen werden. Es sollen negative und positive Erfahrungen aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Nutzen wir die erzwungenen Maßnahmen und Einschränkungen als Basis für eine sprunghafte Weiterentwicklung und einen ganz neuen Blick auf unsere Möglichkeiten.

Published Online: 2021-07-10
Published in Print: 2021-07-27

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Editorial
  3. Aus den Verbänden
  4. Verabschiedung Urheberrechtsreform
  5. Deutscher Bibliotheksverband beteiligt sich am „Kultur macht stark“-Sommer des Bundesbildungsministeriums
  6. Bibliotheken: Orte der kulturellen Vielfalt und Toleranz
  7. „Kinder und Jugendliche benötigen verlässliche Bildungsangebote“
  8. Stärkung von Bibliotheken in ländlichen Räumen
  9. Wahlprüfsteine 2021
  10. Themenheft: Bibliotheken und die Herausforderungen der COVID-19-Pandemie. Teil I
  11. Die Bewältigung der Corona-Pandemie durch das Team der Hochschulbibliothek Ludwigshafen/Rhein
  12. Corona an der Universitätsbibliothek Basel: Die zwei Seiten der Digitalisierungsmedaille
  13. Doing digital. Die Universitätsbibliothek Osnabrück und die Herausforderungen der Coronakrise
  14. Lehre in Zeiten von Corona – ein Erfahrungsbericht
  15. Wissenschaftliche Weiterbildung während und nach der COVID-19-Pandemie – der Versuch einer theoretischen Annäherung
  16. Vom Startbetrieb in den pandemie-bedingten Notbetrieb – wie kann aus widrigen Bedingungen eine neue Zukunftsausrichtung entstehen?
  17. Praxis adé? Der Mangel an Praxiseinblicken während der COVID-19-Pandemie
  18. Erweckt die Lücke an realer Begegnung und Ortswechsel eine neue bibliothekarische Vernunft, die der virtuellen?
  19. Wenn das Leben Dir Zitronen gibt … Pandemie als Chance?
  20. Notizen und Kurzbeiträge
  21. 10 Jahre 4. Erweiterungsbau in Leipzig – wann kommt der 5. Erweiterungsbau?
  22. Veranstaltungen
  23. Online Jahrestagung der IAML-Ländergruppe im September 2021
  24. Termine
  25. Termine
Heruntergeladen am 26.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bd-2021-0076/html
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