Rezensierte Publikation:
Lars Meier, Working Class Experiences of Social Inequalities in (Post-) Industrial Landscapes: Feelings of Class. London/New York: Routledge 2021, 192 S., gb., 141,00 €
„Working Class Experiences of Social Inequalities in (Post-) Industrial Landscapes: Feelings of Class“ ist eine Überarbeitung von Lars Meiers Habilitationsschrift, deren Hauptteil (Kapitel 4–8) bereits in einer Serie von Zeitschriftenartikeln in den Jahren 2013–2017 veröffentlicht wurde. Allerdings wurden diese Artikel, wie bei einer solchen kumulativen Habilitation üblich, um einen theoretischen Rahmenteil ergänzt. Das Buch schließt an den besonders seit den 2000er (in Deutschland verstärkt seit den 2010er) Jahren im Anschluss an den Spatial Turn (Döring 2008) entstandenen Diskurs um das sozial spezifische Erleben und (Ko)Produzieren städtischer Transformationsprozesse an, legt den Fokus allerdings nicht auf die auch im internationalen Diskurs bestimmenden Themen der ‚Gentrifizierung‘ oder der ‚ausgestoßenen‘ (Wacquant 2008) oder ‚neuen‘ Klassen (Ley 1994), sondern auf das Erleben der Transformation durch ortsansässige Arbeiter:innen, die der Autor auch als „qualified middle class“ bezeichnet (15), die einen Umgang damit finden müssen, dass ‚ihre‘ Industriestadt im Transformationsprozess verloren zu gehen droht. Untersucht wird diese Frage anhand von vor allem biographisch-narrativen Interviews mit (überwiegend bereits verrenteten) Arbeiter:innen aus ehemaligen Industriebetrieben in der Südstadt Nürnbergs.
In der Einleitung entwickelt Lars Meier seinen spezifischen, theoretisch-methodologischen Zugriff auf das Thema: In Rückgriff auf Mannheims Konzept der klassen-generationellen Einheit, Williams Konzept der Structures of Feeling und Elias Figurationsansatz fasst er die biographischen Narrationen der Arbeiter:innen weniger als historische Quelle sondern vielmehr als ihre jeweiligen Versuche, vor dem Hintergrund ihrer sozial spezifischen Erfahrungen und affektiven Besetzungen der Vergangenheit des Stadtraums und im Kontext einer sich verändernden Etablierte-Außenseiter Figuration einen Reim auf ihren neuen Ort im sozialen Stadtraum zu machen und ihre Position darin zu behaupten.
Er definiert Klasse dabei einerseits als Strukturmerkmal einer ungleichen Gesellschaft, das sich durch Machtungleichheiten und die Verfügung über ökonomisches, symbolisches, soziales und kulturelles Kapital bestimmt (40), andererseits (und das ist für die eigentliche Untersuchung leitend) als geteilte, biographisch erworbene Identität, die über sozial spezifische Erfahrungen und Praxen gelernt und immer wieder hergestellt und transformiert wird, wobei er als zentrale soziogenetische Wurzel der geteilten Identität – eher beiläufig – Arbeit (15) anführt. Die Zugehörigkeit zur Arbeiter:innenklasse als einer spezifischen Klasse wird nicht näher definiert und im Sampling pragmatisch gelöst: Den Kern der zugrundeliegenden Daten bilden 25 biographisch-narrative Interviews mit Facharbeiter:innen, die in Industriebetrieben in Nürnberg tätig waren.
Bei dieser Objektkonstruktion nimmt es in dreifacher Hinsicht – es sind Interviews mit überwiegend älteren Industriearbeiter:innen mittlerweile geschlossener Betriebe, die insbesondere auf ihre Emotionen gegenüber der veränderten räumlichen Umwelt einer ehemals vor allem von Industrie geprägten Stadt hin befragt werden – nicht wunder, dass das Leitmotiv der in dem Buch zusammengefassten Studien „Nostalgie“ ist. Die Nostalgie von Arbeiter:innen, die sich selbst im Stadtmarketing einer kreativen Dienstleistungsstadt nicht wiedererkennen (Kapitel 4); die Nostalgie von Arbeiter:innen, die zu den Relikten ihrer ehemaligen Industriebetriebe zurückkehren (Kapitel 5); die Nostalgie von Arbeiter:innen, die sich an ihre ‚wilde Jugend‘ erinnern und zugleich vergleichbares deviantes Verhalten von ‚Zugezogenen‘ verurteilen (Kapitel 6); die Nostalgie der Alteingesessenen in Bezug auf die Veränderungen einer ehemaligen Betriebswohnsiedlung nach deren Privatisierung (Kapitel 7); sowie, als (theoretisch sehr instruktive) Ausnahme zur Bestätigung der Regel: die fehlende Nostalgie eines ‚zugezogenen‘, migrantischen Arbeiters bei seiner Reflektion zum Leben in der transformierten Industriestadt.
Damit widmet sich die Arbeit einem vernachlässigten Gegenstand der stadtsoziologischen Forschung: Wie Susanne Frank (2021) in einem kürzlich veröffentlichten Artikel zur Transformation eines ehemaligen Arbeiter:innenviertels in Dortmund anmerkt, verfehlt der internationale Gentrifizierungsdiskurs in der Stadtforschung, der vor allem auf ‚harte‘ sozialstrukturelle Veränderungen wie Verdrängung und Mietsteigerungen zielt, das auch unabhängig von diesen Faktoren entstehende Gefühl der Ohnmacht und des Verlusts, mit dem die Bewohner:innen auf die Veränderungen ehemaliger Arbeiter:innenviertel reagieren. Frank schlägt „Neigbourhood Melancholia“ als Konzept vor, um diese Lücke zu schließen – was nicht nur sprachlich nah an der Nostalgie liegt, die im Zentrum von Meiers Untersuchung steht. In der Tat können die in diesem Buch versammelten Untersuchungen als fruchtbarer Beitrag zum Schließen dieser Forschungslücke gelesen werden, der zudem die Brücke zum – ebenfalls unterbelichteten – wechselseitigen Konstitutionsverhältnis von biographischem und räumlichem Erleben schlägt (Weidenhaus 2015).
Wünschenswert wäre vor diesem Hintergrund eine detailliertere Darlegung der methodischen Herangehensweise gewesen. Die knappe Erläuterung der Erhebungsmethoden (biographisch-narrative Interviews und Gruppendiskussionen) im zweiten Kapitel (31 f.) dürfte vor allem für ein englischsprachiges Publikum bedeutsam sein, da diese Methoden sich eng an den klassischen Datentypen der deutschsprachigen qualitativen Sozialforschung (Hollstein und Kumkar 2021) orientieren. Zu der eigentlichen Auswertung dieser Daten, vor allem zu der Frage nach ihrer Triangulation mit den ebenfalls durchgeführten fokussierten ethnographischen Beobachtungen, erfährt man hingegen wenig – eine Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen der qualitativen Raumforschung (Heinrich u. a. 2021) zum Beispiel mit der von Margarethe Kusenbach (2003) entwickelten Methode des Go-Along Interviews wäre hier sicherlich instruktiv gewesen. Ein weiterer Einwand ist ebenfalls methodischer Natur: Die Interpretationen zur Verankerung der untersuchten Nostalgie in den Erfahrungen der Befragten Industriearbeiter:innen sind durchweg plausibel und erhellend. Dennoch stellt sich an verschiedenen Stellen die Frage, inwiefern Aspekte dieser Nostalgie wirklich klassenspezifisch sind, oder ob es sich nicht doch um (deshalb nicht weniger relevante), breiter in der Bevölkerung der Nürnberger Südstadt verbreitete Structures of Feeling des sozialen Alterungsprozesses handelt. Hier wäre – ganz im Sinne der vom Autoren selbst zitierten grounded Theory (31) – ein Vergleich wünschenswert gewesen, aus dem hervorginge, dass eben diese Form der Nostalgie bei den Angehörigen anderer Klassen nicht vorzufinden ist. Ist zum Beispiel die Romantisierung der widerständig-devianten Praxen der eigenen Jugend als „Troublemaker“ (103) bei gleichzeitiger negativer Bewertung vergleichbarer Praxen durch Jugendliche der Gegenwart wirklich ein Spezifikum von Angehörigen der Arbeiter:innenklasse? Unterscheidet sich das schmerzhafte ‚Verfolgt-Fühlen‘ (being haunted) von Industriearbeiter:innen im Angesicht des ehemaligen, mittlerweile stillgelegten Betriebs von dem von Büroangestellten?
Diese Fragen mögen beispielhaft verdeutlichen, welche Ansatzpunkte eine systematischere Rekonstruktion der „Feelings of Class“ im Angesicht der Transformation des städtischen Raums aus den Ergebnissen dieses Buches beziehen kann. Als explorative Studie bietet es wertvolle Einsichten in die verräumlichten und verräumlichenden Structures of Feeling der Arbeiter:innenklasse. Was nun zu klären wäre, ist, welche Merkmale dieser Struktur sich spezifisch ihrer Klassenlage zurechnen lassen.
Literatur
Döring, J.; Thielmann, T., Hrsg. Spatial Turn: das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften; transcript: Bielefeld, 2008.10.1515/9783839406830Suche in Google Scholar
Frank, S. Gentrification and Neighborhood Melancholy: Collective Sadness and Ambivalence in Dortmund’s Hörde District. Cultural Geographies 2021, 28 (2), 255–269. https://doi.org/10.1177/1474474020987253.10.1177/1474474020987253Suche in Google Scholar
Heinrich, A. J.; Marguin, S.; Million, A.; Stollmann, J., Hrsg. Handbuch qualitative und visuelle Methoden der Raumforschung; utb: Bielefeld, 2021. 10.36198/9783838555829Suche in Google Scholar
Hollstein, B.; Kumkar, N.C. Qualitative Methods. In Soziologie - Sociology in the German-Speaking World Special Issue Soziologische Revue 2020; Hollstein, B.; Greshoff, R.; Schimank, U.; Weiß, A., Hrsg.; De Gruyter: Boston, Berlin, 2021; pp 301–314.10.1515/9783110627275-021Suche in Google Scholar
Kusenbach, M. Street Phenomenology. Ethnography 2003, 4 (3), 455–485. 10.1177/146613810343007Suche in Google Scholar
Ley, D. „Gentrification and the Politics of the New Middle Class“. Environment and Planning D: Society and Space 1994,12 (1), 53–74.10.1068/d120053Suche in Google Scholar
Wacquant, L. Urban Outcasts: A Comparative Sociology of Advanced Marginality; Polity Press: Cambridge, 2008.Suche in Google Scholar
Weidenhaus, G. Soziale Raumzeit; Suhrkamp: Berlin, 2015.Suche in Google Scholar
© 2022 Nils C. Kumkar, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Verächter des Leibes – Verfechter des Fleisches
- Handeln und die Generalität des Körpers
- Essay
- Zwischen Wirtschaft und Moral. Geld als Treiber gesellschaftlichen Wandels
- Themenessay
- Robotik in allen Lebenslagen? Zur zunehmenden Relevanz und Problematik von Robotern in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen
- Sammelbesprechung
- „Fußball ist eigentlich ganz einfach. Man muss nur seine Kollegen verstehen.“ – Sammelrezension aktueller soziologischer Forschungen zu Fußball
- Einzelbesprechung Technik
- Martina Heßler / Kevin Liggieri (Hrsg.), Technikanthropologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Baden-Baden: Nomos 2020, 592 S., br., 58,00 €.
- Einzelbesprechung Theorie
- Thomas Kron / Christina Laut, Soziologie verstehen. Eine problemorientierte Einführung. Stuttgart: Kohlhammer 2021, 237 S., kt., 34,00 €
- Anne Warfield Rawls (Hrsg.), Harold Garfinkel: Parsons’ Primer. Berlin: J. B. Metzler 2019, 393 S., gb., 39,99 €
- Einzelbesprechung Arbeit
- Jonathan Falkenberg, Taylors Agenten. Eine arbeitssoziologische Analyse mobiler Assistenzsysteme in der Logistik. Baden-Baden: Nomos 2021, 287 S., kt., 59,00 €
- Einzelbesprechung Thanatosoziologie
- Thorsten Benkel / Matthias Meitzler, Körper – Kultur – Konflikt. Studien zur Thanatosoziologie. Baden-Baden: Rombach Wissenschaft 2022, 180 S., kt., 39,00 €
- Einzelbesprechung Soziale Ungleichheit
- Lars Meier, Working Class Experiences of Social Inequalities in (Post-) Industrial Landscapes: Feelings of Class. London/New York: Routledge 2021, 192 S., gb., 141,00 €
- Einzelbesprechung Wissenssoziologie
- Danny Otto, Dem „Prekariat“ auf der Spur. Eine Deutungsmachtanalyse soziologischer Wissensgenerierung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2019, 346 S., br., 39,95 €
- Einzelbesprechung Geschlecht
- Simone Scherger / Ruth Abramowski / Irene Dingeldey / Anna Hokema / Andrea Schäfer (Hrsg.), Geschlechterungleichheiten in Arbeit, Wohlfahrtsstaat und Familie. Festschrift für Karin Gottschall. Frankfurt/New York: Campus 2021, 484 S., br., 48,00 €
- Einzelbesprechung Umwelt
- Axel Franzen / Sebastian Mader (Eds.), Research Handbook on Environmental Sociology. Cheltenham/Northampton: Edward Elgar Publishing 2021, 416 S., gb., 246,18 €
- Einzelbesprechung Organisation
- Günther Ortmann / Marianne Schuller (Hrsg.), Kafka. Organisation, Recht und Schrift. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2019, 440 S., gb., 49,90 €
- Einzelbesprechung Geschlecht
- Barbara Rendtorff / Claudia Mahs / Anne-Dorothee Warmuth (Hrsg.), Geschlechterverwirrungen. Was wir wissen, was wir glauben und was nicht stimmt. Frankfurt am Main: Campus 2020, 240 S., kt., 24,95 €
- Einzelbesprechung Kapitalismus
- Wolfgang Streeck, Zwischen Globalismus und Demokratie: Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, Berlin: Suhrkamp 2021, 538 S., gb., 28,00 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2022
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
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- Symposium
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- Sammelbesprechung
- „Fußball ist eigentlich ganz einfach. Man muss nur seine Kollegen verstehen.“ – Sammelrezension aktueller soziologischer Forschungen zu Fußball
- Einzelbesprechung Technik
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- Einzelbesprechung Thanatosoziologie
- Thorsten Benkel / Matthias Meitzler, Körper – Kultur – Konflikt. Studien zur Thanatosoziologie. Baden-Baden: Rombach Wissenschaft 2022, 180 S., kt., 39,00 €
- Einzelbesprechung Soziale Ungleichheit
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